Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…
„Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit – wir eilen mit.“ So dichtete einst Wilhelm Busch – und, kaum zu glauben aber wahr, der Oligoamory-bLog ist nun schon vier Jahre alt geworden!
Für mich als Vater des Geburtstagskinds eine mit Stolz erfüllende Gelegenheit, noch einmal über einen der verschlungeneren Pfade durch die Landschaften ethischer Mehrfachbeziehungen zu schreiben.
Einer dieser schmalen Pfade, den sich fast alle Beteiligte regelmäßig entlangbewegen müssen, führt nämlich durch ein tückisches frostiges Tal, welches ich geradezu als „Zwiespalt“ bezeichnen würde, und zwar zwischen der Abwägung persönlicher Freiheit auf der einen Seite und unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit auf der anderen.
Mehrfachbeziehungsmodelle wirken auf den ersten Blick ja auch häufig vor allem deswegen so attraktiv, weil sie uns zu versprechen scheinen, daß in ihnen für uns als Teilnehmende mehr von Ersterem (also der persönlichen Freiheit) bei gleichzeitigem erhöhtem Zweiteren (unserem Verlangen nach [mehr] Verbundenheit) zu erlangen ist – auf jeden Fall wenigstens stärker, als dies in (nur) einer monogamen Verbindungen herbeizuführen wäre.
Sehr viele Personen, die ich kennengelernt habe, und die sich mit Ideen oder gar der Umsetzung von Mehrfachbeziehungen beschäftigen, haben sehr regelmäßig schon an irgendeiner anderer Stelle in ihrem Leben Kontakt zu – hm, ich nenne es mal: „alternativem Potential“.
Das muss nichts Gewaltiges sein. Aber oftmals sind es kleine bis hin zu etwas größeren Entscheidungen gegen das, was in der überwiegenden Normal-Gesellschaft gewöhnlich oder vorwiegend gebräuchlich ist. Und dies kann alles mögliche sein: Das Babytragetuch, der Kauf von Bio-Lebensmitteln, Engagement in einer karitativen Organisation oder einem politischen Gremium, alternative Spiritualität, Identifikation mit einer Subkultur (Teilnahme an besonderen Festivals diverser Musikgenres, Mittelaltermärkte oder auch BDSM-Partys), Beteiligung an Gemeinschaftswohnformen oder Tauschringen, bis hin zum Gestalten aktueller Kunst und Kultur.
Vielfach haben sich Menschen also hier schon in bestimmten Bereichen ihres Lebens „frei gedacht“ von einem „so tun es alle“.
Grundsätzlich ist dies für mich eine äußerst erfreuliche Entwicklung, die für mich auch zur Geschichte von Mehrfachbeziehung im 20. Jahrhundert, so wie ich sie z.B. in meinem vierteiligen historischen Rückblick [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] dargestellt habe, paßt.
Allerdings haben sich erst während der Lebenszeit unserer eigenen Eltern (oder wenn ihr Generation Y, Z oder Alpha angehört: unserer Großeltern) viele patriarchalische Institutionen aufzulösen begonnen [z.B. lockerte in Deutschland die Ärzteschaft erst Ende 1970 ihre restriktive Haltung gegenüber der „Pille“, welche endlich ein Meilenstein zur reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen auch hierzulande wurde; erst 1976 (!) sogar trat das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, demzufolge es danach keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe mehr gab und Frauen nun auch ohne Erlaubnis des Mannes Erwerbstätigkeit aufnehmen durften].
Dadurch hat das Streben nach (mehr) Freiheit insbesondere unter solchen noch sehr lang etablierten Obrigkeitsstrukturen z. T. zu einem Effekt des gelegentlichen Überschießens geführt, den ich manchmal etwas besorgt betrachte – denn: „gewohnt“ in Freiheit zu agieren sind wir alle, Frauen, Männer und Diverse, genau genommen noch nicht.
Was ich damit sagen will ist, daß wir „Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld führen.
Verwunderlich ist das eigentlich alles gar nicht. Denn was unsere Liebe angeht, da wollen wir doch „ganz wir selbst“ sein, dort spüren wir, das diese maßgeblicher Teil von dem ist, was ich hier auf dem bLog so oft unser „Kernselbst“ nenne.
Womit wir zu der anderen Seite des tückischen Tals, des Zwiespalts, kommen – unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit. Denn in unserem Kernselbst würden wir keine Liebe benötigen, wenn wir als „soziale Tiere“ nicht diese Bezogenheit, diese Hinwendung zu anderen menschlichen Wesen ebenfalls in uns trügen.
Die Formulierung „Sehnsucht nach Verbundenheit“ habe ich übrigens mit einigem Bedacht gewählt, da ich glaube, daß wir in diesem Verlangen einerseits recht idealisiert über uns urteilen und andererseits, wie Wikipedia sagt, gleichzeitig gelegentlich mit dem ängstlichen Gefühl verbunden sind, „den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können“.
Was „im Fall der Fälle“ bedeutet, daß wir durch unsere Sehnsucht nach Verbundenheit recht schnell in ein dramatisches Agieren geraten können, welches – um ein Bild zu wählen – einer Person, die auf einer gefrorenen Wasserfläche im Eis einbricht, nicht unähnlich ist.
Wie und warum kommen wir überhaupt auf’s Eis?
Fast immer ist es unser Idealismus: Wir schaffen das schon! Wir können doch wohl einen solide zugefrorenen See überqueren. Uns wird dabei schon nichts zustoßen, sind wir doch Kenner von Wetter, Eisbeschaffenheit und ganz speziell von diesem See!
Auf die Beziehungsebene übertragen möchte ich hiermit ausdrücken, daß wir meistens mit einem idealisierten Bild von uns selbst losziehen. Einer Selbstbeschreibung, bei der wir vielleicht sagen würden: „Ich sehe mich als einen Menschen, der (auch in Mehrfachbeziehung!) verbindlich und loyal handeln wird. Dazu habe ich ein Set Orientierungspunkte in mir, die mir wichtig sind und innerhalb derer ich mich daher bewegen werde.“
So kann doch wenig schiefgehen, denken wir – und es geht hinaus auf den See.
Manchmal haben wir in diesem Augenblick schon unser Selbstbild sowohl hinsichtlich unserer Verbindlichkeit als auch unserer Orientierungspunkte verlassen. In Eintrag 9 schrieb ich über den „Emotionalvertrag“ der hinter jeder intimeren zwischenmenschlichen Beziehung steht. Und entweder, dieser „Vertrag“ läßt zu, daß eine Beziehung von allen daran Beteiligten als „offen“ (für weitere Verbindungen) aufgefaßt wird – oder wir haben es ausgelassen uns dieser allseitigen Gleichbewertung zu versichern, weil…, ja, weil uns unsere persönliche Freiheit gerade wichtiger war. Bzw. weil wir unserer persönlichen Freiheit in diesem Moment einen höheren Stellenwert eingeräumt haben als der Verbundenheit zu einer/einem bereits vorhandenen Partner*in.
Wodurch sich in diesem Fall sofort ein tiefer, unheilvoller Riß auf dem See bilden wird, sobald wir unseren Fuß bloß daraufsetzen. Denn egal, was von dort geschieht, ethisch im Sinne von transparent, von gleichberechtigt oder gleichwürdig wird es ab jetzt von hier aus schon nicht mehr weitergehen.
Unsere Sehnsucht nach mehr Verbundenheit hat uns vorgegaukelt, daß wir diesen See schon überqueren könnten – die Voranstellung unserer persönliche Freiheit hat dabei aber sämtliche unserer eigenen Sicherheitsventile (die ich oben Orientierungspunkte nannte) platzen lassen; ja klar, können wir jetzt noch den See betreten – aber auf dem nun eingeschlagenen Kurs werden wir eben nicht mehr verbindlich oder loyal sein, diesen Teil unseres eigentlich für uns in Anspruch genommenen Selbstbildes haben wir in dem Prozess fallen lassen.
Natürlich kommt es da auch ein bißchen auf unsere persönliche Resilienz und unser Ego an (also auf unsere Dickhäutigkeit, würde der Volksmund sagen) – aber solch eine Abscheidung eines Teils von dem, was wir bis vor kurzem noch als Teil unserer Identität beansprucht hatten, wird an kaum jemandem mittelfristig spurlos vorüber gehen. Vom zwickendem Gewissen, eventuell Katzenjammer, bis hin zu echter Reue und massivem Scham (vor allem vor uns selbst) können die Folgen reichen, speziell in dem wahrscheinlichen Fall, daß wir es nicht über den See schaffen werden (sprich: das es mit der weiteren/zusätzlichen Beziehung [auch/trotzdem] nicht gelingt).
Ich habe mich jetzt in meinen Beschreibungen gerade schon ein wenig hinreißen lassen hinsichtlich des Umstands, daß sogar die Öffnung einer Beziehung nicht klar vereinbart ist.
Wie steht es um den See, wenn das aber so ist – also vereinbart?
Nun, dann begeben wir uns dementsprechend mit dem Selbstbild „Ich sehe mich als eine Person, die verbindlich und loyal hinsichtlich all ihrer Verbindungen handeln wird.“ auf den See, sprich in eine weitere Beziehung hinein.
Mensch! Die MÖGLICHKEITEN die wir nun auf diesem See haben!
Diese schwindelerregende Perspektive, der Sauerstoffschock, der ungeahnte Schwung den diese neue Erfahrung bietet…
Eis sieht auf der Oberfläche ja auch zu cool aus, glatt, verlockend und glänzend – und sehr leicht vergessen wir, daß darunter auch Gefahr droht…
Sehr schnell ist es geschehen, daß exakt in diesem zu Kopfe steigenden Moment unser persönliches Freiheitsstreben unsere eben noch wacker dirigierte und selbst durch das Beziehungsmodell abgesicherte Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit sabotiert – und aussticht.
Dazu gesellt sich ein Phänomen, welches speziell in Mehrfachbeziehungskreisen als „NRE“ („New Relationship Energy“, zu Deutsch in etwa: „Neubeziehungs-Energie“) bekannt und gelegentlich gefürchtet ist. Die englische Wikipedia konkretisiert: »Neubeziehungs-Energie (oder NRE) bezieht sich auf einen Gemütszustand, der zu Beginn sexueller und romantischer Beziehungen auftritt und typischerweise mit erhöhten emotionalen und sexuellen Gefühlen und Erregung einhergeht.«
„Neubeziehungs-Energie“ kann für die hinzukommende Beziehung also prinzipiell auch etwas Gutes bedeuten – aber leider ist sie manchmal bereits das Kennzeichen brechenden Eises.
Was genau hat uns daher auf den See geführt?
Wenn unsere „Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit“ einen erhöhten Bedürftigkeitsanteil enthält (und das ist, weil wir eben noch keine „gewohnten Freiheitsanwender*innen“ sind, gar nicht so unwahrscheinlich), dann besteht die Gefahr, daß in dem Moment, wo sich für uns die schiere Möglichkeit einer weiteren intimen/romantischen Beziehung abzeichnet, wie in meinem ersten Beispiel wir unsere Sicherheitsventile sprengen. Wir „wollen“ so dringend aufgrund unserer inneren Bedürfnislage (bzw. eben irgendeiner dortigen „Unterdeckung“) eine weitere Beziehung – und würden dafür blind – und durch reichlich NRE-Hormonen zusätzlich enthemmt – auch hier einen Teil unseres eigentlich von uns in Anspruch genommenen Selbstbildes fallen lassen, nur um uns irgendwie bloß diese Beziehung sicherzustellen.
Das Eis bricht.
Es geschieht etwas, was viele Bestandspartner*innen in Mehrfachbeziehungen, auch noch in „ethischen“ wie der Polyamorie, zu regelmäßig erleben: Die geliebte Person scheint nicht nur plötzlich überwiegende Teile von Gefühlen, Zeit und substantiellen Ressourcen der neuen Beziehungsperson zuzuwenden, nein, Einwendungen, Kummer, Hinweise auf bestehende Verbindlichkeiten und Verpflichtungen werden mit dem (ausgesprochenen – oder auch impliziten) Hinweis auf die persönliche Freiheit weggewischt, relativiert, vielleicht verlacht oder mit Hinweis auf fehlende Mitfreude, besitzergreifendes Verhalten und monoamore Kleinlichkeit sogar als „unberechtigt“ verurteilt.
Daß Bestandspartner*innen an diesem Punkt ihre gerade im Eis einbrechenden Lieblingsmenschen buchstäblich „nicht wiedererkennen“ ist hier absolut verständlich: Denn bis vor kurzer Zeit hat sich der Lieblingsmensch ja noch zu Werten und Idealen seines „Kernselbst“ bekannt (und danach verhalten) die jetzt plötzlich nicht mehr festzustellen sind.
Sind wir die Person, die solcherart ins Eis eingebrochen ist, dann wird es schwer uns „zu retten“. Da wir gerade den für uns selbst noch sicher geglaubten Boden unter den Füßen verloren haben, merken wir, daß wir „ins Schwimmen“ geraten…
Die neue Beziehung, die aber noch gar nicht wirklich etabliert ist, wollen wir um jeden Preis behalten, die bereits vorhandene(n) nicht lassen, denn die haben uns bis eben noch den Halt des festen Ufers geboten – uns so zerschlagen wir im Namen der persönlichen Freiheit (weil wir ungestüm versuchen Herr*in der weggleitenden Lage zu bleiben) immer mehr von dem Eis um uns herum, so daß sowohl die Gefahr besteht, daß wir wirklich untergehen – als auch das Risiko wächst, daß wir von außen nicht mehr erreichbar sind und das letzte an „Substanz“, was uns mal mit dem Ufer verbunden hatte, auch noch zerstören.
Sehr regelmäßig wird in poly- und oligoamoren Kreisen immer noch der persönlichen Freiheit und der unbedingten „Offenheit“ des Liebens ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, in einer Weise, wie man sie vermutlich dem höchsten und alle anderen Karten schlagenden Trumpf in einem Kartenspiel beimessen würde. U.a. in meinem Eintrag 28 (Freiheit der Liebe) und Eintrag 67 (offen Lieben) beschreibe ich, warum diese Herangehensweise aus meiner Sicht nicht dazu beiträgt, auf Augenhöhe beruhende, vertrauensvolle und wertschätzende (Mehrfach)Beziehungen zu etablieren.
Sich Bahn brechende persönliche Freiheit ist in menschlichen Nahbeziehungen wie ein scharfer Granatsplitter, mit dem Potential viel Schaden anzurichten bis hin zur Zerstörung der betroffenen Beziehungen. In Eintrag 42 argumentiere ich, daß in unseren vertrauten Beziehungen unser persönliches Freiheitsstreben daher in persönliche Verantwortlichkeitsübernahme eingebettet sein muß.
Für unsere Bestandspartner*innen sind solche „Selbstentäußerungsereignisse“ (wenn wir uns im fiebrigen Bemühen um eine andere Beziehung von eigentlich wichtigen Teilen unseres Selbst entäußern) wie oben beschrieben, beängstigende und häufig auch verletzende Vorgänge.
Wir können als fehlbare – und gelegentlich bedürftige – Menschen vermutlich nie völlig verhindern, daß sich solches ereignet.
Was wir aber tun können ist, daß wir aus eigenem Antrieb zu unserem Kernselbst zurückfinden, Verantwortlichkeit für unser Handeln übernehmen und uns damit für die Menschen die uns kennen – und nicht zuletzt auch für unser eigenes Identitätsgefühl! – dem wieder Profil geben, was uns wichtig ist und uns ausmachen soll.
Unsere Sehnsucht nach Verbundenheit – so unerfüllt oder schon erfüllt sie in diesem Moment gerade ist – wird es uns danken. Denn am Ende des Tages zählt in unseren Herzen nicht, welche Teile von uns wir um den Kampf für die persönliche Freiheit geopfert haben, das hält uns weder warm noch zufrieden.
Am Ende des Tages wollen wir zu unseren Liebsten zurückkehren, wollen uns an ihrem Wiedererkennen mitfreuen, wenn sie uns wahrnehmen.
Und wir wollen beim Blick in den Spiegel ganz ungeteilte Freude an uns selbst haben, daß wir idealistisch, etwas verrückt und sicherlich auch mit ein paar nicht immer ganz berechenbaren Eigenheiten unterwegs sind. Daß wir aber nach allem trotzdem einen beruhigenden Sinnzusammenhang, eine echte Souveränität verleihende Schlüssigkeit zwischen unserem idealen Selbst, welches wir gerne wären, und unserem tatsächlich wahrgenommenen Selbst, welches wir hier und jetzt gerade sind, erkennen können¹.
So bestätigend wie beruhigend.
…oder wie Johann Wolfgang von Goethe in seinem „Osterspaziergang“ (aus dem Drama „Faust„ ), dessen erste Zeile mir als Überschrift dieses Eintrags diente, es am Ende des gleichen Gedichts beschrieb:
»Zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!«
¹ psychologisches Konzept der sg. Kohärenz nach Carl Rogers
Danke an Vincent Foret auf Unsplash für das Foto!