Eintrag 17

Von Pragmatikern und Idealisten

Als ich das Buch „Gemeinschaftsbildung“ von Scott Peck las, erlebte ich gleich im ersten Kapitel etwas für mich unglaublich Beruhigendes. In diesem ersten Kapitel („In Gemeinschaft hineinstolpern“) beschreibt der Autor nämlich seine eigenen ersten Begegnungen mit Gemeinschaftsbildungsprozessen. Und gleich in seinem allerersten Kontakt mit diesem Thema beschrieb er ein Phänomen, welches auch ich genau genommen in allen menschlichen Gruppierungen so wahrnehme – und darum freue ich mich sehr, daß auch einer der prominentesten Vertreter des „Gemeinschaftsbildungsgedankens“ direkt damit konfrontiert wurde.
Natürlich handelte Scott Pecks Erlebnis von einem Gruppenbildungsprozess (an dem er damals selber teilnahm). Im Laufe dieses Prozesses beschreibt er, wie es zu einer Lagerbildung zwischen zwei Gruppen kam, was zunächst den Fluß der Veranstaltung erheblich behinderte:

>> So dauerte es nicht lange, bis jemand bemerkte „Hey Leute, wir haben es vermasselt. Wir haben den guten Geist verloren. Was ist los?“
„Für euch kann ich nicht sprechen“, antwortete einer, „aber ich habe mich geärgert. Ich weiß nicht warum. Es scheint mir, als hätten wir uns in abgehobene Diskussionen über menschliches Schicksal und spirituelles Wachstum verloren.“ Einige Teilnehmer nickten energisch, um ihre Zustimmung zu signalisieren.
„Was ist so abgehoben daran, über menschliches Schicksal und spirituelles Wachstum zu sprechen?“ konterte ein anderer. „Das ist doch etwas ganz Entscheidendes. Da geht’s lang. Darum geht es im Leben. Das ist doch die Basis, um Gottes Willen!“ Andere nickten jetzt ebenso energisch.
„Wenn Du sagst ‚um Gottes Willen‘, triffst Du meiner Meinung nach genau das Problem“, sagte einer derjenigen, die zuerst genickt hatten. „Ich z.B. glaube gar nicht an Gott. Ihr schwatzt über Gott und Schicksal und Geist, als wenn diese Dinge real wären. Nichts davon ist nachweisbar. Darum läßt es mich kalt. Was mich interessiert ist das Hier und Jetzt, d.h., wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene, die Masern meiner Kinder, das zunehmende Übergewicht meiner Frau, wie kuriert man Schizophrenie, und ob ich nächstes Jahr nach Vietnam einberufen werde.“
„Man könnte meinen, daß wir anscheinend in zwei Lager gespalten sind“, warf ein anderes Mitglied bescheiden ein.
Plötzlich brach die ganze Gruppe in ein schallendes Gelächter aus, weil er seine Interpretation so milde formuliert hatte.
„Man könnte meinen, daß – ja so ist es – man könnte meinen“, rief jemand laut heraus und schlug sich auf die Oberschenkel. „Ja es könnte möglicherweise so den Anschein haben“, sagte ein anderer und brüllte vor Lachen.
So setzten wir endlich heiter unsere Arbeit fort und analysierten die Spaltung zwischen uns. Wir waren in zwei gleich große Lager geteilt. Das Lager, zu dem ich gehörte, bezeichnete die anderen sechs Teilnehmer als „
Materialisten“.
Die Materialisten wiederum nannten uns „
Gralsritter“. <<

Wenn es Euch nun so wie Scott Peck und mir ergeht – und Ihr in menschlichen Gemeinschaften häufig wahrzunehmen scheint, daß sich z.B. In Gesprächen oder bei Herangehensweisen irgendwann zwei sehr unterschiedliche Ansätze gegenüber stehen – dann könnte das an dem Unterschied zwischen „Pragmatikern“ (Materialisten) und „Idealisten“ (Gralsrittern) liegen.

Pragmatiker
sind Menschen, der sich überwiegend an sachlichen Gegebenheiten ausrichten. Pragmatiker orientieren sich dabei weniger an Prinzipien, sondern überlegen in welcher konkreten Situation sie sich befinden und nutzen dann eine Vorgangsweise, die von – wer hätte das gedacht – Pragmatismus geprägt ist.
Wikipedia sagt dazu: „Der Ausdruck Pragmatismus (von altgriechisch πρᾶγμα pragma „Handlung“, „Sache“) bezeichnet umgangssprachlich ein Verhalten, das sich nach bekannten situativen Gegebenheiten richtet, wodurch das praktische Handeln über die theoretische Vernunft gestellt wird. Die philosophische Tradition Pragmatismus geht davon aus, dass der Gehalt einer Theorie von deren praktischen Konsequenzen her bestimmt werden soll. Daher lehnen Pragmatisten das Arbeiten mit starren oder gar unveränderliche Prinzipien (z.B. auch Maxime, Ideale) häufig ab.
Pragmatismus ist also eine Herangehensweise, wo überlegt wird was machbar ist und welche Auswirkungen das (eigene) Handeln hat.
Eine Stärke der Pragmatiker ist auf diese Weise, daß sie sehr ergebnisorientiert bzw., mehr noch, zielorientiert denken und handeln. Wenn Pragmatiker „Absicht“ sagen, bezeichnen sie damit fast immer bereits eine konkrete Handlungskette.
Wenn Pragmatiker also empfehlen „Nicht soviel denken, einfach machen…“ oder „Nicht verkopft sein, einfach leben…“, dann entspricht diese Aussage gewissermaßen ihrer inneren Natur, da es ihnen leicht fällt, auch situativ sehr schnell ihren Kompaß nach den jeweiligen Gegebenheiten (wieder) zu justieren und dadurch eine konkrete Orientierung hin zum nächsten Ziel bzw. zur nächsten Lösung in Angriff zu nehmen.
Letzteres führt dazu, daß Pragmatiker aus ihrer Sicht eher in einer Welt unterwegs sind, in der das „Sein das Bewußtsein formt“, weil sie überwiegend aus vorhandenen Tatsachen dann Theorien oder Handlungskonzepte für sich ableiten.
Als Varianten der Pragmatiker gibt es „Materialisten“, die letztendlich sämtliche Vorgänge auf das physikalische Wirken der greif- und meßbaren Materie beziehen und persönlich dieser damit auch den höchsten Stellenwert einräumen. Zu diesen zählen daher auch die „Utilitaristen“, die Handlungen oder Gegenstände nach einem Zweckmäßigkeits- bzw. Geeignetheitsgedanken beurteilen.

[Ebenfalls zu den Pragmatikern werden oft auch die philosophischen Strömungen des Hedonismus (basierend auf den Lehren des antiken griechischen Philosophen Aristippos von Kyrene) oder des Epikureismus (benannt nach den Lehren des antiken griechischen Philosophen Epikur) gezählt. Diese Selbst- oder Fremdeinordnung muß aber vorsichtig betrachtet werden, da „Hedonismus“ und Epikureismus“ sehr oft in sozialen Kontexten verkürzt mit „Lustmaximierung und Leidvermeidung“ paraphrasiert werden – eigentlich jedoch komplexe Philosophien der Lebensgestaltung nach Gesichtspunkten von Ausgewogenheit und Gelassenheit sind.]

Idealisten‏‎
sind Menschen, die überwiegend – wer hätte das gedacht – nach Idealen streben. „Ideale“ sind dabei meist Vorstellungen eines möglichst vollendeten oder ausgereiften Zustands, dem sie sich in ihren Herangehensweisen annähern wollen. Die „Ideen“, „Maximen“ oder „Prinzipien“ eines „größtmöglichen XYZ“ können dabei auch einem philosophischen, spirituellen oder esoterischen Kontext angelehnt sein, dem sie sich verpflichtet fühlen.

Wikipedia sagt dazu: „Idealismus (abgeleitet von griechisch ἰδέα „Idee“, „Urbild“) bezeichnet in der Philosophie unterschiedliche Strömungen und Einzelpositionen, die hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist bzw. dass Ideen bzw. Ideelles die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. Im engeren Sinn wird als Vertreter eines Idealismus bezeichnet, wer annimmt, dass die physikalische Welt nur als Objekt für das Bewusstsein oder im Bewusstsein existiert oder in sich selbst geistig beschaffen ist.

Im
ethischen Idealismus wird davon ausgegangen, dass wir durch vernünftige, verlässliche und verbindliche Überlegungen unser Handeln begründen und regeln können und sollen.“

Eine Stärke der Idealisten ist auf diese Weise, daß sie sehr prozessorientiert bzw., mehr noch, prozessbegleitend denken und handeln. Wenn Idealisten „Absicht“ sagen, bezeichnen sie damit fast immer eine Maxime, die – wie ein Leitstern in der Seefahrt – die Richtung anzeigt, ohne selbst physisch wirklich „erreichbar“ zu sein.
Wenn Idealisten also sagen, daß „…eine Wirkung oder eine Handlung sich aus vielerlei Ursachen zusammensetzt und jedes Vorgehen daher zuvor gründlich überlegt werden muß… (Erst nachdenken/reflektieren – dann handeln) “, dann entspricht diese Aussage gewissermaßen ihrer inneren Natur, da es für sie selbstverständlich ist, allen Begleitumstände zuvor eine ähnlich sorgfältige Betrachtung zuteil werden zu lassen, um zu einer bestmöglichen Vorgehensweise zu gelangen.
Letzteres führt dazu, daß Idealisten aus ihrer Sicht eher in einer Welt unterwegs sind, in der das „Bewußtsein das Sein formt“, weil sie überwiegend aus innerer Anschauung und aus gründlicher Reflektion einer Idee heraus zur Tat schreiten.
Eine Variante der Idealisten sind daher allerdings darum die „Fanatiker“ (in abgemilderter Form auch „Perfektionisten“), die alles und jeden kompromißslos der Erfüllung ihres Vollkommenheitsideals unterwerfen wollen.
[Ebenfalls zu den Idealisten werden oft auch die „Romantiker“ (benannt nach der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik) gezählt. Diese Selbst- oder Fremdeinordnung muß aber vorsichtig betrachtet werden, da „Romantik“ sehr oft in sozialen Kontexten verkürzt mit einem rückwärtsgewandt-sentimentalen Zustand überfließenden Gefühlsreichtums gleichgesetzt wird – eigentlich jedoch auf einer komplexen Philosophie aus Altruismus und Vergänglichkeitsbewußtsein beruht.]

Zwischen Pragmatikern und Idealisten kann es also schnell – wie in dem Beispiel von Scott Peck – gerade im Punkt „gemeinschaftliche Beziehung“ zu Konflikten kommen, weil sich Denk- und Herangehensweisen z.T. so stark unterscheiden, daß das Verhalten der „Gegenseite“ vom jeweils eignen Standpunkt her mißverständlich aufgefasst werden kann.
Die Folge sind oftmals Unverständnis und Kritik.
Auf Pragmatiker können Idealisten mitunter bis zur Erbsenzählerei umständlich und von dieser Welt sehr abgehoben wirken. „Idealisten suchen zu lange im dunklen Zimmer nach der schwarzen Katze, die gar nicht da ist“, würden Pragmatiker eventuell sagen.
Auf Idealisten wiederum können Pragmatiker manchmal unglaublich stumpf und unvisionär wirken. Idealisten könnten z.B. sagen: „Pragmatiker haben gar kein Interesse daran, hinter den Vorhang zu schauen. Ihnen gefällt der Vorhang.

Dabei sind für die meisten menschlichen Projekte beide Ansätze gleichermaßen wichtig: Idealisten überlegen, was wünschenswert wäre, Pragmatiker setzten sich damit auseinander, was machbar ist.
Wenn Pragmatiker keine Ideale haben, drohen ihnen Seichtheit und Banalität.
Idealisten hingegen, die glauben auf Sachbezogenheit verzichten zu können, schweben entweder in den Wolken und setzen nichts um oder sie verzetteln sich in endlosen Streitereien um ein hehres Ziel mit allen anderen.
Pragmatiker und Idealisten können sich deswegen sehr unversöhnlich gegenüber stehen bzw. der Versuch von Kooperation mündet in ein recht fruchtloses „Nebeneinander“.
Oder sie haben die Möglichkeit, das Beste aus beiden Welten heranzuziehen und zu einer gemeinsamen Synthese zu vereinen, wobei sie sich ergänzen und dadurch ihre extremen Erscheinungsformen abmildern.

Scott Pecks damaliger Gemeinschaftsbildungsprozess geriet übrigens dank des oben beschriebenen allgemeinen Heiterkeitsanfalles glücklich:

>> Wir erkannten, daß es die Materialisten nicht schaffen würden, uns Gralsritter „zur Vernunft“ zu bringen und uns davon abzuhalten unseren Idealen nachzujagen. Gleichzeitig akzeptierten wir Gralsritter, daß wir das andere Lager nicht vom bodenständigen Materialismus abbringen konnten. <<

Mit einer kreativen Lösung konnte sogar ein „Brücke zwischen beiden (Wahrnehmungs)Welten“ geschlagen werden, welche die Stärken beider Modelle vereinte:
>> Wir überlegten, für uns alle einen gemeinsamen, identitätsstiftenden Mythos auszudenken. Wir wollten den Organismus unserer Beziehungsprozesses weder als „rein materialistisch“ noch als „super-spirituell“ konzipieren. So brachte jedes Mitglied eigene Ideen ein, und wir entwarfen gemeinsam eine etwas skurrile Parabel, ein Gleichnis, in dem sich jeder Teilnehmer wiederfinden konnte:
Wir verglichen unsere Beziehungsprozess mit einer Seeschildkröte, die an Land ging, um ihre Eier zu legen, und die sich nun in den Ozean zurückschleppt, um zu sterben. Wie viele Nachkommen schlüpfen und trotz vieler Gefahren den rettenden Ozean erreichen würden, war dem Schicksal überlassen.
<<

Scott Peck resümiert dazu selber:
>> Die Auflösung der Reibung zwischen den „Materialisten“ und den „Gralsrittern“ war meine erste Erfahrung mit Konfliktlösung in einer Gruppe. Ich hatte vorher nicht gewußt, daß es für eine Gruppe von Menschen möglich war, die Unterschiede anzuerkennen, sie beiseite zu legen und sich immer noch zu lieben. In dieser kurzen Zeit konnte ich beobachten, wie Menschen Meinungsverschiedenheiten kreativ nutzten und überwanden. <<

Als Erforscher oligoamorer Lande möchte ich ergänzen: Diese Gruppe besonderer Menschen hatte sich freiwillig miteinander auf einen Gemeinschaftsbildungsprozess eingelassen. Ihre verbindende Stärke war es, daß sie trotz unterschiedlicher Grundkonzeptionen dem „gemeinsamen Wir“ – jenseits aller trennenden Unterschiede – bis zum Schluß den höchsten Stellenwert gaben.

Und da dennoch Idealisten und Pragmatiker im Alltag sehr unterschiedliche Sprachen sprechen können und Verständigung nicht immer gelingt, könnte es hinsichtlich oligoamorer Mehrfachbeziehungen vermutlich wichtiger sein – gerade bei der Wahl von Partner*innen bzw. Konstellationen – nicht so sehr nach FFM, MMF, MFMF…¹ etc. zu fragen, sondern vielmehr nach IPP, PPI, IPIP…



PS: Ich entschuldige mich ausdrücklich, daß ich in diesem Artikel den Plural der Wörter „Pragmatiker“ und „Idealisten“ nicht mit Genderstern versehen habe. Aus meiner Sicht als Autor wäre es diesmal auf Kosten der Lesbarkeit doch recht ungeordnet geworden.

¹ Die Buchstaben beziehen sich auf die häufig auf Dating- und Erotikportalen benutzten Kürzel für Kombinationen von Frau/Frau/Mann, Mann,Mann,Frau etc.

Danke an Anne für die Inspiration und Dank an Simona Robová auf Pixabay für das Foto!

2 Antworten auf „Eintrag 17“

  1. Ich bin der Meinung und glaube fest, daß es bei den Erscheinungen des Idealisten und / oder Pragmatikers immer Vermischungen gibt.
    Nie ist man nur ein absoluter Teil von dem Einem. Ich merk das selbst sehr stark an mir selbst. Oft kann sogar ein Gleichgewicht der beiden Einstellungen entstehen. Es kann aber auch eins stärker sich hervorheben als das andere.
    Denk ich.

    1. Es gibt ja die schöne Graffiti-Anekdote: “Ein Unternehmer in Texas schrieb an sein Lagerhaus: ‘The way to do is to be. [Etwas zu tun heißt zu sein.]’—Leo-tzu, Chinesischer Philosoph. Ein paar Tage später schrieb ein Geschäftsreisender darunter: ‘The way to be is to do. [Zu sein heißt etwas zu tun.]’—Dale Carnegie, US-amerikanischer Motivationstrainer. Und einige Tage später schrieb ein weiterer anonymer Schlaufuch darunter: “‘Do be do be do.’ — Frank Sinatra, Sänger.”
      Also ja: Mischformen existieren und eine Gesellschaft oder auch eine Persönlichkeit braucht ganz sicher sowohl die anpackende Kraft der Pragmatiker*innen als auch den visionären Gedankenflug der Idealist*innen.
      Oft aber zeigt sich, gerade wenn die Dinge wirklich spitz auf Knopf stehen, in welche Richtung man selbst unwillkürlich am stärksten tendiert.

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