Eintrag 6

Die Geschichte von Anday und Tavitih

Zu den beliebtesten Legenden, die sich die Bewohner*innen des entlegenen Eilands der Oligoamory erzählen, gehören die Geschichten um Anday und Tavitih.
Eine der bekanntesten davon ist diese hier:

Anday und Tavitih waren zwei junge Oligoamore, die sich inniglich liebten und bereits eine Weile zusammenlebten.
[Manchmal wird diese Geschichte auch mit drei oder vier schon verbundenen Partner*innen erzählt – aber auch auf dem Eiland der Oligoamory fangen manche Gemeinschaften damit an, daß sich erst einmal zwei Personen zur kleinst möglichen Einheit zusammenfinden – und der Einfachheit halber erzähle ich heute diese Version]
Einmal, an einem Morgen, erwachte Anday und sprach zu Tavitih: „Ich hatte eine sehr unruhige Nacht, ich habe kaum geschlafen an Deiner Seite. Mitten in der Nacht habe ich mich sogar einmal im Dunkeln gefürchtet – denn ich bildete mir im Halbschlaf ein, irgendetwas sei fremd an Dir.“
Tavitih wurde darob sehr nachdenklich, setzte sich langsam zu Anday an den Tisch in der Mitte des Hauses und sprach: „Ich habe gestern Nabiku kennengelernt, als ich auf meiner Wanderung war. Es war ein guter Tag und wir haben auf dem Weg viel miteinander gesprochen. Heute morgen glaube ich, daß ich mich dabei in Nabiku verliebt habe – und Nabiku auch in mich. Ich wollte Dir gestern schon davon erzählen, doch ich war mir selber noch nicht sicher, was genau geschehen war. Ich erkenne, daß ich es Dir doch sofort hätte berichten sollen.“
„Ja“, sagte Anday, „jetzt kann ich das alles gleich viel besser verstehen. Weißt Du – heute Nacht – da war es, als ob eine unbekannte Art Kraft von Dir ausgegangen ist. Wie eine Energie oder eine Aura, die ich so noch nie zuvor bei Dir wahrgenommen hatte. Und in der Nacht war ich unsicher, denn weil mir dieser Einfluß unbekannt war und darum so fremd vorkam, habe ich mich geängstigt.“
„Du hast bestimmt schon die aufwachsende Verbindung, so gering sie auch noch sein mochte, von mir zu Nabiku gespürt“, sprach Tavitih, „so wie auch ich sie verspürte, obwohl selbst ich ihr noch keinen Namen geben konnte. Das zeigt mir, wie eng unsere Verbindung, zwischen Dir, Anday, und mir, Tavitih, ist. Unsere Ahnen würden lächeln – so heißt es doch – weil wir dann wohl bereits unser ‚gemeinsames Wir‘ begründet haben, wenn Du so schnell als ich verspürst, wenn dieses angerührt wird!“
„Es mag wohl so sein, wie Du sagst, Herzens-Tavitih“, sprach Anday. „Doch gestern Nacht wähnte es mir für einen Moment schon mehr als dies. Es war mir in einem Moment, als hättest Du mehr als nur Dich selbst wieder von Deiner Wanderung in unser Haus gebracht…“
„Oh, ja, eben diese neu ersprießende Verbindung…!“ rief Tavitih.
„Nein, mir schien es zu mitternächtlicher Stunde für einen Augenblick, als ob Du einen ganzen Gast mitgebracht hättest, der dann neben mir unser Lager teilte – aber der Moment wich – und weil ich noch nicht verstand, was ich heute morgen von Dir weiß, ängstigte ich mich.“
Auf diese Weise erkannte Tavitih, daß Nabiku bereits im Herzen mit in das gemeinsame Haus zu Anday gekommen war und daß der Seele von Anday dies nicht verborgen geblieben war.
Doch Anday sprach munter: „Laß uns gleich heute Nabiku besuchen und erzähle mir doch von Eurer Wanderung. Und ihr beide sollt auch Eure neue Verbindung erkunden und pflegen und sehen, wohin es Euch und uns führt. Das Fremde ist immer das Neue, das man noch nicht kennt. Und neu mag es wohl sein – doch fremd soll es nicht länger bleiben!“

So begab es sich, daß auch Anday und Nabiku voneinander erfuhren und sich sogleich begegneten. Und Anday erkannte, was Tavitih an Nabiku schätzte, denn Tavitih war Anday wahrlich gut vertraut.
Doch gab es auch Seiten an Nabiku, die Anday weniger verstand – und eine Spur Zweifel berührte Anday, ob Tavitihs Herz wirklich so klar war, wie gedacht…
In den folgenden Nächten schlief Anday dennoch nun wieder ruhiger an Tavitihs Seite, weil Anday jetzt um Nabiku und die neue Verbindung wußte.
Dennoch wich das Fremde nicht so, wie Anday gehofft hatte, denn das Fremde an Nabiku schien trotzdem zu einem Fremden in Tavitih zu geraten. So beobachtet Anday z.B., daß Tavitih nun viel mit Nabiku das Wasserwandern betrieb, etwas was Anday und Tavitih so zuvor noch nie getan hatten. Darum sprach Anday schließlich zu Tavitih:
„Du bist nun oft mit Nabiku wasserwandern. Das haben wir nie getan. Ich weiß natürlich wohl, daß Du gerne in der Natur bist. Wenn Dir der Sinn nach wasserwandern stand, dann hättest Du das doch mir offenbaren können – dann hättest Du mit mir ebenfalls längst wasserwandern können.“
Drauf erwiderte Tavitih: „Ich wußte doch aber, daß Du Dir aus wasserwandern fast gar nichts machst. Es wäre mir darum niemals eingefallen, Dich mit diesem Ansinnen zu bedrängen. Nabiku wasserwandert jedoch viel, so daß mir an der Seite von Nabiku wieder auffiel, daß ja auch ich es eigentlich gerne tue.“
Auf diese Weise erkannte Anday, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.

Und Anday erkannte ebenfalls, daß eine neue Welt auch zunächst stets viel Unbekanntes und daher Fremdes enthalten würde – so daß es Zeit erfordern würde, sich daran zu gewöhnen – oder es gar lieb zu gewinnen.
Als Anday dies Tavitih offenbarte, erkannte Tavitih wiederum, daß mit Nabiku nicht nur eine neue Verbindung, ja nicht nur eine neue Person, sondern eine ganze neue Welt in ihr Haus gekommen war.
Und Anday und Tavitih erkannten beide, warum die älteren Oligoamoren niemals leichtfertig von jenem „gemeinsamen Wir“ sprachen, bei dem aus „Meinem“, „Deinem“, „Seinem“ und „Ihrem“ ein „Unseres“ entstehen konnte.

Die Geschichte von Anday, Tavitih und Nabiku jedoch geriet glücklich, eben weil alle drei auf diese Weise miteinander lernten, was es bedeutete, verbunden zu sein trotz Unterschiedlichkeit.
Und daß, als die Unterschiede von Nabiku in die Verbindung von Anday und Tavitih eintraten, ein neues „gemeinsames Wir“ erwuchs, was anders war als jenes, was zuvor nur zwischen Anday und Tavitih bestanden hatte.

Nun – wie es in Legenden so kommt – begab es sich einige Zeit später, daß wiederum Anday sich leidenschaftlich in Mowin verliebte.
Gleich in der Woche darauf berührte dies nun Tavitih, zitternd auffahrend auf dem gemeinsamen Schlaflager mit Nabiku in dieser Nacht. Als Nabiku erschrocken fragte, was der Grund sei, sprach Tavitih:
„Ich schlief friedlich an Deiner Seite, als mich im Dunkeln ein Geräusch zu wecken schien. Ich wandte mich im Halbschlaf zu Dir um – doch da warst nicht mehr Du. Ganz deutlich lag Mowin direkt an meiner Seite und schaute mich mit weit offenen Augen an!“
Nabiku versuchte Tavitih zu beruhigen und erzählte darum, wie es doch einst Anday damals fast ebenso ergangen war. Im Inneren war Nabiku trotzdem etwas beunruhigt, da es für Nabiku noch keine tiefere Verbindung zu Mowin gab, wiewohl Mowin Teil des Dorfes war. Hatte also Anday Mowin schon so präsent in das gemeinsame Haus gebracht?
Tavitih fuhr fort, schlecht zu schlafen und schlechter Schlaf macht bekanntlich reizbar, so daß es nach ein paar Tagen wegen einer unwichtigen Kleinigkeit zu einem Streit zwischen Anday und Tavitih kam. Doch selbst das Streiten mit Anday, was sonst oft zu allseitiger Klarheit führte, schien Tavitih heute nicht recht zu beherrschen, so sehr machte „die neue Welt“ des Mowin zu schaffen. Darum brach es schließlich aus Tavitih hervor:
„Es kommt mir vor, Anday, als ob ich nicht mit Dir sondern mit Mowin streiten würde! Mowin ist stets so reizbar und empfindlich wie Du heute und obendrein dominant. Und wie Mowin verdrehst Du neuerdings alle meine Argumente und tust intellektuell!“
Weil aber Anday und Tavitih wahrhaftig miteinander lang vertraut waren, gelang es ihnen dennoch, diesen Streit am Ende beizulegen – doch für Tavitih wollte das Fremde einfach nicht weichen. Als Nabiku am nächsten Tag Tavitih die Haare bürstet, fuhr Tavitih irritiert herum und rief: „So habe ich Mowin Haare bürsten sehen: Selbstgefällig und ohne Gefühl. Wie kannst Du, Nabiku, es in solcher Art Mowin nachmachen?“

Nabiku und Anday waren ob dieser Ereignisse sehr erschrocken und wandten sich alsbald an einen weisen alten Oligoamoren, ob er nicht einmal mit Tavitih sprechen könne, insbesondere um des „gemeinsamen Wir“ halber, welches in Gefahr zu geraten schien.
Der oligoamore Älteste kam diesem Wunsch auch nach und lud am darauffolgenden Abend Tavitih an das Feuer der Geschichten in der Mitte des Dorfes ein – und fragte direkt nach Mowin.
Aus Tavitih brach es sofort hervor: „Allgegenwärtig scheint mir Mowin zu sein! Mowin ist stolz und selbstherrlich – und das scheint Anday auch noch anzuziehen… Ja, es wähnt mir, daß dies auch in Anday nun plötzlich ebenso eingepflanzt ist – und selbst in Nabiku scheint es schon zu keimen! Ich schätze dies alles nicht an Mowin und auch in Anday und Nabiku kann ich es nicht leiden!“
Da erinnerte der oligoamore Älteste Tavitih daran, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.
Und er erinnerte daran, daß Tavitih nun in Anday und in Nabiku Dinge deutlicher sehen würde, die vielleicht schon immer in diesen beiden gewesen waren, nun aber durch die Gegenwart von Mowin deutlicher hervorscheinen würden. „Erinnerst Du Dich an Dein Wasserwandern?“ schloß der Alte.
Tavitih schwieg lange – und schien zu verstehen. Doch dann verdunkelte sich Tavitihs Gesicht wieder: „Mowin ist für mich ein Heuchler und ich kann mir mit Mowin kein „gemeinsames Wir“ vorstellen. Ich kann Mowin absolut nicht vertrauen!“
Der alte Oligoamore sah Tavitih an und sagte daraufhin: „Ich spreche zu Dir nicht von absolutem oder blindem Vertrauen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen absolutem Vertrauen und der Annahme, daß andere nicht vertrauenswürdig sind. Du mußt Mowin nicht lieben und vielleicht auch Mowin in Anday nicht unbedingt lieben. Aber überlege, ob Du Mowin dort nicht trotzdem zumindest erst einmal akzeptieren kannst.“

Die Geschichte von Anday und Tavitih, die dadurch ja nun auch die Geschichte von Nabiku und Mowin geworden ist, wird von den Oligoamoren von diesem Punkt an verschieden weitererzählt.
In manchen Versionen wird Mowin nicht Teil der Beziehung, in anderen Versionen trennen sich am Ende sogar Anday und Tavitih. Und in manchen Versionen leben alle zusammen glücklich bis an ihr Lebensende.

Dennoch enthalten alle Versionen die gleiche Moral: Nämlich, was für eine starke Kraft die Anderen in uns sind. Und wie bedeutend es für eine oligoamore Beziehung ist, die unabweisbare Präsenz der Beteiligten in den jeweils anderen Menschen anzuerkennen.
Daß es wichtig ist zu verstehen, daß man selber die anderen Beteiligten auch immer in sich selber trägt, sobald sich irgendeine liebende Beziehung zu entwickeln beginnt.
Und daß es es ein wunderbares Ziel wäre, die Anderen in den Anderen zu respektieren und dort mitzulieben.
Aber daß es zum gemeinsamen Gelingen zumindest wichtig ist, die anderen Lieben in den Anderen zu akzeptieren, um sie weiter als ganze Menschen wahrzunehmen und als solche wertzuschätzen.



Dank geht an Anaïs Nin für das Weltenzitat aus ihren Tagebüchern 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?“ ,
an Tanner Larson für sein Lagerfeuerbild auf unsplash.com,
und an Sandra Fels, ohne die diese Geschichte nur eine Idee geblieben wäre.


6 Antworten auf „Eintrag 6“

  1. Noch eine Ergänzung von mir.
    Der neue Mensch, der in unser Leben tritt, das können auch wir selbst sein. Wenn wir uns annehmen und lieben und mit einem neuen Aspekt von uns auch eine neue Welt entdecken.

  2. Ich liebe diese Namen und wenn du so schreibst. Unfassbar schön und tief schwingt dies Geschichte in mir nach und entführt mich in eine Welt, ganz tief in mich hinein.
    Vielen Dank, für dieses Lob, dessen ich mich noch nicht ganz gewachsen fühle.
    Liebe Umärmelung!

  3. Was für eine schöne, tiefsinnige und berührende Geschichte. Es gibt diese systemischen Aufstellungen und ich habe einmal ein Hörbuch zum Thema „Ich stehe nicht zur Verfügung“ von Jacobsen (glaube ich) gehört. Kann es sein, dass die Beteiligten in den Beziehungen auch manchmal Stellvertreter, der anderen Beteiligten sind?

    1. Meine Geschichte ist hinsichtlich der Protagonist*innen ja bewußt schablonenhaft geblieben, damit sich so viele Leser*innen wie möglich damit identifizieren können (z.B. gibt es keine geschlechtsanzeigenden Pronomen oder genderidente Namen).
      Was das „Spiegeln“ angeht, so würde ich generell sagen, daß dies oft nicht soviel mit systemischem Stellvertretertum zu tun hat, sondern mit dem sprichwörtlichen Klassiker „An den anderen Menschen stören einen die eigenen Fehler am meisten“. Oder mit dem biblischen Matthäus 7:3 „Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem eigenen Auge?“.

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