Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 2
In dem großen Legendenschatz der
Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen,
Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt
die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit,
die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen
aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich
verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte
der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und
ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.
Gött*innendämmerung
Die Umwälzungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert berührten auch das spirituelle Leben der Menschen, nachdem mehrere Jahrhunderte lang vorwiegend die christlichen Kirchen nahezu ausschließlich für die geistlichen Bedürfnisse der Bevölkerung von Europa wie auch Amerika zuständig gewesen waren. Durch nun immer größere gesellschaftliche Aufklärung, sich verbessernde Bildungschancen und zunehmende (Wahl)Freiheiten, begann sich ein Wunsch nach religiösen Modellen zu regen, die vermehrt aktive Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeiten boten, sowie eine Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens.
Dies führte neben einer zunehmenden Hinwendung zu z.B. hinduistischen und buddhistischen Lehren ebenfalls zu einem neu entfachten Interesse an vorchristlichen Traditionen der mediterranen Antike wie auch an den vor-christlichen, heidnisch-paganen Urreligionen Nordwesteuropas.
Die scheinbar plötzliche Aufmerksamkeit für antike und heidnische Mythen der Vorzeit kam allerdings durchaus nicht aus dem blauen Himmel: Archäologen wie Heinrich Schliemann oder auch Ägyptologen wie Sir Arthur Evans hatten z.B. mit neuen Techniken und konkreten Bodenfunden zu rekonstruieren begonnen, daß zahlreiche Legenden und Mythen der Vergangenheit in Teilen vermutlich einen belegbaren, wahren Kern enthielten. Die schiere Möglichkeit, daß Sagen wie die von Odysseus, Kleopatra, König Arthur, den Nibelungen und Attila, sogar Lugh mit der langen Hand oder den Gestalten der Edda sich so oder so ähnlich eventuell wirklich zugetragen haben könnten, inspirierte in Folge zahllose Künstler*innen in Bild, Wort, Skulptur und Musik, allerdings ebenso zahlreiche nationale Sammlungs- und Erhebungsbewegungen, die nun ein „wiederentdecktes Erbe“ der Kelten (z.B. Druidentum), Angel-Sachsen, Germanen, Slawen, etc. aus handfesten politischen Gründen beschworen und entsprechend instrumentalisierten.
Die wissenschaftliche Herangehensweise um die Jahrhundertwende besaß allerdings kaum irgendeinen kritischen Diskurs: Die meisten „Fach“leute auf ihrem Gebiet waren meist die allerersten Personen überhaupt, die sich mit einer bestimmten Materie auseinandersetzten, es gab nahezu keine Vergleichsmöglichkeiten und fachübergreifendes Arbeiten steckte noch in den Kinderschuhen. In Folge geriet die „graue vorchristliche Vorzeit“ regelmäßig zu einer schillernden Leinwand für freiheitliche Ideale, egalitäre Ideen und kulturelle Gegenentwürfe, die oftmals stärker dem Sehnen und dem Engagement der Forschenden selber als eindeutig belegbaren Feldbeweisen entsprachen. „Lücken“ wurden häufig zunächst wieder mit Poesie oder zweckdienlichem Wunschdenken gefüllt, eine kritische, wissenschaftliche Opposition gab es noch nicht.
Auf diese Weise begann sich die Vorstellung einer überraschend emanzipatorischen, versunkenen antik-heidnischen „Idealwelt“ zu etablieren, für die sich scheinbar europaweit immer mehr historisch-literarische und archäologische „Beweise“ fanden.
Federführend in dieser Hinsicht waren vor allem der Schweizer Altertumsforscher und Anthropologe Johann Jakob Bachofen („Das Mutterrecht“; 1861), der Ethnologe und Philologe James George Frazer („Der goldene Zweig“, 1890), der US-amerikanische Volkskundler und Philologe Charles Godfrey Leland („Aradia – Die Lehren der Hexen“; 1899), sowie – last but not least – die Anthropologin und Ägyptologin Margaret Alice Murray. Letztere formulierte schließlich in ihrem Buch „Der Hexen-Kult in Westeuropa“ (1921) eine volkskundliche Studie, die eine vollständige Theorie über eine paneuropäische, vorchristliche, paganistische Religion präsentierte.
Diese Religion sollte auf einem polaren (=gegensätzlich bei wesensgleicher Zusammengehörigkeit; Duden) Gottesbild beruht haben, welches aus einer lunaren, „ewigen Muttergöttin“ (z.B. Hekate, Kybele, Isis etc.) und ihrem Gefährten, einem solaren, „Vegetationsgott“ (z.B. Tamuz, Pan, Apollo etc.) bestand – und dadurch weiblich-matriarchisch betont war. Diese tief in die Zeit zurückreichende Verehrung wäre erst mit der mittelalterlichen Hexenverfolgung zu Ende gegangen, als die letzten Personen, die noch in Kleingruppen (sg. „Zirkeln“ oder „Coven“) diese Religion ausübten, ausgelöscht worden seien.
Der wissenschaftlichen Aufbereitung durch Murray (und ihren Vorschreiber*innen) folgte eine weitere Sehnsuchtswelle künstlerischer Annäherungen; beispielhaft seien hier Dion Fortune mit der „Seepriesterin“ (1938) oder Robert Graves mit seiner „Weißen Göttin“ (1948) genannt. Das Bedürfnis etlicher Menschen nach solch einer vermeintlich „unverfälschten Form ursprünglicher Spiritualität“ war groß – es galt nur noch, eine Form, einen Rahmen zu finden, um Lieder, Mythen und Götterbilder (wieder) zu einer praktizierbaren Religionsform zu machen.
Nun stammten die interessierten Rezipienten der „neuen alten Mythen“, die auch die Muße und den Horizont hatten, den erstaunlichen Entwicklungen in Forschung und Literatur zu folgen, vielfach aus einer bürgerlich gebildeten Mittelschicht. In dieser Mittelschicht war es seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unüblich, sich für gesellschaftlichen Austausch, Aufbau von Einfluß oder zu karitativen Zwecken „magischen“ bzw. „okkulten“ Vereinigungen, wie z.B. den Freimaurern oder den Rosenkreutzern anzuschließen (quasi als eine Art „sozialer Club“). Diese Vereinigungen besaßen häufig noch einen substantiellen Ritus an Zeremonien und Gebräuchen, die z.B. zum Zwecke von Neuaufnahmen oder bei festlichen Anlässen ausführlich praktiziert wurden.
Manche dieser Zeremonien waren tatsächlich sehr alt und gründeten in neoplatonistischen bzw. hermetischen Ritualen oder auch in Gebräuchen mittelalterlicher Handwerkszünfte. U.a. charismatische Personen wie Éliphas Lévi (Loge „Rose der vollkommenen Stille“ ; 1861), Samuel Liddell MacGregor Mathers („Hermetischer Orden der goldenen Dämmerung“ ; 1888) und der berühmt-berüchtigte Aleister Crowley („Orientalischer Templerorden [OTO]“ ; 1912) wurden auf diese Weise zu wegbereitenden „Formgebern“ einer aufblühenden magisch-heidnischen Neo-Spiritualität.
Es bedurfte nur noch weniger Federstriche, die verschiedenen Initiativen zu einem praktizierbaren Ganzen zu verbinden…
Diese Rolle war dem Briten Gerald Gardner beschieden, der 1949 aus den bisher skizzierten Ideen und Vorstellungen ein erstes „Buch der Schatten“ kompilierte, mit dem er dann auch in der Praxis wagte, einen ersten tatsächlich praktizierenden heidnischen Zirkel der Neuzeit als spirituell arbeitende Gruppe mehr oder weniger öffentlich zu etablieren.
Gardner nannte das so entstandene Konzept „Wicca“ (nach der angelsächsischen Bezeichnung „Wicce“, »Hexe«) Er übernahm die erwähnte weiblich-matriarchische Betonung sowie auch die Covenstruktur (Hexenzirkel/Konvent), so daß stets eine „Hohepriesterin“ (oder auch „Magistra“) die rituelle Leitungsfunktion einer solcherart überschaubaren Kleingruppe übernahm.
Die zweite Hohepriesterin von Gardners eigener Start-Gruppe, Doreen Valiente, überarbeitete maßgeblich die in verschiedenen noch nicht völlig zusammenhängenden Teilen existierende Version des „Schattenbuches“, wodurch bis 1954 ein druckfähiges Exemplar für ein größeres Publikum geschaffen wurde.
Gardners und Valientes Konzeption von Wicca, als Herangehensweise für ein „praktizierfähiges Hexen- bzw. Heidentum“, traf einen nicht unerheblichen spirituellen Bedarf, der in Teilen von non-konformen, romantisierenden oder auch esoterischen Kreisen genau bezüglich des eingangs erwähnten Bedürfnisses nach „aktiver Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeit, sowie der Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens in spirituellen Belangen“ bestand.
Die von Murray übernommene, zellenartige und minimal-hierarchische „Covenstuktur“ („Zirkel“) als Kleingruppe von maximal 13 Teilnehmer*innen kam dabei zusätzlich einer potentiell individualistischen Gestaltungs- und Erlebenskultur entgegen.
Bis zu Gardners Tod 1964 entstanden durch diese Zellenstruktur – also durch das Bilden von „Ablegern“ des Muttercovens – in Großbritannien ca. 8 weitere Zirkel; der „internationale Durchbruch“ sollte aber über die USA kommen, in denen „Wicca“ auf höchst fruchtbaren Boden gelangte.
Schon 1960 war nämlich Monique Wilson durch Gardners vierte Hohepriesterin, Lois Bourne (aus dem urspünglichen Start-Coven), in Wicca eingeführt („initiiert“) worden.
1961 hatte Monique Wilson bereits ihren eigenen Ableger-„Coven“ (Zirkel) in Perth (Schottland) gegründet, wo sie ihrerseits 1963 das Ehepaar Rosemary und Raymond Buckland zu Praktizierenden der Hexenkunst weihte (welche seit 1962 in den USA lebten und in regelmäßigem Briefkontakt zu Gerald Gardner standen).
Rosemary und Raymond gründeten in Folge den ersten „offiziellen“ Wicca-Coven der USA in New York; jedoch hatten unabhängig davon seit 1954 längst etliche Kopien von Gardners „Buch der Schatten“ die Staaten erreicht, wodurch sich bereits eine Vielzahl unterschiedlicher nicht-gardnerianischer „Wicca-Traditionen“ zu etablieren begonnen hatten.
In den USA traf „Wicca“ somit jedenfalls rechtzeitig auf die brodelnde Mixtur aus Bürgerrechtsbewegung, gesellschaftlichem Aufbruch, Freiheitsstreben (Womens/Gay Lib.) und „spirituellem New Age“ der Kennedy/Johnson-Ära (Stichworte: Raumfahrtprogramm, Abschaffung der Rassentrennung, Hippiekultur, Vietnamkrieg, Konsumanstieg, Gesundheitsverbesserung, Erhöhung der Frauenbeschäftigung) – Faktoren, die schließlich maßgeblich auf die Grundideen ethischer Non-Monogamie Einfluß nehmen sollten.
Bevor jedoch zum ersten Mal das Wort „Polyamory“ wirklich ausgesprochen und geschrieben wurde, mußten sich zuvor noch zwei wirklich bemerkenswerte Persönlichkeiten – eine Hexe und ein Magier natürlich – begegnen.
Von diesem außerordentlichen Zusammenwirken berichte ich in Teil 3.
In meinem heutiges Fazit möchte ich mich vollkommen dem Religionsanthropologen Michael Strmiska anschließen, der sich in seiner Forschung intensiv mit der „Renaissance“ paganistischer und heidnischer Bewegungen auseinandersetzt; er schrieb dazu:
„Moderne Heiden lassen religiöse Traditionen der Vergangenheit wieder aufleben, rekonstruieren sie und erfinden sie neu; Traditionen, die lange Zeit unterdrückt wurden, sogar bis zu dem Punkt, dass sie fast völlig ausgelöscht wurden…
Daher können die heutigen Heiden, von einigen wenigen möglichen Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten, dass sie religiöse Traditionen fortsetzen, die in einer ununterbrochenen Linie von der Antike bis zur Gegenwart überliefert wurden.
Sie sind moderne Menschen mit einer großen Ehrfurcht vor der Spiritualität der Vergangenheit, die aus den Überresten der Vergangenheit eine neue Religion – in modernes Heidentum – gestalten, die sie nach modernen Denkweisen interpretieren, anpassen und modifizieren“.
[…]
„Der Aufstieg eines modernen Heidentums (Neo-Paganismus) ist sowohl ein Ergebnis als auch ein Maß für die zunehmende Religionsfreiheit und die zunehmende Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt in modernen Gesellschaften, eine Freiheit und Toleranz, die durch die Eindämmung der manchmal unterdrückenden Macht möglich wurde, die in den vergangenen Jahrhunderten von christlichen Autoritäten ausgeübt wurde, um Gehorsam und Teilnahme zu erzwingen.
Um es anders auszudrücken: Das moderne Heidentum ist eines der glücklichen Stiefkinder des modernen Multikulturalismus und des sozialen Pluralismus.“ [siehe auch Teil 4]
Quellen:
Raven Grimassi, „The Wiccan Mysteries: Ancient Origins and Teachings“, Llewellyn 1997
Ronald Hutton, „The Triumph of the Moon – A History of Modern Pagan Witchcraft“, Oxford-Press 1999
Philip Heselton, „Wiccan Roots: Gerald Gardner and the Modern Witchcraft Revival“, Capall Bann 2000
Michael F. Strmiska; „Modern Paganism in World Cultures: Comparative Perspectives“; Santa Barbara, Dencer and Oxford (2005)
Danke an Simon Hattinga Verschure auf Unsplash für das Foto des Callanish-Steinkreises auf der Isle of Lewis (Äußere Hebriden).