Eintrag 102

Ich habe die Wahl!

Am gerade zurückliegenden Juniwochenende war Europawahl. Und egal wie jede*r von uns den Ausgang dieser Wahl nun beurteilen mag, so spielten doch in jedem Fall drei Themen eine wichtige Rolle, die auch die Dynamik unserer ethischen Mehrfachbeziehungen wie ein Wurzelgeflecht durchziehen.
Dabei handelt es sich um die Werte Freiheit, Teilhabe (Partizipation) und Verantwortung.
Fluch und Chance dieser drei Werte ist jedoch, daß es sich bei ihnen um riesengroße Begrifflichkeiten von enormer Tragweite handelt, die indessen keine glasklar umrissene, äußere Definitionsgrenze haben – und deren Beschreibungen dementsprechend in den allermeisten Online-Enzyklopädien gleich mehrere Bildschirmseiten füllen.

Vielleicht bleiben wir daher lieber zunächst auf dem Boden unserer Beziehungen.
Ich glaube nämlich, daß das verbindende Ankerwort der drei Begriffe „Teilhabe“ ist.
Und Freiheit wiederum benötigen wir allein schon, um uns überhaupt offen einer Identität oder Lebensweise ethischer Mehrfachbeziehungen zugehörig erklären zu können (und zwar egal, ob man dazu bereits Teil einer solchen Beziehung ist oder nicht!) – was in manchen autokratisch geführten Staaten z.B. nicht möglich bzw. erlaubt wäre.
Hierzulande werden sicherlich auch noch immer Augenbrauen gehoben – oder es fällt das stereotype „…also für mich wär‘ das ja nix…“ – dennoch sind wir in unserer Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland frei, uns mit so vielen Partner*innen zur gleichen Zeit romantisch zu verbinden, wie wir möchten.

Diese Art Freiheit sind wir mittlerweile mit einem hohen Grad an Selbstverständlichkeit für unsere individuellen Entscheidungen gewohnt – es ist fast wie atmen.
Überhaupt die Freiheit des Individuums: Gerade weil unsere hiesige Rechtsordnung dieser einen ausgesprochen hohen Stellenwert einräumt, können wir uns zudem auch mit solcherlei nonkonformen Lebensphilosophien und Partnerschaftsmodellen beschäftigen, wie es ja die Poly- und Oligoamory sind. Denn romantische (Liebes)Beziehungen zählen hierzulande zur persönlichen Privatsphäre (gemäß Wikipedia: „…der nichtöffentliche Bereich, in dem ein Mensch, unbehelligt von äußeren Einflüssen, sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wahrnimmt.“).
Dahingehend haben unsere Mehrfachbeziehungswünsche aber auch Grenzen: Stand heute dürfen wir z.B. nicht mehr als einen unserer Lieblingsmenschen heiraten und dazu mit einem staatlich legitimierten Vertrag offiziell berechtigen. Hier stößt unsere Freiheit (noch) an eine rechtliche Grenze: dort, wo unsere Privatsphäre in den öffentlichen Raum übergeht.
Der gleiche öffentliche Raum wiederum mißt unserer Meinungsfreiheit und der freien Entfaltung der Persönlichkeit jedoch einen großen Wert bei. Wenn wir auf der Straße laut verkünden, daß wir Fritzi, Luka, Renée und Robin lieben und wir uns derzeit mit allen von ihnen in einer romantischen Beziehung bei allseitigem Wissen und Billigung befinden, dann ist das ok (bis auf erwähnte hochgezogene Fremdaugenbrauen…) – und wir sind darin frei und dazu berechtigt.

Wenn wir (und auch Fritzi, Luka, Renée und Robin) nun nicht unbedingt auf eine staatliche Zeremonie mit anschließender Vertragsunterzeichnung auf dem Standesamt bestehen, um uns einander als zugehörig zu empfinden, ist also unsere Freiheit auch in der Beziehungsgestaltung sehr groß. So groß, daß ich diese Freiheit in Eintrag 28 sogar als Privileg bezeichne (fragen sie mal jemanden aus Ruanda oder Myanmar, wie es dort mit Freiheit für Mehrfachbeziehungen aussieht…).
Und weil individuelle Freiheit ein Privileg ist, besitzt Freiheit exakt auch den Schatten, der jedem Privileg zu eigen ist: „das Ding, was man hat – aber sich nicht bewußt ist, dass man es hat“. Und damit ist Freiheit unserem Atem einmal mehr ähnlich: Wir tun es ständig – sogar wenn wir schlafen – und müssen normalerweise nie auch nur einen Gedanken darauf verwenden, um es innezuhaben.
Spätestens in Beziehungen wird es mit unserer großen persönlichen Freiheit dann aber eventuell genau darum schwierig, wenn wir sie als „absolutes“ Gut ansehen, welches keinerlei Umstand mindern kann und darf.
Denn mit der Teilhabe (!) an einer Beziehung betritt unversehens auch die Verantwortung das Spielfeld.
Der deutsche Philosoph und Professor Michael Pauen schrieb dazu: „Eine verantwortliche Person wird als jemand betrachtet, die […] eine willkürliche Entscheidung treffen und auch durch eine Handlung verwirklichen kann, obwohl sie auch anders hätte handeln können. Eine freie Handlung erfolgt hiernach ohne Zwang und ist nicht zufällig. Freiheit ist in dieser Sicht die Bedingung der Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen.“ ¹
Aha! Meine Freiheit hat es mir also ermöglicht, die Wahl zu treffen, ob ich an einer bestimmten Beziehung teilhaben möchte – eine Entscheidung, die ich mir selbst insofern auch hätte verweigern können…
Der deutscher Philosoph, Theologe und Pädagoge Georg Picht folgerte sogar noch weiter: „Deshalb ist Verantwortung im ersten Schritt ein Anspruch an sich selbst und für sich selbst. Die*Der Einzelne ist sowohl Gegenstand ihrer*seiner eigenen Verantwortung als auch die Autorität, vor der sie*er sich verantworten muss.“ ² Und diesen Satz finde ich richtig prima, da er ohne ein dogmatisches System, staatliche Obrigkeit oder Religion als Begründung auskommt – und somit ebenfalls auf anarchistischer oder atheistischer Basis Bestand hat.

Aus meiner Freiheit heraus entsteht also aufgrund meines Wunsches nach Teilhabe (an einer Beziehung) – und dann meiner freien Wahl einer tatsächlichen Teilhabe – Verantwortung.
Das ist für mich eine wichtige Folgerung, da in der Welt der Mehrfachbeziehungen sehr oft die Freiheit der Beteiligten sehr stark betont wird – und in dieser Weise oft, wie ich in Eintrag 87 schrieb, »„Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld geführt wird.«

Genau darum ist es mir hier noch einmal wichtig zu zeigen, daß „Verantwortung“ uns nicht von außen aufgedrängt wird, so als ob uns von unseren Liebsten ein schwerer Mantel über die Schultern gelegt würde, sondern daß sie vielmehr eine einhergehende Kopilotin unserer eigenen, ausgeübten individuellen Freiheit ist.
Im Gegensatz zu anderen Modellen von Non-Monogamie oder Offenen Beziehungen werden aus diesem Grund in der Poly- und Oligoamory auch die Grundwerte „Verbindlichkeit“ und „Langfristigkeit“ so stark betont.
Noch einmal kurz von mir selbst erläutert: Natürlich kann ich mich auch in einer Kurzbeziehung verbindlich zeigen, indem ich mich z.B. an eine gegebene Zusage halte. Wirkliche Verbindlichkeit beruht jedoch auf einer Summe solcher Erfahrungen, die meine Lieblingsmenschen mit mir machen – und ich mit ihnen – , weil Verbindlichkeit als wahrgenommene Eigenschaft die Beobachtung von Berechenbarkeit und Verlässlichkeit benötigt – Qualitäten, die einen längeren Zeitraum erfordern, um sich voll entfalten zu können.

Teilhabe, die laut Wikipedia genauso als „Beteiligung, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache, Einbeziehung“ gelesen werden kann, bringt also automatisch Verantwortung mit sich – was eigentlich auch klar wird, wenn man diese Begriffe noch einmal liest.
Warum glauben wir aber trotzdem zu oft, daß uns diese Verantwortung von den anderen Beziehungsbeteiligten auferlegt wird?
Weil es sehr leicht ist, sobald wir erst einmal Teil einer Beziehung sind, den Standpunkt – unsere Sicht auf das Geschehen – zu verschieben.

In Eintrag 9 schrieb ich über den „geheimnisvollen Emotionalvertrag“, der sich unsichtbar sofort in dem Moment bilden würde, sobald Menschen miteinander in Beziehung gingen.
Wie war das gleich…?
Die „Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“
Noch einmal „Aha!“: Ich bin ja eine Beziehung eingegangen, wie oben gezeigt aus freiem Willen und freier Wahl, – auch aus dem Grund heraus, daß ich darin etwas „genießen“ kann; etwas, was zu meinem „Bedürfniscocktail“ beiträgt.
Etwas „genießen“, was nicht aus mir selbst kommt, kann ich allerdings wiederum nur, wenn es von anderen Personen beigetragen wird.
Die Wissenschaftler S. Cohen, L.G. Underwood und B.H. Gottlieb ergänzten im Jahr 2000 dazu sehr präzise:
»Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«
[Ausführliche Beschreibung u. Quelle siehe Eintrag 14]

Diese Beziehungserfahrung nannte der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas etwas kompliziert:
„Verantwortung, zum Beispiel für die Wohlfahrt Anderer ‚sichtet‘ nicht nur gegebene Tatvorhaben auf ihre moralische Zulässigkeit hin, sondern verpflichtet zu Taten, die zu keinem anderen Zweck vorgehabt sind.“ ³
Oh weiah! – Ich versuche Euch das mal einigermaßen zu übersetzen:
Verantwortung in einer Beziehung entsteht nicht, weil sie mir von außen, z.B. durch moralische Instanzen (Gesetz, Kirche, Staat, „das Gute“, auf Verlangen anderer Partner*innen, etc.) auferlegt wird – und ich dann eben so handeln „muß“ oder „soll“, sondern allein bereits dadurch, daß ich Teil einer Beziehung bin, weil dort das Genießen des Wohlergehens aller Beteiligten (sowie das Beitragen dazu) gewissermaßen aus eigenem Antrieb heraus schon Hauptzweck ist.
Womit Hans Jonas ebenfalls sagen möchte, daß eine Beziehung eben nur dann wahrhaft eine Beziehung ist, wenn die daran beteiligten Parteien nicht nur lediglich „nehmen“, sondern auch aus eigener Veranlassung heraus „geben“.

Kurz: Eine „Verantwortung light“ kann in verbindlichen romantischen Beziehungen ebensowenig existieren wie eine „Teilhabe light“. Beides wäre widersprüchlich, obwohl ich speziell in Mehrfachbeziehungskontexten den Wunsch nach beidem bereits regelmäßig vernommen habe.
Wenn wir es mit unserem Wunsch nach Anteilhaben an einer (Liebes)Beziehung jedoch ernst meinen, dann ist auch die Verantwortung im gleichen Augenblick mit eingezogen – die Selbstverantwortung und auch die Verantwortung für das Wohlergehen, den „Gesundheitszustand“ der Beziehung.

Der Dramatiker und Lyriker Bertold Brecht drückte diesen Zusammenhang sehr lebensklug in seinem kurzen Gedicht Morgens und abends zu lesen aus:

Der, den ich liebe,
Hat mir gesagt,
Dass er mich braucht.
Darum
Gebe ich auf mich Acht,
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem
Regentropfen,
dass er mich erschlagen könnte.


Ob wir einander wortwörtlich „brauchen“, lasse ich dabei offen – Marshall Rosenberg, Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“ schlug ja den etwas sanfteren Ausdruck „zu einander beitragen“ vor, den ich persönlich sehr schätze. Denn Hand aufs Herz: Wenn es in den von uns eingegangenen Beziehungen nicht etwas gäbe, was wir – wie oben erwähnt – „genießen“ wollten, wären wir doch vermutlich nicht darin…

Freiheit, jene Qualität der Möglichkeit, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Optionen auszuwählen und entscheiden zu können, bleibt also ein Privileg – insbesondere in Hinblick auf unsere konkret eingegangenen Beziehungen selbst – sowie bezogen auf die Wahl unseres dahinterstehenden Beziehungsmodells.
Erst Freiheit ermöglicht uns Teilhabe, die den Namen verdient hat; ermöglicht es uns, uns wirklich in unsere romantischen Beziehungen einzubringen und deren „Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“ aus freien Stücken aktiv mitzugestalten.

Lasst uns darum auch die damit verbundene Verantwortung nicht mehr wie ein lästiges Nebenprodukt der Beziehungskistenzimmerei behandeln.
Räumen wir ihr den gleichen Stellenwert ein wie unseren Wünschen nach Lebensfreiheit und Anteilhaben an der Liebe, denn die drei sind untrennbar miteinander verbunden.
Wenden wir für sie also das gleiche Maß an Leidenschaft, Idealismus und Überzeugung auf, daß wir, wenn es das nächste Mal drauf ankommt – und wir die Wahl haben, zu ihr genauso sagen können:
„Verantwortung? Klar – das bin ja (auch) ich!“


¹ Michael Pauen: „Freiheit, Schuld, Verantwortung. Philosophische Überlegungen und empirische Befunde.“ In: Gunnar Duttge (Hrsg.): „Das Ich und sein Gehirn Göttingen 2009, S. 78.

² Georg Picht: „Der Begriff der Verantwortung.“ In: ders.: „Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien.“ Klett-Cotta, Stuttgart 1969 / 2004, S. 321.

³ Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation.“ Suhrkamp, Frankfurt 1979. (Neuauflage 1984, S. 174–175).

Danke an Jon Tyson auf Unsplash für das Foto!

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