Am Feuer der Ahnen
A -koo-chee-moya – Wir sind weit von den heiligen Stätten unserer Großväter entfernt. Wir sind weit von den Gebeinen meines Volkes entfernt. Aber an diesem Tag der Sorge und der Ungewissheit hoffe ich, dass die Weisheit meines Vaters mich findet und mir dabei hilft, mein Dilemma zu begreifen. Sprich zu mir, Vater. Sprich zu mir in meinen Träumen…
Dies sagt der von seinen Wurzeln her indigene Commander Chakotay, 1. Offizier in der US-Science-Fiction-Serie „Star Trek: Raumschiff Voyager“ (Staffel 2, Folge 26: „Der Kampf ums Dasein Teil 1“ ) – und bittet auf diese Weise um eine Vision und innere Führung.
Um ethische Mehrfachbeziehungen wie Oligo- oder Polyamory scheint es gegenwärtig verhältnismäßig still geworden zu sein. Kein Vergleich zu der Zeit z.B. vor noch etwas über 5 Jahren, als deutlich regelmäßiger (zugegeben teilweise sensationalisierende) Presseartikel und Fernsehbeiträge unsere Lebensweise auf der medialen Bühne präsenter hielten als im Moment.
Gerade Letzteres muß darum ja nichts Schlechtes sein. Wenn die Wogen nicht mehr gar so hoch gehen, könnte dies doch ein Zeichen sein, daß sich seitdem auch manches zurechtgerüttelt hat. Daß sich die unstete„Goldfieberstimmung“ mit all ihren Unsicherheiten und Selbstfindungsbestrebungen ein wenig gelegt hat. Und das wiederum könnte für viele Teilhabende an ethischen Mehrfachbeziehungen bedeuten, daß diese just in diesem Augenblick gerade einigermaßen zufrieden und überwiegend störungsfrei schlicht ihrem Beziehungsalltag nachgehen.
Zu wünschen ist es Euch allen – was ich hiermit aus tiefstem Herzen tue!
Gleichzeitig schleicht sich in solch stilleren Zeiten auch gelegentlich die Sorge an, daß es eben genau nicht so ist.
Das gesellschaftliche Pendel schwingt spätestens seit der Corona-Pandemie (auf jeden Fall in Deutschland) eher wieder in die konservativere Richtung. Die vielzitierten „jüngeren Menschen“ unserer Demographie werden regelmäßig wissenschaftlich befragt – und siehe da: Überraschend traditionelle Vorstellungen zeichnen sich dort ab, insbesondere was das Streben nach Monogamie mit der Suche nach „dem einen“ Lebenspartner – und der Wunschtendenz hin zu der eigenen Kleinfamilie – abbilden…
War das Aufbrechen herkömmlicher Zusammenlebens-Modelle ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts also doch nur eine Art verspätete „experimenteller Phase“? Eine verzögerte letzte Blüte der hippiebunten 70er und der geschmacksverworrenen 80er, die noch einmal das unvoreingenommene Fließen der Liebe und ein barrierefreieres Miteinander feiern wollte?
Auch dafür finden sich Zeichen – speziell gemessen an unserer Jetztzeit, mit weltweiten Krisenherde wie im nahen Osten oder in der Ukraine, der resultierenden Preis- und Energiekrise, dem globalen Klimawandel und einer mißtrauischen Furcht vor weiterhin lauernden Pandemien, die von Flüchtligsströmen allzubald rund um den Erdball getragen werden könnten…
Da beibt doch kaum Raum für Liebe und Miteinander, eher wird sich auf sich selbst und zuvorderst bloß das direkte Umfeld konzentriert. Denn auf die eigenen Ressourcen ist zu achten; wieder einmal sind es die allzeit knappen Ressourcen, die das Diktat der Stunde vorzugeben scheinen.
Wie Commander Chakotay oben, ist es zu solch einem Zeitpunkt eventuell günstig, sich um das Feuer seiner Ahnen zu versammeln – und Einkehr zu halten, für eine hoffnungsvollere Vision, für eine Perspektive.
Was würden die „Ahnen ethischer Mehrfachbeziehungen“ uns wohl zuteil werden lassen?
Wer wären diese „Ahnen“ überhaupt…?
Nun, da fallen mir vor allem die mutigen Menschen der Kerista-Kommune in San Francisco ein, die als erste 1984 den Begriff „Polyfidelity“ pägten¹ (also: polyamore Treue und Loyalität unter mehreren Beteiligten einer geschlossenen Gruppe) und natürlich die große Dame der Polyamory, Mornig-Glory Zell-Ravenheart, die 1990 überhaupt erstmalig das Wort „Polyamory“ ² für ethische Mehrfachbeziehungen formulierte.
Zunächst würden uns diese „Ahnen“ möglicherweise gleich darauf aufmerksam machen, daß ihr eigener Weg und ihre eigene Vision auch nicht gerade in einträchtig-harmonischen Weltfriedenszeiten entstanden sind. 1984 wurden z.B. in der damaligen DDR die ersten sowjetischen Nuklearraketen aufgestellt, das Truppenabzugsabkommen zwischen Israel und dem Libanon wurde aufgekündigt (heute wie damals also Ähnliches im unheiligen heiligen Land…), allein in den Monaten Juli und August gab es vier große Flugzeugentführungen durch politisch und/oder spirituell motivierte Terroristen, und in Deutschland erklärte der Waldzustandsbericht bereits 50% der Bäume als unheilbar geschädigt.
1990 wiederum zerfiel die Sowjetunion in einem höchst fragilen Prozess in Einzelstaaten, im August begann der 2. Golfkrieg mit dem Irak (v.a. bekannt durch die von den USA geführte „Operation Desert Storm“ ), in Deutschland fand das terroristische Attentat auf den Innenminister Wolfgang Schäuble statt und im Rijksmuseum in Amsterdam wurde das weltberühmte Gemälde „Die Nachtwache“ von Rembrandt durch einen Anschlag mit Schwefelsäure zerstört…
Genug Gründe also auch damals, vor der übrigen bedrohlichen Welt „in Deckung zu gehen“ und sich ins private Kleinklein zu flüchten.
Und trotzdem experimentierte die Kerista-Kommune 1984 mit einer neuen Form des Zusammenlebens in einer Gruppe, die mehrere Menschen enthielt, die auf romantische und erotische Weise miteinander verbunden waren. Und da die Kerista-Kommune mit ihren Anfängen seit ca. 1956 schon aktiv war und 1971 noch einmal eine innere Umformung durchlebt hatte, waren ihre Mitglieder in ihrer geübten Nonkonformität stark genug, diesen Prozess auch noch zu protokollieren und daraus schließlich die erste erfolgreiche Idee der Vielfach-Treue – der „Polyfidelity“ – abzuleiten.
Über die neopagane Priesterin Morning Glory Zell-Ravenheart, die seit 1974 auch langjähriges Mitglied der liberalen spirituellen Bewegung „Kirche aller Welten“ (= CAW – „Church of All Worlds“) war, habe ich bereits ausführlich in meiner „Geschichte der Polyamory“ [Teile 1 | 2 | 3 | 4], insbesondere in Teil 3 (Eintrag 49) geschrieben. Morning Glory war bestrebt, eine praktisch lebbare, ethische Grundlage für mehrere sowohl in romantischer als auch erotischer Hinsicht verbundene Beteiligte zu schaffen. Über einen gesellschaftlichen Gegenentwurf hinaus, war es ihr dabei obendrein wichtig, dabei die (Gleich)Berechtigung, die Verbindlichkeit, die Aufrichtigkeit – sowie das Vertrauen in die Berechenbarkeit eines solchen Arrangements für seine Teilhabenden – zu betonen.
Den Kerista-Leuten und Morning Glory waren in ihren Ansinnen dabei ein größtmögliches Maß an Akzeptanz und Inklusion wichtig, da Ausschließertum – und genau das im Außen so oft vorherschende Grenzen Ziehen durch kleinteilige Partikularinteressen – ein Aufkommen von Gemeinschaftsgeist im Keim vergiftet hätten.
Diese visionären „Ahnen“ setzten ihr Zutrauen also in die Kraft (mit)menschlicher Gemeinschaft. Ich sage hier Zutrauen, weil sie alle am eigenen Leib in der Praxis genau das in ihren nahen (Mehrfach)Beziehungen bereits erlebt hatten, was ich auf diesem bLog das „Mehr als die Summe seiner Teile“ nenne.
In meinem Eintrag aus dem letzten Monat erwähne ich den US-amerikanischen Psychologen Steven Hayes³, der aufgrund seiner klinischen Erfahrungen betont, wie bedeutsam es für uns als Individuuen ist, zu unseren persönlichen Werten in guter Verbindung zu stehen. Verunsicherungsphasen durch unseren Alltag und aufgrund unserer Umwelt können dafür sorgen, daß diese Verbindung geschwächt wird, ja, uns sogar eine zeitlang ganz abhanden kommt. Zu äußerem Stress gesellt sich auf diese Weise eine buchstäbliche innere Zerrissenheit, in der es uns dann schnell so vorkommt – und wir sprechen hier doch über Mehrfachbeziehungen – als ob die Oligo- und Polyamory tot wären, auf jeden Fall aber wenigstens „sehr krank“: Mehrfachbeziehungen waren wohl doch nur eine Art „Phase“, wir selbst haben dieses Modell wohl nur gewählt, weil wir irgendein anders geartetes inneres Loch in uns flicken wollten, alle (!) anderen würden ohnehin nur nach monogamen Partner*innen suchen (und wenn wir uns nicht als solche zu erkennen gäben, wären wir geradewegs „unattraktiv“ bzw. „vom Markt“…), überhaupt: funktionierende, von Aufrichtigkeit , Verbindlichkeit und dem Gedanken an Langfristigkeit getragene, ethische Mehrfachbeziehungen würde es doch quasi eigentlich gar nirgendwo geben, zumindest kennt man keine einzige im weiten Umkreis, also was soll’s überhaupt…
A-koo-chee-moya.
Am Feuer unserer Ahnen dürfen wir unsere Zerissenheit, unsere Unsicherheit bekennen.
Am Feuer unserer Ahnen dürfen wir aber auch im Licht der Flammen, die die Dunkelheit zurückdrängen, wiedererkennen, daß die Grundwerte, die hinter guter Beziehungsführung stehen, weder tot sind, noch durch eine gleichgültige Welt relativiert. Daß sie es ja schon damals nicht waren, als sie erstmalig aus dem Dunkeln aufschienen, genauso wenig wie sie es heute sind.
Für mich ist das das Schöne und Tröstliche an ethischen Mehrfachbeziehungen. Es ist dieses kleine Wörtchen „ethisch“, was uns zuspricht: Hier gibt es Werte.
Diese Werte sind manchmal eckig, lästig, schwer einzuhalten, sie führen uns mitunter in Rechtfertigungen und Diskussionen.
Zugleich sind sie dafür beständig. Und sie reflektieren etwas, was uns selbst offensichtlich schon immer ureigen und zutiefst wichtig war. Sonst hätte uns dieses spezielle Feuer nicht angezogen, denn in der Wärme und Helligkeit seiner Flammen und seiner Glut haben wir einen gleichgesinnten Spiegel unseres eigenen, uns innewohnenden Funken gespürt…
Genau das ist wichtig, denn dieses Leuchten führt uns zu unseren inneren Werten zurück, die der Psychologe Hayes in seinen Ausführungen so betont. Werte, die von der äußeren Bedrohlichkeit und Verwirrung unabhängig sind, da sie schon viel länger als diese zu uns gehören. Werte, die darum auch Bestand haben, wenn die Parade vom Christopher Street Day durch Bautzen oder Frankfurt/Oder von Polizeikäften geschützt werden muß. Werte, die trotzdem Bestand haben, auch wenn wir gerade leider nicht selbst Teil einer ethischen Mehrfachbeziehung sind. Oder sogar im weiten Umkreis gerade nicht einmal eine einzige solche kennen und die Stille manchmal fast ohrenbetäubend scheint.
Eine Haltung mit Werten wie Unvoreingenommenheit, Integrität, Gleichberechtigung, Transparenz, Aufrichtigkeit, Verbindlichkeit, Loyalität und Nachhaltigkeit steht für sich selbst. Dazu muß ich nicht einmal Teil einer Nahbeziehung mit mehreren Personen sein. Sie begegnet mir bereits, wenn ich einkaufen gehe, mit meinen Mitlebewesen interagiere – ob ich eine Petition unterzeichne oder wählen gehe.
Da diese Werte nichtsdestoweniger aus dem „Feuer unserer Ahnen“ stammen, haben sie dadurch aber eben auch eine eigene (Anziehungs)Kraft, ein eigenes Licht. Und damit sind wir durchaus nicht allein, denn dieses Licht kann wahrgenommen und gefunden werden.
Von den Anderen bei uns, ja, sicherlich auch das. Aber wir können es ebenso umgekehrt bei ihnen erkennen und sie unsererseits entdecken – da wir doch jetzt durch den Aufenthalt am Feuer wieder wissen, woran wir uns doch ohnehin seit jeher orientieren.
Der schweizerische Lyriker Max Feigenwinter hat für mich mit seinem Werk „Schweige und höre“* übrigens auch eine Art Visions-Suche in Textform gebracht. Oder genau genommen sogar schon eine erste leise Antwort auf eine solche Suche:
vielleicht geht dir
in der Mitte der Nacht ein Licht auf
vielleicht hörst du unverhofft
eine neue Botschaft
vielleicht ahnst du plötzlich
dass Friede auf Erden denkbar ist
vielleicht erfährst du schmerzhaft
dass du Altes zurücklassen musst
vielleicht spürst du
dass sich etwas verändern wird
vielleicht wirst du aufgefordert
aufzustehen und aufzubrechen
schweige und höre
sammle Kräfte und brich auf
damit du den Ort findest
wo neues Leben möglich ist
¹ Das orginalsprachige Dokument aus dem Buch „Polyfidelity: Sex in der Kerista-Kommune und andere verwandte Theorien zur Lösung der Probleme der Welt, Darstellende Kunst Soziale Gesellschaft 1984″ befindet sich HIER – als Originalquelle bislang leider erst nur in englischer Sprache.
² Das originalsprachige Dokument aus der Zeitschrift „Green Egg“ von 1990 befindet sich z.B. HIER als Quelle, bislang ebenfalls nur in englischer Sprache.
³ Steven Hayes: „A Liberated Mind: How to Pivot Toward What Matters“, Avery (27. August 2019); deutsch: „Kurswechsel im Kopf: Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden“, Beltz; 2. Edition (19. August 2020)
* Allerherzlichsten Dank für die höchstpersönliche Erlaubnis zur Verwendung seines Werks „Schweige und höre“ gilt Herrn Max Feigenwinter. Das Original stammt aus: „Einander Engel sein“ von Max Feigenwinter, Verlag am Eschbach; 1. Edition (17. Juni 2013) – sämtliche Nutzungsrechte liegen beim Autor.
Danke an Benjamin Nelan auf Pixabay für das Foto!