Eintrag 13

Eben war noch alles gut…

Ein ausgewachsener oligoamorer Eingeborener, der mit großen Schritten aus dem Wald auf einen zukommt und dabei zugleich ein Tablet schwenkt, ist ein durchaus imposanter wie auch eigenartiger Anblick. Zudem, wenn es noch früh am Morgen ist und Dunstschleier zwischen den Baumstämmen aufsteigen, die ihrerseits von den ersten Sonnenstrahlen in sagenhaft leuchtende Gebilde verwandelt werden. Noch bevor ich den Teekessel neben dem Lagerfeuer absetzen kann, hat sich der ehrfurchtgebietende Ankömmling jedoch schon schnaufend neben mich auf einen beängstigend knackenden Campingstuhl herabgesenkt und beginnt zu sprechen:

„Deine Geschichte mit dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hat mir gut gefallen. Und auch wie Du darin zeigst, daß wir Menschen in unseren Beziehungen ganz ähnlich unterschiedliche Geschwindigkeiten haben.“
In einer Mischung aus Überraschung und Einschüchterung gelingt es mir immerhin so etwas wie meinen Dank hervorzustammeln und dem Oligoamoren einen Becher mit Tee anzubieten – den dieser auch annimmt und dann fortfährt:
„…Allerdings hast Du einen interessanten Zeitpunkt gewählt, an dem Du die Geschichte abgebrochen hast.“
„Naja…“, sage ich, indem ich endlich meine Stimme richtig wiederfinde, „Ich schrieb am Ende doch, daß alle Beteiligten in dem Moment eigentlich erst ganz am Anfang ihrer Beziehungsreise miteinander stehen. Und ich beschrieb auch ihre inneren Wünsche, Unklarheiten und Einwendungen, die es zukünftig gemeinsam noch zu integrieren gilt.“
Mein Sitznachbar wiegt den Kopf: „Für den seltsamen Kontinent der Offenen Beziehungen oder das vielgestaltige Archipel der Polyamory mag das vielleicht gerade noch so angehen…“, sagt er, „…aber nach oligoamoren Maßstäben könnte Deine Geschichte sogar da schon zu Ende sein.“
Jetzt falle ich wieder in meine anfängliche Rolle zurück, meinen Besucher mit offenem Mund und geweiteten Augen anzustarren.
Der aber sieht plötzlich sehr ernst aus, beinahe auch irgendwie traurig, als er weiterspricht: „Nun, lieber Oligotropos, Dir sind doch wahrscheinlich genug Mehrfachbeziehungen bekannt, die nach einigen Wochen oder auch Monaten von vielversprechenden und fulminanten Anfängen scheinbar urplötzlich und unvorhersehbar vollkommen aus dem Ruder gelaufen sind – wo oft einzelne oder mehrere Beteiligte ausscherten und zum Entsetzen der Übrigen verkündeten, daß sie so nicht mehr weitermachen könnten…“
Statt zu antworten nicke ich erst mal, denn ich kann erkennen, daß es dem Oligoamoren wohl wirklich um etwas Wichtiges geht.
„Hier, der Vincent in Deiner Geschichte und ebenfalls die Ivana wären solche Personen – ja vielleicht auch der Max.“

Nun hat mein Gesprächspartner mein Interesse vollends geweckt, ich setze mich auf, schenke Tee nach und frage: „Habt Ihr Oligoamoren da von etwas Kenntnis, was uns anderen bisher verborgen geblieben ist? Habt Ihr gar eine Art ‚6. Beziehungssinn‘?“
Mein Besucher gestattet sich nur ein halbes Lächeln, als er antwortet: „Das nun wohl gerade nicht. Dennoch sind manche von uns gute Beobachter – und natürlich haben wir im Laufe der Zeit unsere eigenen Erfahrungen gesammelt. Was nicht heißen soll, daß das entlegene Eiland der Oligoamory völlig von solchen Erscheinungen verschont geblieben ist.“
„Ach, das hätte ich so nicht gedacht“, sage ich. „Erzählt mir bitte alles, was Ihr über diese plötzlichen Stimmungsveränderungen wißt!“
„Nun“, beginnt mein Gast langsam, „zum Beispiel, daß es nie wirklich ‚plötzlich‘ ist.“
„Erklärt es mir!“
„Es ist doch so, daß wir als Lebewesen immer kleine Signale aussenden, auch wenn es vielleicht sogar unbewußt ist.“ „Ja…“
„Wenn nun in den Anfängen einer Mehrfachbeziehung bei einer oder gar mehreren Personen irgendwelche Irritationen im Verborgenen liegen, dann sind auch dafür diese ‚kleinen Signale‘ immer schon da.“
„Ich verstehe.“
„Ja – aber Menschen zeigen dann manchmal auf allen Seiten der Beziehung ein scheinbar seltsames Verhalten, welches Beobachtern oftmals eher auffallen kann als den Betroffenen selbst.“
„Dafür bräuchte ich ein Beispiel…“

„Also – z.B. kommt von manchen an der Gründung von Mehrfachbeziehungen Beteiligen kein großes, klares ‚Ja!‚, sondern mehr Äußerungen wie ‚Ok, lass es uns versuchen…‚ oder ein ‚Wenn Du meinst...‘ oder ‚Das könnte schon irgendwie gehen...‘. Nun ist es aber dadurch für die anderen Personen in der entstehenden Beziehung – vermutlich auch, weil sich alle noch nicht gut genug kennen – zu leicht, in so einem Fall die ‚kleinen Signale‘, nämlich, daß es sich da keineswegs um ein klares ‚Ja!‘ handelt, sondern um eine Befangenheit, die ausgedrückt wurde, zu übersehen. Oder es wird sich auf das Gesagte verlassen, den ein klares ‚Nein!‘ war es ja nun gerade auch nicht.“
„Aber es heißt doch“, wende ich ein, „daß Kommunikation in Mehrfachbeziehungen das Wichtigste ist. Das steht doch schon in nahezu jedem Artikel zum Thema…“
„Das mag schon sein“, erwidert mein Besucher, „aber gleichzeitig haben wir Menschen auch oft Angst, daß wir auf eine Nachfrage etwas hören müssen, was wir nicht hören wollen. Also fragen wir lieber nicht nach, denn die andere Person hat ja noch keinen Umstand ausgedrückt, der das nötig machen würde. Und solange diese nichts gesagt hat, kann ich mir weiter zusprechen, daß wohl alles ok ist und setze mein bisheriges Verhalten fort… Und das kann eine Art Teufelskreis – oder besser eine Teufelsspirale in Gang setzen, weil auch die Person, die ihre Unsicherheit nur indirekt ausgedrückt hat, erleben wird, wie alle Anderen das bisherige Verhalten fortsetzen oder sogar noch verstärken.“
„Aber Du gibst damit ja zu, daß das Erkennen der Unsicherheit schwierig ist…“, wende ich ein.
„Wir müssen nicht immer alles erkennen können, richtig. Wir müssen auch nicht auf die anderen ‚aufpassen‘. Aber als Erwachsene haben wir für uns die Verantwortung, den Mut aufzubringen, auch Dinge hören zu können, die wir vielleicht lieber nicht hören wollen. Schließlich geht es um nichts weniger als um den Aufbau einer Beziehung zueinander. Je rechtzeitiger wir also nachfragen, umso eher wird es auch eine gemeinsame Problemlösung geben können.“
„Ja aber…“
„Oligotropos, Menschen sind sehr unterschiedlich. Manche haben vielleicht keine gute Startposition, was Mehrfachbeziehungen betrifft. Dann ist so manches von Anfang an ‚zuviel‘, was den Stand ihrer inneren Entwicklung angeht. Vielleicht kommt der Mensch bei etwas nicht mit, weil er glaubt, daß es von ihm verlangt wird. Oder sie*er möchte es vielleicht selber gerne geben, weiß aber noch nicht wie. Oder sie*er hat sich noch nie damit auseinandergesetzt, ob sie*er überhaupt jemals so leben wollte.“
„Das klingt schwerwiegend…“
„Ist es für die Betroffenen auch. Denn für sie könnte sich der Beginn einer Mehrfachbeziehung schnell wie ein Sprint von Marathonlänge anfühlen, weil sie durch das Tempo der Anderen merken, daß sie aufholen müssten – und die Diskrepanz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, wird dann häufig immer größer.“
„Ah, jetzt beginn ich, den Einstieg mit der ‚Befangenheit‘ zu verstehen.“
„Ja genau. Denn der anfängliche Graben bleibt – und wird schlimmstenfalls allmählich größer. Und die Inkohärenz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, die in so einem Menschen herrscht, die ist von außen durchaus zu bemerken.“
„Das wäre doch dann wieder der Moment für gute Kommunikation – oder sogar für ein Innehalten!“, sage ich eifrig.

Der Große neben mir seufzt schwer. „Ja, aber oft beginnt da eine weitere Phase, in der dann von den Beteiligten versucht wird, das Verspürte mit unglücklich angebrachtem Humor zu überspielen oder der Person, die Schwierigkeiten hat, das als bloße Schrulligkeit auszulegen. Denn in so einem Moment wirklich nachzufragen, würde ja erst recht das Risiko in sich tragen, nicht mehr mit dem weitermachen zu können, was man eigentlich gerne – und lieber – tun würde.“ Der Oligoamore pausiert und legt die Stirn in Falten, bevor er weiterspricht.
„Das kann auf beiden Seiten zu sehr dummen Gedankengängen führen. Die Seite, die die ersehnte Mehrfachbeziehung unbedingt für sich ins Ziel bringen möchte, denkt an so einem Punkt vielleicht ‚Ich muß mich hierbei jetzt durchsetzen, denn sonst verliere ich mich (und meine Bedürfnisdeckung)…‘ Und die unsichere Seite glaubt vielleicht ängstlich ‚Ich lass Dich machen, denn sonst verliere ich Dich möglicherweise…‘ Und leider wird da dann meistens zu lange gewartet, bis eine*r der Beteiligten sagt: ‚Halt stopp, so geht das jetzt nicht.‘.
An so einem Punkt beginnen alle aus Ängsten heraus zu agieren: Verzichtsangst gegen Verlustangst. Das kann nicht gut gehen.“
„Das wirkt für mich ganz schön dramatisch“, sage ich. „Was könnten die Beziehungsmenschen denn besser machen?“
Der Oligoamore schnauft; er sieht ein bißchen so aus, als ob er an etwas denkt, was ihm einstmals selber widerfahren ist. Wortlos fülle ich seinen Tee auf.
„Es wird nicht umsonst oft genug betont, daß die Langsamen die Tempomacher sein sollen“, fährt er schließlich fort. „Wenn man die Langsamen durch Druck machen oder selbstvergessenes Handeln aus dem Boot verliert, dann hat niemand mehr Freude. Denn irgendwo sitzt dann jemand zuhause, der aus Überforderung aus den Ohren pfeift und sehr unglücklich ist.
Ich meine: Wir reden hier doch über Menschen, die eigentlich starke Gefühle füreinander empfinden, die sich lieben. Eine Lösung findet sich also nur über ein gemeinsames, wohlwollendes Ganzes. Partei A könnte also z.B. sich um Lösungen für die eigene Verunsicherung bemühen. Gleichzeitig müsste Partei B aber mit der ersehnten Umsetzung warten. Und beides müsste in einem wechselseitigen Prozess geschehen – und zwar so, daß es auch wechselseitig spürbar wäre. Während A also ‚Komfortzonenstretching‘ betreibt, muß B sich in Selbstzurücknahme üben. Das ist beides ganz schön anspruchsvoll.“
„Puh, das hört sich für mich auch so an. Erst recht in einer Mehrfachbeziehung, wo gleich mehrerer Personen betroffen sein können…“
„Allerdings. Und das ist nicht alles. Der vorherige Prozess aus Unklarheit und ungenügender Aufmerksamkeit entwickelt sich allmählich, wie eine exponentielle Kurve. Die ‚Explosion‘ oder das ‚Aufgeben‘ von Beteiligten an deren Ende ist fast immer ein Verhalten, was an einem Höchstpunkt gewählt wird, wenn sonst keine andere Strategie mehr wirkt.
Meist müssen dann echte Schritte von den Dingen zurück gemacht werden, die man schon erreicht zu haben glaubte. Und die danach erfolgenden, langsameren Schritte werden eine ganze Weile noch nicht wieder bei dem ‚Schein-Erreichten‘ anlangen.“
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das klingt so frustrierend…“

Da aber habe ich mit einem Mal die volle Aufmerksamkeit des Oligoamoren, denn sein Kopf fährt zu mir herum und er schaut mich mit wilden Augen an:
„Was ist die Alternative, Oligotropos? Wer in einer liebenden Beziehung hat die Verantwortung dafür, daß es allen damit gut geht?
Ihr Menschen vom Festland – ihr haltet es da wie mit einem Buch, bei dem ihr mitten in die Geschichte springt, weil Euer Bedürfnis – ja, ich sage sogar Eure Bedürftigkeit – an dem Punkt, an dem ihr endlich das Buch gefunden habt, schon dermaßen groß ist, daß ihr nicht mehr abwarten wollt, wie sich die Geschichte darin zunächst überhaupt entfaltet. Ihr wollt gleich mitten in der Geschichte sein – oder vielmehr an deren glücklichem Ende, ihr wollt dann alles sofort haben, das volle Programm. Es ist dann aber nur eine ‚Schein-Geschichte‘, denn über diesen Versuch einer Abkürzung ist eigentlich gar keine Geschichte entstanden. Und ohne die Geschichte gibt es auch nur die Illusion von diesem ‚Schein-Erreichten‘, das ich eben erwähnte.
Oft stimmt aber irgendetwas nicht für irgendwen, häufig gehen Menschen auf diese Weise über ihre eigenen Grenzen, manche möchten mehr gönnen als sie tatsächlich schon geben können – denn im Hintergrund bleibt ja die Dynamik aus erworbenen Ängsten, Vorbehalten oder Emotionalität trotzdem aktiv.
Gerade das ruft dann bei den Personen, die bislang mit ihrer Befangenheit ringen, eine Zeit lang noch das Phänomen von dargebotener Compliance (diese eher unfreiwillige Mischung aus Fügsamkeit und Konformität) hervor, hinter der im Inneren eigentlich ein sich aufschaukelndes Paradoxon steht: Tempo und Einklang sind noch gar nicht reif – aber der Mensch tut mal so, als ob.
Dabei sind ‚Abkürzungen‘ hier schlichtweg nicht möglich – und führen nur tiefer in den Konflikt der ‚Teufelsspirale‘, von der ich schon sprach.
Die Person gerät für sich selbst und für die anderen zu einem ’schwierigen Fall‘. Denn alle versuchen ein wenig so zu tun, als ob nichts wäre. Und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen leidet dabei am meisten – also wird sich trotz noch so blumiger allseitiger Versicherungen kein wirkliches Vertrauen aufbauen.
Jede*r von uns kann sich aber nur wirklich jemandem anvertrauen, dem sie oder er wahrhaft vertraut. Dabei wäre der Selbstausdruck jetzt so wichtig, damit alle verstehen, was in der leidenden Person gerade lebendig ist.“
„Jetzt verstehe ich, was Du mir zu verstehen geben wolltest, als Du anfänglich sagtest, meine Geschichte könnte an dem Punkt, an dem ich sie beendet hatte, wirklich schlimmstenfalls schon tatsächlich ganz und gar zu Ende sein.“ sage ich leise. „Ich werde darüber gründlich nachdenken. Was soll ich aber nun heute meinen Leser*innen in das Blogbuch der Expedition schreiben?“

Der Oligoamore erhebt sich ächzend – und ich erkenne noch mal, wie groß er wirklich ist. „Schreib‘ doch, daß es wichtig ist, daß jede*r sich auf ihre/seine Art äußern können muß. Schreib‘, daß es wichtig ist, daß alle sich im aufrichtigen Ausdruck voreinander üben. Jeder Mensch möchte ernst genommen und gehört werden.
Oft nehmen wir Übrigen so etwas aber dann persönlich, fühlen uns häufig selbst gemeint, vielleicht sogar angegriffen oder schuldig. Das passiert, wenn wir mit dem ‚Appellohr‚ hören: ‚Du mußt jetzt gleich etwas tun, damit es für mich besser wird…!‘ – Aber so ist das fast nie gemeint. Darum, Oligotropos, mochte ich Deine Erzählung unserer Legende vom gefallenen Helden, dem schwarzen Fledermausmann, richtig gerne: Menschen versuchen normalerweise für sich und für einander etwas Gutes zu bewirken; das kann auch ordentlich schief gehen – aber die Absicht dahinter war meist trotzdem erst mal gut. Das ist wichtig im Kopf zu behalten, vor allem in Liebesbeziehungen!“
Ich bin jetzt doch beinahe etwas gebauchpinselt von diesem letzten Lob des Eingeborenen – und darum merke ich gar nicht, daß dieser schon wieder mit langen Schritten fast im Wald verschwunden ist.
Und darum erhasche ich nur einen letzten Blick auf ihn, als dieser mir, sein Tablet dabei über dem Kopf schwenkend, noch zuruft: „Darüber schreibe weiter, Oligotropos. Schreibe weiter und erzähle unsere Geschichten!“
So bleibe ich heute etwas verwirrt an meinem Feuer zurück. Sehr unvermittelt ist diese Begegnung über mich gekommen – und mit ihr dieses ziemlich unbequeme Thema.
Doch plötzlich muß ich doch fast lachen, denn ich denke mit einem Mal: Sich auch etwas nicht so Angenehmes sagen zu lassen – ohne davor wegzulaufen… Vielleicht ist mir das heute auf sonderbare Weise beinahe ein bisschen geglückt.




Danke an Katrin, Kerstin, Sebastian und Silke ohne deren Erlebnisse und Erfahrungen ich diesen Eintrag nicht hätte verfassen können.
Und Dank an holgerheinze0 auf Pixabay für das Bild meines Besuchers.

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