Eintrag 107

„Jetzt bin ich aber mal dran!“

Die Welt macht es uns vor: Egal ob in den USA Donald Trump mittels schlichter aber nichtsdestoweniger lauter Parolen die diesjährige Präsidentschaftswahl gewinnt – oder in Deutschland der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz durch die Entlassung seines mißliebigen Finanzministers die Regierungskoalition zum Kollabieren bringt: „Jetzt bin ich aber mal dran!“ Endlich einmal unwidersprochen seinen eigenen Willen durchsetzen können, es richtig krachen lassen – wie wunderbar das wohl sein muß…
Und was da im Großen geschieht – und weil es im Großen geschieht, so wollen wir irgendwann auch einmal unseren Teil gleichermaßen behaupten. Zum einen, weil es ja mittlerweile ganz offensichtlich en vogue zu sein scheint, ohne allzu viel Rücksicht auf Verluste zuzugreifen, wenn die Gelegenheit gekommen ist. Zum anderen, weil sich dazu noch so ein „jetzt-erst-recht / Sch#-egal“-Gefühl gesellt, da die Welt gerade eh verrückt zu spielen scheint – und da will man wenigstens nicht die*der Letzte sein, beim scheinbar allgegenwärtig hereinbrechenden Schlußverkauf.
Wäre doch auch blöd, noch länger zu warten. Und dann noch dazu all diese kleinlichen Hindernisse und Regularien, die eine eigentlich ganz einfache Sache bloß unnötig kompliziert machen. So etwas haben sich vermutlich Kommunisten ausgedacht, Ökofreaks oder anderweitig feministisches oder gar queeranarchistisches Volk.
Egal.
Ich will jetzt eine*n weitere*n Partner*in! Und ich will dann auch sofort Sex.
Was ich nicht will ist, zuvor über lästige Gegengründe wie Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit (allein schon dieses Wort ^^!) nachzudenken, zum Teufel damit, ich komme andernfalls ja überhaupt gar nicht zum Zug. Sonst wird wieder alles zerfasert, zerdacht und kaputtdiskutiert. Wer etwas will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Und all das hat unserem Glück nun wirklich lange genug im Weg gestanden, nicht länger:
Heute sind wir mal dran!

Auch so eine Herangehensweise kann man in der Welt der Nicht-Monogamie versuchen. Und das wird auch getan, gar nicht so selten, was gesellschaftlich und medial seinen Teil dazu beiträgt, Mehrfachbeziehungsformen wie der Polyamory einen ausdauernd zweifelhaften Ruf zu bescheren.
Vor allem aber läßt es sowohl bei den Betreiber*innen solcher „Brechstangen-Strategien“ wie auch bei denjenigen, die unversehens Teil eines solchen Handelns wurden, Frustration und oft dazu eine Reihe gebrochener Herzen zurück: „Mehrfachbeziehungen? Das ist nur Kuddelmuddel, ständige Irritation und Schmerz, habe ich probiert, klappt eh nicht…!“

Funktionierende Demokratien und ethische Mehrfachbeziehungen, wie die Poly- oder Oligoamory scheinen sich demnach offenbar mit ähnlichen Problemen herumzuschlagen. Sogar im argumentativen Diskurs. Was ist da los?

Ich möchte mich an einer Antwort versuchen – natürlich vor allem in Sachen Mehrfachbeziehungen. Aber dabei gibt es zur Demokratie immer wieder Parallelen, was in der Natur der Sache liegt.

Denn z.B. ist die 1990 von der paganen Priesterin und Feministin Morning Glory Zell-Ravenheart formulierte „Polyamory“ ja eigentlich noch gar nicht so alt, um romantischen Verhältnissen zwischen mehr als drei Personen eine „Beziehungsverkehrsordnung“ mit auf den Weg zu geben.
Fun fact: Das Wort „Beziehungsverkehrsordnung“ benutzte Morning Glory quasi wortwörtlich in jenem allerersten Text, in dem zum ersten Mal im modernen Kontext das Wort „polyamor“ auftauchte¹ – im Englischen war es die Phrase „Rules of the Road“, welche eben genau als technischer Term auch für das im Deutschen verwendete Wort „Straßenverkehrsordnung“ steht.

Hätte es nicht ausgereicht, bei der „Freien Liebe“ zu bleiben, die aus der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hervorgegangen war?
Damals eine Anti-Establishment-Bewegung, die mit verstaubten moralischen Regeln brach, die zur Selbstermächtigung der Beteiligten aufrief und dadurch auch das Streben nach unmittelbarer körperlicher und seelischer Bedürfnisbefriedigung zum Anerkenntnis und zur Berechtigung aller Menschen erklärte.
Von den Blumenkindern auf den Straßen San Franciscos fast schon eine ur-US-amerikanische Agenda: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ (engl.: „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ ²). Genau jene Prinzipien übrigens, von denen z.B. aktuell auch Donald Trump sagt, daß er diesen in den USA wieder „mehr Geltung“ verschaffen will…

Mit verstaubten Regeln zu brechen, überkommene Ansichten zu revolutionieren und Menschen zu berechtigen ist großartig und hat seine ganz eigene Kraft. Ohne diese Revolution in den 60ern und 70ern hätten Menschen es vermutlich weiterhin noch lange Zeit nicht gewagt, von da ab mutiger ihre Sexualität und ihr Leben in verschiedenen Beziehungsformen zu erproben.

Etwas mehr als 20 Jahre später führte genau dieses Erproben zu erweiterten Erkenntnissen:
Allein Menschen zu berechtigen, ist nur ein Teil einer Erfolgsgeschichte.
Das ist quasi ikonisch an einer der ältesten „Berechtigungen“ der Menschheit abzulesen – womit ich in der Bibel aus dem 1. Buch Mose (Genesis), Kapitel 1, Vers 28 meine, der lange Zeit als „Macht euch die Erde untertan und herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier…“ übersetzt und verbreitet wurde. Was nach und nach zu einer „Selbstbedienungsmentalität“ an unserem Planeten führte, mit deren Folgen wir nun im 21. Jahrhundert auf das Dramatischste konfrontiert sind…
Denn wenn erst auf diese Weise aus Berechtigung und Selbstermächtigung irgendwann oft genug ein autoritär-trotziges „Jetzt bin ich aber mal dran…!“ abgeleitet worden ist, dann liegt auf der Hand, daß es eines Tages vermutlich nichts mehr geben wird, was noch ge- oder verteilt werden kann.

Knapp 20 Jahre nach der „sexuellen Revolution“ zeigte also nicht nur unser Planet erste deutliche Gebrauchsspuren, sondern auch viele Beziehungsexperimente bewiesen, daß der Faktor „Nachhaltigkeit“ dringend einen Platz in der Gleichung benötigte.

Und „Nachhaltigkeit“ kommt bekanntlich in zwei Stufen:

►Die erste Stufe ist die Wahrnehmung dessen, daß eine lediglich entfesselte Selbstbedienungsmentalität sich selbst nach und nach die Existenzgrundlage entziehen wird. Eine Revolution, die einst aus guten Gründen begonen hatte, wird sich am Ende selbst verzehren, wenn sie schließlich ihre letzten Grundlagen durch Überheblichkeit und Selbstsucht vernichtet hat.
Ressourcen müssen also verwaltet und aufgeteilt werden, damit ein möglichst großer Mehrwert für alle, die daran Anteil haben wollen, erhalten bleibt.
Letzteres Prinzip ist in der Ökologie so wichtig wie in gesunder Beziehungshygiene: Egotripping und intransparentes Handeln, um sich so auf Kosten der Anderen einen Vorteil zu verschaffen, beschleunigen den Weg in den Abgrund (auch wenn dieser für die, die rein eigennützig handeln, noch bis kurz vor dem Ende recht bequem erscheinen mag…).

►Die zweite Stufe war es vermutlich, die Morning Glory dazu bewegte, über ein Modell wie die „Polyamory“nachzudenken: Um anhaltende Funktionsfähigkeit und Langfristigkeit zu gewährleisten, muß Selbstermächtigung um den Schutz von Ressourcen und um Schutzrechte zu Gunsten der eigenen Integrität erweitert werden.
Oh!
Denn genau dieser Moment war es, in dem es mit den „einfachen Antworten“ der ursprünglichen Revolution vorbei war.
Aus: „Klar kannst Du soviele Partner*innen haben, wie Du willst und Sex haben, mit wem und so oft du dabei willst…“ wurde in diesem Moment „…aber die anderen Beteiligten sind dabei ebenfalls als ganze Individuen wahrzunehmen und zu hören, sie haben eigene Rechte wie du selbst – und bei einem Ganzen, von dem du profitieren möchtest und an dem du teilhaben willst, bist du gebeten im Gegenzug beizutragen, damit alle Mehrwert erleben und die Sache so ausgeglichen wie möglich bleibt.“
Spätestens mit dieser Erweiterung fand sich das Wörtchen „ethisch“ zu dem Wort „Mehrfachbeziehung“, was nun alle bekannten Werte, insbesondere Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit – aber dazu eben noch Berechenbarkeit, Wechselseitigkeit, Einvernehmlichkeit und ein Bemühen um Langfristigkeit versammelte.

„Gleich wieder so kompliziert…“, so höre ich es in den USA und in Deutschland seufzen. Dürften wir uns nicht wenigstens einmal der Zusage hingeben, daß wir das, was wir anstreben auch schlicht und einfach erhalten können, ohne ein Zuviel an Regularien?

Meine persönliche Antwort lautet: Nein, ich glaube nicht.
Ein „Ja!“ wäre natürlich an dieser Stelle so schön und einfach – aber meiner Meinung nach wäre es an eben dieser Stelle nicht ehrlich, wenn man es in Aussicht stellen würde.

„Früher, wenn sich die Gelegenheit bot, hat man einfach zugegriffen, da hat man nicht viel gefragt, einfach gemacht…“ Ok, da waren wir am Anfang schon: Genau, es ist dieses „Versprechen“ von Einfachheit, was so verführerisch wirkt, schnell zur Bedürfnisbefriedigung (welcher Art auch immer) zu gelangen.
Wodurch das, was ich oben mit etwas Augenzwinkern „Regularien“ oder „Werte“ nenne, als unglaublich hinderlich, kompliziert und damit als negativ wahrgenommen wird, weil es dem direkten Weg zum schon vermeintlich sichtbaren Ziel im Weg zu stehen scheint.

Ihr Leute: Genau das ist die Illusion, die heute u.a. populistisch so stark strapaziert wird:
a) Es sei bloß dieser unnötig „komplizierte Kram“, der uns von der Verwirklichung unseres direkten Glücks trennt. Wäre der fort, hätten wir es uns ja sogleich auf das Vortrefflichste erfüllt.
Und dazu:
b) Nach und nach ist alles zusätzlich immer komplizierter gemacht geworden, um uns auf jeden Fall davon abzuhalten, jemals überhaupt unser Glück erreichen zu können (plus Schuldzuweisung, setzen sie hier eine ursächliche Gruppierung ihrer Wahl ein).

Und das ist eine schlimme Verdrehung der Tatsachen.
Denn jene „Regularien“, jene Werte, sind wesensgemäß eine sehr gute Sache – und es ist fantastisch, daß sie existieren und von vielen mutigen Menschen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zusammengetragen wurden.

Die Weltgesellschaft – und auch die Gesellschaft derjenigen, die sich wünschen, in Mehrfachbeziehungen zu leben – benimmt sich mittlerweile immer häufiger wie eine Person, die auf eine solidarische Krankenversicherung pfeift, weil sie ja eine robuste Gesundheit hat und stets bei vollen Kräften ist.
Was aber ist, wenn wir das selber einmal nicht sind? Was ist in dem Moment, in dem wir es sind, die Schutz bedürfen? Wenn wir darauf angewiesen sind, um überhaupt wieder auf die Füße zu kommen? Wenn wir dabei dazu noch auf die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung angewiesen sind, daß diese uns Raum dazu gewähren – in einem Moment, in dem wir selbst nicht die Kraft hätten, einen solchen aufrechtzuerhalten?

Damit will ich sagen: Richtig, die Werte von ethischen Mehrfachbeziehungen sind kompliziert. Sie haben auch komplizierte Namen – und ihre Inhalte sind komplex, z.T. anspruchsvoll. Was dazu führen wird, daß sie im Alltag diskutiert werden, gelegentlich obendrein kontrovers.
Was wiederum für die eigene Wahrnehmung bedeuten kann, das mancher schnell geglaubte Weg zum erhofften Ziel erst einmal wegen dieser Bedingungen ein „Stop!“ erhalten kann.

„Früher konntest Du an jeder Ecke eine Imbißbude aufmachen… Und mit viel ehrlicher Arbeit hattest Du es nach ein paar Jahren geschafft. Heute brauchst Du in deiner Bude fließend kaltes und heißes Wasser, vor dem Frittenfett muß ein Schutzgitter sein – und wenn du gar jemanden einstellst, dann mußt du für den auch noch Sozialabgaben zahlen…“
Boah! Voll kompliziert, früher war alles besser – heute ist das alles schlechter…

Nein. Eben genau nicht. Ok, heute darfst du dich immer noch selbst ausbeuten – aber mit deinen Angestellten geht das eben nicht mehr so einfach. Das Gitter soll dich und deine Mitarbeiter vor Unfällen schützen, das heiße Wasser deine Kunden vor Magenverstimmung und dich damit vor Schadensersatzforderungen.
Genau mit solchen obigen Argumentationen kann man aber positive Errungenschaften zu Hindernissen erklären, zu „Überflüssigkeiten“, die es zum verheißenen Erfolg doch gar nicht braucht.

Wenden wir das auf unsere Beziehungen (und unsere Demokratien) an, so möchte ich sagen, daß wir es durchaus manchmal persönlich bedauern können oder als frustrierend empfinden mögen, wenn unser Weg zum Ziel durch andere Belange nicht so geradlinig verläuft, wie wir es gerne hätten.
Diese „Belange“ betreffen aber fast immer andere Menschen bzw. unsere unmittelbare Gemeinschaft, von der auch wir ein Teil sind.
Und im Umkehrschluß heißt das eben auch, daß beim nächsten Mal wir es sind, die davon profitieren werden, wenn jemand anders nicht einfach unsere persönliche Integrität als Abkürzung durchschneiden kann, bloß weil diese ihrem*seinem Ziel im Weg zu sein scheint. Und so etwas geschieht eben ja auch nicht immer nur dann, wenn wir – analog zu obigem Krankenkassenbeispiel – gesund und wehrhaft sind, sondern eben auch einmal, wenn wir Schutz, Wertschätzung, Solidarität, Verbundenheit oder etwas Freundlichkeit benötigen, schlicht weil wir ein (mit)menschliches Wesen sind.

Ethische Mehrfachbeziehungen und Demokratien sind sich in diesen Eigenschaften also sehr ähnlich – und es liegt an uns allen, beides zu schützen.
Denn auch der Gegenwind, der sich von Zeit zu Zeit erhebt – und teils heftig tobt – ist etwas, womit die zwei regelmäßig konfrontiert sind.

Wahlen (persönliche und nationale) gehen mit anderem Ergebnis aus, als wir uns das wünschen, Koalitionen und Beziehungen zerbrechen, Partner*innen finden nicht zusammen. Manchmal ist es mühevoll, zeitweise niederschmetternd, gelegentlich fühlen wir uns von der Welt – aber auch von unseren allernächsten Mitmenschen – trotz oder wegen unseres Engagements für die ethische aber darum eben kompliziertere Antwort abgelehnt und glauben deswegen vielleicht sogar, versagt zu haben.

In der US-amerikanischen Krimiserie Castle (Staffel 4, Folge 3 „Kopflos“) ermutigt der Protagonist Richard Castle (dargestellt von Nathan Fillion) seiner Tochter Alexis mit folgenden Worten: „Ablehnung ist kein Versagen.“ Woraufhin sie erwidert: „Es fühlt sich aber wie Versagen an.“ Und er antwortet:
„Nein, Aufgeben ist Versagen. Jede*r wird mal abgelehnt. Wie man damit umgeht bestimmt, was aus einem wird.“




¹ Das originalsprachige Dokument aus der Zeitschrift „Green Egg“ von 1990 befindet sich z.B. HIER als Quelle [Englisch]

² Das Zitat stammt natürlich aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776.

Danke an Alana Jordan auf Pixabay für das Foto!