Eintrag 19

Verliebt ins Hier und Jetzt

Neulich wurde in einem sozialen Netzwerk – innerhalb einer Gruppe, die sich mit Mehrfachpartnerschaften beschäftigt – über Verliebtheit diskutiert. Wir hier zuhause haben uns noch eine Weile weiter über diese Themen ausgetauscht – und so möchte ich meinen Blog nutzen, um unsere Gedanken auf diese Weise auch noch einmal zu teilen.

Zunächst haben wir überlegt, daß „Verlieben“ wahrscheinlich ein vollkommen individueller Vorgang ist, den jede*r Mensch vermutlich ganz persönlich erlebt – insbesondere wenn man die biologisch-stammesgeschichtliche, sowie die zerebral-hormonelle Ebene von Oxcytocin und Vasopressin, von Testosteron und Prolakin dabei einmal außer Acht läßt (sehr ausführlich dazu R.D. Precht in seinem Buch „Liebe – Ein unordentliches Gefühl “, Goldmann 2009, Kapitel 1: Was Liebe mit Biologie zu tun hat).

Dem wirklichen Verlieben ist ja oftmals das sogenannte „Schwärmen“ vorgeschaltet.
Schwärmen – das kann man auch für Helden, für Filmstars, Musiker*innen, Models und den unerreichbaren Traummenschen aus der Parallelklasse. Dieser „Zielgruppe“ ist gemeinsam, daß wir uns wegen der eingebildeten oder tatsächlichen Distanz zu diesen Personen eher in unsere eigene Vorstellung, die wir uns von diesen Leuten ausmalen, vergucken – und nicht so sehr in den tatsächlichen Menschen selber.

Wenn es dann „ernster“ wird, wenn wir uns dann tatsächlich in ein konkretes Gegenüber verlieben, dann ist uns hier aufgefallen, daß sich die Grundlage dafür trotzdem vielfach aus so etwas wie dem „Schwärmen“ ergibt. Überraschenderweise scheint es dabei nämlich – ähnlich wie bei den „Pragmatikern und Idealisten“ – meistens zwei Ausgangspositionen zu geben:
Die erste Gruppe verliebt sich in eine andere Person, weil diese etwas (für sie) tut.
Die zweite Gruppe verliebt sich in eine andere Person, weil sie glaubt, einen Teil der Persönlichkeit des Anderen erkannt zu haben.

Die erste Gruppe möchte ich hier, etwas künstlich, „dissimilatorisch“ (von Lateinisch „dissimilis“ unähnlich) nennen.
Personen, die zu dieser Gruppe zählen, sind meist von der Unterschiedlichkeit der Menschen fasziniert. Sie legen sehr stark Wert auf ihre eigene Selbständigkeit und schätzen dies darum auch bei ihrem Gegenüber.
Wenn sich auf diese Weise situativ immer wieder neue Spannungsfelder durch die vielfältigen Anregungen der verschiedenartigen Persönlichkeiten auszubilden beginnen, würde eine dissimilatorische Persönlichkeit vermutlich so etwas denken wie: Ja, das ist wirklich cool JETZT!“.
Der „Schatten“ eines dissimilatorischen Stils wäre ein gewisser „Genießermodus“, der insbesondere in Beziehung solche Momente auskostet „solange es währt“ und ein Übergewicht auf positive Reize („Es soll gut sein, es soll leicht sein – ist es nicht leicht, ist es/bist Du nicht richtig…“) legt.

Die zweite Gruppe möchte ich hier demgemäß als „assimilatorisch“ (von Lateinisch „assimilis“ ähnlich) bezeichnen.
Personen, die zu dieser Gruppe zählen, suchen bei sich und ihrem Gegenüber sehr schnell nach verbindenden Gemeinsamkeiten. Sie schätzen ein Wir-Gefühl und legen Wert auf allseitige Bemühungen um einen gewissen Zusammenklang.
Wenn sich auf diese Weise ein gemeinsamer Raum auszubilden beginnt, würde eine assimilatorische Persönlichkeit vermutlich so etwas denken wie „Ja, das ist wirklich cool HIER!“.
Der „Schatten“ des assimilatorischen Stils wäre daher ein Hang zu zwanghafter „Ähnlichmachung“ und insbesondere in Beziehung ein gewisser „Ganzheitswahn“ („Wenn nicht größtmögliche Übereinstimmung/Harmonie herrscht ist es/bist Du nicht richtig…“).

Trotz dieser Unterschiede verlieben sich beide Gruppen in schöner Regelmäßigkeit etwa gleich häufig. Und da „Verlieben“ für unsere Körper und unseren Geist, die rein biologisch eigentlich auf sehr ökonomische Energiehaushaltung getrimmt sind, stets Stress in Form von aufzubringender Zusatzenergie bedeutet, ist Ver-lieben niemals be-liebig (und überhaupt: Sonst könnte man es doch bei dem viel bequemeren Schwärmen belassen…).
Genau genommen stecken also auch hinter dem Verlieben stets ein oder mehrere Bedürfnisse oder sogar eine Bedürftigkeit, die auf das Gewährleisten von Wohlbefinden oder persönlicher Zufriedenheit abzielen. Fast immer sind dies Bedürfnisse der Kategorien Gemeinschaft und Beteiligung (z.B. Angenommensein, Fürsorge, Gemeinschaftlichkeit, Unterstützung, Verbindung), Verständigung und Verständnis (z.B. Aufmerksamkeit, Gegenseitigkeit, Gehört werden, Vertrauen), sowie Zuneigung und Liebe (z.B. Empathie, Nähe, Zärtlichkeit, Sexualität).

Diese Bedürfnisse aktivieren uns (oder versetzen uns zumindest in einen offenen, erwartungsfreudigen Zustand), so daß wir beim Verlieben – also zu einem Zeitpunkt, da wir das erwählte Gegenüber noch kaum einschätzen können – bereit sind, damit gewissermaßen eine Investition in eine potentielle bzw. fakultative Zukunft zu tätigen, die in unserem Leben möglicherweise nie reale Gestalt annimmt. Aufregende Rahmenbedingungen (wie bei dem in Eintrag 15 erwähnten „Brückenexperiment“) und/oder eine nur mäßig ausgeprägte, eigene Außenabgrenzung (wie bei vielen psychologischen und neurophysiologisch sensiblen Zuständen) können diesen Effekt zusätzlich sehr leicht verstärken.

Was im ersten Moment geradezu erstaunlich und schon beinahe etwas irrational klingt, ist für uns Mitglieder der Spezies „Homo Sapiens“ – egal zu welcher der beiden oben erwähnten Gruppen wir uns zählen – im höchsten Maße plausibel.
Denn wir Menschen sind absichtvoll und planend, weil wir bewußt-zeitliche Wesen sind, was uns vermutlich sogar von dem Gros aller übrigen uns verwandten Säugetiere unterscheidet.
Uns ist bewußt, daß wir eine Vergangenheit haben und eine noch gestaltbare Zukunft – und wir sind uns daher auch unserer Endlichkeit bewußt. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, daß unser Leben – buchstäblich auf Gedeih und Verderb – Prozeßhaftigkeit und Veränderlichkeit unterworfen ist. Der Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche (Ecce homo 1888) nannte diese unumgängliche Erkenntnis einmal sehr schön „Bejahung des Vergehens“, denn für uns Menschen bestätigt sich alltäglich, daß wir eben nicht dauerhaft im 100%ig gegenwärtigen „Hier & Jetzt“ verweilen können. Wir können diesen besonderen Moment anstreben, wir können ihn erleben, auskosten – aber er wird, wie alles andere, nicht von Dauer sein.
Und darum sind wir ja manchmal in gewisser Weise auf die Tiere oder die übrige Natur, die sich ihrer zeitlich begrenzenden Komponente offenbar nicht bewußt sind, neidisch – und die darum auf uns oft so „ausgeglichen“ und sogar „zufrieden“ (was ja tatsächlich ein „in-Frieden“ ist) wirken, weil diese ausstrahlen, daß sie intuitiv/instinktiv immer in ihrem Tun „richtig“ sind.
Dieses „immer“ gibt es für uns nicht – und darum auch kein fortwährendes „richtig“.

Mit der Verliebtheit ist es also so eine Sache: Denn sie schränkt uns bewußt-zeitliche Wesen allein durch die hormonelle Aufwallung in unserer Gesamtwahrnehmungsfähigkeit ein. Wie bereits 1788 der berühmte Freiherr Adolph von Knigge in seinem 4.Kapitel (2. Teil) „Über den Umgang mit und unter Verliebten“ sagte: »Mit Verliebten ist vernünftigerweise gar nicht umzugehn; sie sind so wenig als andre Betrunkene zur Geselligkeit geschickt; außer ihrem Abgotte ist die ganze Welt tot für sie.«
Gerade dieser Fokus auf den „Abgott“, also den geliebten Menschen, versetzt uns gewissermaßen in eine Art „raumzeitliche Sonderzone“, wo es für die Beteiligten sehr leicht ist, das „Teil fürs Ganze“ zu halten – will sagen: In unserer Verliebtheit können wir sehr leicht glauben, den wichtigsten Teil bereits bewältigt zu haben – nämlich daß die „Reise zueinander“ jeweils schon ihr Ziel erreicht hat.

Wie sogar Herr Knigge dazu (im selben Kapitel) bemerkte:
»Die glücklichsten Augenblicke in der Liebe sind da, wo man sich noch nicht gegeneinander mit Worten entdeckt hat, und doch jede Miene, jeden Blick versteht. Die wonnevollsten Freuden sind die, welche man mitteilt und empfängt, ohne dem Verstande davon Rechenschaft zu geben. Die Feinheit des Gefühls leidet oft nicht, daß man sich über Dinge erkläre, die ganz ihren hohen Wert verlieren, die anständigerweise, ohne Beleidigung der Delikatesse, gar nicht mehr gegeben und angenommen werden können, sobald man etwas darüber gesagt hat. Man verwilligt stillschweigend, was man nicht verwilligen darf, wenn es erbeten oder wenn es merkbar wird, daß es mit Absicht gegeben werden soll.«
Das hat der alte Freiherr zwar gut beobachtet – aber aus meiner Sicht preist er diese „glücklichsten Augenblicke“ der Verliebtheit ein wenig zu sehr. Denn was er beschreibt, ist genau genommen immer noch ein Zustand von Kommunikationslosigkeit, von vagem Ungefähr und von süßer Nicht-Gewissheit. Das allerdings kann uns den Beziehungsweizen noch vollständig verhageln, denn Nicht-Gewissheit ist eine akzeptable Basis für Schwärmerei und Verliebtheit – aber keine gute Grundlage für wechselseitige beständige Liebe.

Wenn wir nämlich dann wirklich aus der Verliebtheit heraus miteinander „in Beziehung gehen“, dann werden wir uns ja in jedem Fall auch in „sonstigen Zusammenhängen“ kennenlernen. Da tut unser Gegenüber vielleicht doch nicht immer das, was wir so faszinierend fanden. Oder es zeigt Seiten seiner Persönlichkeit, die wir bislang nicht erkannt oder erwartet hatten.
Was können wir diesbezüglich tun?
Das vielversprechndste Geheimnis solider Beziehungen, wenn man die glücklichen Betroffenen fragt, ist, daß die Beteiligten sich gegenseitig nicht nur als „Liebste“, sondern auch als „Freunde“ bezeichnen. Diese Menschen haben tagtäglich verinnerlicht, daß „den Anderen besser kennenlernen“ gleichzeitig „sich selbst besser kennenlernen“ bedeutet.

Für beide eingangs erwähnten Gruppen ist es also wichtig zu erkennen, daß weder inspirierende Erlebnisse noch gemeinschaftliche Harmonie sich durch unser (einseitiges) Wollen erreichen lassen.
Denn dabei versuchen wir das Unmögliche: Unsere Liebsten in unserer Vorstellung und in unserem Wünschen in einem bestimmten Zustand zu konservieren, der für uns „richtig“ ist und der uns anzieht, weil er uns so unähnlich oder so ähnlich ist. Was aber eben „prozeßhaft“ und „veränderbar“, unserer eigentlichen menschlichen Natur, in keiner Weise gerecht werden kann und damit unseren Liebsten quasi „verbietet“, sich jemals zu wandeln bzw. zu entwickeln.

Wenn man stattdessen seine Liebsten innerlich losläßt, dann ist man (jedesmal) im Hier und Jetzt angekommen und verharrt nicht mehr im ständigen „Wollen“. Die eigene Energie kann auf einmal ungehindert zu den Liebsten fließen und wird nicht mehr blockiert durch eigenes Festhalten oder Ausüben von Druck. Das heißt nicht etwa, nicht aktiv zu handeln, sondern das Handeln entsteht aus dem Augenblick heraus, ohne festen Plan. Man fixiert sich nicht auf ein Ziel, sondern ist ein Teil des Geschehen. Es bedeutet auch, den Moment, wie erkommt, anzunehmen, den nächsten Schritt zu machen oder zu lassen, dann aber die Folgen davon zu akzeptieren.¹

Und ob wir eher dissimilatorisch oder assimilatorisch veranlagt sind:
Dort beginnt das wirkliche „gemeinsame Wir“.




¹ Dieser letzte Absatz wurde von mir überwiegend dem Buch „Mit Pferden sein… – Das Leben ist einmalig“ von Sabine Birmann, Ippikon Verlag 2017, entnommen.

Danke an Jean-Alain Passard auf Pixabay für das Foto.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert