Eintrag 42

…sieh, das Gute liegt so nah.*

Der derzeit amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist jemand, der regelmäßig betont, daß Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen. In seiner Rede im Futurium Berlin¹ sagte er letztes Jahr sogar, daß zur Freiheit eine „Erwartung an die Verantwortung“ gehöre, die aus der Freiheit erwächst.
Ich, als Autor dieses bLogs, glaube, daß er damit Recht hat, insbesondere weil „Verantwortung“ aus meiner Sicht direkt etwas mit „Nachhaltigkeit“ zu tun hat, die ja als Untertitel auch der Oligoamory zugrunde liegt.
In der von mir schon oft zitierten Buchszene, in der der „Kleine Prinz“ des Autors Antoine de Saint-Exupéry auf den Fuchs trifft, erklärt der Fuchs: „Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ ²
Demgemäß bedingen sich also ebenfalls Vertrauen und Verantwortung…

Freiheit, Vertrauen, Nachhaltigkeit, Verantwortung – ich möchte versuchen, ein wenig zu ordnen, warum ich denke, daß diese Werte für oligoamores Denken und Handeln wichtig sind – und wie sie zusammenhängen.

In meinem 3. Eintrag führe ich die Nachhaltigkeit als bedeutenden oligoamoren Wert ein, indem ich erläutere, daß „Nachhaltigkeit“ drei wichtige Kernkriterien umfasst³, nämlich Konsistenz, Effizienz und Suffizienz. Dazu schrieb ich, daß in der Oligoamory Beziehungen „konsistent, also sowohl dauerhaft als auch (werte- und personen-)beständig“ seien sollten.
„Zugleich sollten oligoamore Beziehungen aber auch für die daran Beteiligten effizient sein. Damit sei nicht weniger gemeint, als daß die Beziehungen den Menschen darin dienlich sein sollten, geeignet für alle Beteiligte, und förderlich, sich nach ihren jeweils individuellen Potentialen entfalten und ergänzen zu können.
Und suffizient sollten sie sein, […] weil die Beziehungen zufriedenstellend und (selbst)genügsam sein sollten, also eben gerade nicht unendlich oder beliebig, sondern menschlichen Maßen von Überschaubarkeit und Vertrautheit angemessen.“

Auch wenn ich diese Zeilen heute noch einmal lese, fällt mir auf, daß dies auf jeden Fall einigermaßen ambitionierte Wünsche für jede Beziehung sind. Gleichzeitig nicke ich aber auch beinahe unwillkürlich mit dem Kopf, weil ich denke: „Ja, solche Beziehungen würden von ihrer Berechenbarkeit, von ihrem Spielraum meiner Freiheitsgestaltung und von ihrer Wahrnehmungsmöglichkeit meines Angenommenseins/Einbezogenseins definitiv stark zu meinem persönlichen Wohlbefinden beitragen!“
An dieser Stelle kommt für mich dann in mehrfacher Hinsicht wieder Saint-Exupéry mit seinem Fuchs ins Spiel. Der Fuchs zeigt dem „Kleinen Prinzen“ nämlich, daß ein solcher ersehnter Zustand nicht schnell herbeiführbar ist. Als Bedingung nennt er ein „sich vertraut Machen“, also einen allmählichen Aufbau von Vertrauen, der nur wechselseitig und über einen längeren Zeitraum zum gemeinsamen Ziel führen kann. Und dieser Prozess würde dahinein münden, daß mit der wachsenden „Vertrautheit miteinander“ die zunehmende „Verantwortung füreinander“ einherginge.

Daß dies in der Tat ein wegweisend nachhaltiger Gedankengang ist, fällt vor allem dann auf, wenn wir die Verantwortung, die ja am Ende der Kette steht, einmal weglassen:
Ohne Verantwortung, bzw. genauer „Verantwortlichkeit“ würde es mit dem Vertrauen vermutlich sehr schwer werden. Wer könnte Vertrauen in eine Person oder Institution haben, die Verantwortlichkeit für ihr Sprechen und Handeln ablehnen würde – oder in dieser Eigenschaft recht wetterwendisch oder beliebig wäre? Auch jedwede gemeinsam verbrachte Zeit wäre dann keine hilfreiche Verbündete mehr, denn die für unsere Gehirne so wichtige „Kohärenz“ (Folgerichtigkeit/Sinnzusamenhang) könnte sich nicht einpendeln: Der verläßliche, vorhersagbare Fundus an ähnlichen Erfahrungen bliebe aus.
Und dadurch wären wir seelisch/mental ständig „auf dem Sprung“, in einem halbalarmierten Zustand vorsichtiger Wachsamkeit, weil möglicherweise im nächsten Moment eine gänzlich neue oder andere (Beziehungs)Erfahrung gemacht werden müsste, als beim Mal davor – oder dem davor…
Diese Lage, wenn der Alarmschalter des Gehirns längere Zeit auf einer mittleren Position feststeckt, nennt die Wissenschaft „Stress“. Und wer möchte mittel- oder langfristig in einer Beziehung sein, in der Stress die Normalsituation wäre?
Auf diese Weise wird sich ein „Zufriedenheitszustand“ der Nachhaltigkeit nie ergeben, denn wir könnten niemals sicher sein, ob unsere Beziehungen beständig (konsistent), geeignet (effizient) und ausreichend (suffizient) wären.

Ohne so erlebte Nachhaltigkeit wiederum würden wir höchstwahrscheinlich früher oder später in einen unerfüllten und bedürftigen Zustand geraten, der uns alsbald zu Konsum und einer gewissen Maßlosigkeit ( = Mangel an Maß) treiben würde.
Und da „Zu-friedenheit“ ja genau genommen eine „In-Friedenheit“, ein „In-Frieden-Sein“ bedeutet, würden wir mit dem Verlust unserer Zufriedenheit zugleich auch aggressiver und kompromißloser werden.
Hoppla!
Haben wir da gerade etwas wiedererkannt? Aus unserem Alltag oder sogar bezüglich des Zustands der Welt?

Wenn mir das gelungen ist, dann bin ich meinem heutigen bLog-Ziel sehr nahe.
Denn mit der Oligoamory möchte ich ja auch „Lust auf das Vertraute“ machen.
Und dies kann beizeiten bedeuten, daß ich mich darum bemühen muß, aus einer situativen „Unzufriedenheit“ eben nicht in Konsum und Maßlosigkeit zu flüchten.
Oder es kann bedeuten, daß ich aufgefordert bin zu schauen, ob ich mit dem „Vorhandenen“, dem Vertrauten, nicht doch „in Frieden“ sein kann.

Diesbezüglich leben wir zugegeben in einer etwas zwiespältigen Zeit. Denn wiewohl es zunehmend Initiativen gibt, die, wie ich hier, der Nachhaltigkeit mehr Bedeutung verleihen wollen, so gibt es immer noch genug Stimmen, die das „Vertraute“ als rückständig, altbacken oder langweilig stempeln wollen, um uns aus unserem Frieden zu locken (und ohne Unzufriedenheit gäbe es sicherlich deutlich weniger Konsum…).
Wenn wir diese Dynamik auf die Ebene der Beziehungsführung übertragen, dann sehen wir schnell, wie wir in eine Haltung von „höher-schneller-weiter“ katapultiert werden könnten, die non-monogamer Lebensführung z.T. einen so schlechten Ruf eingebracht hat. Denn wenn der innere Frieden erst einmal verloren ist, dann besteht die Gefahr, daß die unerfüllte Bedürftigkeit stets die Hoffnung nährt, daß „da draußen“ immer noch etwas (also: jemand!) passenderes, tolleres, besseres sein könnte – und das „Wisch-und-weg“ moderner Datingportale ist geboren. Und irgendwann geht es dann nicht einmal mehr um das Ziel der Erfüllung eigener Bedürfnisse (und sei es in irgendeinem unerreichbaren Superlativ), sondern nur noch um das nächste Neue, Aufregende, Aufreizende, weil nur noch dieser Kick stark genug ist, das Leeregefühl kurzfristig wirklich zu unterdrücken.

Wenn wir nicht in solch ein Hamsterrad geraten wollen, dann bleibt uns – auch und gerade in Beziehungsdingen – vor allem, eine etwas in Vergessenheit geratene Tugend (wieder) zu mobilisieren: Zufrieden zu sein mit dem, was wir (schon) haben. Oder was mir in der Oligoamory besonders lieb ist: Das, was wir haben, sorgfältig zu erwägen.
Das scheint mir heute in einer Zeit, in der immer noch so häufig Konsumlaune künstlich erzeugt wird, sehr wichtig zu sein: Was brauche ich denn (noch), um zu-frieden, in Frieden, zu sein? Oder wenigstens: zufriedener. Und: Gibt es das (nur?) „da draußen“?

Mit dem, was ich (schon) habe, kann ich aber mein „In-Frieden-Sein“ vermutlich viel besser überprüfen. Und dabei kann ich ganz bei mir bleiben – und muß nicht auf ein „Außen“ oder etwaige Partner*innen zeigen.
Z.B., wie sieht es mit meiner Verantwortlichkeit aus? Zur Verantwortlichkeit gehören wichtige Eckpfeiler jeder (Mehrfach)Beziehungsführung: Meine Aufrichtigkeit, meine Loyalität, das Maß meiner Transparenz. Wie viel solcher Kapazitäten bin ich bereit aufzuwenden, um mich beständig, integer und, ja, berechenbar, als jemand zu bewähren, der vertrauenswürdig ist? Und habe ich den Willen und die Zeit dazu?
Letztere Frage ist gar nicht so unwichtig. Neulich las ich auf einem Datingportal in einem Profil den Satz: „Bitte schreibe mich nur an, wenn Du in Deinem Leben wirklich Raum für eine weitere Beziehung hast.“
Manche Menschen scheinen es also auch mit Flirts wie mit Milchtüten zu halten: Sie kommen mit einer neuen Packung nach Hause, nur um festzustellen, daß der Kühlschrank schon voll ist – Folge: Neue Packungen haben keinen Platz, vorhandene Packungen werden sauer…

Nachhaltige Beziehungsführung, wie ich sie mir in der Oligoamory wünsche, will also mit Sorgfalt ausgeübt sein. Meine persönliche Freiheit geht nämlich tatsächlich mit einer „Erwartung an (meine) Verantwortung“ einher:
Einerseits, daß ich mich selbst gut genug kenne, um zu wissen wo meine Stärken und meine Grenzen bzw. meine noch ausbaufähigen Potentiale liegen. Andererseits, daß ein Beziehungsprozess, auf den sich zwei (oder mehr!) Lebewesen freiwillig einlassen, immer gleichzeitig ein Hineinwachsen in eine Gesamtverantwortung füreinander bedeutet.

Und das ist doch genau genommen sehr gut so. Denn Nachhaltigkeit, mit ihren Aspekten von Konsistenz, Effizienz und Suffizienz bedeutet doch, daß eine bestimmte Sache für uns einen Wert gewonnen hat. Soviel an Wert, daß sie eben normalerweise nicht beliebig oder austauschbar ist. Und dieser Wert ist aus einem Zugewinn an Vertrauen zu einem Gegenstand, einer Person oder einer Beziehung heraus entstanden.
Und jede*r weißes von sich selbst: Wen oder was man in dieser Weise „lieb gewonnen“ hat, mit dem ist man im Umkehrschluß wiederum besonders bemüht oder sorgfältig, zeigt sich „verantwortlich“.

In dieser Hinsicht kann die Parole aus der Umweltbewegung „Nachhaltigkeit beginnt vor der eigenen Haustür!“ direkt auf unsere intimen Beziehungen übertragen werden: Wir müssen den Blick dazu nicht in die Ferne schweifen lassen oder auf das ewig grünere Gras der Nachbar*in. Als der beste Beziehungsmensch können wir uns hier und heute gegenüber uns selbst und in unseren Bestandsbeziehungen erproben, verantwortlich und frei.
Was enorm sexy ist, übrigens, richtig gehend attraktiv…
Welch‘ schöneres Argument könnte es für (potentielle) Teilnehmer*innen ethischer Mehrfachbeziehungen geben?



* 2. Zeile aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Erinnerung“.

¹ Rede am 26. September 2019 im Futurium in Berlin zur Kampagne „Freiheit ist unser System“.

² „Der Kleine Prinz“; 21. Kapitel; „Freundschaft mit dem Fuchs“

³ Danke diesbezüglich nochmals für Input durch Dr. Bernd Siebenhüner.

Danke an pine watt auf Unsplash für das Foto.

3 Antworten auf „Eintrag 42“

  1. Das ist so eine Sache mit der Zufriedenheit, man glaubt sie zu haben und im nächsten Moment geht sie verloren.
    Es wird wohl immer ein gewisses Ringen um diese Tugend geben.
    Aber wenn man sie hat, breitet sich ein großer Frieden und innere Ruhe in einem aus.
    Ich denke rational ist das möglich.

    1. Guter Einwurf – da möchte ich kurz – um evtl. Mißverständnissen vorzubeugen – erklären, wie ich als Autor hier die Begriffe verwende: Das deutsche „Glück“ benutze ich als Begriff seltener, da ich „Glück“ für einen kurzen, fast ekstatischen, nicht-festhaltbaren Zustand halte, der sich spontan und situativ einstellen kann – der, wenn der Moment vorbei ist, sich aber auch wieder verflüchtigt. Deshalb glaube ich nicht, daß es ein lebenslanges Dasein „im Glück“ gibt, sondern daß „Glück“ Gipfelerlebnisse im Auf und Ab des Lebens beschreibt.
      Für den „langanhaltenden“ erstrebenswerten Zustand benutze ich im Deutschen das Wort „Zufriedenheit“ – ein Zustand von Wohlbefinden mit hoher Bedürfnisdeckung, der – wenn ein Mensch sich gut um sich und seine Umgebung kümmert – dauerhaft (wenn auch vielleicht nicht allzeit „ungetrübt“)erreicht werden kann.
      Orientiert habe ich mich bei den Begriffen u.a. beim „Vater der Gewaltfreien Kommunikation“ Marshall Rosenberg, der im Englischen „joy“ (kurzfristig) und „happiness“ (langanhaltend) verwendet, um die beiden Zustände von einander abzugrenzen.

      1. Für mich ist es so: „Glück“ haben wir alle, es ist ständig da, wir müssen es nicht erst erreichen, wie der berühmte Satz schon erklärt „Der Weg ist das Ziel“.
        „Zufriedenheit“ ist aus meiner Sicht nicht immer gut in allen Dingen, es könnte vielleicht eine Selbstzufriedenheit entstehen, die erkenntnisunfähig und nicht mehr lernbereit macht. Sogar eine gewisse Arroganz wäre möglich.
        Deshalb ist eine gewisse Unzufriedenheit für mich wie ein innerer Motor, der mich auch vorantreiben kann. Ich hoffe ich hab mich verständlich ausgedrückt.

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