Schneller, höher, weiter?
Ein Jahr der Superlativen scheint 2024 werden zu wollen. Meine beiden vorherigen Einträge haben sich bereits auf die diesjährige Europawahl und auf die Fußballweltmeisterschaft bezogen.
Und nun sind gerade mit fulminanter Schlußzeremonie in Paris, Frankreich, die XXXIII. (33.) Olympischen Sommerspiele zuende gegangen.
Das mir als Überschrift dienende „Schneller, höher, weiter!“ (ganz korrekt von den urspünglich lateinischen Komperativen „Citius, altius, fortius!“ – wortwörtlich also: „Schneller, höher, stärker“ abgeleitet) ist dazu passend dann auch das traditionelle, 1894 von dem französischen Philologen Michel Bréal im Rahmen des Ersten Olympischen Kongresses vorgeschlagene, Motto aller Olympischen Spiele, die seit 1896 stattgefunden haben.
„Schneller, höher, weiter!“ – mittlerweile scheinen wir alle auch außerhalb der Olympischen Spiele von dieser Maxime angespornt, ja, getrieben zu sein – und gerade in ethischen Mehrfachbeziehungen drängt sich so förmlich der Vergleich zu olympischen „Mehrfachdisziplinen“ auf, die es da zu absolvieren gilt.
In den Zeiten in meinem Leben, in denen ich mit mehreren Partner*innen verbunden war, reichte das Geschehen locker an modernen Fünfkampf heran: Termine, individuelle und gemeinsame Zeit wollten koordiniert werden, das Leben musste ganz formell weiter bestritten werden – nur eben jetzt mit mehr anteilhabenden Personen (Fahrten, Einkäufe, Übergabezeiten, Mahlzeiten und „sonstige Haushaltsaufwendungen“ potenzierten sich…), zusätzliche Sensibilitäten und Bedürfnisse mehrerer Beteiligter waren zu beachten, zu kommunizieren, auszutarieren, kostbare Ich-Zeit und Selbstfürsorge wollten untergebracht sein – und nicht zuletzt sollte die Leichtigkeit, die Liebe und das Miteinander bei all dem auch seinen Platz finden…
Und in den Zeiten in meinem Leben, in denen ich „Poly-Single“ (also gut: „Oligo-Single“ – und dabei hatte ich persönlich noch das Glück, daß ich fast immer wenigstens eine Partner*in an meiner Seite hatte) war, fühlte ich mich oft unvollständig und trieb mich zu emsiger Aktivität auf dem Dating-Planeten an – was, wie jede*r weiß, die*der jemals in das glückspielartige Hamsterrad des Datings geraten ist, seinerseits Ressourcen – ganz zuvorderst vor allem Lebenszeit – forderte. Und nach manchen Dates konnte ich die Frustration, daß es mal wieder gerade knapp nicht zur einer Bronze-Medaille gereicht hatte, körperlich wie seelisch perfekt nachvollziehen.
Uns „Mehrfachbeziehungsführenden“ ergeht es dabei oft wie den Olympioniken: Außerhalb der „Spiele“ sind diese oft vier Jahre lang so unsichtbar wie wir als Subkultur. Der übrigen getriebigen Welt aber ist das egal. Rechnungen wollen bezahlt, eingegangene Verbindlichkeiten bedient werden – und vor allem: Lächle!, ob Frau, Mann oder Divers, denn wie es dir gerade tief drinnen geht, danach wird meist nicht gefragt.
Die Olympioniken dürfen dann zumindest einmal alle vier Jahre hinter dem Vorhang hervortreten – müssen dann allerdings auch ihre Leistung unter Beweis stellen, die sie sich doch hoffentlich in der Zwischenzeit aufgebaut haben.
Für Menschen, die alternative Lebensentwürfe praktizieren, bleibt der Vorhang allerdings eher dauerhaft geschlossen – dafür müssen sie tagtäglich mit einer normal-normativen Umwelt in Wettbewerb treten, wo die Bedingungen für alle anderen überwiegend zu passen scheinen.
Womit ich sagen will, daß Nicht-Normativität schlechthin schon allein ein steter Stressor sein kann. Was man z.B. gerade in den Situationen deutlich spürt, wo es nur die Leute der eigenen Wahlfamilie gibt, mit denen man seine besonderen Belange überhaupt besprechen kann. Und da kann es eben manchmal eng werden, wenn es die eigene Wahlfamilie selbst ist, die die Herausforderungen aufwirft…
Da wird der Blick auf die mono-normative Welt schnell zum gehetzten Blick über die eigene Schulter: „#§$%! – die anderen schaffen das doch auch irgendwie…“ Wodurch wir das Problem vor allem bei uns selbst suchen und mit noch hektischerer Aktivität reagieren: Den Google-Kalender optimieren, schneller fahren als gut ist, noch ein Dating-Profil anlegen (und jetzt noch mehr alberne Mails „Neue-Leute-in-deiner-Gegend-entdeckt!“ erhalten), abends wenigstens für 15 Minuten noch eine gemeinsame Küchentisch-Gesprächsrunde zusammentreiben (was unseren Beliebtheitsstatus ungemein steigert und richtig Stress rausnimmt…) oder schon mal auf eigene Faust einen Urlaub für das Polykül¹ buchen, damit alle mal endlich rauskommen…
Wenn es bei mir soweit ist, muß ich an meinen derzeitigen Lieblingsautor Matt Haig denken, der in seinem Buch „Mach mal halblang. Anmerkungen zu unserem nervösen Planeten“ (dtv, 3. Auflage Juli 2021) schrieb:
»Aber so wie es nur einen Planeten gibt – einen Planeten mit endlichen Ressourcen – gibt es auch nur ein Du. Und auch du hast eine endliche Ressource – Zeit. Und, ganz ehrlich, du kannst dich nicht selbst vervielfältigen. Ein überfrachteter Planet verleitet uns zu überfrachteten Leben, aber letzten Endes kannst du eben nicht mit allen Spielzeugen spielen.
Du kannst nicht alle Apps nutzen. Du kannst nicht auf allen Partys sein. Du kannst nicht die Arbeit von 20 Leuten erledigen. Du kannst nicht über alle Nachrichten auf dem Laufenden sein. Du kannst nicht alle deiner elf Mäntel auf einmal tragen. Du kannst nicht jede Musst-Du-sehen-Serie anschauen. Du kannst nicht an zwei Orten gleichzeitig leben.
Du kannst mehr kaufen, du kannst mehr in deinen Besitz bringen, du kannst mehr arbeiten, du kannst mehr verdienen, du kannst dich mehr anstrengen, du kannst mehr twittern; aber so, wie jeder neue Kick nachlässt, kommt ein Punkt, an dem du dich fragen musst: Wofür ist das alles gut? Wie viel zusätzliches Glück erhalte ich?«
Hoppla.
Matt Haig erinnert mich an ein ganz wichtiges Gut, welches es ja sogar in den Titel meines hiesigen bLog-Projekt geschafft hat: Die Nachhaltigkeit. Und es ist so wichtig, uns daran zu erinnern, daß Nachhaltigkeit nicht nur als Schlagwort abstrakten Diskussionen über Fairtrade-Kaffee, den Standort Deutschland oder E-Auto vs. öffentlicher Nahverkehr vorbehalten sein sollte.
In meinem Werte-Eintrag 3 schlüssle ich diesen etwas sperrigen und in den Debatten mittlerweile stark abgenutzten Begriff auf, um klar zu machen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Beziehungen eigentlich ist. Dazu strapazierte ich zunächst drei weitere Fachbegriffe, nämlich Konsistenz – also (Wert)Beständigkeit bzw. Sinnzusammenhang, Effizienz – also Geeignetheit und Suffizienz – also Tragfähigkeit. Für Eintrag 3 habe ich mir außerdem als graphische Hilfe ein Nachhaltigkeits-Dreieck ausleihen dürfen, um zu zeigen, daß keiner dieser Bereiche ohne die anderen beiden seine Wirkung entfalten kann.
Wenn wir uns in unseren Mehrfachbeziehungen daher irgendwann wieder als Teil eines schrecklichen Rattenrennens erleben, ist es enorm erdend, sich auf diese Weise noch einmal klar zu machen, was im Zusammenhang mit unseren Liebsten (und uns selbst!) wirklich zählt.
Und der legendäre chinesische Philosoph des 6. Jahrhunderts v. Chr., Laotse, hat für mich mit ganzer fernöstlicher Weisheit und Lässigkeit noch besser ausgedrückt, wozu es uns dienen kann:
„Wenn ich loslasse, was ich gerade bin, werde ich, was ich sein könnte.“
Klingt zu sehr nach Glückskeks?
Denkt nochmal über das fast augenzwinkernde Statement nach!
Denn der Ausspruch spielt auf unser Selbstbild an: Je hektischer und getriebener wir agieren, umso stärker verfestigen wir es nach und nach – sowie auch unsere Position im Leben darin, bis hin zu einem Zustand, den der US-amerikanischer Psychologe Steven Hayes „psychische Starrheit“ nennt². Wir werden in unseren Reaktionen und in der Wahl unserer Mittel immer unflexibler, so daß wir z.T. selbst kaum noch den Ausgang aus unserer Misere finden können; von visionärer Kraft „was sein könnte“ längst ganz zu schweigen.
Ich glaube auch nicht, daß Laotse meinte, daß wir uns komplett unseres Selbst entäußern sollen, wie es von manchen modernen Gurus asiatischer Philosophien propagiert wird.
Der zitierte Steven Hayes erkannte z.B. in seiner Forschung, daß unter aller Hektik und dem überbordenden Dschungel an To-Do-Listen bei all seinen Patienten nach einer Weile schließlich wieder ihre ureigenen Grundwerte zutage traten: Die persönliche Konsistenz, die Beständigkeit, die eben keinesfalls verschwunden, sondern bloß durch ein Aufblähen an Äußerlichkeiten zugewachsen war.
Den Verlust von Beständigkeit, nannte Hayes daher auch folgerichtig als die größte Quelle für psychischen Stress – als Resultat des Kontaktverlusts mit all den Werten, die für uns eigentlich von innerlich höchster Bedeutung sind. „Werte“, ergänzte Hayes, seien nämlich der Ausdruck unseres individuellen Strebens nach Bedeutung und Sinn in unseren Leben. Eine Grundbedürfnis, welches stets dann in Gefahr geriete, wenn wir bei dessen Erfüllungsversuch beginnen würden, äußerem „Sollen“ oder gesellschaftlich normiertem Streben den Vorrang vor Selbstbestimmung und einer (selbst)gewählten Qualität unserer Handlungen zu geben.
Das bloße Erleben von Beständigkeit im Verhältnis zu uns selbst oder im Zusammensein mit derzeitigen Liebsten ist also bereits eines der wichtigsten Standbeine, wenn zunehmende gefühlte Leere oder nachlassende Sensibilität im Alltag nach uns greifen will.
Die Verbindung zum „Nachhaltigkeits-Standbein“ Suffizienz (Tragfähigkeit) ist an dieser Stelle sehr einfach zu sehen: In der Tat ist nämlich sehr oft „weniger“ das berühmte „mehr“. Also gerade nicht „Schneller, höher, weiter!“ – sondern „Bedachtsamer, auf Augenhöhe, näher“. Denn unsere Beziehungen wollen doch Vertrauensorte sein; dort, wo wir uns sicher fühlen, unsere Alltags-Rüstungen ablegen dürfen. Statt dessen erledigen wir unsere Beziehungen manchmal regelrecht wie ein lästiges Meeting oder arbeiten unsere Liebe ab wie einen überfüllten Posteingang.
Und das Standbein Effizienz, welches ich oben mit „Geeignetheit“ übersetzt hatte?
Ich glaube, wenn wir heute „Effizienz“ lesen oder hören, dann können wir auch diesen Begriff kaum noch ohne den so oft damit verbundenen Leistungsanspruch wahrnehmen.
Womit wir wieder beim Rattenrennen wären, denn heute heißt Leistungsanspruch, daß stets wir es sein müssen, die Geeignetheit und tiefgreifender Wirksamkeit (so war das Wort einmal gedacht, ja!) gewährleisten sollen.
Geeignetheit und tiefgreifende Wirksamkeit sind jedoch passive Kräfte, die ein Ergebnis, einen Effekt, eine Konsequenz befördern.
Also etwas, was mit uns in unseren Beziehungen geschieht. Etwas fast Unmerkliches, für das wir gar nicht wirklich viel „leisten“ im Sinne von „absolvieren“ oder „hinkriegen“ können. Jedoch umso mehr mit „anteilhaben“, „beitragen“ und „dazugehören“…
In der US-Krimiserie „Bones – Die Knochenjägerin“ hält die Protagonistin Dr. Temperance Brennan (dargestellt von Emily Deschanel) anläßlich eines Todesfalls in ihrer Wahlfamilie folgende Ansprache [Staffel 10, Folge 2 „Sweets und die Verstummten der Verschwörung ,Teil 2“]:
»Aber ich glaube das Sweets immer noch unter uns ist. Nicht im religiösen Sinn, denn das Konzept von Gott ist nur ein törichter Versuch das Unerklärliche zu erklären. Aber in einem realen Sinn ist er hier.
Sweets ist immer ein Teil von uns. Unsere Leben…, wer wir alle in diesem Augenblick sind, wurde geformt von unserer Beziehung zu Sweets. Jede*r von uns ist wie eine komplizierte Gleichung. Und Sweets war die Variable, ohne die wir nicht geworden wären, wer wir heute sind. Ich hätte vielleicht nicht Booth geheiratet. Oder Christine bekommen. Daisy würde sicher nicht sein Kind austragen. Wir sind alle, wer wir sind, weil wir Sweets kannten. Ich brauche also keinen Gott, um ihn zu preisen oder das Universum, woher er stammte, weil ich ihn geliebt habe. Ich habe früher versucht, die Liebe zu erklären, als Absonderung von… Chemikalien und Hormonen. Aber ich glaube jetzt, wenn ich an Sweets denke, und sehe, was er uns hinterlassen hat, dass Liebe nicht erklärt werden kann durch… Wissenschaft oder Religion. Es ist jenseits des Verstandes, jenseits der Vernunft. Was ich aber wirklich weiß, ist, Sweets zu lieben… (*lacht*), die Liebe untereinander, das macht das Leben erst kostbar. Im Augenblick… muss ich nicht mehr wissen als das. Was peinlich ist, denn es kommt von einer extrem intelligenten, faktenbasierten Person wie mir.«
Puh, Gänsehaut. Und ich könnte noch hinzufügen, daß es doch schade ist, daß uns solche Gedanken zu oft immer erst dann in den Kopf kommen, wenn bereits jemand gestorben ist.
Gleichzeitig sind es ja meist auch gerade diese Grenzsituationen, in denen mit einem Mal sehr klar hervortritt, was eigentlich wirklich wichtig ist, was effektiv (!) zählt.
Unsere Beziehungen formen also unsere Leben, berühren und verändern uns; sie sind unser Leben. Es gibt nichts, was wir dafür „machen“, „erzielen“ oder „verdienen“ müssten, sollten oder könnten.
In vielen meiner frühen Einträge auf diesem bLog habe ich mich darauf bezogen, daß Mehrfachbeziehungen die unsichtbare Qualität hätten „mehr als die Summe ihrer Teile“ zu sein. Eine Qualität, die sich offenbar von Liebe, Authentizität und Zusammengehörigkeit angezogen fühlt. Eine Stärke, die aus Miteinander, Verbundenheit und Wechselseitigkeit erwächst – ohne dabei Leistungsanteil zu sein…
Kein rigider olympischer Kraftakt, vielmehr ein aufnahmefähiges Geschehen-Lassen.
Etwa magisch? Oder mystisch? Vielleicht sublim?
Wenn Dr. Temperance Brennan es nicht erklären konnte, dann muß ich es auch nicht.😉
¹„Polykül“ ist ein humorvolles Kofferwort aus „Polyamorie“ und „Molekül“ und bezeichnet eine Gruppe oder eine Reihe von Menschen, die sich miteinander in ethisch non-monogamen Liebes-Beziehungen befinden. Da diese „Gebilde“ bzw. Gruppen, wenn man sie zu graphischen Verdeutlichung aufzeichnet, gerne einmal wie Kohlenwasserstoffringe, komplexe Moleküle oder andere mittelkettige Verbindungen aussehen können, ist dafür der augenzwinkernde Ausdruck „Polykül“ entstanden.
² Steven Hayes: „A Liberated Mind: How to Pivot Toward What Matters“, Avery (27. August 2019); deutsch: „Kurswechsel im Kopf: Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden“, Beltz; 2. Edition (19. August 2020)
Mehr Matt Haig, mehr über Nachhaltigkeit und speziell unsere Beziehungsressourcen gibt es in Eintrag 100!
Danke an andreas N auf Pixabay für das Foto!