Eintrag 83 #Coming-out

Auf…, zu…, auf…, zu…

© Kurt Löwenstein Education CenterBestimmte Rechte vorbehalten

Im letzten Monat schrieb die junge schweizerische PoC-Kolumnistin Noa Dibbasey über ihre Generation Z und deren Verhältnis zu polyamoren Ambitionen: »„Wir sind jetzt offen“, sagen sie und versuchen sich im Mehrgleisigfahren. Durchleben ein Wechselbad der Gefühle. Besprechen dieses mit ihrem Partner. Ganz oft. „Das grenzt fast an ein 40 Prozent Pensum.“ Und dann: „Ab heute wieder geschlossen!“ Nicht bei allen, aber bei vielen. Die meisten kehren nach dem Probiererli zum Status quo zurück.« ¹

Humorvoll und treffend beobachtet, würde ich sagen – zugleich aber ergänzen, daß sich dieses Vorgehen genau genommen in allen Altersstufen potentieller Mehrfachbeziehungsanwärter*innen wahrnehmen läßt. Manchen Menschen, die sich selbst als polyamor beschreiben, passiert dies unter Umständen sogar ein paarmal im Leben. Und so gnädig Noa Dibbasey am Ende ihrer Kolumne über ihre Leidensgefährt*innen urteilt, daß sich ungeachtet dessen auf jeden Fall in Beziehungskommunikation geübt wurde, eine Haltung von Offenheit und Transparenz bewiesen werden konnte… – …frage ich mich, warum unsere Lebensweise denn so einem regelmäßigen An/Aus-Faktor unterworfen ist.

Genuin „queer“ ist so ein „raus aus dem Besenschrank!“ und dann ein „…wieder hinein in den Besenschrank…“ ja nun gerade nicht. In meinem Eintrag 65 ordne ich poly- und oligoamore Lebensentwürfe dem queeren Spektrum zu. Kennzeichnend für die allermeisten Menschen des queeren LGBTQ+-Spektrums ist indessen, daß sie fast alle irgendwann im Leben einmal diesen unumkehrbaren Moment des „Coming-outs“ erlebt haben, einer Situation, die einerseits das erstmalige öffentliche Bekenntnis der eigenen queeren Identität darstellt – und damit andererseits zugleich eine Art „Point of no Return“ der eigenen Biographie und des Wahrgenommenwerdens durch die Außenwelt ausmacht.

Wir „Mehrfachbeziehungsfähigen“ (womit ich all diejenigen meine, die in sich ein Fühlen und Streben hin zu einem [Liebes]Leben in ethischen Mehrfachbeziehungen manifestiert haben) scheinen es dahingehend aber offensichtlich phasenweise etwas anders zu halten, etwas opportun möglicherweise – und darum vielleicht auch nicht immer so uneigennützig oder uns selbst treu, wie wir es vielleicht sein könnten.
Da ist z.B. genau die oben von Frau Dibbasey beschriebene, erstmalig aufwachsende Beziehungsexperimentierphase unserer Jugend. Und urplötzlich finden „wir Poly/Oligoamoren“ uns dort erstmalig in überraschenden Dreier- oder Viererkonstellationen wieder, weil es da irgendeinen Teil in uns gibt, der nicht den Vorgaben einer noch überwiegend monogam veranlagten Umwelt folgen will: Daß, wenn ein weiterer Mensch zu einer Beziehungskonstellation hinzukommt, ein anderer gehen muß, um die noch überwiegend gesellschaftlich gutgeheißene Grundzahl von „2“ nicht zu überschreiten.

Mit Noa Dibbaseys Worten, die „Rückkehr vom Probiererli zum Status quo“ erfolgt danach meist sehr häufig, wenn es aus der „wilden Jugend“ hinein in die „Gründerzeit“ hinsichtlich Job, Karriere und Familienplanung geht. Wie ein etwas peinliches Manga-Poster mit bislang verehrten Superheld*innen verschwinden auch die Gedanken an wirklich lebbare Mehrfachbeziehungen erst einmal wieder im Schrank – zu einer Zeit im Leben, in der wir sehr stark mit der mononormativen, „gläsernen Decke“ konfrontiert werden: Institutionen und Gegebenheiten der Normalgesellschaft, die sämtlich lediglich auf die „Zweierkiste“ zugeschnitten sind, vom Antrag auf eine Sozialwohnung über die Berechtigten beim Kindergeld hin zur Absicherungsform Ehe – mit jeweils anhängigen Anträgen und Formularen, die ausschließlich zwei Personen legitimieren.
Es ist ja nicht nur dieser faktische Mißstand, der eine alternative Lebensplanung zu mehreren Partner*innen erschwert – und der eventuell mit etwas Geschick und Wagemut organisatorisch anders anzupacken wäre. Es ist vielmehr der Druck, der so auf mögliche Mehrfachbeziehungen ausgeübt wird – und unweigerlich dort zu innerem Sprengstoff geraten muß – wer sich denn vor dem Gesetz nun mit der dritten oder vierten Geige zu bescheiden hätte – und wessen Verbindung als die „Hauptpartnerschaft“ geadelt werden solle…
Für die erwähnten „Dritten“ und „Vierten“ ist solch eine obrigkeitsverordnete „Nichteinbindung“ kaum attraktiv – und daher ist dies ein kritischer Moment, den viele Mehrfachbeziehungen auch nicht überleben. Die in einzelne Atome zerschlagenen Teile eines ehemaligen Polyküls schauen nun meist zu, wie sie sich allein oder bestenfalls zu zweit durchschlagen – und das ausgerechnet in dieser erwähnten „Gründerzeit“, wo weitere helfende Hände, zusätzliche Einkommen oder ideenreiche Köpfe für die eigenen soziale Gruppe von größtem Wert wären. Von dem legendären „ganzen Dorf“, daß es bräuchte, um Kinder zu erziehen, ganz zu schweigen – und so erleben und erlernen sogar unsere Nachkommen zunächst wieder, daß Liebe und Partnerschaft wohl etwas ist, was (nur) zwischen zwei Menschen existieren soll…

Ist der Berufsweg halbwegs eingetütet, sind erst die Kinder produziert, die eben heute zu oft auch noch als Nachweis einer glücklichen Beziehung gelten, springt irgendwann die Tür zum polyamoren Besenschrank doch wieder mit Macht auf: Vorbei die wackelige Gründerzeit, und nun gibt es endlich unter Mühen und Schweiß hartverdiente Ressourcen, die auch die Freiheit erlauben, das eigene Denken und Fühlen endlich wieder ein Stück weit aus dem alltäglichen Routinetrott herauszubekommen. Da muss doch wieder mehr drin sein als Haus, Auto, Kinder, Hund und der*dem Partnerschaftssexanbieter*in, mit der*dem man sich all dies aufgebaut hat…
Vielleicht planen wir es, oft „passiert es“ uns – und tatsächlich stellen wir eines Tages erneut fest, daß wir Gefühle für mehr als einen weiteren Menschen empfinden.
Bis zur Midlifecrisis versuchen wir ab da meist, sozusagen mit „halbgeöffneter“ Tür durchzukommen. Oftmals haben wir Eltern, die mit Mehrfachbeziehungsmodellen noch bestenfalls Rainer Langhans oder die Mormonen verbinden, Vereinskumpel und Shoppingfreund*innen, die uns einreden, daß, wenn ein neuer Mensch zur Beziehung hinzukommt, dies ganz sicher nur ein Brückenkopf für das alsbaldige Sichdavonmachen mit diesem Neuzugang ist – und Arbeitskollegen und Nachbarn, die die wechselnden Kennzeichen vor unserer Tür entweder als Beweis unserer regen Aktivität in Swingerkreisen und/oder als Offenbarungseid unserer bröselnden Ehe ansehen würden.
Zuviel „Offenheit“ kommt also nicht in Frage, unser „Ruf“ unsere „soziale Stellung“ unsere Karriere, ja unsere ganze Reputation stehen auf dem Spiel.

„Nicht ganz offen“, was unsere Beziehungen angeht, bedeutet allerdings auch, daß wir nicht ganz offen mit unseren Partner*innen sind – und daher auch genau genommen nicht zu uns selbst. Wen wundert es also, wenn diese Zeit, da wir unser Coming-Out-Status mit der Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons je nach sozialem Kontext wechseln, uns in ein Treibeisfeld aus hervorbrechenden Befindlichkeiten wie z.B. kleinen Narzissmen und situativen Schwindeleien einerseits sowie aus Zurückgesetztheit, Neid, Eifersucht, Verlassenheitsfurcht und anderen ungeklärten Ängsten andererseits geraten läßt.
Selten zuvor oder danach erleben wir uns jemals wieder auf so einem tückischen Spinnennetz in einem nervösen Balanceakt zwischen Selbst- und Fremderwartungen.

Der deutsche Facharzt für innere Medizin und Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch schreibt dazu: »Die Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind in der Tat ambivalent: Sie können unsere wichtigsten Schutzspender sein, aber auch extreme Stressoren. Für uns Menschen ist soziales Eingebundensein absolut überlebensnotwendig. Unser Drang nach sozialer Anerkennung ist deshalb außerordentlich stark. Und dieser entfaltet sich in unseren Gehirnen, die ohnehin stark zur Reflexion neigen. […]
Hinzu kommt, dass unser Denken eine Tendenz zur Idealisierung, Übertreibung, und Verabsolutierung hat: Wir wollen von allen geliebt werden, wollen, dass alle unsere Erwartungen erfüllen. Ist das nicht so, macht uns das unweigerlich Stress.«
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Wenn wir wenigstens, wie Noa Dibbasey in ihrem eingangs erwähnten Artikel folgert, konstruktive Mehrfachbeziehungserfahrungen aus unseren ersten Gehversuchen hätten mitnehmen können! Das ist aber meist nicht der Fall und so müssen wir in der „Zweiten Runde“ immer noch für uns viele Dinge ordnen, die unabgeschlossen geblieben sind.
Ein Dauerbrenner dabei ist sehr oft, wie wir ein gesundes Verhältnis zwischen Autonomie und empfundener Fremdbestimmung finden können, wo, wie ich schon in Eintrag 70 schrieb, wir aus unseren Konventionen heraus überwiegend gewohnt sind, hier in „Gewinnen“ und „Verlieren“ zu klassifizieren. Wer darf die Ansagen in einer Beziehung machen? Ich bin doch kein Kind mehr!
Autonomie und Selbstwirksamkeit entwickeln ist gut – darf sich dabei aber nicht zu einem selbstverzweckten Gegenpol zur Verbindlichkeit entwickeln.
Daher graut mir, Oligotropos, oft vor jenen, die „offen Lieben“ (Eintrag 67) im Sinne von „freier Liebe“, die sie so auffassen, daß sie diese Liebe jeweils nur nach persönlich bemessener Verfügbarkeit zuteilen, wenn es gerade paßt bzw. günstig erscheint.
Ich sag‘ es nur ungern – aber der wichtige polyamore Grundwert der „Verbindlichkeit“ und der Selbstverpflichtung beweist sich stets gerade in den berüchtigten „schlechten Zeiten“, wenn es wirklich darauf ankommt, auch einmal über die eigene Komfortzone hinaus eine Weile den sprichwörtlichen „extra Meter“ mehr mit seinen Lieblingsmenschen mitzugehen.

Die Redakteurin Janina Oehlbrecht identifiziert in ihrem Artikel für die Zeitschrift Brigitte zu Beginn diesen Monats Selbstvertrauen, Aufmerksamkeit für die Beteiligten, Kommunikation (wer hätt’s gedacht?) und das Entwickeln von vertrauten Routinen als grundlegend für gelingende, langfristige Beziehungen. Sie ergänzt Respekt, Reife und ein fortgeschrittenes Verständnis füreinander.³
Genau diese letzteren drei halte ich persönlich für kampfentscheidend, exakt weil sie nicht schnell oder über Abkürzungen zu bekommen sind.

Gelingende, langfristige (Mehrfach)Beziehungen sind in diesem Sinne zwar natürlich auch ein Geschenk (nämlich von unseren Lieblingsmenschen an uns) – aber unser Beitrag darin ist erheblich und wir können sie uns durchaus in gewisser Weise „erarbeiten“. Für viele freie Geister aus der Welt der freien Liebe ist diese „Beziehungs-Arbeit“ ein rotes Tuch, da dies so wenig leicht, so nach Bemühung und Inanspruchnahme klingen würde.
Wer mir durch bislang 83 Einträge zum Thema Oligoamory gefolgt ist, weiß, daß für mich diese „Arbeit“ vor allem in eine Entdeckungsreise unseres ureigenen Selbst besteht, die es allemal wert ist, erfahren zu werden.

Oben nenne ich als Meilenstein unseres „zweiten Coming-Outs“ die vielbeschriebene Midlife-Crisis. Der Begriffbegründer, der kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques, identifizierte als Auslöser die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Ich würde vielleicht etwas sanfter mit einer Sportmetapher sagen: Die Erkenntnis, daß das Leben eindeutig in die „zweite Halbzeit“ geht.
Tja.
Die Kinder (weitestgehend) aus dem Haus? Karriereziele einigermaßen etabliert? Materiell halbwegs abgesichert?
Und wie steht es um unser Beziehungsleben? Drei, vier Beziehungskisten gebaut und doch allein? Um jeden Preis in einer mittelmäßigen Partnerschaft mit Mitteklassewagen ausgeharrt um den Mittelwert des gemeinsamen Vermögens nicht zu gefährden?
Und polyamor? Von den „befreundeten Paaren“ ist niemand übriggeblieben, die Versuche, zusätzliche Partner*innen mit ins Leben zu integrieren alle ohne Erfolg? Ausgetobt auf neotantrischen Wochenenden und sexpositiven Partys – und doch sind nach und nach auch die letzten Bedürfniserfüller*innen verschwunden, weil sie sich plötzlich um irgendein pflegebedürftiges Elternteil oder den eigenen onkologischen Befund kümmern mussten…
Manchmal hat sich unsere Tür schon wieder – scheinbar von selbst – geschlossen: Alles versucht, gerungen, gestritten, versöhnt, das Beste gegeben, und doch ist nichts Haltbares zustande gekommen (Eintrag 78).

Ab unseren 50er Jahren beginnen wir uns dann eventuell allmählich der Vorstellung einer Plus-WG näher zu fühlen als der Hippie-Kommune – und die Vorstellung „Allein im Alter“ greift recht real und mit kalter Hand nach uns.
Eventuell Zeit, den polyamoren Besenschrank wieder zu öffnen…

…oder ist es nicht vielmehr das oben erwähnte „ganze Dorf“, daß wir so nun doch noch zu erreichen suchen? Das mit den helfenden Händen und ideenreichen Köpfen?
Aber dann vielleicht doch eines, in dem wir uns endlich um unserer selbst willen geliebt, geschätzt und angenommen fühlen wollten.

Müssen wir wirklich darauf so lange warten, immer eine Hand an der Schranktür?
Zum Ende meines heutigen Eintrags darum schnell noch einmal etwas queere Ermutigung:

In dem von mir in meinem letzten Eintrag rezensierten Buch des queeren Autors Sah D’Simone vergleicht dieser sein Coming-Out mit dem Entdecken seiner „spirituellen Superkraft“, mit der er zu einer lebenswerten und diversen Welt nicht nur beiträgt, sondern wegen der er auch genau von dieser Welt gebraucht wird und deshalb unveräußerlich mit ihr verbunden ist.
Die Affirmation, mit der er seinen Schritt umgesetzt hat lautet „Weil ich es wert bin!“.
Er schreibt dazu:
»Ich verließ mein Versteck, und die Art, wie ich meine Individualität feiere, war nicht jedermanns Sache. Ich musste lernen, dass das in Ordnung ist. Ich bin nicht jedermanns Sache. Das Risiko hat sich mehr als gelohnt. Ich habe mich, meine Leute und meine Aufgabe im Leben gefunden. Vielleicht wirst auch Du, wenn Du Dein metaphorisches Versteck verlässt, nicht jedermanns Sache sein. Aber du musst darauf vertrauen, dass du deine Zugehörigkeit finden wirst, deine Bestimmung, deine Fülle und Heilung.«

Für uns in der Oligo- und Polyamory hat in meinen Augen der US-amerikanische Geistliche und Schriftsteller Thomas Merton 1959 in seinem Buch „Kein Mensch ist eine Insel“ diese Zugehörigkeit, Bestimmung, Fülle und Heilung mit folgenden Worten am besten ausgedrückt:

»Die Liebe ist unser wahres Schicksal.
Wir finden den Sinn des Lebens nicht allein, wir finden ihn miteinander.«


¹ Kolumne „Meine Generation“ über offene Beziehungen Der Dreier und s’Weggli vom 20.10.2022 auf Blick (online)

² im Interview in Geo Wissen Gesundheit Nr. 17: (Juni 2022) „Was die Seele stark macht“

³ Beitrag 4 Gewohnheiten von Menschen in glücklichen Langzeitbeziehungen auf brigitte.de (online)

Danke an das Kurt Löwenstein Education Center auf flickr.com für das Foto!