Warte mal!

Wenn es um Mehrfachbeziehungen wie in der Poly- und Oligoamory geht, gibt es ein Phänomen, mit dem wir dort überraschend regelmäßig konfrontiert sind: Dem Warten.
Warten z.B. auf unsere Lieblingsmenschen (egal, ob diese gerade auf der Anreise zu uns sind oder sich wie üblich beim Aufbruch drei Leute in einem viel zu engen Garderobenflur gegenseitig im Weg sind…), abwarten müssen, wie sich unsere Beziehungen miteinander entwickeln und hoffentlich festigen – aber natürlich auch vielfach: warten, ob überhaupt irgendwann einmal eine Mehrfachbeziehungssituation in unserem Leben eintreten wird.
Anläßlich des Podcasts „Zeitfragen“ auf Deutschlandfunk Kultur haben die Autor*innen Andrea und Justin Westhoff einen Beitrag¹ erstellt, bei dem sie viele maßgebliche Aspekte des Wartens ansprechen und aufzeigen, wie das damit verbundene Erdulden, Ertragen und Aushalten ganz verschiedene soziologische und psychologische Dimensionen aufweist. U.a. lassen sie den Soziologen Dr. Andreas Göttlich von der Universität Konstanz zu Wort kommen, der dazu konkretisiert: »Warten ist ein „Erleben von Zeit“ – und natürlich abhängig von äußeren Umständen, davon, wie und worauf man wartet. Damit kann man generell sagen, dass es ein Phänomen oder eine Verhaltensform ist, die ganz selten eigentlich wertneutral verläuft. Also Warten ist oftmals emotional aufgeladen, und „hoffen“ und „fürchten“ beschreiben eben solche emotionalen Aufladungen des Wartens, das hängt natürlich davon ab, wie wir das Erwartete dann bewerten.«
Im Bezug auf Mehrfachbeziehungen finde ich das Stichwort „Erwarten“ hier übrigens besonders erwähnenswert. Denn zwischenmenschlich wird in poly- und oligoamoren Zusammenhängen doch mittlerweile oft von den berühmten individuellen Bedürfnissen gespochen, bei denen das Eingehen von mehreren Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen womöglich helfen könnte, daß diese hoffentlich besser erfüllt würden. Dieses Narrativ ist in Mehrfachbeziehungskontexten so regelmäßig zu hören und zu lesen, daß es längst zu einer regelrechten „Erwartung“ innerhalb des Konzept geworden ist.
Und „Er-Wartung“ ist doch eigentlich der Sache nach eine etwas putzige Zielvorstellung, versuchen wir Menschen schließlich dort über eine Umstand aktiv die Oberhand zu gewinnen, dem wir der Natur nach in Wirklichkeit passiv ausgeliefert sind. „Er-Warten“, das klingt schon beinahe nach „Er-Arbeiten“ – einen ersehnten Zustand realisieren, den wir mit Warten anstreben, ja, am liebsten geradezu herbeiführen möchten.
Das Problem? Wir kennen es alle: Wenn Mitmenschen unsere Erwartungen dann nicht erfüllen, ist es für unseren Geist nahezu das Schlimmste, was sie uns antun können, denn hohe eigene Erwartungen führen nahezu unweigerlich zum Erleben von Frustration, die ich bereits in Eintrag 22 mithilfe des Brockhaus-Lexikon definiere als „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung, das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt.“
In unserer heutigen Zeit und speziell in westlichen Industienationen liegt das meist daran, daß wir mit der oft als fremdbestimmt wahrgenommenen Passivität des Wartens unsere Schwierigkeiten haben. Wir leben schließlich in einer Gesellschaft, in der Individualität, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit stark betonte Eigenschaften, beinahe schon verinnerlichte Grundwerte sind. „Warten müssen“ – selbst auf unsere Lieblingsmenschen – ist etwas, was wir daher schnell als Machtgefälle zu unseren eigenen Ungunsten empfinden. Für Mehrfachbeziehungen ist das ein heikler Umstand, denn „Warten müssen“ erleben wir heutzutage vorwiegend noch im öffentlichen Raum dort, wo z.B. Hierarchien bestehen: Bei der Arbeit, auf Ämtern – oder bei Fachpersonal (z.B. im medizinischen Bereich oder dem Einsatz von Handwerken). Und so gleichberechtigt wir wiederum unsere persönlichen Beziehungen auch führen möchten: Gänzlich frei von Wartezeiten werden diese wohl niemals darzustellen sein.
Wenn wir Beziehungen führen – und womöglich tatsächlich noch mehrere – gibt es darin allerdings womöglich durchaus Zeiten, in denen das „aufeinander Warten“ nicht unbedingt mit bloßer Ungeduld oder gar Machtspielen zu tun hat. Manchmal ist es schlicht so, daß man einerseits nicht weiß, was kommt, und andererseits keinen Einfluss darauf nehmen kann – und dann beginnt man – als Folge der Angst vor dem Unbekannten – sich Sorgen zu machen; ein Zustand, den die Psychologin Kate Sweeny, Professorin an der University of California in Riverside sogar als „toxisches Warten“ bezeichnet hat².
Wie sehr jede*r von uns unter solchen Situationen leidet – oder sie mit verhältnismäßig ausgeprägter Gelassenheit wegsteckt, hängt von unserer unterschiedlich ausgeprägten, individuellen „Wartefähigkeit“ ab.
Das berühmteste Experiment dazu ist wohl der weltweit bekannte psychologische „Marshmallow-Test“, den der US-amerikanischer Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel an der kalifornischen Universität Stanford zwischen 1968 und 1974 in vielen Variationen mit Vorschulkindern durchführte. Mischel wollte eigentlich den freien Willen erforschen, und die Impulskontrolle per „Belohnungsaufschub“, schien ihm ein gutes Messinstrument dafür. Tatsächlich ist es ein vielschichtiges Warteexperiment geworden, denn es erfaßte nicht nur die Zeit, die jedes einzelne Kind der Verlockung – allein mit einem Marshmallow in einem Raum (!) – widerstehen konnte, sondern dokumentierte auch ihre Wartestrategien. Den Kindern wurde nämlich zusätzlich versprochen, bei erfolgreicher Wartezeit einen zusätzlichen Marshmallow zu erhalten, ihre Belohnung also so zu verdoppeln. Maximal 15 Minuten wurden die Kleinen mit der begehrten Süßigkeit allein gelassen und dabei beobachtet: Jedes Vierte verputzte die Süßigkeit sofort, 30 Prozent schafften die volle Zeit. Alle versuchten, sich irgendwie abzulenken; einige liefen herum, manche versuchten zu schummeln.
Das Faszinierende waren jedoch vielmehr die Resultate von Nachbeobachtungen der erfolgreichen Proband*innen dieses Test noch Jahrzehnte später: Die geduldig Wartenden erwiesen sich in ihrem weiteren Leben insgesamt als stressresilienter und zeigten vor allem eine höhere Sozialkompetenz.
2014 wiederholte die Soziologin Bettina Lamm vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung der Uni Osnabrück das Experiment mit Kindern aus Deutschland sowie einer Vergleichgruppe von Kindern aus Kamerun, bei der sie für Deutschland Mischels Ergebnis von 30% „Testsieger*innen“ bestätigte – wohingegen die Kameruner allerdings mit sensationellen 70% an „Geduldigen“ abschnitten. Wie kam dies?
Die deutschen Kinder reagierten beim Warten – wie wir Großen wohl auch – überwiegend „normal-hibbelig“. Die Kinder aus Kamerun hingegen starteten jedoch sogar alle mit einer zusätzlichen gesellschaftlichen Einschränkung: Durch ihre erwachsenen Leitfiguren waren sie gewohnt, daß Versprechen ganz überwiegend im Normalfall nicht eingehalten wurden. Eigentlich hätten sie also verinnerlicht haben müssen, daß sich „warten (ohnehin) nicht lohnt“. Als man ihnen vor dem Test den zweiten Marshmallow jedoch bereits zeigte, wartete der erwähnte hohe Prozentsatz geduldig, spielend, singend oder plappernd auf das erfolgsverheißende Ende des Test.
Auswertungen ergaben, daß die kleine Geste des „Marshmallow-Zeigens“ offensichtlich eine enorme Verläßlichkeit der Versuchsleiter*innen demonstriert hatte, woraufhin die Kinder mit einem hohen Vorvertrauen reagierten.
Sozial gesehen, ist dies ja auch ein eindrucksvolles Versprechen von Verbindlichkeit: Sieh, ich bin vorbereitet/bereit und willens, gleich zu Deinem Bedürfnis beizutragen. Wenn ich dir den Einsatz deiner Zeit wert bin, erleben wir beide Zugewinn.
Spannenderweise konnte Bettina Lamm auf diese Weise Walter Mischels Ergebnis bezüglich Stressresilienz und Sozialkompetenz mit einer weiteren Ebene untermauern, die in meinen Augen eben auch für Mehrfachbeziehungen einen wichtigen Zusammenhang herstellt: „Warten (können)“ stellt in gewisser Weise bereits eine Vorstufe von Vertrauen in unsere Bezugspersonen und Lieblingsmenschen dar!
Mit den Worten von Bettina Lamm:
»Wenn man sich überlegt, dass diese Fähigkeit, ein momentanes Bedürfnis aufzuschieben und der Verlockung zu widerstehen, um an längerfristigen Zielen zu arbeiten, durchaus eine Fähigkeit ist, die man an vielen Stellen im Leben braucht. Wenn es darum geht, für eine Prüfung zu lernen, statt lieber der Freizeitaktivität nachzugehen oder auch vielleicht Probleme in der Partnerschaft: sich auseinanderzusetzen und nicht gleich auszubrechen aus dieser Situation. Also hat es durchaus eine Plausibilität.«
Persönlich würde ich für romantische Kontexte aufgrund dieses Ergebnisses sogar noch einen Schritt weiter gehen.
„Warten“ hat nämlich in seiner passiven Eigenschaft auch etwas mit „dienen“ zu tun, was wir an dem mittlerweile etwas altmodischen Wort „jemandem aufwarten“ (also: jemanden bedienen) noch erkennen können [im Englischen ist der Zusammenhang noch deutlicher bei den Worten für Kellner „waiter“ oder Kellnerin „waitress“ erhalten!]. Und dies bildet für mich quasi das wohltuende Gegenstück zum eingangs erwähnten, etwas aktiv-aggressiven „Erwarten“: Wenn wir einer Angelegenheit „dienen“, machen wir uns ein wenig kleiner, werden dadurch ein bißchen hingebungsvoller, aufnahmefähiger und weicher als zuvor. Ja, hier klingt auch die ebenfalls bereits erwähnte Hierarchie nochmal an (die ja früher beim „Aufwarten“ durch Bedienstete eine ganz reale war). In diesem Fall aber ist es ein frei- und bereitwillig geleisteter „Dienst“ für unsere Lieblingsmenschen, so, wie ich schon in Eintrag 34 darlegte, daß aus meiner Sicht »der Kern des „romantischen Narrativs“ das freiwillig für die Gemeinschaft erbrachte Selbstopfer« ist.
Und da es beim „Warten“ um persönlich aufgewendete (Lebens)Zeit geht, schließt sich hier für mich der Kreis, daß diese investierte Wartezeit ein vertrauensvolles Gegengeschenk für demonstrierte Verläßlichkeit, Beständigkeit und Selbstverpflichtung (commitment) unserer anderen Beziehungspartner*innen ist.
Der ganz und gar maßgebliche Schlüssel ist dabei eben genau die aufgebrachte Frei–Willigkeit, die ja sogar Walter Mischel mit seinem „Marshmallow-Experiment“ ursprünglich sichtbar machen wollte.
Dr. Andreas Göttlich von der Uni Konstanz nennt dies übrigens den „Gabentausch“, eine wichtige Form des zwischenmenschlichen Synchronisierens und damit eine soziale Fähigkeit von äußerst positiver Dimension: »Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden, denn wenn ich jedes Geschenk, was mir gemacht wird, unmittelbar vergüte, dann kommt eigentlich keine soziale Bindung zustande. Insofern wäre das ein Beispiel für eine soziale Beziehungsform, die nur Bestand haben kann, wenn eine gewisse Zeit involviert ist und wenn die entsprechend in dieser sozialen Aktion engagierten Personen auch warten können, sonst ist es nämlich kein Schenken, sondern einfach ein Geschäft.«
Ganz sicher allein schon deshalb bedenkenswert, weil doch leider nach wie vor sehr oft in den frühen Stadien polyamorer Beziehungen meist Ereignisse zu schnell oder zu zahlreich aufeinander folgen, was das nachhalige Aufwachsen vertrauensvoller Bindungen häufig über Gebühr belastet – zum Nachteil aller Beteiligten.
Der deutsche Aphoristiker Georg-Wilhem Exler sagte daher einmal recht passend, daß Warten bedeuten würde, daß das, worauf man wartet, wichtiger ist als das, was jetzt ist.
Ich höre da ganz viel von genau dem oligoamoren Mehrwert heraus, den ich auf diesem bLog stets mit dem „mehr als der Summe seiner Teile“ beschreibe – und den ich in Eintrag 9 als das Konzentrat eines gemeinschaftlichen Emotionalvertrags benenne, die »Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.«
Denn diese „Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“ sind eben auch nichts, was man sich wie aus einem Supermarktregal gleich in den Einkaufswagen packen kann, um es sofort zu konsumieren. Sie sind vielmehr wie Samen und Stecklinge für ein Gemüsebeet, die von allen Beteiligten gepflegt, gehegt, gegossen und regelmäßig von Unkraut befreit werden müssen, damit das Resultat schließlich alle Mitwirkenden ausreichend nährt. Bis es soweit ist, müssen wir immer wieder einmal warten, wechselseitig Lebenszeit hingebungsvoll investieren im (Vor)Vertrauen auf einen buchstäblich ersprießlichen, kommenden gemeinschaftlichen Ertrag.
Genau dies macht die ambivalenten Tugenden von Geduld und Warten-Können für ein Polykül auch so wertvoll, speziell wenn es darum geht, daß nach und nach mehrere Beteiligte Vertrauen in eine neue, bislang ungewohnte Situation fassen wollen.
Die schönste Zusammenfassung meines heutigen Themas hat für mich der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer ebenfalls mit so einem Erntebild beschrieben, welches ich zum Abschluß mit Euch teilen möchte:
»Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprößling setzte; aber die gierigen Augen werden nur allzuoft betrogen, indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün ist, und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was ihnen so Enttäuschung brachte.
Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.
Wer nicht weiß, wie es einem zumute ist, der bange ringt mit den tiefsten Fragen des Lebens, seines Lebens, und wartend, sehnend ausschaut bis sich die Wahrheit ihm entschleiert, der kann sich nichts von der Herrlichkeit dieses Augenblicks, in dem die Klarheit aufleuchtet träumen, und wer nicht um die Freundschaft, um die Liebe eines anderen werben will, wartend seine Seele aufschließt der Seele des anderen, bis sie kommt, bis sie Einzug hält, dem bleibt der tiefste Segen eines Lebens dieser Seelen ineinander für ewig verborgen.
Auf die größten, tiefsten, zartesten Dinge in der Welt müssen wir warten, da gehts nicht im Sturm, sondern nach den göttlichen Gesetzen des Keimens und Wachsens und Werdens.«³
¹ Deutschlandfunk Kultur: Soziales Alltagsphänomen – „Über das Warten“ 04.08.2016
² „Two definitions of waiting well“; February 2016; Kate Sweeny, Chandra A Reynolds, Angelica Falkenstein, Sara E Andrews, Michael D Dooley (Link leider nur auf Englisch!)
³ Dietrich Bonhoeffer: „Advent“ aus „Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931“, DBW Band 10, Seite 529
Danke an Maxim Abramov auf Unsplash für das Foto!