Eintrag 110

Partner*innen-Wahl-Freiheit?

Der Februar ist traditionell der Monat der Reinigung – und selbst das lateinische Wort „februare“, von dem er seinen Namen erhalten hat, bedeutet genau das, nämlich „reinigen“.
Der Februar ist aber auch ein Monat der Extreme, so ist er z.B. nicht nur spätestens seit der gregorianischen Kalenderreform von 1582 sehr kurz – und damit oft schneller vorbei als gedacht – sondern auch sowohl dem erwähnten „Reinigen“ und innerer Einkehr gewidmet, als auch zuvor oft noch einmal Ausschweifungen leiblicher Art, woran heutzutage vielerorts Faschings- und Karnevalsbräuchen nach wie vor erinnern.
Beide Tendenzen – die Ausschweifung wie auch die (ernüchternde) Reinigung – waren früher sicher äußerst plausibel, wenn Menschen in ihren Behausungen über lange dunkle Wintermonate überwiegend müßig auf engem Raum miteinander ausharren mussten.

Doch auch dieser Tage – Hand aufs Herz – sind wir in unseren Beziehungen noch längst nicht gänzlich frei von beidem – und für Mehrfachbeziehungen gilt dies oftmals umso mehr.
Unsicher gebunden, wie viele von uns nun einmal leider aufgewachsen sind, stürzen wir in dieser Art häufig aufeinander. Unser Bedürftigkeitsdruck ist hoch – aber wir reden uns ein, daß es sich um rein zwischenmenschlichen Magnetismus und einen Ausdruck unserer persönlichen Freiheit handelt. Stoßen dabei vielleicht sogar eigene Werte zur Seite, für die wir gestern noch beide Hände und unser Gewissen ins Feuer gelegt hätten, schämen uns kurze Zeit später innerlich vor uns selbst – doch wie sangen schon David Houston und Barbara Mandrell bereits 1972: Wie kann es falsch sein – wenn es sich so richtig anfühlt?
So sind wir unsere schlimmsten Staatsanwälte – und zugleich, wenn es um unsere eigenen guten Gründe geht, auch unsere mildesten Richter…
Unsere Eltern, zum Teil Erzieher*innen und Lehrer*innen haben sich mit ihren eigenen Themen an uns abgearbeitet, zu einem Zeitpunkt, an dem wir längst noch nicht verstanden, was da eigentlich vorging, woher diese überschießende Energie und Heftigkeit herkam, die da ungebremst, ungeklärt an uns weitergereicht wurde. Und sollte es einen psychischen Energieerhaltungssatz geben, so wie in der Physik, – …und die Vermutung ist naheliegend – dann liebt, leidet und lärmt unsere Biografie fortgesetzt in allen unseren Beziehungen stets mit. Wirkmächtig in einer Art, von der es in der Astrologie über die Sterne heißt, sie würden zwar nicht zwingen – aber geneigt machen.

Als Säuge- und Hordentiere, als menschliche Wesen, bedürfen wir der Anderen; wir sind für unser Überleben, – aber fast ebenso stark – für unser soziales Wohlbefinden auf sie angewiesen.
Unsere Primatennatur läßt uns dahingehend vor allem durch Beobachtung, Anpassung und Nachahmung lernen – selbst die Dämmerung eines in der westlichen Welt sehr kopflastigen 21. Jahrhunderts kann dies nicht aus unseren Genen herausleugnen.
Und da stehen wir dann, mit unserem dahingehend lediglich bedingt freien Willen.

Und selbst für den liegt die Latte gar nicht mal so niedrig.
In der Ausgabe 4|2024¹ der Max Planck Forschung formuliert Herwig Baier (deutsch-amerikanischer Neurobiologe; Direktor der Abteilung Gene-Schaltkreise-Verhalten am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz): „Frei sein“ hieße, dass innere und äußere Einflussfaktoren an sie angepasste Verhaltensweisen auslösen würden, die nicht nur einem simplen Reiz-Reaktions-Muster folgten. In dem entsprechenden Artikel wird konkretisiert, daß daher ein Organismus dafür, um komplexe Entscheidungen sinnvoll treffen zu können, seine individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf haben müsste: Er müsse sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, sich auf aktuelle Anforderungen fokussieren und möglichst vorhersehen können, was seine Handlungen bewirken würden (Die Rede ist dabei übrigens nicht von außergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Marie Curie oder Nelson Mandela – sondern von Zebrafischen!).

Gut, daß die erwähnte Ausgabe 4|2024 unmittelbar darauf noch einen weiteren Artikel¹ in petto hat – in dem es zur Freude meines bLogs und seines Themas um unsere Freiheit in der „Partner*innenwahl“ geht.
Dort schränkt die Demografin Julia Leesch ein, daß es der medial vorgegaukelten Freiheit und einer vermeintlich großen Auswahl an potentiell zur Verfügung stehenden, kompatiblen, und für uns lediglich mit etwas Initiative aufzufindenden, weiteren Lieblingsmenschen zum Trotz, klare Faktoren für alle von uns geben würde, nach denen wir Partnerschaften eingingen – und daß wir dahingegend vor allem davon abhängig seien, welchen Menschen wir überhaupt (im Leben) begegneten. Sie ergänzt, daß es außerdem entscheidend sei, welche eigenen Präferenzen wir mitbringen würden – aber eben auch von welchen Personen unser Interesse letztendlich erwidert würde.
Viele Dating-Plattformen und -Apps böten z.B. einen relativ großen Altersabstand zu eindeutig jüngeren Suchenden an, um noch mehr „Auswahl“ zu suggerieren. Beim Abgleich mit der Realität gäbe es aber dann im „grünen Leben“ jedoch vergleichbar wenige tatsächliche Beziehungen, die einen höherem Altersabstand zwischen den Beteiligten aufweisen würden.
Das gleiche gelte für den Mythos der sich „anziehenden Gegensätze“, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Die überwältigende Mehrheit untersuchter Beziehungen aus über 199 Studien zeigten vielmehr eine große Bandbreite an Gemeinsamkeiten: „Menschen in Beziehung, die voneinander wirklich grundlegend unterschiedlich waren, gab es hier kaum.“ ²
Im Gegenteil. Die Studienlage würde sogar deutlich machen, daß der Umstand, ob wir uns eine Beziehung mit anderen Menschen vorstellen könnten, am Ende nicht etwa vorwiegend durch Ausstrahlung, Humor oder schöne Augen entschieden würden, sondern durch relativ unromantische Faktoren.
Diese lauteten übrigens oft: IQ, Bildungsgrad, sowie (hört, hört!) das Trink- und Rauchverhalten.
Was wir im Leben buchstäblich schon „er-lebt“ haben – und daher anstreben oder erst recht vermeiden wollen, spielt also eine sehr deutliche Rolle…

Insbesondere für ethische Mehrfachbeziehungen lieferten die Studien aus meiner Sicht noch weitere wichtige Erkenntnisse, denn – so Yayouk Willems weiter: „Auf Persönlichkeitsmerkmale wie die Frage, ob jemand eher introvertiert oder extrovertiert ist, kommt es anscheinend weitaus weniger an. Auch sie sei zwar auf den ersten Blick überrascht gewesen, doch inzwischen hielte sie das Ergebnis für nachvollziehbar. Menschen achteten wohl viel stärker darauf, wie man in einer Beziehung Zeit miteinander verbrächte und für welche Werte (!) die andere Person stehen würde. Unterschiede hingegen bei den spezifischen Charakterzügen könne man wohl eher ausgleichen.“
Was mich ganz klar an meinen 33. bLog-Eintrag erinnert, in welchem ich z.B. der Sängerin „Alice im Griff“ eine Stimme verlieh, welche damals ein tragisches Liebeslied zu einer zerstörerischen Grundwertediskrepanz mit ihrem Liebsten vertont hatte.
Ebenso hatte ich ja zuletzt in Eintrag 104 den US-amerikanischer Psychologen Steven Hayes zitiert, der unserem inneren Streben attestierte, daß „Werte der Ausdruck unseres individuellen Strebens nach Bedeutung und Sinn in unseren Leben“ seien. „Ein Grundbedürfnis, welches stets dann in Gefahr geriete, wenn wir bei dessen Erfüllungsversuch beginnen würden, äußerem „Sollen“ oder gesellschaftlich normiertem Streben den Vorrang vor Selbstbestimmung und einer (selbst)gewählten Qualität unserer Handlungen zu geben.“

Eigentlich sind wir mit der Wahl unserer Liebsten also in der Tat auf einer etwas chaotischen Suche nach einer Art „Wertegemeinschaft“. Eine weitere Max-Planck-Demografin, Nicole Hieckel, erklärt dazu, daß wir vielleicht in der Wahl unserer Partner*innen biografisch zwar nur bedingt frei seien, unsere Freiheit im Außen aber dennoch deutlich zugenommen hätte – was für die tatsächliche Gestaltung unserer Beziehungen geradezu „befreiende“ Wirkung zeigen würde – bei gleichzeitiger Zunahme der (oligoamor so wichtigen) Selbstverantwortung:
„Die Bedeutung der Beziehungen für die persönliche Entfaltung ist wichtiger geworden. Das verändert auch die Erwartung an eine Beziehung. Fühle ich mich meinen Partnern nahe? Spüre ich Wertschätzung? Insbesondere der Wunsch nach emotionaler Intimität hat heute einen deutlich höheren Stellenwert. Bleibt diese Erwartung unerfüllt, stehen die Zeichen für den Bestand einer Beziehung schlechter als in früheren Zeiten.“
Sie ergänzt hinsichtlich dieses Wertewandels und der damit einhergehenden Freiheit: „Viele Menschen haben heute stärker das Gefühl, dass die eigene Identität mehrere Dimensionen hat. […] Es haben sich gesellschaftlich alternative Räume aufgetan, in denen Menschen sich verwirklichen können. […] Für viele hat die Vorstellung, emotionale Nähe zu finden, immer noch einen hohen Stellenwert. Und auch dahinter steht heute eine Art von Selbstverwirklichung, die Menschen in der Vergangenheit nicht selbstverständlich zugestanden wurde.“

Die Max-Planck Journalistin Sabine Fischer, die den maßgeblichen Artikel, auf den ich mich hier beziehe, erstellt hat, folgert daraus, daß diese Selbstverwirklichung dadurch zu einer eigenen Form von Freiheit führen würde: Dass sich Beziehungsmodelle diversifizieren würden, sie dadurch neu ausgehandelt und individuell gestaltet werden könnten – wörtlich: „von polyamoren Beziehungen, bei denen die Beteiligten gleichwertige Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen führen, über gleichgeschlechtliche und offene Modelle, in denen Personen es einander gegenseitig erlauben, außerhalb der Beziehung Sex mit weiteren Personen zu haben.“
Dazu läßt sie die schon weiter oben benannte Demografin Nicole Hieckel nochmals zu Wort kommen, die sehr eindrucksvoll den Kreis von neuem Gestaltungsspielraum, Werteorientierung aber auch persönlich-biografischen Einschränkungen schließt:
Hier entsteht eine große Freiheit, weil der institutionelle Rahmen nicht mehr so gegeben ist und Partnerschaften stärker auf Aushandlungsprozessen beruhen.[…] Es könnte zugleich auch sein, dass weniger konventionelle Lebensformen den Menschen mehr Raum geben, sich selbst zu definieren. […] Eine Partnerschaft jenseits hergebrachter Normen und Praktiken auszuhandeln, sei es hinsichtlich sexueller Monogamie, einer geschlechtsunabhängigen Arbeitsteilung oder der Grenzziehung zwischen gemeinsamem und eigenem Eigentum, erfordert Ressourcen, allem voran Kommunikationsfähigkeit. Das ist anspruchsvoll, und da sind Menschen nicht mit den gleichen Kompetenzen ausgestattet. Freiheit heißt eben auch, dass jede* und jeder* eine große Verantwortung übernimmt, die eigene Beziehung nachhaltig zu gestalten.“

Nachdem Frau Hiecke auf diese Weise in einem Satz gleich mehrere oligoamore Basisvokabeln verwendet hat, traue ich mir ein eigenes Resümee (fast) gar nicht mehr zu.
Denn was unsere Beziehungen in der heutigen Zeit angeht – und auch unsere Perspektiven, diese mit mehreren Partner*innen zu führen, fällt doch sogar das Urteil der Wissenschaft etwas ambivalent aus.
Zumal wir dementsprechend wohl noch längere Zeit einen Balanceakt absolvieren müssen, zwischen einerseits unserem Wollen – aber eben gemäßigt durch das, was wir wirklich psychisch und emotional zu leisten in der Lage sind – und andereseits den verheißenen Möglichkeiten, die zugleich ihrerseits wiederum nicht gar so unbegrenzt sind, wie wir uns das eventuell gerne ausmalen würden.
Dabei werden wir, wie eine mehr oder weniger geübte Person auf einer Slackline, nicht nur bloß zwischen beiden Polen gelegentlich schwanken; wir werden manchmal sicherlich erstarren, weil wir den nächsten Schritt nicht wagen oder wissen – und wir werden auch im Extrem immer mal wieder auf der einen oder der anderen Seite schlicht herunterplumpsen. Wir werden auf diese Weise Hochgefühle erfahren, weil wir eine Weile rauschhaft glauben, das System gemeistert zu haben – um an einem anderen Tag dem furchtbaren uns äußerst ernüchterndem Gefühl erliegen, an uns selbst gescheitert zu sein…
Wobei weder das eine ein abschließender Sieg, noch das andere ein vollständiger Mißerfolg wäre, da nicht nur im Februar zum Menschsein eben beides gehört: Leidenschaftlicher Überschwang ebenso wie (Rück)Besinnung auf das Wesentliche.
Wichtig scheint mir, sich dabei immer wieder bewußt zu machen, daß wir uns selbst in beidem stets selber mitnehmen. So daß wir eben als innere Instanzen nicht nur eine strenge Staatsanwaltschaft und milde Richter benötigen, sondern vor allem gewissermaßen einen verständnisvollen (Rechts)Beistand in Form einer liebevollen (Selbst)Begleitung³, die sich unserer teils beschränkten, teil großzügigen Fähigkeiten und Ressourcen bei unserer oben erwähnten Suche nach emotionaler Nähe sehr bewußt ist.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems bezeichnete eingangs einige unserer ausschlaggebenden Beweggründe zur Partner*innenwahl als „nahezu unromantisch“. Die schönste Versinnbildlichung der Synthese, daß solch ein „unromantisch“ durchaus ganz und gar zutiefst romantisch daherkommen kann, ist für mich der folgende Dialog, der von Susan Sarandon (als Beverly Clark) und Richard Jenkins (als Privatdetektiv Devine) in dem Film Darf ich bitten? (2004) dargestellt wurde. Dort sitzen die beiden in einer Szene zusammen und es ergibt sich folgender Dialog [worin ihr die Worte „heiraten“ und „Ehe“ natürlich durch jede Beziehungsform ersetzen dürft, die ihr euch erhofft]:

Und in diesem Sinne wünsche ich uns allen, daß in unseren Leben nicht nur Staatsanwälte, Richter und Rechtsbeistände eine wichtige Rolle spielen, sondern hoffentlich auch vor allem diese guten Zeugen, die das Herz begehrt.




¹ „Max Planck Forschung“, Ausgabe 04|2024 „Hab ich die Wahl?“ insbesondere mit den Artikeln
„Ist das freiwillig?“ von Harald Rösch (S. 24 ff.) und
„Willst du mit mir gehen?“ von Sabine Fischer (S. 30 ff.)

² Quellen nur in englischer Sprache:
nature human behaviour – T. Horwitz, J. Balbona, K. Paulich, M. Keller: Evidence of correlations between human partners based on systematic reviews and meta-analyses of 22 traits and UK Biobank analysis of 133 traits (Published: 31 August 2023)
Previous version: Correlations between human mating partners: a comprehensive meta-analysis of 22 traits and raw data analysis of 133 traits in the UK Biobank (19 March 2022)
Summary: Opposites don’t actually attract (by Sciencedaily)

³ Auf die Wichtigkeit einer solchen „inneren Selbstbegleitung“ weist z.B. sehr stark die Traumatherapeutin Maria Sanchez hin, über deren Herangehensweise ich einiges vor genau einem Jahr in Eintrag 98 geschrieben habe.

Dank an Eli Pluma auf Unsplash für das Foto!

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