ganz besonders
Im Schlußwort meines vorherigen Eintrags 56 rufe ich zur Ganzheit in unseren (Liebes)Beziehungen auf, womit ich die Oligoamory auch wortwörtlich als stark von holistischen (= ganzheitlichen) Gedankengängen durchdrungen zu erkennen gebe.
Regelmäßigen Leser*innen meines bLogs wird das ohnehin nicht verborgen geblieben sein, da ich in nahezu jedem zweiten Artikel dazu einlade, mit dem Eingehen von Mehrfachbeziehungen – und dem Abenteuer solch einer Form von Gemeinschaftlichkeit – einander als „mehr als die Summe der Teile“ zu erleben.
Nach dem Lesen meines letzten Eintrags fiel mir auf, daß ich es für wichtig erachte, noch einmal ganz eindeutig „Farbe zu bekennen“, was diesbezüglich der Hintergrund oligoamoren Denkens und Handelns ist.
Darum gibt es erst einmal wieder einen Block Theorie, bis ich am Ende zu beschreiben versuche, warum ich für mich (und damit also auch für die Oligoamory) in Sachen „Beziehungsfähigkeit“ und ganz praktisch-erdiger Beziehungsführung meine Herangehensweise gewählt habe.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben sich zwei Betrachtungsweisen für Systeme und Organisationsformen entwickelt; mittlerweile werden beide regelmäßig auf biologische, technische, soziologische und sogar psychologische Zusammenhänge angewendet:
Zum einen ist da eben der „Holismus“, der von der Vorstellung ausgeht, daß Systeme und ihre Eigenschaften als Ganzes – und nicht nur als Zusammensetzung ihrer Teile – zu betrachten sind. Der Holismus vertritt die Auffassung, daß ein System nicht vollständig aus dem Zusammenwirken aller seiner Einzelteile verstanden werden kann, und daß die Bestimmung der Einzelteile von ihrer funktionalen Rolle im Ganzen abhängig ist.
Ein einfaches Beispiel hierzu ist die berühmte „Babyrassel“: Wenn wir eine solche Rassel auseinandernähmen, erhielten wir vielleicht zwei Schalen, einen Stiel und ein paar Plastikkügelchen; die eigentliche „Hauptfunktion“des Gegenstandes – nämlich das Rasseln – könnten wir so allerdings nicht sichtbar machen.
Ebenso würde es uns vermutlich ergehen, wollten wir 100%ig korrekt versuchen, einen menschlichen Organismus nachzubauen: Wir könnten alle Elemente vollständig und absolut präzise zusammenfügen, wären aber doch nicht in Lage, auf diese Weise „Leben“ oder gar „Bewußtsein“ herzustellen.
Und auch wenn wir eine komplexe Organisation wie z.B. die „Vereinten Nationen“ beobachten würden, so hätten wir als Zutaten Menschen, Gebäude, Logistik; wir würden Gremien und Räte identifizieren Finanzflüsse, eine Charta, Unterorganisationen und vieles mehr – könnten aber allein anhand dieser Komponenten nicht den Erfolg der UN bei der Wiederherstellung von Frieden und Stabilität z.B. in Liberia (UNMIL) erklären.
Einen ganz anderen Ansatz hingegen wählt der „Reduktionismus“. Dieser geht davon aus, daß ein System durch seine Einzelbestandteile insgesamt bestimmt wird. Dazu gehört die vollständige Zurückführbarkeit von Theorien auf Beobachtungen, von Begriffen auf Dinge oder von gesetzmäßigen Zusammenhängen auf ursächliche Ereignisse. So geht diese Theorie davon aus, daß auf eine Ursache genau eine Wirkung folgt, die wiederum die Ursache für eine weitere Wirkung ist und so fort.
Auf unsere Beispiele oben bezogen könnte der Reduktionismus folgern, daß das Auftreffen der Plastikkügelchen auf die Schalen der Rassel – infolge der Bewegung des Gegenstandes – die Bewegungsenergie der Teilchen in Schallwellen umwandeln würde.
Reduktionismus würde in dieser Art auch darlegen, daß „Leben“ bzw. „Bewußtsein“ kausale Folgen der 100% korrekten Anordnung aller Komponenten in einem Lebewesen sind, die schließlich in ihren Prozessen funktionell aufeinander aufbauen würden.
Ebenso wäre der Erfolg bei der liberische Friedensmission der UN reduktionistisch nachvollziehbar, da der Weg des Prozesses von der Antragstellung bis zum Verlassen des Landes durch den letzten Blauhelmsoldaten durch alle Teile der Organisation im Einzelnen, Abschnitt für Abschnitt, aufeinander folgend nachzuvollziehen sei.
Wie so oft in Philosophie und Wissenschaft scheint es also wieder einmal lediglich ein Dilemma des eigenen Standpunktes und der Wahl der Methode zu sein, auf welche Weise man ein bestimmtes Ergebnis zu erklären versucht…
Um uns daher so langsam unserem eigenen Feld der „Beziehungen“ anzunähern, möchte ich beide Herangehensweisen auf das Beispiel eines Waldstücks anwenden, welches verschiedene Lebensräume (Licht, Schatten, Wasser, unterschiedliche Böden etc.) enthält und unterschiedliche Lebewesen (Mikroorganismen, Pilze, Pflanzen, Tiere) beherbergt.
Ein „holistischer“ Ansatz dazu wäre nun quasi das, was wir heute meistens als „ökologisch“ bezeichnen: So ein Wald stellt ein komplexes, gegliedertes System aus Elementen dar, die untereinander in vielfältigen Wechselbeziehungen stehen und dadurch Eigenschaften hervorbringen, die durch eine isolierte Betrachtung der einzelnen Elemente nicht mehr erklärbar sind. Umwelt und Artengemeinschaft beeinflussen einander gegenseitig, und zwar so, daß letztlich ein Zustand erreicht wird, in dem diese Artengemeinschaft zusammen mit dem von ihr gestalteten Lebensraum eine Einheit bilden (Beispiel: Pilze leben in Symbiose mit den Wurzeln eines Baumes, so daß dieser besser wächst, zahlreiche andere Tiere ernährt, deren Hinterlassenschaften mit dem Schatten des Baumes den Pilzen in der Erde darunter wieder zugute kommen usw.).
Würde man hingegen ein solches Waldstück reduktionistisch angehen, so würde man alle darin vorhandenen Komponenten getrennt und für sich betrachten: Da gibt es Stellen im Boden mit saurem pH-Wert, da gibt es Steinpilze, einige Kiefern, fünf Eichhörnchen, einen Fuchs etc. In dieser Betrachtungsweise wird vom Individuum ausgegangen: Auf einer Fläche koexistieren alle Faktoren und Arten, die dorthin gelangt sind und geeignete Umweltbedingungen vorgefunden haben. Sie sind in ihrer Existenz nicht daran gebunden, für andere oder eine übergeordnete Gesellschaft Funktionen zu erfüllen. Und sogar evolutionär wäre diese Argumentation nachvollziehbar: Die Natur hält erwiesenermaßen an allen Komponenten fest, solange diese in einem System nicht „stören“ (Die „Resthörner“auf Giraffenköpfen sind so ein Beispiel. Bei Giraffenvorfahren müssen diese Hörner – wie bei anderen Pflanzenfressern auch – einstmals eine wichtige Rolle gespielt haben. Bei heutigen Giraffen sind diese „Überbleibsel“ schlicht immer noch da, weil sie bei der weiteren Evolution der Giraffen „nicht im Weg waren“).
Und damit haben wir bereits oligoamoren Boden betreten.
Wie – das habt Ihr nicht bemerkt?
Nun, denn auch in der Welt der Mehrfachbeziehungen gibt es exakt die beiden von mir hier so ausführlich vorgestellten Blickrichtungen.
Da gibt es die reduktionistischen Betoner*innen der persönlichen Freiheit, die wortgetreu postulieren, daß „sie auch in einer Liebesbeziehung in ihrer Existenz nicht daran gebunden sind, für andere irgendeine Art von Funktion zu erfüllen“ – und da gibt es die idealistischen Holistiker*innen wie mich, die deutlich machen möchten, daß wir in unseren Liebesbeziehungen stets „alle zusammen“ sind und dort das Miteinander und das aufeinander bezogene Handeln Dreh- und Angelpunkt des „gemeinsamen Ganzen“, des „gemeinsamen Wirs“, sind.
Ich persönlich glaube nämlich darüber hinaus, daß wir uns allerspätestens in den Beziehungen, die jene sublim metaphysische Komponente „Liebe“ als gemeinschaftsstiftendes Merkmal enthalten, eine reduktionistische Betrachtung ganz einfach nicht leisten können. Denn Reduktionismus würde ja tatsächlich beinhalten, daß wir uns mit Umständen und Menschen umgäben, die darum Teil unserer Lebenswelt wären, „weil sie nicht stören“ [also: wechselseitig niemand verbindlich beizutragen braucht!]. Und wie schrieb ich schon in meinem Eintrag 2: „Dadurch erhöht sich meiner Meinung nach die Gefahr von Serialität bzw. Austauschbarkeit. Und dies wäre für mich ein höchst unethischer Umgang mit meinen etwaigen Partner*innen – und ich selbst möchte natürlich ebenfalls von meinen Lieblingsmenschen keinesfalls so gesehen oder gar behandelt werden wollen. […] Und was würde uns selbst wohl widerfahren, sollten wir selber einmal krank, behindert oder alt werden? Wieviel Liebe ist dann für uns in diesem Modell noch drin?“
In Eintrag 54 zitiere ich Mahatma Gandhi mit dem ganzheitlichen Ausspruch »Du und ich wir sind eins: Ich kann Dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen«. Positiv ausgedrückt versuchte der weise Inder hiermit zu beschreiben, daß ein bewußtes Miteinander aus der Erkenntnis entsteht, daß jede Wirkung, die wir in der äußeren Welt wahrnehmen, ursprünglich einmal als eine Ursache unserer eigenen, inneren Welt begonnen hat. Denn darüber hinaus möchte Gandhi ebenfalls ausdrücken, daß jeder selbstsüchtige Gedanke („Ich will jetzt aber unbedingt/sofort…“ ) immer bloß selbstsüchtige Auswirkungen heraufbeschwören wird, mit selbst im besten Fall höchstens indifferenten oder belanglosen „Erfolgen“ für uns selbst. Schlimmstenfalls führt jeder Versuch, uns einen Vorteil durch die Ausnutzung von Schwäche, Unerfahrenheit oder der Bedürftigkeit von anderen zu verschaffen, unvermeidlich in einer Beziehung auch mittelfristig zu unserem eigenen Nachteil.
„Ganzheitlich“ hingegen ist jeder Wunsch, jeder Gedanke, jede Handlung, wenn der daraus resultierende Vorgang möglichst vielen (oder noch besser: allen!) Beteiligten, die mit dem Vorgang zu tun haben, nutzt.
Denken wir kurz an unser Waldbeispiel oben, falls die Pilze am Fuß des Baumes beginnen würden, den Baum zu ignorieren oder zu schädigen. Sie würden damit nicht nur die Maximierung des allgemeinen Nutzens ihrer „Tätigkeit“ (weit über den Baum und sich selbst hinaus!) sofort beenden, sondern am Ende auch sich selbst ihrer Lebensgrundlage entziehen.
In Beziehungen – und vollumfänglich in unseren Liebesbeziehungen – sind wir in ganz ähnlicher Weise immer Teil eines „Ganzen“. Und so wie darin kein Teil mittelfristig gegen ein anderes Teil ankämpfen kann, ohne sich selbst zu schädigen, so hängt das Wohl aller Beteiligten von der Anerkennung dieser Aufeinanderbezogenheit im Interesse des Ganzen ab (Siehe auch Eintrag 53: Die anderen Beteiligten „mit hineindenken“ ).
Ihr fleißigen Leser*innen, die Ihr mir bis hierher gefolgt seit: Ich muß bekennen, daß es mir in dieser Hinsicht sehr häufig noch selber wie den Piraten in dem Film „Fluch der Karibik“ mit der sagenumwobenen „Isla de Muerta“ ergeht – oder wie es Kapitän Jack Sparrow ausdrückte: „Eine Insel, welche nur von denjenigen gefunden werden kann, die schon wissen wo sie ist…“.
Auch der US-amerikanische Psychater und Psychotherapeut Scott Peck, der sich viel mit Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung beschäftigt hat, sagte einmal in einem Interview, daß Leben in verbindlichen, von Liebe getragenen Beziehungen kein „Allheilmittel“ sei – in der Art, daß man, sobald man auf ganzheitliche Weise solch eine Art von Verbindung aufgebaut hätte, man keinerlei Schwierigkeiten mehr meistern müßte und all überall nur noch Wohlgefallen herrschen würde. Im Gegenteil, erläuterte Peck – denn die Wirklichkeit würde ja dennoch weiter existieren. Ehrlicherweise würde er sogar zugeben, daß seiner Meinung nach in (Liebes)Beziehungen durch mehr Beteiligte auch mehr Dynamik, mehr Emotionen und dadurch sogar mehr Schmerz vorhanden wären als in einem Dasein als Einzelwesen. Aber dadurch eben auch z.B. mehr und tiefere Freude.
Alles in allem sei für ihn das Typische an einem Leben „in Beziehung“ nicht die Tatsache, daß es weniger schmerzhaft sei, sondern, daß es in jeder Dimension lebendiger wäre.
Der franko-amerikanische Psychologe Richard Beauvais (1938-2019) hat dies für mich sehr schön und poetisch folgendermaßen zusammengefaßt:
»Ich bin hier, weil es keine Zuflucht gibt vor mir selbst, ich fliehe,
solange ich mir nicht selbst in den Augen und Herzen meiner Mitmenschen begegne.
Bis ich aushalte, daß sie meine Geheimnisse teilen,
fühle ich mich vor mir und ihnen nicht sicher.
Aus Angst davor, erkannt zu werden, kann ich weder mich selbst erkennen noch andere;
ich werde allein sein.
Wo sonst als in dieser Gemeinsamkeit, die wir teilen, kann ich einen solchen Spiegel finden?
Hier, gemeinsam, kann ich mir gegenüber endlich aufrichtig erscheinen;
nicht als der Gigant meiner Tagträume, nicht als der Zwerg meiner Ängste,
sondern als Person, als Teil eines Ganzen, mit meinem Beitrag darin.
In diesem Boden kann ich Wurzeln schlagen und wachsen.
Nicht mehr allein – wie im Tod –
sondern lebendig, für mich selbst und für andere.«
Danke an Tomislav Jakupec auf Pixabay für das Foto!