Eintrag 21

Vielgestalte Innenwelt

Um manche Themen kann man sich in Mehrfachbeziehungen unmöglich herumdrücken.
Eines davon betrifft das eigene Selbstverständnis und die eigene(n) Rollenzuschreibung(en).
Fremdzuschreibungen – gut – die gibt es auch außerhalb von Mehrfachbeziehungen reichlich: Wir müssen nur das Fernsehprogramm, ein Magazin, das Internet oder unsere Familie befragen – da werden wir genügend Antworten erhalten, wie wir für unser Außen „sein sollten“.
Dennoch ist es in der Welt der Mono- bzw. Di-Amory¹ einfacher, das eigene Innere – und damit unsere verborgenen Auffassungen von uns selbst – als ein privates kleines Königreich zu verwalten und eventuell nicht einmal Lebenspartner dort hineinzulassen.
Warum glaube ich, daß dies in Mehrfachbeziehungen in dieser Weise schwer möglich ist?

Ich bin der Meinung, daß einige der Werte, die hinter allen Formen ethischer Nicht-Monogamie (wie eben z.B. Poly- und Oligoamory) stehen, dies, wenn ein Mensch sich erst einmal wirklich gedanklich mit den Konsequenzen echter Mehrfachbeziehung auseinandersetzt, quasi ausschließen.
Diese „Werte“ sind ja keine Einbahnstraßen: Wir wünschen ja nicht nur, daß unsere Partner*innen diese (hoffentlich) anerkennen, sondern wir wählen für uns freiwillig den gleichen Kanon an größtmöglicher Integrität, um das Ganze mit Leben zu erfüllen.
Insbesondere die von mir in Eintrag 3 erwähnten Werte Transparenz, Aufrichtigkeit und Identifikation werden auf diese Weise also eine gewisse „Wechselwirkung“ auf uns ausüben, der wir uns kaum entziehen können.
Und während wir in einer reinen Zweierbeziehung eventuell noch mehrere Jahrzehnte eine halbwegs brauchbare Bindung aufrechterhalten können, indem wir darauf hoffen, daß die oder der Andere schon auf mystisch romantische Art „errät“ was uns glücklich machen würde (und uns so mit einer ungefähren 50:50-Chance von Enttäuschungsmoment zu Erfüllungsmoment retten), wird dieser (Über)Lebensmodus für Mehrfachbeziehungen nicht mehr ausreichen. Genau darum wird „#Kommunikation“ so dermaßen in der Welt der Nicht-Monogamie betont, genau darum habe ich im letzten Eintrag 20 gleich zwei Kommunikationsphilosophien vorgestellt, die an ihrer Wurzel für uns alle als zentrale und wichtigste Erkenntnis enthalten: Um in Kommunikation zu gehen, um mich zu ver-binden, muß ich erst einmal ergründen, was es denn ist, was ich selber wünsche.
Und dieser Blick in den eigenen Spiegel wird uns mit unserem eingangs erwähnten Selbstverständnis und unseren Rollenzuschreibungen konfrontieren – ob wir es wollen oder nicht.
Ich schreibe „ob wir es wollen oder nicht“, weil dabei für uns jedesmal – und sei es auch nur für einen winzigen Augenblick – ein radikal-aufrichtiger „Moment großer Klarheit “ aufblitzt, der uns zu diesem kurzen Zeitpunkt die Kohärenz – oder die Doppelbödigkeit – unserer tiefsten zugrunde liegenden Motivation entgegenhält. Wie wir allerdings mit dieser Offenbarung umgehen, – ob wir schnell wegschauen, sie gar schleunigst wegsperren und vergraben, sie vor uns und den Anderen verschleiern, sie ignorieren, ob wir sie akzeptieren, umarmen oder sogar integrieren – das wird erhebliche Auswirkungen auf unser Leben, unsere Beziehungsfähigkeit und damit selbstverständlich auf (alle) unsere Beziehungen haben.
Dafür gibt es sogar eine wissenschaftliche Grundlage. In seinem Buch „Was wir sind – und was wir sein könnten“ (Verlag S. Fischer, 2011) beschreibt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther, daß unsere auf effiziente Energieverwaltung getrimmten Gehirne nichts so sehr lieben wie „Kohärenz“ ( = Folgerichtigkeit / Sinnzusammenhang). Jedwede „Inkohärenz“ wird demgemäß als Stress in Form von (anstrengendem) Energieverbrauch gemeldet – und dabei ist es egal „wo“ wir diese „Inkohärenz“ wahrnehmen: Hinsichtlich dem Verhalten Anderer – oder in unserem eigenen Inneren…

Was möchte Euch der gute Oligotropos, Autor dieses bLogs damit sagen? Es wird Zeit für ein persönliches Beispiel.
Selbstgewählte „Rollen“ haben wir alle selbstverständlich einige. Wir tragen an einem Alltag viele verschiedene „Hüte“ und wir wechseln sie z.T. je nach Anforderung auch in rascher Folge. So sind wir regelmäßig wahrscheinlich Partner*innen, evtl. Elternteile, Arbeitnehmer*innen, Vorgesetzte, Untergebene, Freund*innen, (Küchentisch)Psychologinnen, Auftraggeber*innen, Einkäufer*innen, Kund*innen, Nachbarn, Vereinsmitglieder, Veranstaltungsbesucher*innen, kreative Geister, Problemlöser*innen, Organisator*innen, Geschwister, selber noch Tochter/Sohn, Lehrende oder Lernende, etc.
Und bei all diesen Rollen, die wir einnehmen, ist es wahrscheinlich, daß unser Auftreten in einem gewissen Ausmaß mehr oder weniger ein bißchen von unserem internen Selbstbild abweichen wird: Als Arbeitnehmer*in sind wir zu den Kunden am Telefon vielleicht ein klein wenig freundlicher, als wenn sich unsere Tochter zum dritten Mal mit der gleichen Nichtigkeit am Mobilteil meldet; wenn wir für unser Ehrenamt bei der Gemeinde vorstellen, um Förderung zu erhalten, geben wir uns vermutlich mutiger und kompetenter als wir uns in Wahrheit fühlen; wenn wir für eine*n Freund*in in die Bresche springen und ihr/ihm den Rücken stärken, könnte unser Rat möglicherweise kämpferischer ausfallen als wir ihn selbst beherzigen würden usw.
Auch hier bewirkt die oben erwähnte etwaige „In/Kohärenz“ bereits, daß wir uns entweder bei einigen dieser Dinge „nicht so ganz wohl in unserer Haut fühlen“, bei anderen hingegen wir „voll in unserem Element “ sind.

Genau genommen möchte ich aber eine Schicht tiefer vorstoßen als es diese „Alltagshüte“ darstellen, denn unser internes Selbstverständnis ist, wie oben schon kurz angedeutet, stets ein elementarer Bestandteil unserer persönlichen Motivation(en) – und damit direkt mit dem so beziehungswichtigen Kern „Was ist es denn, was ich selber (zutiefst/eigentlich) wünsche?“ verbunden. Darum nun endlich das versprochene Beispiel:

Ein oligoamorer Eingeborener ehrt den „Tag der Doppelgesichtigkeit“ im Gedenken an unsere innere Vielgestaltigkeit.

Ich selbst trage z.B. eine Rollenzuschreibung in mir, die ich hier mal den „Weißen Ritter“ nennen möchte. Diese „Weiße-Ritter-Rolle“ war (und ist vermutlich noch) bei mir regelmäßig bei vielen möglichen Beziehungsanbahnungen aktiv. Da ich mich selbst (siehe „Über mich“) als heterosexuell, cisgender und männlich beschreibe, galten die Avancen des „Weißen Ritters“ in meinem Fall dem heterosexuell-cisgender-weiblichen Geschlecht und bildeten bei mir oft die maßgebliche Grundlage für die berühmten „Ersten Schritte“.
Der „Weiße Ritter“ hielt dabei nämlich zunächst nach einer mutmaßlichen „Dame in Not“ Ausschau. Was diesbezüglich „Not“ bedeutete, da war der „Weiße Ritter“ nicht gar zu pingelig mit der Definition: Eine Bekannte mit einem nervtötenden (Ex)Freund, eine Freundin mit Schwierigkeiten beim Umzug, aber auch eine traurige Maid mit einer hoffnungslos dramatisch verfahrenen Biographie konnten meinen „Ritter“ auf den Plan rufen. Alsdann zog der Ritter aus, daß Leben dieser bedrohten Fräulein vor dem drohenden Unbill zu retten, dem heraufziehenden Chaos mit Ordnung zu begegnen und natürlich der Dame in größtmöglicher und getreulichster Weise zu Diensten zu sein.
Beleuchten wir nun kurz die Seite meines Selbstverständnisses (da ich ja schließlich auch ein „Held in meinem eigenen Film“ bin): Auf der einen Seite erkennen wir meine loyalen, zuverlässigen, vertrauenerweckenden und gewissenhaften Qualitäten – über die ich tatsächlich in gutem Maß verfüge.
Wenn ich mir dieser Qualitäten aber so bewußt bin – warum führe ich diese Stärken nicht bei Beziehungsaufnahme direkt ins Feld und werbe damit für mich – sondern wähle diese seltsam indirekte Annäherung über das Krisenmanagement des „Weißen Ritters“?
Weil die andere Seite meines Selbstverständnisses die einer auf den ersten Blick wenig liebenswerten Person ist, die nicht glaubt, eine Partnerin auf dem „freien Markt“ mit den eigenen Vorzügen aufmerksam machen zu können und statt dessen insgeheim hofft, bei den „Damen in Not“ dankbarere, anspruchslosere und damit vermeintlich „leichtere Beute“ zu finden.
Womit ich wieder direkt zu meiner „Weißen-Ritter-Rolle“ zurückkehre, die demgemäß nämlich auch eine „dunkle“ Seite, die selbstverständlich der entsprechenden „Dame“ nicht offen gezeigt wird, hat. Wenn allerdings die Beziehungsanbahnung – zu deren Zweck der „Weiße Ritter“ ja ursprünglich überhaupt aktiviert wurde – Fahrt aufnimmt, kann sich der „Herr Ritter“ dadurch jedoch zu einem in Teilen unangenehmen Partner und Beziehungsmenschen entwickeln, der in der Tat von der dann „erretteten Dame“ eine seltsame Form von Dauerdankbarkeit und fürderhin anhaltender Unaufdringlichkeit erwartet.
Puh. Das war jetzt so dermaßen selbstehrlich, daß sich vermutlich jede von mir jemals umworbene Frau darin wiederfinden wird…
Was ich aber damit zeigen möchte ist, wie auch in mir eine „Rollenzuschreibung“ in ein tiefes internes Selbstverständnis greift, welches aber in der Tat aus mehreren Komponenten besteht, die sich dann wiederum in der Rolle vereinen und dort mittelfristig für ein inkohärentes Auftreten sorgen. Wodurch in meinem Fall aus dem zunächst willkommenen loyalen Unterstützer beim in-Beziehung-Gehen nach und nach der Schatten eines selbstunsicheren Pantoffelhelden hervorscheinen kann.

Noch eine Schicht „tiefer“ als der mir mittlerweile einigermaßen vertraute „Weiße Ritter“ trage ich ebenfalls noch eine Rolle in mir, die ich für mich den „Vampirlord“ getauft habe. Daß diese Rollenzuschreibung über nur wenige positive Qualitäten verfügt, läßt schon ihre buchstäblich „untote“ Natur vermuten, denn sie „lechzt nach den Lebenden“. Der „Vampirlord“ ist dadurch eine Rolle, die ich weit weniger „im Griff“ habe (und auch erst in Teilen bewußt beleuchtet habe) als den „Ritter“.
Auch der „Vampirlord“ gründet bei mir in der biographische gewachsenen Überzeugung ein „unliebenswürdiges Wesen“ zu sein. Seine Bedürftigkeit nach menschlicher Liebe ist seit meiner Kindheit aber über vier Jahrzehnte in einem so großen Maß gestiegen, daß diese Rolle potentiell in der Lage ist, mich heute z.T. noch in haarsträubendste Beziehungsanbahnungssituationen zu bringen. Dabei kann es geschehen, daß ich mein tatsächliches Selbstverständnis komplett über Bord gehen lasse und mich aus Gier und Bedürftigkeit nach Verbindung für meine Verhältnisse bis an die Selbstschädigungsgrenze entäußere (Compliance, Selbstaufgabe, Katerstimmung inklusive) – und wer im „Über mich“ gelesen hat, daß ich mich als hochsensibel qualifiziere, mag wissen, wie dramatisch das für mich in Folge sein kann. „Gute Beziehungen“ – wie die, für die ich mit dem Oligoamory-Projekt“ werbe, bringen der „Weiße Ritter“ und erst Recht der „Vampirlord“ nicht zustande. Aber beide sind nicht unnütz, da sie mir hier als lebensechte Beispiele dienen können.

Der Oligotropos, der hat Probleme...“, mag nun manche*r denken. Je nun.
Ich empfehle zu dieser Materie und ihrer psychischen Dimension die Graphic Novel und den Film „I Kill Giants“², in welcher die Geschichte der Familie des 15jährigen Mädchens Barbara erzählt wird: Ihr Bruder hat sich geistig-moralisch in virtuelle Ego-Shooter-Welten verabschiedet, ihre ältere Schwester hat die Rolle der „Familienversorgerin“ angenommen. Die junge Barbara indessen hat die scheinbar merkwürdige Rolle der „Ortsschamanin“ gewählt, indem sie die Kleinstadt, in der sie alle wohnen, mittels Runen, magischer Waffen und Schutzzaubern vor der Bedrohung durch Riesen schützt. Die Rollenübernahme und die Identifikation von Barbara mit ihrer Aufgabe als „beschützender Schamanin“ wird in Buch und Film hervorragend dargestellt. Bis hinein in ihre Alltagssprache und in ihrem Umgang mit Schule und Geschwistern pflegt sie ihr „heldiges“ – und in Teilen etwas bärbeißiges – Image. Als Kleinstadtbewohnerin mit nur wenigen Freunden zur Auswahl, die im gleichen Alter sind, erfüllt die „Schamanenrolle“ für Barbara Bedürfnisse nach Kreativität, Abenteuerlust, einem starken Selbstwertgefühl und non-normativem (Protest)Verhalten. Doch dies ist eben auch bei ihr nur die eine Seite ihrer Motivation, die hinter ihrem internen Selbstverständnis und hinter ihrer „Rolle“ steckt. Denn – der Titel verrät es schon – auch sie muß sich in ihrem Inneren noch ganz anderen Ungeheuern stellen, als es auf den ersten Blick bei diesem etwas verwilderten Teenager zu vermuten ist.

Wie weit unser internes Selbstverständnis mit unseren tiefsten Motivationen von unserer selbstgewählten Rollenzuschreibung abweichen kann, davon haben in diesem Jahr (Stand 2019) die Schicksale der 28jährigen Anna Sorokin und der 31jährigen bLoggerin Marie Sophie Hingst Zeugnis abgelegt. Beide hatten eine komplett alternative Persönlichkeit erschaffen, da ihnen ihr eigentliches internes Selbstverständnis wohl zu farblos, zu alltäglich und damit wenig erfolgversprechend schien. Beide Biographien, die in einem Fall zu langen Jahren Gefängnis, im anderen zum Tod führten, beweisen, zu was für unglaublichen energetischen Anstrengungen wir Menschen uns antreiben können, um uns nicht mit unserer inneren Wahrheit zu konfrontieren, während die Selbst-Diskrepanz zwischen „Soll“ und „Ist“ im Außen immer weiter auseinanderklafft.
Ich halte die geringe Differenz in dem Lebensalter beider Frauen für keinen Zufall, da wir mittel-und langfristig vermutlich doch nur eine begrenzte Spanne haben, wie weit wir unsere inneren Realitäten leugnen können, bevor sie für uns oder unsere Umwelt unhaltbar werden.
Marie Sophie Hingst, die kurz vor ihrem Selbstmord ihrer Mutter hinsichtlich ihres dann von der Presse demontierten (falschen) Selbstbildes sagte, sie fühle sich „als ob sie gehäutet sei“, zeigte auf drastische Weise, warum in jeder Form von Beziehung (auch in der zu sich selbst) Transparenz, Aufrichtigkeit und Identifikation keine verhandelbaren Marginalien sind.

Um wirklich „gute“ Beziehungen zu erwirken ist unsere Selbstzurkenntnisnahme von absoluter Wichtigkeit. Das Erforschen und Beleuchten unserer innersten Motivationen, die direkt mit unserem Selbstverständnis zusammenhängen ist eine Aufgabe, der wir uns darum mit Ruhe und Sorgfalt regelmäßig widmen sollten. Und ja, insbesondere das Hervorholen jener Aspekte, die wir selber nicht gar so wundervoll finden, ist dabei grundlegend für unsere eigene Aufrichtigkeit gegenüber uns selbst wie auch hinsichtlich der Möglichkeit und so unseren Liebsten anzuvertrauen.

Denn egal, ob wir uns gelegentlich für den schwarzen Fledermausmann, den weißen Ritter, die Kaninchenschamanin oder eine Millionärstochter halten: In Beziehung gehen unsere Liebsten – bzw. die Menschen, bei denen wir wünschen, daß sie es werden könnten – instinktiv immer mit der Person, die wir in unserem tiefsten Inneren sind. Darum ist es Zeit – um Cindy Lauper zu zitieren – daß wir uns trauen, unsere wahren Farben erstrahlen zu lassen³.




¹ Ich nenne klasssische „Mono-Amory“ an dieser Stelle bewußt „Di-Amory“ mit der altgriechischen Vorsilbe „Di-“(zwei), weil ich mich auf ein Beziehungsmodell mit genau zwei Beteiligten beziehe.

² Da ich nicht „spoilern“ möchte, setze ich den Wikipedia-Link zu „I Kill Giants“ hier in die Fußnote. Nun mag jede*r mit der Graphic Novel und dem Filminhalt verfahren wie es das Beste ist…

³ Cindy Lauper, True Colours (Song, Lyrics)

Danke an Afrikit auf Pixabay für das Bild.

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