Eintrag 31

Rosshandel

Am Wochenende erhielt meine Nestingpartnerin* eine Nachricht, die für sie mit einiger Nachdenklichkeit verbunden war.
Zur Erklärung: Meine Nestingpartnerin ist Pferdebesitzerin und hat im Laufe ihres Lebens schon das ein oder andere Pferd gehalten. Ein Pferd ist allerdings eine aufwendige Leidenschaft – auf jeden Fall was den Bedarf an Zeit und Finanzen angeht – und so kann es im Leben der Halter*innen durchaus vorkommen, daß sich die Gesamtumstände im Alltag aus vielerlei Gründen so verändern, daß ein verantwortungsbewußtes Fortsetzen der Haltung nicht mehr möglich ist. In solchen Krisenmomenten geschieht es dann, daß die meisten Pferdebesitzer*innen (die ich zumindest kenne) versuchen, ihr Tier in die vielzitierten „guten Hände“ abzugeben. Die Suche nach der geeigneten Übernahme ist damit quasi auch ein Dienst am eigenen Gewissen, das kontinuierliche Wohlergehen gemäß den eigenen Maßstäben auch nach dem Eigentumswechsel halbwegs sicherzustellen. In den günstigen Fällen ergibt es sich dann sogar, daß man selbst nach dem Fortgeben des Tieres periodisch mit Statusmitteilungen zur Gesundheit oder sogar Fotos versorgt wird – womit auch die neuen Halter*innen rückmelden: Dem Pferd geht es (weiterhin) gut.
Auf diese Weise ist Pferdehaltung aber auch vielfach ein gewisser „Verschiebebahnhof“ – und selbstverständlich geschieht es irgendwann, daß bei einem weiteren Wechsel solch eine Kette schließlich doch abreißt – und man als Vorbesitzer*in in zweiter oder dritter Reihe nicht mehr erfährt, wie es dem Tier in seinem weiteren Leben ergangen ist – bzw. ergehen wird.
Genau so ein Besitzer*innenwechsel stand jetzt im Leben eines der ehemaligen Pferde meiner Partnerin an, sprich: Ein früheres Haustier stand im Begriff, aus den ursprünglich gründlich ausgesuchten „guten Händen“ nun erneut in eine ungewissere Zukunft weiterer Besitzverhältnisse zu gehen.

Selbstverständlich gibt es bezüglich dieser recht regelmäßig vorkommenden Eigentumsübergänge auch in Reiterkreisen einen gewissen ostentativen Dünkel der Ungehörigkeit.
Wenn man sich ein Pferd kauft, dann überlegt man sich das doch vorher! “, heißt es dann gerne. Oder noch extremer: „Wenn man nicht bereit ist, ein Leben lang Verantwortung für ein Pferd zu übernehmen, dann sollte man sich auch keines zulegen.
Markige Appelle also an Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit einem Lebewesen gegenüber – und damit stecken wir sogleich mitten in den Verwicklungen der Oligoamory (siehe dazu auch Einträge 3 + 4 ).

Denn als Zaungast der Geschehnisse vom Wochenende fühlte ich mich sogleich an einen persönlichen Bereich erinnert, der vielleicht nicht ganz gleiche – aber doch ähnliche Entwicklungen und Moralaufrufe kennt: Das ElternSein. Und als Vater weiß ich sehr gut selbst, daß man auch auf dieser „Langstrecke“ in Lebensphasen kommt, wo man überfordert, hilflos oder auf Unterstützung in irgendeiner Form angewiesen ist. Und auch hier gibt es sie dann, die „Sittenwächter“, die in solchen Situationen mit dem hilfreichsten Rat von allen zur Hand sind: „So etwas überlegt man sich doch vorher! “. Darum gibt es eben nicht nur „Rider-Shaming¹“ sondern selbstverständlich das gut etablierte „Parent-Shaming¹“. Und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum „Husband¹- bzw. Spouse-Shaming¹“ – oder um im Bild des „Besitzerwechsels“ zu bleiben: Das „Divorcee-Shaming¹“. Samt und sonders Situationen, in denen wohlwollende Mitmenschen uns mit ihrer an wahrsagerische Fähigkeiten erinnernde Tugendhaftigkeit auf die Plätze verweisen: „So etwas überlege man sich doch früher/vorher! “.

Wer mir durch 30 Einträge zum Thema Oligoamory bis heute wacker gefolgt ist weiß, daß ich als Autor mit diesem Projekt, was Beziehungsführung angeht, durchaus gelegentlich verhältnismäßig ambitionierte Wünsche formuliere. Manchmal klinge ich dabei sehr leidenschaftlich, mitunter wird es geradezu idealistisch. Das ist die Oligoamory auch durchaus, denn ein Ideal ist für mich ein Leitstern, ein Wegweiser – etwas, wonach es sich zu streben lohnt, wo der stete Weg das Ziel ist.
Aber ich hoffe auch, daß es mir gelungen ist, erkennbar zu halten, daß es nicht „nur“ ein Ideal ist, denn ein bloßes Ideal ist immer in Gefahr, Mittel zum Zweck zu werden: Dann ruft purer Idealismus genau die Sittenwächter auf den Plan, die uns im Moment unserer Schwäche mit ihrem „So etwas überlegt man sich aber vorher! “ bloß noch tiefer hinabstoßen wollen.
Oligoamory – und darum habe ich ja das Symbol der Doppelspirale gewählt – soll menschlich sein. Und Menschlichkeit heißt Endlichkeit – und damit ebenso Begrenztheit.

Die Sittenwächter des Idealismus (und so eine kleine Ausgabe davon gibt es ab und an in nahezu jeder und jedem von uns) vergessen als Teilnehmer*innen am „Spiel des Lebens“, daß das Leben selbst nicht eine statische Gegebenheit ist, sondern das Wesentliche des Spiels ausmacht. „Vorhersagbar“ bzw. „vorher zu überlegen“ ist darin folglich genau genommen sehr wenig. Denn wir Menschen sind zwar von unserer Biologie auf günstige Energieverwaltung („Ab auf’s Sofa! “) und von unserer Hordennatur einigermaßen auf soziale Kooperation („Was Du nicht willst, das man Dir tu’…“) getrimmt – aber in der „3. Dimension“ des Vorsorgens und Planens sind wir exakt wegen unserer Endlichkeit von unserer Grundausstattung her gesehen im Höchstfall eingeschränkt kompetent.
Aktuelles Beispiel: Das führt gegenwärtig beim Thema „Energiewende“ dazu, daß das konkrete Vorvollziehen einer Verantwortungsübernahme für Menschengenerationen, die noch nicht geboren sind, so schwer fällt. Dieser Schritt verlangt ein äußerst bewußte und aktive Bereitwilligkeit, denn „in unserer Natur“ liegt er nicht – ein „wildlebender“ Homo sapiens hätte kaum jemals über seine Enkelgeneration hinaus gedacht (Gene weitergegeben, Mission erfüllt).

Nun sind wir aber keine „wildlebenden“ Hominiden mehr – und dadurch hat sich u.a. unsere Lebensspanne deutlich erhöht. Und plötzlich sehen wir uns mit einem höheren Maß an „Enden“ und „Endlichkeit“ in unseren Leben konfrontiert als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor – und ebenso mit der Herausforderung einer erhöhten „Vorsorglichkeit“. Ganz plötzlich kommt diese Entwicklung natürlich nicht, denn bei genauerem Besehen lassen sich seit der Antike in verschiedenen Philosophien und spirituellen Systemen Gedanken über „Lebenszyklen“ finden: Vorstellungen also, daß in einem menschlichen Leben verschiedene Stadien durchlaufen werden, diese sich manchmal wiederholen oder einander ähnlich sind (Symbole von Kreis oder Spirale). Und sowohl die antike Philosophie² als auch der frühe Buddhismus³ haben den Satz hervorgebracht „Was nicht vergehen will, kann nicht entstehen“.

Das ist für unseren Idealismus zunächst scheinbar ein herber Schlag. Denn es bedeutet, daß es menschlicherseits keine vollkommene Loyalität, keine absolute Integrität, keine totale Verantwortung und keine perfekte Nachhaltigkeit gibt.
Ein unerbittlicher Hang zur Perfektion, der Formulierungen wie „immer (und ewig) “ oder „ein Leben lang “ in sich trägt, tut im Gegenzug aber auch den Idealen nicht gut. Denn Leute, die nur noch versuchen Idealen gerecht zu werden, verlieren ihre Mitmenschen und sich selbst in ihrer eigenen Menschlichkeit (und Fehlbarkeit) schnell aus den Augen.
In seinem Buch „Die Kunst , kein Egoist zu sein“ (Goldmann 2010) schreibt der Gegenwartsphilosoph R.D. Precht, daß wir Menschen vor allem unserem Selbstbild verpflichtet sind: »Deswegen ist es für uns nur halb so schlimm, wenn wir einen bestimmten Wunsch nicht erfüllt bekommen oder eine Absicht mißlingt. Viel schlimmer ist es, wenn wir uns als Person angegriffen fühlen. Wenn man uns als Mensch in Frage stellt. Wenn man unser Selbstwertgefühl verletzt oder zerstört. Unser Sein – anders läßt sich diese Empfindlichkeit kaum erklären – ist immer mehr als unser Wollen, unsere Rede, unser Tun
Unser Selbstwertgefühl mit unseren inneren „Sittenwächtern“ zu sabotieren, daß können wir allerdings mindestens genauso gut, wie es unsere wohlmeinenden Kritiker im Außen auch tun – ohne darum gebeten worden zu sein. R.D. Precht empfiehlt daher mit Aristoteles, daß es vor allem wichtig sei, sich darum zu bemühen, „ein guter Freund seiner selbst “ zu werden – jenseits vermeintlichem Perfektionismus.

Ich habe diesen Eintrag mit einem Pferdebeispiel begonnen, weil bereits das Thema „Tiere“, derzeit noch eher wenn es mehr „Haustiere“ als Nutztiere sind, schnell sehr sensibel werden kann. Ich glaube allerdings, daß es letztendlich egal ist, zu welchen Lebewesen auch immer wir uns in dieser Art positionieren, wenn wir uns ihnen partnerschaftlich verbunden fühlen. Denn dann greifen in uns Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit unweigerlich immer ineinander: Das Eintreten für ein gemeinsames Ziel, die Übereinstimmung mit den eigenen Werten, das Einstehen für die eigene Selbstverpflichtung, das Wahren von (regenerativen) Grenzen.
Persönliche Ziele, eigene Werte, Selbstverpflichtungen und auch individuelle Grenzen sind aber eben keine statischen Gebilde von Ewigkeitswert. Auf jeden Fall nicht in einem endlichen menschlichen Leben, was fähig sein muß sich veränderlichen Außenbedingungen anzupassen (und ich spreche hier nicht von einer beliebigen charakterlichen Wandlungsfähigkeit nach Art eines Chamäleons).
Ich möchte uns allen aber die Erlaubnis zusprechen, daß auch scheinbar so gewichtig daherkommende Werte und insbesondere ihre Inhalte sich im Laufe der Zeit verändern – und manche auch schlicht und einfach ausklingen – dürfen.

Mein Fazit für heute fällt darum ebenfalls etwas philosophisch aus:
In der Aufnahme, Gestaltung und Beendigung unserer Beziehungen gleichen wir alle Töpfer*innen, die gemeinsam um die Töpferscheibe sitzen und ein Gefäß formen. Aufgrund der Beschaffenheit unseres Arbeitsmaterials ist uns – wenn wir uns dem Gedanken zu stellen wagen – recht klar, daß unser gemeinsames Produkt vermutlich eine begrenzte Haltbarkeit haben wird, es ist definitiv endlich. Wir könnten darum nun versucht sein, ein kunstloses, robustes Standardmodell zu erzeugen, was hoffentlich möglichst lange seinen Zweck erfüllt – würden aber auf diese Weise einen Teil von unserem Idealismus, unserer Inspiration und unserem individuellen Ausdruck verleugnen.
Wir könnten aber auch gerade wegen unseres Bewußtseins von Endlichkeit eine Form kreieren, die genau darum das uns derzeitig jeweils größtmögliche Maß an (Kunst)Fertigkeit repräsentiert, als raumzeitliche Schöpfung unserer Gegenwärtigkeit und unseres Strebens. Auf diese Weise werden unsere Beziehungen viel eher einzigartig und den Beteiligten angemessen geraten – und in ihrer Geeignetheit „mehr als die Summe ihrer Teile “ sein.
Durch das dabei in Kauf genommene Zulassen von Endlichkeit (also Vergehen) erhalten wir in diesem Prozess gleichzeitig die potentielle Motivation für ein neues Entstehen, was auf Beziehungen übertragen, die Erlaubnis von Fehlbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Verhandlungsmöglichkeit bedeutet.
Wenn wir in dem Sinne folglich einigermaßen gewiss sind, daß alle Beteiligten in einer Beziehung, was Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit angeht, das ihnen Mögliche geben, dann nimmt das für die Einzelnen enormen Druck vom unerbittlichen Hang zur Perfektion.
Und es stärkt das Erleben von Freiheit in Verbundenheit, wozu ich mit der Oligoamory vor allem einladen möchte (siehe Eintrag 7).
Das Motiv der Langfristigkeit ist mir in der ethischen Nicht-Monogamie sehr wichtig, denn Langfristigkeit wird gebraucht, damit sich die Werte der Poly- oder Oligoamory überhaupt für alle erfahrbar und gestaltbar (!) entfalten können. Doch für „immer und ewig “ – also überleg‘ Dir das besser vorher? Das ist nicht menschlich, ja, das wird gar keinem Lebewesen und unserer gemeinsamen veränderlichen Natur gerecht.
In diesem Sinne: Brrrrrr!



* „Nesting-Partner*in“: In Mehrfachbeziehungen gelegentlich verwendete Bezeichnung für
Nähemenschen, mit denen man gemeinsam eng zusammenlebt, z.B. wohnt.

¹ „Rider-Shaming “, engl., ironischer Begriff von mir, Übersetzung „Reiter-Anprangerung“.
Parent-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Eltern(teilen) bezeichnet.
Husband-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Ehemännern
bezeichnet.
Spouse-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Ehefrauen bezeichnet.
Die letzteren drei Begriffe gibt es alle tatsächlich. Sie bezeichnen einen meist verbalen
Angriff, welcher der öffentlichen Anprangerung des Versagens durch
Schuldzuschreibung hinsichtlich des „erwünschten/erwarteten“ Rollenverhaltens
dienen soll.
Analog wäre also „Divorcee-Shaming “ das Anprangern von Geschiedenen, die mit
ihrer Beziehung „versagt“ hätten.

² Unsterblichkeitslehre des griechischen Philosophen Plotins, maßgeblich editiert und überliefert durch seinen Schüler Porphyrios.

³ Überlieferungen Nagarjunas im Mahāyāna-Buddhismus.

Danke an Crawford Jolly auf Unsplash für das Foto, welches einen der Köpfe des Kelpie-Monuments in Falkirk, Schottland, zeigt.

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