Eintrag 44

Liebe Freunde

Vor über zweitausend Jahren stieg ein Mann aus Nazareth auf einen Hügel, um einer atemberaubten Menge nahezubringen, wie vorteilhaft es für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde man seine Feinde lieben.¹
Über zweitausend Jahre später überlege ich, ob es damals nicht eine gute Idee gewesen wäre, diesem bemerkenswerten Gedanken die Vorüberlegung vorauszuschicken, daß es mindestens ebenso vorteilhaft für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde es uns grundsätzlich schon einmal gelingen, wenigstens unsere Freunde zu lieben…

Wie kommt Euer Reiseführer Oligotropos auf solch eine weitgespannte Idee?
Durch Kontakt mit der in Teilen überraschend knackig-kompakten Realität der Gegenwart, welche Zeugnis davon ablegt, daß auch im Jahre 2020 wirkliche „Freundesliebe“ keine allgemein verbreitete Größe ist. Ja, daß sie für viele – vielleicht sogar die allermeisten – Menschen nicht einmal besonders erstrebenswert erscheint.
Eine steile These? Nun, dann hinein in das gelebte Leben:

In diesem noch frischen Jahr hatte ich in kurzer Folge zwei Gespräche mit geradezu Déjà-vu-artigem Verlauf.
Um dieser (kleinen) Stichprobe gerecht zu werden müßte ich allerdings zugeben, daß der Déjà-vu-Charakter vermutlich darin begründet war, daß jedes mal ich der Gesprächspartner war – und daß es in beiden Gesprächen um die Kernkonzeption der Oligoamory ging.
Dazu stellte ich dar, daß es mir diesbezüglich wichtig sei, daß in allen oligoamoren Beziehungen immer „der ganze Mensch“ gemeint sein sollte. Große Bedeutung hätte darum, daß ich einen anderen Menschen nicht im Kopf „kompartmentalisieren“ würde. Denn jeder Mensch wäre doch immer ein „Gesamtkunstwerk“ mit verschiedenen Facetten – z.B. Arbeitnehmer*in, evtl. Elternteil, Angehörige*r eines (schon bestehenden) Freundes- und Familienkreises, engagiertes Mitglied bei einem Hobby oder Ehrenamt, etc. Sollte ich also mit jemandem Freundschaft schließen, fände ich es integer, wenn ich dann die „vollständige Person“ mit all ihren Aspekten und mit all den bei ihr bereits existierenden Verbindlichkeiten meinen würde – und eben nicht nur ihr „Schönwettergesicht“.
So weit, so gut.
Allerdings erweitere ich dieses Bild auch noch zusätzlich um den Faktor „originärer Kategorienfreiheit“, den ich für die Oligoamory aus der Beziehungsanarchie entlehnt habe. Damit meine ich, daß ich, was die Quelle meiner Gefühle und den Ausdruck meiner Emotionen angeht, nicht (mehr) zwischen „nur Freunden“, „bloßen Bekannten“, „Familie“, „bester Kumpel“ usw. trennen möchte. Denn ich möchte bei all diesen Menschen gleichermaßen authentisch „ich“ sein können und meine ganzen Empfindungen ausdrücken dürfen.
Ergo wäre meine Immersion, meine Liebe und mein Vertrauen, die ich in all meine Beziehungen hineingäbe, für mich energetisch dieselbe. Was im Idealfall bedeuten sollte, daß ich z.B. zu meinen Kindern genauso ehrlich wie zu meinem Handballtrainer wäre, gegenüber der Postbotin genauso verbindlich wie gegenüber meiner Lebenspartnerin. Was zur Folge hätte, daß ich mich darum bemühen würde, in all diesen Bereichen meines Lebens authentisch die gleiche Person zu sein.
[Was für mich übrigens DIE Herausforderungen ethischer Non-Monogamie und der Oligoamory schlechthin ist. Die mich nach einer besseren Vision meiner selbst streben läßt, möchte ich hinzufügen…].

Die Reaktionen waren in kurzer Folge jedoch so, als ob meine Gesprächspartner*innen einen elektrisch geladenen Draht berührt hätten – oder als ob ich ihnen eine Büchse voller exotischer Würmer anbot:

Dialogpartner*in 1: „Oligotropos, ich trage die Verantwortung für alle Menschen mit denen ich in Beziehung stehe; praktisch meine ich damit aber, dass ich nur die Verantwortung für uns beide, dich und mich, tragen will. Was du mit Dritten vereinbart hast, wie sehr du sie teilhaben lässt, was sie evtl. wissen – das macht bitte nur untereinander aus wie es für euch gut ist.
Für mich bedeutet eine Beziehung, so wie du sie dir vorstellst, zu viel Verantwortung, das kann ich nicht tragen und dem würde ich nie gerecht werden können.“

Dialogpartner*in 2: „Oligotropos, ich merke, dass ich mit dem Ganzen überfordert bin und mir das ein bisschen viel ist. Ich bin etwas verunsichert.“
Und etwas später, da diese*r Dialogpartner*in tatsächlich Elternteil war: „Ich wüsste auch gar nicht, wie ich so ein Beisammensein kindgerecht verkaufen sollte.“

Da stand ich also mit meiner Oligoamory, als hätte ich an der Haustür Knöpfe verkauft².
Dabei hatte ich doch gerade dafür geworben, wie großartig es vielleicht sein könnte, wenn in einer Beziehung die beteiligten Personen sich gegenseitig komplett und umfassend wertschätzen würden…
Ist dies in der Realität oftmals also gar nicht erwünscht? Noch mehr: Ist dieser gesamte Gedankengang so absurd und abwegig, daß er nicht einmal Kindern vorgelebt werden dürfte?

Ich bin erschüttert: Wir schenken unseren Freunden personalisierte Kissen, manchmal sogar personalisierte Wellness-Urlaube, wagen es aber zugleich nicht, eine personalisierte, d.h. „exakt auf diesen besonderen Menschen zugeschnittene“ Beziehung mit ihnen zu führen.
Weil es „zu viel Verantwortung“ bedeuten könnte, weil es einen „überfordert“ und „verunsichert“

In meinem vorherigen Eintrag 43 gehe ich auf einige der angsteinflößenden Gründe ein, die unserem Denken in dieser Richtung wohl vor allem zugrunde liegen. Und in Eintrag 26 beschreibe ich das Resultat einer solchen Haltung, nämlich das fortgesetzte Verbleiben und Erleben einer „aufgespaltenen Realität“ – sowohl an uns selbst als auch hinsichtlich anderer Menschen.

Ein Großteil von uns Menschen scheint sich aber mit dieser fortwährend aufrechterhaltenen „Trennungsrealität“ gut arrangiert zu haben. Na klar, ganz sicher auch, weil wir damit aufgewachsen sind – und weil es eben dem normal-alltäglichen Modus entspricht, mit dem die meisten von uns in ihren Beziehungen interagieren. „Das Vertraute“ wirkt dann immer leicht wie „das Richtige“; Menschen sind „Gewohnheitstiere“, die Komfortzone wird bekanntermaßen von einem formidablen Schweinehund bewacht.

Allerdings scheint mir der Preis für diese Art von Beziehungen und Freundschaften, die rein situativen „Inselcharakter“ haben (und behalten sollen!), sehr hoch zu sein.
Wir Menschen sind nämlich offensichtlich schrecklicherweise durchaus in der Lage, ohne vernünftigen oder ersichtlichen Anlass abzulehnen und sogar zu hassen – aber die Fähigkeit zu unbegründeter Liebe, bzw. zu der für Liebe noch wichtigeren Einstiegsvoraussetzung „Vertrauen“, gestehen wir uns scheinbar nicht ohne weiteres zu.

Wir erschaffen uns dadurch als Folge eine sehr harte Wirklichkeit, die wir unbewußt selbst regelmäßig noch verstärken.
Würden wir einen Menschen „ganz und gar“ akzeptieren, dann hieße das, sie*ihn auch mit ihren*seinen Ideen und Träumen, Talenten und Schwächen, Sorgen und Nöten und mit anhängigem Alltag wahrzunehmen. Denn wenn wir keine reine „Aspektbeziehung“ oder „Schönwetterfreundschaft“ anstrebten, die immer nur punktuell gelebt würde, dann wären ja doch auch die nicht immer angenehmen Potentiale Teil der jeweils anderen Person.
Wie sollen wir uns aber wechselseitig wirklich wertschätzen, wenn wir uns gegenseitig aus weiten Teilen unseres Lebens heraushalten? Und jetzt spreche ich nicht mehr von Handballtrainern und Postboten, sondern von unseren selbstgewählten Freunden!
Wenn ich versuchen würde, eine enge Beziehung, der ich den Namen „Freundschaft“ gebe, auf lediglichen Teilaspekten aufzubauen, dann käme ich mir beim Blick in den Spiegel sehr unredlich und unehrlich vor, denn – Hand auf’s Herz – ich könnte mir dann überhaupt keine Meinung zu dem entsprechenden Gegenüber erlauben, wüßte ich doch genau genommen viel zu wenig über ihn*sie.
Und ich glaube, genau dieses unausgesprochene Empfinden liegt zahllosen Freundschaften – und anderen intimen Beziehungen – zugrunde. Und weil wir eben nicht dumm sind und weil wir immer noch einen Rest gesunder, gut funktionierender zwischenmenschlicher Instinkte besitzen, werden wir alleweil in solchen Beziehungen Inkohärenz (mangelnden Zusammenhalt, siehe auch Eintrag 25) verspüren und als Resultat selbst unseren engsten Freunden NICHT VERTRAUEN.
Wie sollten wir sie also jemals lieben können…

Wenn dies der letzte Ratschluß unserer derzeitigen Beziehungsfähigkeit ist, dann wird der alte Goethe weiterhin mit seinem über 200-jährigen Stoßseufzer Recht behalten (Eintrag 39): „Gemeinschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Mitglieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.“ Und wir werden Teil einer mißtrauischen und unfriedlichen Welt bleiben, die wir so auch an unsere Kinder übergeben werden, wenn wir nicht wissen, wie wir ihnen eine andere Form von „Beisammensein kindgerecht verkaufen“ könnten.
Wollen wir wirklich unser Leben inmitten solcherart un-verbindlicher Beziehungen verbringen?

An dieser Stelle möchte ich noch einmal an die unerschrockene Aufforderung des Schauspielers Anthony Hopkins erinnern, die ich in meinem Dating-Eintrag 30 zitiere: Wir müssen dringend damit aufhören, uns wechselseitig als „Andenken“ zu behandeln – oder wie ich es dort präzisierte – als willkürliche „Lebensdreingaben“.
Wir müssen einen Weg zu einer erhöhten Selbstehrlichkeit zurückfinden – was nun mal bedeutet, daß wir dazu die manchmal etwas schmerzhafte Mühe auf uns nehmen sollten, uns selbst erst einmal gut kennenzulernen.
Und zwar nicht, damit wir dann den kleinen Perfektionisten oder Kontroletti, der in den meisten von uns steckt, von der Leine lassen, damit er fürderhin möglichst jeden Fehler und jede Unvollkommenheit, die wir in und an uns gefunden haben, strengstens überwacht und im Zaum hält. Sondern um uns hinsichtlich unserer Selbstwirksamkeit zu ermächtigen und zu ermutigen. Um den Mut, der – wie im letzten Eintrag erwähnt – in der „Zu-Mutung“ steckt, aufzubringen, mit den anderen Menschen in wahrhaftige Interaktion zu treten.
Und ohne daß wir diesen Mut eine Weile aushalten, ohne daß wir seine Folgen eine Weile aushalten können – indem wir nämlich unserer eigenen Unvollkommenheit und der der anderen Menschen eine Weile Spielraum geben – nehmen wir uns die Möglichkeit herauszufinden, ob eventuell die Chance zu einer echten, tiefen, vertrauten, ja intimen, Verbindung möglich ist.

Übrigens: In der US-amerikanischen Sitkom „The Big Bang Theory“ ist über 279 kurze Episoden zu sehen, wie sieben Menschen eine überraschend oligoamore Beziehung miteinander eingehen. Dem liegt durchaus kein idealisierter Kennen- und Liebenlernprozess zugrunde. Selbst am Ende der letzten Staffel kann sich der Zuschauer vorstellen, wie die Protagonisten vermutlich noch in ihrer Senioren-WG zusammensitzen würden, sich gelegentlich etwas kindische Streiche spielen oder gelegentlich flapsige Einlassungen bezüglich der Charaktermerkmale der anderen vom Stapel lassen. Trotzdem habe ich noch nie eine Fernsehserie verfolgt, in deren Verlauf die Beteiligten stärker über Geschlechter-, Rassen-, Bildungs- und Stereotypengrenzen hinweg nach und nach zusammenwachsen und schließlich offen ihre wortwörtliche Liebe füreinander bekennen.
Soll es das Vorrecht cineastischer Fantasien bleiben, daß so etwas nur als idyllische Utopie etwas nerdiger Bildschirmfiguren existieren darf?

Vom entlegenen Eiland der Oligoamory rufe ich Euch heute deswegen noch einmal zu:
Versucht weiterhin, den „Weg des größtmöglichen Mutes“ zu gehen.
Bemüht Euch, „Vertrauen zu wagen“.
Gestattet Euch, Eure eigene Verunsicherung diesbezüglich zu bekennen und trotzdem – oder vielmehr deswegen – ein klein bißchen mehr anzustreben als Eure bisherige Komfortzone bietet.
Und vor allem: Behandelt Euch selbst und andere Menschen „vollwertig“ – das wäre, um mit Bertolt Brecht³ zu schließen, „die Hoffnung der Welt“.




¹ Matthäus-Evangelium Kapitel 5, Vers 44 und Lukas-Evangelium Kapitel 6, Vers 27

² Der Zauberer Gandalf der Graue wirft dem abweisenden Bilbo Beutlin in J.R.R. Tolkiens Buch „Der Hobbit“ vor, er würde ihn behandeln „als ob er Knöpfe an der Tür verkaufen würde“

³ Letzter Absatz aus dem Text „Die Hoffnung der Welt“„Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in acht Bänden“ , Suhrkamp Verlag, 1967:
„Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, daß die Fische naß werden?
Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selber gegenüber.
Es ist furchtbar, daß der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen.
Alle, die über die Mißstände nachgedacht haben, lehnen es ab, an das Mitleid der einen mit den anderen zu appellieren. Aber das Mitleid ist unentbehrlich. Es ist die Hoffnung der Welt.“


Danke an Kelsey Chance auf Unsplash für das Foto.

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