Eintrag 73

Einfach ist nicht leicht – oder: Aller Anfang ist schwer

Das Jahr 2021 hatte ich mit dem Aufruf begonnen, im eigenen Interesse darauf zu achten, sorgsam möglichst das wahrzunehmen, was gerade wirklich IST – womit ich meinte, daß wir uns die Wirklichkeit nicht in einem sogleich unbewußt mitvollzogenem Schritt durch eine eigenen Brille aus Ängsten und Ressentiments vorwegnehmen lassen sollten.
Diese Erinnerung hat mit Beginn diesen Jahres nichts von seiner Bedeutung verloren.

2021 (ja, es folgt der traditionelle Jahresrückblick 🙂 ) eröffnete ich mit einer dreiteiligen Reihe zu dem Thema, welches Rüstzeug nötig wäre, unsere engen persönlichen Beziehungen im oligoamoren Sinne als „bedeutsam“ zu führen (Teile 1 | 2 | 3 ): Selbst-Anerkenntnis, Fremd-Mithineindenken (Empathie) und Toleranz angesichts zunächst nicht immer sofort eindeutig zuzuordnenden Impulsen und Wahrnehmungen zeigten sich dabei als hilfreich; ebenso wie die Bewußtmachung, daß wir alle am Ende – eh unvermeidlich aufeinander bezogen – im sprichwörtlich „selben Boot“ säßen.
„Bedeutsame Beziehungen“ in der Oligoamory sind dazu aber ebenfalls auf ein hohes persönliches Qualitätsmanagement angewiesen, sowie auf den Mut, diesen Beziehungen einen Entwicklungs- und Gestaltungsspielraum auch jenseits hergebrachter Geltungsgrenzen zu erlauben.
Weil hierbei die dadurch entstehenden Freiheiten und Erlebensräume in Verantwortung, Verbindlichkeit und Selbstverpflichtung gründen, kann auf diese Weise ein quasi organisches (Beziehungs)Gebilde entstehen, in welchem alle Teile (also die Beteiligten!) durch ihre Aufeinanderbezogenheit und Liebe füreinander essentielles persönliches Interesse am Gelingen haben – und gerade daher innerhalb eines allseitig nachhaltigen Rahmens beitragen werden [zu den Nachhaltigkeitskriterien siehe Ende Eintrag 3].
Mit dem darauffolgenden Diskriminierungs-Eintrag 65 zeigte ich letztes Jahr diesbezüglich aber auch, daß eine solche nonkonforme, ja gewissermaßen queere Philosophie in Beziehungsdingen durchaus in der „normalen Welt“ noch regelmäßig auf Ablehnung und sogar Herabsetzung aus Angst und Unverständnis treffen kann.
Auch um eines der dahingehend wohl am häufigsten vorgebrachten Stereotypen der Mono- und Heteronormativität zu begegnen, daß Mehrfachbeziehungskonstellationen ja doch der so maßgeblichen Komponente „Treue“ entbehren würden, widmete ich einen ganzen Eintrag dem Thema Loyalität, Zusammengehörigkeit und Verbundenheit.
Und weil dennoch viele Menschen sich an der vermeintlichen „Offenheit“ solcher Beziehungen – wodurch die Beteiligten darin wohl nicht ganz dicht sein könnten… – noch immer den Kopf stoßen, beschrieb ich in Eintrag 67, daß Offenheit in der Oligoamory vor allem in einer systemischen Gedankenfreiheit besteht – und keineswegs in der Beliebigkeit oder Impulsivität, die manch eine*r aus eigenem unterdrückten Wunschdenken hineinprojiziert.
Genau solche verschämten Projektionen indessen lassen ja vielmehr erkennen, wie stark die meisten von uns (noch) in ihrem individuellen Eigenwert gekränkt sind – sei es durch unser Aufwachsen, Sozialisation oder Tradition. Und darum reagieren wir alle allzu oft auch just aus diesen Kränkungen heraus, wenn wir etwas Neuem oder Un-Gewöhnlichem gegenüberstehen (Eintrag 68).
Unser bestgeübtes (Selbst)Schutzverhalten in so einem Fall ist da leider immer noch häufig der Hang zum Wunsch nach mehr Kontrolle; eine Kontrolle, die wir nur zu leicht bereit sind auch auf alle anderen um uns herum auszudehnen, weil „wir doch wissen, was gut für sie ist“ (Eintrag 69).
Meistens wird dieser Schutzreflex ausgelöst, wenn alte „Lebensthemen“ von uns berührt werden (Eintrag 70) – überschießende negative Energien, die aus längst zurückliegenden, erlittenen Mängeln unsere Partnerschaften im Hier & Jetzt vergiften wollen.
Eintrag 71 habe ich darum dann auch noch einmal der Polyamorie daselbst gewidmet, jene Form ethischer Nicht-Monogamie, die aktuell allein aufgrund der inflationären Begriffsbenutzung zumeist exakt all die Häme „systeminhärenter Funktionsuntüchtigkeit“ abbekommt, welche leider stets bloß die Menschen hineintragen, die sich unüberlegt und nach Gutdünken daran versuchen…
Jedwede „gute Beziehung“ lebt jedoch von Widmung, Hingabe und einer Einzigartigkeit, die allen daran Beteiligten ihre Wertschätzung widerspiegelt (Eintrag 72).

Und damit hinein in 2022 !

Wiedereinmal (?) sind wir in einer Zeit angekommen, in sich viele von uns angesichts einer oftmals verworren agierenden Außenwelt nach einem einfacheren Leben sehnen. Und Heerscharen von Coaches stehen scheinbar bereit, uns dabei zu unterstützen, von materiellem Minimalismus bis hin zur Entwicklung unseres höheren Selbst.
„Alternativen“ zu unserer gegenwärtigen Lebensweise sollen darum also her – und diese „Alternativen“ betreffen die Gegenstände und Wohnräume, die uns umgeben, unser spirituelles Potential – und eben auch: Unsere Beziehungen.
Manch eine*r von uns meint es mit den Veränderungen und dem Aufbruch in ein „einfacheres Leben“ auch gleich richtig ernst: Da wird das Dasein durchsortiert, der Hausstand auf 100 (oder 50? oder 30?) Gegenstände reduziert, möglichst allein (aber nicht einsam!) ein Tiny House bezogen, Wochenendworkshops von der Energieheiler*in besucht und – ja, nun muß auch die Beziehungsform da folgen, wozu der Rest doch hinleiten will: Möglichst einfach und zugleich ausreichend alternativ sollte es sein…

Die „einfachste“ Beziehungsform wäre in obiger Konsequenz vermutlich, allein zu bleiben. Aber als Mensch ist man ja doch ein soziales Wesen – und daher hat man eben auch ein paar soziale Bedürfnisse, die ab und an erfüllt werden müssen, erfüllt werden wollen – „Küssen kann man nicht allein“ – das sang schon Max Raabe¹
Also „Polyamorie“, das sind, wie die Werbung weiß, gleich drei Dinge auf einmal: Liebe, Abwechslung und Schokolade, äh, nee…, und persönliches Wohlergehen (was als Wirkung jedenfalls immerhin in etwa Schokolade entspricht…).

Wem das jetzt zu holzschnittartig gedacht ist („Ok, ich bin zwar polyamor aber ich lebe nicht im Tinyhaus und meine Garage ist so voller Zeug, daß nicht mal mehr das Auto drinstehen kann…“), die bitte ich, sich eventuell aber doch einmal gedanklich mit einem Phänomen zu beschäftigen, welches ich „Szenenüberschneidung“ nenne.
Das mag z.B. so eine Szenenüberschneidung wie bei Mittelaltermarktbesucher*in / Biker / Metalhead / Lederszene sein – aber auch eine Szenenüberschneidung wie Oshofan / friedensbewegt / vegan / Permakultur.
Spannender Fun-fact am Rande: Sämtliche soeben aufgeführte „Szenen“ weisen übrigens auch einen erhöhten Faktor an „offenen Beziehungsmodellen“ gegenüber der statistischen „Normalbevölkerung“ auf.
Warum ist das so?
Grundsätzlich verbirgt sich hier etwas Gutes: Menschen, die bereits in einem Bereich ihres Lebens „alternativ“, „non-konform“ oder sogar grenzgängerisch über den Tellerrand der Normativität (also des mittelhochtief normal-Gebräuchlichen) geschaut haben, tendieren dazu, dies auch auf andere Bereiche ihres Lebens auszudehnen. Sehr oft steckt da gar nicht mal so sehr der Drang nach der „Alternativität“ dahinter, sondern schlicht menschliche Neugierde und Entdeckerlust: Z.B. treffe ich auf dem Mittelaltermarkt jemanden, von dessen Gewandung ich begeistert bin – zwei Wochen später sitze ich, von Lederzuschnitten umgeben, daselbst auf dem Boden meines Hauswirtschaftsraumes und entwerfe kühne Gürteltaschen und ein Paar echt heißer Chaps… Dabei spüre ich mit einem Mal Selbstwirksamkeit und denke, daß ich ja immer mehr mit dem in Berührung komme, was mir wirklich wichtig ist, wofür ich brenne und was mich ausmacht.
Was zusätzlich genial ist, daß wir uns bei diesen Themen, die uns da plötzlich so am Herzen liegen, fast wie von selbst von alten Glaubenssätzen befreien, wie z.B.: „Mutter hat immer gesagt, Motorradfahren ist für Selbstmörder…“ oder „Veganer sind Freaks…“ oder „Nur Hungerleider nähen ihre Klamotten selbst.“ oder „Kleingärten sind bloß was für Rentner…“.
Plötzlich schließen wir uns Räume auf, an deren Tür wir früher eventuell sogar naserümpfend vorbeigelaufen sind – bloß, weil unsere Umgebung uns das vielleicht einst so vorgelebt hatte.

Was hat dies nun mit unserem Wunsch nach einem „einfacheren Leben“ zu tun?
Ich glaube eine Menge, weil wir immer dort unser Leben als „einfach“ empfinden, wo wir aus Überzeugung und selbstbestimmt agieren.
Wenn ich z.B. den Mittelaltermarkt nicht mehr als Event konsumiere, sondern möglicherweise richtig teilnehme, dann fühle ich mich aus innerem Antrieb verbunden; vielleicht ist mir die historische Epoche wichtig, die Wissensvermittlung – oder irgendetwas dort erinnert mich daran, daß es ab und an gut ist, viele gewöhnliche Dinge wieder ganz und gar von Hand zu verrichten.
Oder da ist ein engagierter Politiker, der sich nicht heimlich nachts per Limousine aus dem Club abholen läßt, sondern sich im Wahlkampf offen zu seiner BDSM-Neigung bekennt – gerade weil er per persönlichem Beispiel auf eine dringende Inklusion und Berechtigung queeren Lebens in seinem Programm und seiner Stadt hinweisen will.²

Wer bis hierher mitgelesen hat, müsste nun verstehen, was ich mit der Überschrift dieses Eintrags meinte. Denn „leicht“ machen es sich diese entschlossenen Personen ja nun gerade wirklich nicht – weder beim mühsamen Brettchenweben der Wikingerborte, noch bei den Konsequenzen, die so ein couragiertes öffentliches Outing für die Karriere nach sich ziehen kann.
Könnten wir aber die handelnden Personen befragen, dann würden sie uns wiederum wahrscheinlich sagen, daß das, was sie da tun oder getan haben „einfach“ aus ihnen fließt. Und „einfach“ ist es, weil es sich dabei um etwas handelt, was als Anliegen zutiefst mit ihnen selbst verbunden ist – es ihnen dementsprechend „leicht fällt“, weil sie dabei authentisch und unverstellt handeln.

Um nach dieser Art „einfach“ leben zu können, braucht es eine wesentlich Komponente, die oftmals überhaupt nicht leicht herbeizuführen ist: Bewußtheit.
Bewußtheit verlangt nämlich eine willentliche und gegenwärtige Entscheidung FÜR etwas – worum wir Menschen uns im Normalfall gerne mit etwas lauwarmen Ungefähr herummogeln.

Und unsere Einstellung in ethischen Mehrfachbeziehungen wie Poly- oder Oligoamory empfinde ich da als sehr passendes Beispiel.
Denn dafür reicht es nicht, sich lediglich gegen die Monogamie zu entscheiden. Es reicht für die Behauptung von Teilhabe nicht aus, eine andere Tradition als überkommen abzulehnen. Die Gefahr bei solcherart Denken ist nämlich hoch, vor allem Energie darauf zu verwenden, was wir NICHT wollen – und, Hand auf’s Herz, da sind wir Menschen meist recht gut und geübt drin. Ablehnung – bildungssprachlich auch mal „destruktive Kritik“ genannt – ist ja eben genau nicht „konstruktiv“: Sie drückt lediglich aus, daß das Alte, das Hergebrachte weg, nicht sein soll. Aber was ist es, das wir für uns selbst wünschen? Wie sollte denn eine Beziehungsform, die uns gemäß ist, nun tatsächlich aussehen?

Wer sich ungeachtet dessen dennoch erfolgreich um diesen Bewußtmachungsprozeß gedrückt hat, wird in der Poly- bzw. Oligoamory sofort in das nächste Dilemma hineinstolpern – und darum kommt es ebenso häufig zu spektakulären Unfällen.
So scheinen uns Mehrfachbeziehungen ja gelegentlich als verheißungsvoll, weil wir uns dort – im Gegensatz zur bösen, bösen Monogamie! – beim Hinzukommen einer weiteren Liebe NICHT gegen eine der (evtl. bereits vorhandenen) anderen entscheiden müssen.
Dies ist aber fast immer nur wieder das bereits oben erwähnte lauwarme Lavieren, weil wir dadurch ohne allzu großen gedanklichen Kraftaufwand an unserer Komfortzone festhalten können. Denn hier schlägt der von mir in Eintrag 44 und 72 zitierte „innere Schweinehund“ von uns geschickt zu: Das „Gewohnte“ erscheint uns im Normalbetrieb allzu leicht als „das Richtige“, wodurch wir uns erlauben, viele Denkmuster und Strukturen „beim Alten“ zu belassen – was aber leider bedeutet, daß wir einer mehrheitslastigen Normativität noch viel stärker verhaftet sind, als wir es zugeben würden – und so gezwungen sind, auch deren Vorstellungen und Konzepte weit stärker unreflektiert nachzuleben als wir ahnen.
Eigentlich haben wir also gar nichts verändert, sondern genau genommen lediglich eine Nicht-Entscheidung getroffen, durch die wir nahezu gezwungen sind, alte Fehler und Achtlosigkeiten weiter zu wiederholen.

Polyamorie, Oligoamory heißt aber, daß wir uns FÜR, und immer wieder für unsere Liebsten entscheiden. Daß wir uns in einer solchen Mehrfachbeziehung alle immer wieder für einander entscheiden.
Um das bewußt vollbringen zu können, wird in jedem Fall „Komfortzonen-Stretching“ angesagt sein, allein weil wir uns z.B. mit Variablen wie Akzeptanz und Zumutung, Wertschätzung und Stellenwert, Freiheit und Grenzen (und noch vielen anderen) regelmäßig befassen müssen.
„Leicht“ wird das vermutlich niemals sein – und das ist gut, denn Bewußtheit erfordert die Anwesenheit unseres ganzen Seins – und manchmal auch die Auseinandersetzung.
Gleichzeitig kann es durchaus Kennzeichen eines „einfachen“ – also geradlinigen und wahrhaftigen – Lebens sein, sich diesen Herausforderungen engagiert und mit allseitig partnerschaftlicher Aufmerksamkeit zu widmen, genau WEIL eine bewußte Entscheidung getroffen worden ist und nun dieser Teil des Lebens überzeugt, vorbehaltlos und willentlich beschritten wird.

Das ist es, was ich mit der Oligoamory herbeizuführen wünsche, gerade in Zeiten wie jetzt, wo uns innere Unrast und Neujahrsschwung möglicherweise zu Aufräumaktionen treiben, bei denen das bestätigende Klappern des Mülltonnendeckels leicht übertönt, was eigentlich wichtig ist: Bei dem, was da „anstatt“ kommen soll, mit dem Herzen den Kurs zu setzen, keiner Mode zu folgen, keinem Trend und keiner angepriesenen, vermeintlichen „Leichtigkeit“, „Leichtigkeit, die heute zu häufig begrifflich Oberflächlichkeit, geringe Nachhaltigkeit, Unverbindlichkeit oder Unbeständigkeit schönfärben soll.

Einfach ist darum eben nicht immer leicht, gerade wenn es zwischenmenschliche Beziehungen betrifft – oder wie es der schweizerische Aphoristiker und Politiker Ernst Reinhard einmal sagte, als er nach einem Rezept für ein friedlicheres Miteinander gefragt wurde:
„Gelassenheit nimmt das Leben durchaus ernst – aber niemals schwer.“



¹ Max Raabe (und Annette Humpe): Küssen kann man nicht alleine, Decca Records 2011

² So geschehen z.B. im Kommunalwahlkampf 2021 um die Position als Göttinger Oberbürgermeister*in

Danke an comfreak auf pixabay für das Foto!