Eintrag 35

Alte Kisten rosten nicht

Dies ist der mittlerweile 35. Eintrag zum Thema „Oligoamory“ – und darum ist es mir ein Anliegen, darin noch einmal eine Grundlage anzusprechen, die mir hinsichtlich dieser Beziehungsphilosophie wichtig ist.
Denn in der Praxis kann eventuell schnell mal wegen der putzigen Vorsilbe „Oligo-“ (ich erinnere: von altgriechisch ὀλίγος olígos „wenig“) verlorengehen, daß es dabei nämlich nicht nur um hübsch übersichtliche Mehrfachpartnerschaften mit wenigen Beteiligten geht, sondern, daß ich damit auch zu einer hohen qualitativen Fokussierung auf die unausweichlichen „Essentials“ ethischer Nicht-Monogamie einladen möchte.
Da man, wie der Volksmund sagt „keine zweite Chance hat, einen ersten Eindruck zu hinterlassen“, kommt in dieser Hinsicht der „Startphase“ einer jeden oligoamoren Beziehung besondere Bedeutung zu – wiewohl es gleichzeitig ein Merkmal eigentlich jeder Beziehungsform ist: Was wir früh verbocken, müssen wir im Nachhinein eher aufwendig wieder versuchen auf einen guten Weg zu bringen…
In echten Gesprächen und beim Surfen durch zahlreiche Foren rund um das Thema Nicht-Monogamie fällt mir z.B. nach wie vor auf, wie willkürlich noch immer mit der Zeitspanne operiert wird, wann Partner*innen zu informieren seien, wenn sich irgendetwas Neues „anbandelt“.
Zeitnah“ wird dann in Deutschland gern gesagt und geschrieben; die Ansichten, was denn „zeitnah“ sei, gehen dann aber schon im nächsten Teilsatz meist weit auseinander. Von „in den ersten 24h“ bis „innerhalb von 14 Tagen“ habe ich schon alles gehört und gelesen – und die Menschen, die solches sagten oder schrieben waren sich ihrer Sache stets sehr sicher. Kritischen Nachfragen wurde regelmäßig vor allem mit dem Aufwands-Argument begegnet – was genau genommen ein Selbstscham- bzw. Bequemlichkeitsargument ist: Beim „Anbandeln“ sei man ja so sehr lange selbst unsicher, ob es sich bei der neuen Begegnung um etwas „Ernstes“ handeln würde, wodurch es dann doch genau deswegen so sehr schwierig abzuschätzen sei, ob etwaige „Bestandspartner*innen“ mit an Bord genommen werden sollten, falls sich eben genau nichts „Konkretes“ aus jenem „Anbandeln“ ergeben würde…

Ich als Autor dieses bLogs werbe spätestens seit Eintrag 20 für eine Herangehensweise der „radikalen Aufrichtigkeit“, die meiner Meinung nach uns allen das Leben in Wechselwirkung einfacher machen könnte. Dazu muß diese radikale Aufrichtigkeit bzw. radikale Ehrlichkeit aber bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt ansetzen: Nämlich schon bei der Zurkenntnisnahme unserer eigenen Motive. Die beiden Kernfragen, die ich in Eintrag 21 streife, lauten ja nach wie vor:
Wünsche ich mir mehrfache Liebesbeziehungen – und wenn ja, warum?
Und wenn ich auf die erste Frage in mir ein großes klares JA! gefunden habe, dann wäre es ein bißchen wie früher zu Schulzeiten, wenn ich meine Hausaufgaben im Vorhinein komplett erledigen könnte, indem ich auch auf die zweite Teilfrage zumindest die Ahnung einer Antwort finden würde. Und dann sollte gelten: Montagmorgen – Hausaufgabe fertig, Ranzen gepackt. Was, wie wir noch wissen, enorm zu einem stressfreieren Aufbruch und zu einem ruhigeren Gewissen beitrug.
Infolge wäre es dann für uns poly- oder oligoamore Personen egal, ob wir abends tanzen gehen oder ein arbeitsbedingtes Fortbildungsseminar zur Rechnungsprüfung besuchen: Wir wissen über uns, daß wir potentiell für Mehrfachpartnerschaften offen sind – und daß wir also fakultativ daher in jeder Umgebung einen neuen interessanten Menschen treffen könnten.

Wenn wir unsere Hausaufgaben hinsichtlich unserer ureigensten Motivationen hinter unserer Poly- oder Oligoamory jedoch nicht bzw. nur unvollständig gemacht haben, dann geraten wir allerdings sofort in Gefahr, vor uns selbst immer irgendwie verlegen zu sein, indem wir uns selbst mit dem gesellschaftlichen Stereotyp beschämen: „Der*Die Poly-/Oligoamore da, der*die ist dauerbedürftig/dauergeil und immer latent auf Partner*innensuche…“.
Unser stolzes Selbst hält dann zwar noch eine Weile dagegen: „Also wirklich, über solch gesellschaftlich-normativer Verurteilung, da stehe ich weit drüber – schließlich habe ich mich doch bewußt für die Poly-/Oligoamory entschieden! “…
Aber – die kleine nagende Stimme ist geweckt, die uns einzuflüstern versucht, daß unsere Grundhaltung irgendwie doch nicht so ganz ok ist, weil wir wohl doch stets auf der Suche nach jemandem fürs Bett sind, nach dem nächsten Verliebtheitskick, nach einem (neuen) aufregenden Menschen, der uns vom Einerlei unseres Alltags zumindest eine Zeit lang ablenken soll.
Auch Letzteres wäre völlig in Ordnung, wenn wir dies zuvor wirklich als den tiefsten Grund unserer Motivation geklärt hätten.
Da wir (s.o.) den Grund unserer Motivation aber eben meist nicht gut geklärt haben, ist die allererste Person, mit der wir nicht ehrlich und aufrichtig sind, wenn wir ins Rennen gehen, wir selbst! Denn in uns selbst bleibt ja eine verschlossene Truhe mit Gründen stehen, die wir lieber nicht so genau angucken wollen. An diese „verschlossene Truhe“ bleiben wir aber auf diese Weise gekettet, denn eine „informierte Wahl “ (wie Franklin Veaux und Eve Rickert es in ihrem Buch „More Than Two“¹ nennen), würde voraussetzen, daß ich im Besitz aller Informationen bin. Versuche ich aber nun, bloß mit meiner inneren „Teil-Wahrheit“ loszuziehen, bin ich niemals wirklich frei, denn unsichtbar zerre ich ab jetzt meine Truhe mit „Uneingestandenem“ überall hin hinter mir her.
Unfrei zu sein und vor allem sich irgendwo unfrei zu fühlen, insbesondere wenn man sich unter anderen Menschen bewegt, macht aber niemandem Spaß – insbesondere, wenn bei diesen Menschen jemand interessantes dabei sein könnte, auf den ich vielleicht neugierig werde. Mir bleibt also nur die Strategie, mich in solch einem Kontext freier zu geben, als ich es wirklich bin, die innere Nervstimme zum Schweigen zu bringen und die lästige unsichtbare Truhe unter dem Tisch zu verstecken. In einem sich eventuell entwickelnden Gespräch werde ich folglich versuchen, mich kompetent und ungehemmt zu präsentieren.
In seinem Konzept der „Radikalen Aufrichtigkeit “ (Eintrag 20) nennt Dr. Brad Blanton genau diese Verhaltensweise „den eigenen Mythos erschaffen“. Blanton führt aus, daß unsere Gegenwartskultur extrem von dieser Art Alltags-Unaufrichtigkeit geprägt ist, weil die allermeisten von uns in Folge nur noch mit diesen Mythen-Ichs interagieren. Mythen, in denen wir uns als weit großartiger, als rationaler und stimmiger bzw. mehr als Herr*Frau der Lage darstellen, als wir es ehrlicherweise sind.
Die nächste Person, demgemäß, mit der wir nicht ehrlich und aufrichtig sind, ist dann somit unser potentielles „Angebandel“. Und ich spreche jetzt nicht davon, daß wir beim Flirt oder Date nicht ein wenig unser Gefieder glänzen lassen können!
Ich spreche von der unterschwelligen Inkohärenz (siehe Eintrag 25), die wir dadurch jedes Mal auf unsere Gegenüber abstrahlen, da wir selbst – bzw. genau genommen unser gesponnener Mythos – hinsichtlich unserer Motivationen und Interessen, die wir nun nach außen verkaufen, stets etwas ambivalent und punktuell seltsam unbestimmt bleiben wird. Kein Wunder – dank unserer „unsichtbaren Truhe“ unter dem Tisch. Es gibt ja mittlerweile sogar Menschen, für die so eine „verruchte Undurchschaubarkeit“ gerade den gewissen Reiz eines Flirts ausmacht – aber im Bereich ethischer Non-Monogamie muß ich davon dringlich abraten. „Unklarheiten“ und „Annahmen“ werden sich mittelfristig zu einer riesigen Baustelle enwickeln, vor allem, wenn wir doch eigentlich anfangs noch den Gedanken im Kopf gehabt hatten, eventuell eine Person in eine Mehrfachpartnerschaft auf Augenhöhe einzupflegen…

Spätestens an dieser Stelle ist aber leicht zu sehen, warum sich hier ein schwindelerregendes Nebelfeld voller halsbrecherischer Ausweichmanöver aufzutun beginnt: Da habe ich mich in eine Situation gebracht, wo ich mit meinen ungeklärten Bedürfnissen auf eine Person getroffen bin, der ich einen vorteilhaften Werbemythos meiner selbst angeboten habe, und – da ich das ja von mir ahne – bei der ich schlimmstenfalls annehmen muß, daß ich meinerseits vor allem einer „Wunschvorstellung“ verfallen bin. Der anderen Person ergeht es wiederum vielleicht mit mir so ähnlich – aber selbst im besten Fall weiß sie jetzt immer noch nicht so ganz woran sie mit mir ist. Was soll ich also tun? Die Welle reiten, so lange sie währt – bis irgendwo eine Maske fällt und sich alles in Wohlgefallen auflöst?
Wenn ich dann noch Bestandspartner*innen habe, die mich bereits besser kennen, wird die Bredouille möglicherweise noch schlimmer, denn meine nagende innere Stimme projiziere ich dann schnell auf jedwede noch so harmlose Nachfrage. Oder wie ich in Eintrag 26 schrieb: „Oft sind es aber unsere Ängste, die sehr konkrete Gestalt in uns annehmen können: Angst vor (im Leben so oft erlebter) Zurückweisung; Angst, ausgeschlossen oder allein gelassen zu werden. Oder es sind Ängste von Beschämung und Strafe (die wir mittlerweile mehr im Kopf auf uns selbst herabbeschwören), weil wir bemerken, daß wir etwas nicht so sorgfältig erledigt bzw. durchdacht haben – oder erledigen konnten, wie wir es eigentlich gewünscht hätten. Von sich selbst ertappt – ein scheußliches Gefühl…
Daß in solchen Fällen Menschen dann dermaßen verunsichert sind, daß sie nicht mehr wissen „wann“ der richtige Zeitpunkt ist, um ihre Bestandspartner einzuweihen, weil sie eben schon selbst nicht mehr wissen „wann“ irgendetwas echt ist – speziell weil sie es über sich selbst so wenig wissen – das finde ich menschlich vollkommen nachvollziehbar.

Die just beschriebene Kette kann meiner Ansicht aber nach nur an einer Stelle verhindert werden – und das ist ganz an ihrem Anfang: Die Hausaufgabe zu erledigen, für sich selbst das Ob und das Warum hinsichtlich des eigenen Mehrfachbeziehungswunsches zu klären. Und das bedeutet, daß das Ergebnis dieser Hausaufgabe, vor allen weiteren Schritten, direkt Grundlage für Verhandlung mit der*dem Bestandspartner*in wird. Ich hätte mich in Eintrag 9 nicht so ausführlich mit dem „Emotionalvertrag“ (=„Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“) beschäftigt, wenn dieser nicht maßgeblich mit unserem Bindungsverhalten verknüpft wäre. Ergo wird jede weitere Beziehungsanbandelung immer die Symmetrie dieses Übereinkommens beeinflussen und damit verändern. Und sei es nur die Freiheit betreffend, die wir haben, überhaupt neue/mehrere/parallele Beziehungen andenken zu können und zu dürfen.
In ethischer Non-Monogamie, die diesen Namen verdienen soll, ist es wegen dieser Dynamik nicht mehr möglich unser Inneres – und damit unsere verborgenen Auffassungen von uns selbst – als ein privates kleines Königreich zu verwalten und eventuell nicht einmal intime Partner*innen dort hineinzulassen.
Denn die Alternative wäre immer nur der „Mythos“, die „schön ummantelte Wahrheit²“, eine Reklameversion unserer selbst, mit der wir unsere Liebsten abspeisen würden, nur um ihnen – aber eben vor allem uns selbst (!) – möglicherweise unbequem Tatsachen vorzuenthalten.

Fazit: „zeitnah“ heißt in der Oligoamory „sofort“. Punkt!
Und ja, daß soll in Schritt 1 heißen z.B. eine SMS zu schicken wie: „Bin jetzt in der Disco. Gerade gesehen: Total tolle und super-attraktive Menschen heute hier. Musik genau meine Richtung. Könnte sich was ergeben.“ Oder eine WhatsApp: „Gerade in der Pause (Rechnungswesen) total intensives Gespräch mit X geführt. Hab‘ gemerkt, daß ich rote Ohren bekommen habe. Gehe mit X nachher zur Vertiefung noch auf einen Schlummertrunk.“
Das, liebe Leser*innen sind genau die Auftakte zu „informierten Wahlen“, die es in der ethischen Non-Monogamie braucht. Auftakte, mit der durchaus die eigene situative Aufregung und die eigene Unsicherheit kommuniziert werden dürfen – ja, auch ein bißchen die eigene Irrationalität, denn das macht uns zu Menschen.
Schritt 2 lautet folgerichtig, nun nicht sofort das Mobilteil ins Handschuhfach oder an die Garderobe zu entsorgen, sondern eine Antwort abzuwarten. Vielleicht Antworten, die vorher abgesprochen waren, um klares Fahrwasser oder Nöte der anderen Seite in Kurzform zu kommunizieren: „Alles klar! “ oder „Sei bitte trotzdem vor 2 Uhr zuhause“ oder „Kondome schützen! “ oder „Meld‘ Dich bitte, wenn es konkreter wird nochmal kurz “.
Denn so eine „Truhe“ mit persönlichen Ängsten, alten Ressentiments, kleinen Sorgen und zwickenden Beklommenheiten, die hat ja eigentlich jede*r – also auch unsere liebsten Menschen. Und wir würden eben ethisch und sehr integer handeln, wenn wir darauf Rücksicht nehmen könnten, daß diese nun mal da sind.
Der Riesenvorteil, der sich aus solchem Handeln allerdings ergeben würde, wäre, daß wir die ganze Zeit zu 100% mit unserer Wirklichkeit und der allseitigen Wahrheit verbunden blieben: Herumgerate, Annahmen oder peinliche Verstellung könnten auf diese Weise außen vor bleiben.

Ja, ich gebe zu, daß bei diesem Vorgehen sich möglicherweise nicht alle „Wellen“ realisieren würden, die da zu reiten wären – um bei meinem obigen Bild zu bleiben. Und ebenfalls ja: Dies liegt exakt daran, daß allerspätestens die Oligoamory so konzipiert ist, daß ihr wesentliches Merkmal das „Mithineindenken aller potentiell beteiligten Personen“ ist. Aber nach meiner Auffassung kann sich die Oligoamory auch nur dann mit dem Label „ethisch“ schmücken, wenn diese Bedingung gewährleistet ist – die Bedingung, die ja im Positivfall dann wie in zahlreichen von mir geschriebenen Beiträgen das Erleben des „Mehr als die Summe seiner Teile“ erst möglich macht.
Wenn nämlich die Kehrseite Geheimniskrämerei, Gemauschel, Egotripping, und im-Unklaren-lassen wäre, dann weiß ich, um welches Vorgehen ich mich weiter bemühen werde.
Und wie ich – frei von meiner Truhe oder bewußt um ihren Inhalt wissend – zur Freiheit und zum Wohlbefinden aller anderen Beteiligten beitragen will.



¹ Das „Standardwerk“ zur ethischen Non-Monogamie für mich ist nach wie vor das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

² ein Zitat übrigens von Käpt’n Blaubär (Walter Moers)

Dank an Frank Winkler auf Pixabay für das Foto.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert