Eintrag 108

Dazwischen sein

Das Alte ist nicht mehr – das Neue ist noch nicht geworden…:

Diese Ermutigung des irischen Philosophen, ehemaligen Priesters und Schriftstellers John O’Donohue ist für eine Lebensweise in ethischen Mehrfachbeziehungen nahezu sinnbildlich – und das obendrein gleich in mehrerlei Aspekten.

Schon mit der Wahl unserer Lebensweise setzen wir uns ja gewissermaßen „zwischen die Stühle“ : Die Monogamie in ihrer beschränkenden Ausschließlichkeit und mit dem Exklusivbezug auf nur einen (erlaubten) lebenslangen Partnermenschen wollen wir für uns nicht. Jedoch möchten wir uns zugleich trotzdem als verbindlich, berechenbar und beständig erweisen – weshalb wir eine Beziehungsform wie die Oligo- oder Polyamory wählen. Denn eine rein erotisch „offene Beziehung“ allein – oder gar die bloß auf vorwiegend unbeschränkte/nicht-bevormundete Sexualität abzielende „Freie Liebe“ bieten uns kein inneres Zuhause, in dem wir uns langfristig wohlfühlen würden.
Und da stehen wir dann – mit diesem Wunsch, wenn wir ihn in uns erst nach und nach an die Oberfläche gebracht haben… Denn dann geht es womöglich an die herausfordernde Aufgabe, noch andere Menschen zu entdecken, die dies eventuell so ähnlich empfinden wie wir.
Kein leichtes Unterfangen, in einer Welt, die, was Liebe und Beziehungen angeht, mehrheitsgesellschaftlich vorwiegend erstmal konservativ und normativ unterwegs ist…
Und wer sich einmal für solche Zwecke in die verschlungene Welt des Datings – egal ob off- oder online – gewagt hat, kann Bände davon berichten, wie verschieden all die anderen suchenden Menschenkinder da draußen von dem eigenen Wünschen und Sehnen sein können – und wie viele Frösche man küssen müsste – in der Hoffnung auf ein märchenhaftes Resultat.
Viele Frösche werden sogar Reißaus vor uns nehmen – denn Mehrfachbeziehungen haftet nicht ohne Grund das heikle Faszinosum an, „irgendwie queer“ zu sein. Und wer besitzt genug Mut für solch ein Wagnis?
Davon können uns all diejenigen Zeugnis ablegen, die bereits längst zum queeren Spektrum gehören, all die großartigen lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgeschlechtlichen und übrigen bunten Wesen – die nämlich alle sehr genau wissen, wie es ist, im wahrsten Sinne regelmäßig normgesellschaftlich „dazwischen“ zu geraten.

Auf diese Weise kann es aber leider ebenfalls geschehen, daß auch wir sehr lange „dazwischen hängen“. Uns gefangen fühlen in einem Zustand, wo wir eine Entscheidung zugunsten eines Beziehungsmodells getroffen haben, den alten „ausgewaschenen Weg“ nicht mehr beschreiten wollen und können. Aber das „Neue“ läßt sich reichlich Zeit und ist nicht mit Zwang zu realisieren – wie auch, wenn es Liebe werden soll – aber mit der Zuversicht ist es in solchen Phasen augenscheinlichen Stillstands so eine Sache – was unser irischer Priester wohl wusste und uns daher „so gut Du kannst“ zugesprochen hat. Denn Ungewissheit aushalten, daß zählt für unsere Herzen und Seelen zu den größten Zwickmühlen, in die wir geraten können.
Vielleicht spielte O’Donohue deswegen auf den „Ruf“ (der innere Stimme) an, den man nicht verspielen bzw. verklingen lassen sollte. Auf unsere Situation übertragen würde ich sagen: Lass nicht nach, gib Deinen Traum nicht auf und der Beziehungsphilosophie die Schuld. Gewähre Dir stattdessen wohlwollend diese Zeit für (noch mehr) Wandel.

Und wenn wir „Glück“ haben? Gar nicht daten müssen – und uns vielmehr urplötzlich in einer Mehrfachbeziehungssituation befinden, weil diese sich ereignet, ja, über uns kommt?
Wenn wir uns in Menschen verlieben, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind – oder, oh Wonne, mehrere andere Menschen, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind, verlieben sich in UNS?
Dann, glaubt mir, benötigen wir den obigen Segen John O’Donohues erst recht. Denn selbst wenn man glaubt, in sich selber aufgeräumt zu haben, selbst wenn man für die gute Vorbereitung in der Theorie sämtliche verfügbaren Bücher, Podcasts, Netzvideos etc. zum Thema Polyamory konsumiert hätte – auf die Wirklichkeit bereitet es einen am Ende eben doch nicht vor.

Nein, viel zu häufig holen uns gerade dann tief in uns schlummernde Zweifel ein. Und statt dem angestrebten Ankommen und dem „inneren Zuhause“ brechen Gefühle über uns hinein, die mehr einem zugigen „inneren Bahnsteig“ entsprechen – einem, wie der irische Philosoph es nannte, „Ort des Zwielichts“.
An diesem unangenehmen Ort stellen wir vieles in Frage: Haben die anderen vielleicht wirklich unser Herz aus den Augen verloren? Sind wir für sie nur so eine Art „Lebensdreingabe“, ein bequem zubuchbares „Feature“ ihres Beziehungs- und Liebeslebens, praktisch im Alltag und bereichernd im Bett? Sichern sich alle anderen stets die größeren Stücke vom gemeinsamen Kuchen, indem sie vorwitziger oder lauter sind als wir – und darum ihre Ansprüche ungenierter durchsetzen?
Haben wir uns da überhaupt aufrichtig auf das richtige Beziehungsmodell für uns eingelassen? Hätten wir nicht eventuell doch besser bei der guten alten Monogamie bleiben sollen – dann eben mit nur einem Partnermenschen, ganz für uns – das wäre doch wahrscheinlich schon genug Aufwand, Turbulenz und Herzflimmern gewesen, bloß dann lediglich einmal – und nicht, wie jetzt, gleich mehrfach…

Denn manchmal geraten wir bei mehreren Lieblingsmenschen ja sogar ganz buchstäblich „dazwischen“ (und in der Monogamie gibt es das so nicht – dafür aber nahezu in jeder Familie oder anderweitigen Form von Gemeinschaft): Wenn es zu Streit kommt, bei Loyalitätskonflikten – bzw. wenn wir uns zu irgendeiner Art von Parteiergreifung gedrängt fühlen, obwohl wir uns doch eigentlich nichts sehnlicher wünschen in so einem Augenblick als zurückkehrende Übereinstimmung und allseitiges Verständnis.

Wenn wir dann, wie zur Zeit (denn dies ist der Dezembereintrag), dazu auch noch an vielen Orten von hektischem Glitzer, harmoniebeschwörenden Klängen und dem alljährlichen Geschenkzwang zur wechselseitigen Aufmerksamkeitsbezeugung umgeben sind, dann können diese Fragen schon einmal über dem eigenen Kopf zusammenschlagen und der Ruf sowie unsere innere Stimme, die uns – in welcher Weise auch immer – auf den Mehrfachbeziehungsweg gebracht haben, werden so leise, daß sie nahezu verstummt scheinen.

Lange bevor wir erst eine Industrie- und dann eine Dienstleistungsgesellschaft mit ihren tausenderlei Produkten und Verbindlichkeiten im Außen entwickelten, muß unseren Vorfahren früher einst offenbar bewußter gewesen sein, daß wir Menschen keineswegs auf einen „inneren Knopf“ drücken können, um dann sogleich zu 100% als fertiges Produkt verbindlich marktreif zu erscheinen.
In ihren Legenden spielten indessen geheimnisvolle, mächtige mythische Figuren eine Rolle, die über unsere Lebenszeit herrschten, womit ich z.B. die Nornen meine, unheimliche Schwestern, von denen es hieß, daß sie unseren Lebensfaden spinnen, bemessen und abschneiden würden.
Die Germanen gaben ihnen seltsame Namen, die für uns heute düster und ungefügt klingen: Urd, Verdandi und Skuld. Dabei waren ihre Namen schlicht Programm, Marketing, würden wir jetzt sagen.
Denn an dem Wort „Urd“ kann man noch immer mit etwas Fantasie das heutige Wort „gewo(u)rden“ erkennen – die Norne „Urd“, „das Gewordene“ stand also für die Vergangenheit.
Mit der mittleren Schwester „Verdandi“ ist es etwas komplizierter – nicht mehr aber so sehr , wenn wir ihr „V“ durch ein „W“ ersetzen und dank Urd schon wissen, daß es um das Wort „werden“ geht. Diese Norne trägt in ihrem Namen nämlich dessen Partizip Präsens – und Präsens ist ja die Gegenwart: „Verdandi“ ist also „das Werdende“. Und zwar das Werdende, was JETZT gerade wird – also geschieht.
Bleibt noch die gute Skuld, der eine Verkürzung ihres Namens zuteil wurde, wahrscheinlich weil die grammatischen Formen von „werden“ bei den anderen beiden schon genug strapaziert waren. „Skuld“ bedeutete (ähnlich dem englischen „should“) „soll/te“ – womit gemeint ist, „was noch geschehen soll“, also die Zukunft.
Daher waren es gute, starke Namen von diesen Nornen, denen wir auch heute noch Beachtung schenken können: Das „Gewordene“ können wir nicht mehr ändern; auf das, was jetzt gerade wird, kommt es an, da können wir etwas tun – denn das, was die Zukunft ist…, das „soll“ erst noch kommen – und ist daher keinesfalls als gesichert oder unabänderlich zu betrachten.

Vor hunderten von Jahren hatten eben jene Nornen gerade zm Ende eines Jahres hin besondere Macht, weil unseer Vorfahren mit dem Geheimnis der Zeit noch eine andere Sitte pflegten, nämlich jene der sogenannten Rauhnächte. Vor exakten Kalendern und Uhren orientierte man sich zur Zeitmessung an Sonne und Mond, was allerdings das etwas unpraktische Problem aufwarf, daß ein Sonnenjahr 365 Tage hat und ein Mondjahr nur 354 Tage. 11 Tage blieben also dabei „dazwischen“ auf der Strecke.
Findig erkoren unsere Vorfahren diese 11 Tage zu „heiliger (Zwischen)Zeit“, fügten noch einen weiteren Auftakt-Feiertag hinzu – und glitten so ab der Wintersonnenwende bis ins neue Jahr „zwischen die Zeit“ – eine Periode, die sie durch Befreitheit von Arbeit dem Feiern und der inneren Einkehr widmeten (Übrigens ist das ebenfalls der Grund, warum wir heute noch manchmal diese Zeit nach Weihnachten als „zwischen den Jahren“ bezeichnen…).

Während wir uns also heute an unserer „inneren Bahnsteigkante“ daher oftmals wie zerrissen oder zweifelnd erleben, war „dazwischen Sein“ damals vielmehr etwas Besonderes, etwas Heilendes und etwas kosmisch Gutes.
Genau das ist es, was uns auch der Priester O’Donohue mit seinem keltischen Segen zusichern möchte: Diese „Zwischenzeit“ auszuhalten, noch genauer: in sich hineinzuhören und festzustellen, daß da gerade ein Wandel in uns im Werden (Verdandi!) ist, der uns für das bereit macht, was noch kommen soll (Skuld!).

Wir sollten aber auch unsere Zweifel ernst nehmen und sie ebenfalls zu dieser Übergangszeit als dazugehörig betrachten. Haben unsere Lieblingsmenschen unser Herz aus den Augen verloren?
Haben sie ihr Interesse an uns veringert – oder haben sie es gar verloren, weil wir uns gerade verändern?

Diese Fragen sind so gut wie wichtig, denn – passend zu meinem heutigen Thema – ist auch „Interesse“ unser Stichwort:
Das Wort, welches im Deutschen (laut Wiktionary) in etwa „Gefühl oder Einstellung, von etwas mehr wissen zu wollen“ bedeutet, setzt sich aus den beiden urspünglich lateinischen Wörtern „inter“ (= dazwischen) und „esse“ (= sein) zusammen. Es geht also schon wieder ums „Dazwischensein“! Die Römer nutzen „inter esse“ auch in dem Sinne „es ist von Wichtigkeit“ (ist ja klar, wenn man mehr wissen will…) – womit wir unsere Antwort gewissermaßen schon sogleich erhalten haben: Ja, wir sind wichtig.

„Wer in der Mitte der Dinge ist, gerät anderen schnell in den Weg“ besagt jedoch auch ein englisches Sprichwort – und macht damit auf die Ambivalenz und Herausforderung aufmerksam, die das „dazwischen Sein“ dabei zugleich mit sich bringt. Wie unsere eingangs erwähnten queeren Mitstreiter*innen bestätigen können: „dazwischen Sein“ ist eben nicht bequem.

Inmitten unserer Liebsten dürfen wir uns also allesamt immer wieder mit solchen existentiellen Fragen auseinandersetzen. Ganz ohne Beschwichtigungen wie „Das ist schon nicht so schlimm“ oder Abwiegelungen wie „Andere sind doch noch viel schlechter dran…“ oder gar Bevormundungen „Mir hat das nie etwas ausgemacht…“.
Über einer Einrichtung für behinderte Menschen an einem meiner vorherigen Wohnorte prangte mit etwas Selbstironie das von den Einwohner*innen selbst gefertigte Schild mit der Aufschrift „Niemand weiß, wie schwer die Last wägt, die ein anderer trägt“ – und ganz ohne grammatische Spitzfindigkeiten ist das ein Leitsatz für mich geworden, an den ich mittlerweile regelmäßig denke – gerade wenn im Zwischenmenschlichen mal die Wogen höher schlagen und man schnell versucht ist, zu den obigen Plattitüden Zuflucht zu nehmen.

Wir sind in unseren Beziehungen miteinander – aber dennoch ist jede* und jede*r von uns auch auf dem ganz eigenen Weg und in ganz eigener Weise dabei, zu dem ureigensten „Ich“ bzw. „Du“ zu werden. Wir können uns untereinander diese Aufgaben nicht abnehmen – aber wir können uns unterstützen. Und manchmal heißt das eben auch nur: Vor allem füreinander da zu sein – egal ob gerade dazwischen oder schon mittendrin.

Ich möchte den letzten Eintrag des Jahres 2024 darum auch mit einem weiteren Zitat John O’Donohues schließen, der so unglaublich mitmenschlich schrieb:




¹ aus: John O’Donohue, „Benedictus: Das Buch der irischen Segenswünsche“, Pattloch, München 2009

² aus: John O’Donohue, „To Bless the Space Between Us“, Convergent Books, März 2008

Danke an Magne auf Unsplash für das Foto!

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