Eintrag 115

Sehnsuchtsvoll

Neulich schrieb mir jemand, daß „…über Sehnsucht in der Polyamorie viel zu wenig gesprochen würde“. Das finde ich tatsächlich auch – und möchte diesem gefühlsmäßigen Zustand daher in diesem Monat meinen bLog-Eintrag widmen.
„Gefühlsmäßiger Zustand“ sage ich – und bekenne damit sogleich, daß es sich bei unserer „Sehnsucht“ um eine dieser berühmten „Curry-Mischungen“, also einem „Mehrkomponenten-Gefühl“, handelt, wie ich es z.B. für die nicht nur wortmäßig verwandte Eifersucht, sondern auch den Neid in dem dort dazugehörigen Eintrag vor einigen Jahren bereits einmal formuliert hatte.
Denn auch in der Sehnsucht gibt es nicht bloß eine hauptsächlich vorherrschende Emotion, sondern sie besteht je nach Anlaß individuell zu verschiedenen Anteilen aus Empfindungen von u.a. Wehmut, Verlangen, Trauer, Hoffnung, Zugeneigtheit, Entsagung und sogar Schmerz, fein abgeschmeckt mit persönlichen Wünschen, Träumen und Projektionen.

Warum ist es bedeutsam, sich beim Thema ethischer Mehrfachbeziehungen auch mit Sehnsucht zu beschäftigen?
Nun, die vorhergehende Aufzählung betrachtend, fallen fast sämtliche ihrer Komponenten – oder ganz genau genommen sogar eigentlich alle – in das große, weite Kontextfeld romantischer Liebe. Mit der wichtigen Einschränkung allerdings, daß Sehnsucht, explizit betrachtet, sehr häufig eine Art „Meta-Stadium“ abbildet, da sie selbst nicht unbedingt einer echten, aktuell existierenden zwischenmenschlichen Verbindung bedarf – und dadurch gewissermaßen auch „einseitig“ auftritt, wie es ebenso z.B. bei Verliebtheit, Begehren, Trauer oder Neid der Fall sein kann.

Wir müssen also ein bißchen sortieren, wenn wir uns der Rolle von Sehnsucht in oligo- oder polyamoren Belangen annähern wollen – und das ist gar nicht so leicht, denn u.a. von Seiten der Wissenschaft gibt es spannenderweise bislang nur ganz wenige Versuche einer Annäherung überhaupt. Und das, obwohl Menschen weltweit Sehnsucht nach Personen, Orten, Dingen, ja, sogar Zeitabschnitten und Begleitumständen empfinden können.

Als ein wichtiges Merkmal der Sehnsucht bezeichnete zumindest Paul B. Baltes, ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin², beispielsweise deren Phänomen der „Dreizeitigkeit“.
Was ist damit gemeint? Nun, nichts weniger, als daß wir Sehnsucht nach etwas Verlorenem aus der Vergangenheit, etwas Beständigem aus der Gegenwart oder auch nach etwas noch nicht Erfülltem in der Zukunft empfinden können. Ich kann also einem Polykül nachtrauern, von dem ich einst Teil war (Vergangenheit), könnte meine derzeitigen romantischen Partner*innen vermissen, weil diese gerade vielleicht an einem anderen Ort sind als ich (Gegenwart) – oder mich nach einem weiteren Lieblingsmenschen für eine Mehrfachpartnerschaft sehnen, den ich noch zu finden hoffe (Zukunft).
Was alle drei Zeitebenen im Hinblick auf die Sehnsucht eint, ist die Gemeinsamkeit, daß es jedesmal um einen als akut unerreichbar empfundenen Zustand geht: Die Vergangenheit kann ich nicht zurückgewinnen, in der Gegenwart ermangelt mir etwas Konkretes (woran im „Normalzustand“ kein Mangel besteht), hinsichtlich meiner Zukunft habe ich noch unerfüllte Wünsche und Vorstellungen.

Speziell darauf bezogen definierte die Forscher*innengruppe um Paul Baltes² noch ein weiteres inhärentes Merkmal der Sehnsucht, nämlich das der „bittersüßen Gefühle“. Schon oben bei der „Curry-Mischung“ können wir feststellen, daß in der Sehnsucht sowohl positiv wie auch negativ besetzte Empfindungen enthalten sind. „Sehnsucht“ verfügt also über die Besonderheit, daß wir in ihr Freude und Schmerz gleichzeitig erleben können. Denn obwohl die Vergangenheit vorbei ist (schmerzlich), bringt uns die Sehnsucht als Reminiszenz mit der erlebten bzw. erinnerten Freude des damaligen Zustands in Kontakt (freudig). Auch für die Gegenwart ist das so, denn die Sehnsucht macht uns z.B. auf das gerade-nicht-Vorhandensein eines Umstands (schmerzlich) aufmerksam, weil wir im Vergleich genau wissen, wie sich das Vorhandensein (freudig) anfühlt. Und ebenso ist es mit der Zukunft, in der wir in unserer Projektion einen bereichernden Zustand erträumen (freudig), der zum jetzigen Zeitpunkt nicht verwirklicht ist (schmerzlich).

Und bereits nach diesen wenigen Absätzen sind nun schon fast alle maßgeblichen Parameter für die Ambivalenz der Sehnsucht in Mehrfachbeziehungskontexten enthalten – und weitere überraschende Parallen zur Eifersucht tun sich auf:

Ähnlich der Eifersucht kann Sehnsucht eine Größenordnung erreichen, welche für das Individuum und seine Beziehung(en) ungesund wird. Im Englischen z.B. gibt es keine direkte Entsprechung zum deutschen „sehnen“. Die noch verwandtesten Begriffe „desire“, „craving“, „yearning“, und „longing“ betonen hingegen stärker das, was wir hierzulande „Verlangen“ nennen würden (an „longing“ ist die direkte etymologische Verwandtschaft sogar noch gut zu erkennen).
Und nicht nur sprachlich ist der Schritt von „Ich habe Verlangen nach frischen Brötchen…“ zu „Ich verlange frische Brötchen…!“ klein – verändert aber die Energie und Strategie des verfolgten Bestrebens (zumal für die Umstehenden) sehr…
Beim „emotionalen Maßhalten“ sind wir Menschen daher häufig etwas wackelig aufgestellt, insbesondere wenn auch noch hormonelle (Selbst)Belohnungen damit verbunden sind. Dies betrifft vor allem jedwede verflossene Vergangenheit, in deren rückblickend bewerteter „heiler Welt“ wir uns hemmungslos verlieren können und ebenso die Zukunft, für die wir ein unerreichbar überidealisiertes Wolkenschloß nach dem anderen ersinnen – und beide Projektionen halten uns damit so verläßlich wie tragisch von einem präsenten Dasein in der dagegen oh so banalen Gegenwart ab.

Womit wir sogleich bei einer weiteren Eigenschaft sind, die Sehnsucht und Eifersucht (und auch Neid) teilen: Dem (Abwärts-)Vergleich.
Speziell, weil die Sehnsucht die Komponente „subjektiv gefühlt“ enthält, kann sie so enorm viel Kraft entfalten, daß wir diese manchmal nachgerade wie ein Ziehen in der Brust verspüren. Dabei muß aber eben der Vergleich mit dem Gegenwartsmoment gar nicht realistisch sein – entweder war früher eh „alles besser“ oder das, was noch kommt, wird das Jetzt sicher locker übertreffen – zumindest in unseren Vorstellungen… Und gemäß dem Sprichwort „Das, was du fühlst, ist immer richtig – aber nicht immer wahr…“ ³ können wir uns leider auch in solch einem Labyrinth aus Vergleichen verlieren, wenn wir es nicht mehr aus eigener Kraft zurück zu einer realistischen Lageeinschätzung schaffen.

Bei den beiden vorhergehenden Absätzen habe ich jedesmal von Vergangenheit und Zukunft gesprochen – wie steht es dagegen mit der Gegenwart ?
Genau dort liegt meiner Ansicht nach das wirkliche Potential der Sehnsucht – ebenso wie das der Eifersucht. Letztere habe ich in meinem damaligen Eintrag als „Motorkontrollleuchte der Beziehung“ bezeichnet: Ein (eher) allgemeines Warnsignal, dessen präzise Ursache im Fall des Aufleuchtens genauer bestimmt werden muß.
Diese Rolle kommt meiner Ansicht nach auch der Sehnsucht zu, wenn wir sie in unserem Alltag verspüren – allerdings nicht so sehr in Bezug auf unsere Beziehungen nach außen, sondern vor allem angesichts der Beziehung zu uns selbst. Insbesondere, was den Stand unserer Bewusstheit hinsichtlich der eigenen Realität im Vergleich zu unseren Erwartungen angeht – also einer Art „Bestandsaufnahme“: Bin ich auf dem richtigen Weg? Was fehlt in meinem Leben? Wohin soll es gehen? Stimmen meine Lebensziele noch mit meinen Bedürfnissen überein?

In der Gegenwart empfunden, hat Sehnsucht also ihre wirkliche Sternstunde, weil sie dort als Impuls zu erhöhter Achsamkeit dient, von welcher unsere emotionale Intelligenz profitieren kann – und das wiederum wäre tatsächlich ein echter Bonus in Bezug auf unsere zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit.
Wodurch das Mehrkomponentengefühl „Sehnsucht“ zu einem echt starken Curry geraten könnte, als Antrieb, um unseren innigsten Wünschen auf dieser Ebene wirklich näherzukommen.

Persönlich – und als Autor dieses bLogs – möchte ich dabei zugleich auf eine weitere Komponente jedweder Sehnsucht hinweisen, nämlich dem in ihr enthaltenen Bewußtsein von Vergänglichkeit (wodurch sie auch für die romantische Literatur so attraktiv wurde…).
Und auch hier sind wieder beide Seiten enthalten, denn natürlich ist Vergänglicheit und die stete Erinnerung daran, daß manches Prozesse irgendwann für immer abgeschlossen sind und das Wissen um unsere zeitliche Begrenztheit schmerzhaft.
Zugleich ist dies aber auch genau eine weitere freudvolle Stärke von Sehnsucht, weil sie auf diese Weise für uns zu einem Antrieb geraten kann, die Dinge doch noch rechtzeitig anzupacken.

Vor über sechs Jahren, als ich diesen bLog konzipierte, schrieb ich auf meiner Hauptseite zu der Beschreibung des Oligoamory-Symbols folgende Zeilen, von denen ich auch im Zusammenhang mit den hoffnungsvollen Aspekten der Sehnsucht bezogen auf Mehrfachpartnerschaftlichkeit nach wie vor zutiefst überzeugt bin:

»Wir Menschen existieren raum-zeitlich in einer sowohl begrenzten wie auch vergänglichen Welt.
Unsere Ressourcen und unsere Energien, unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere Zeit, und damit auch unsere Beziehungen und unsere Leben, sind endlich.
Diese „Endlichkeit“ – und der Beginn des 21. Jahrhunderts macht dies in vielerlei Hinsicht deutlich – legt uns Menschen dadurch ein sowohl sorgsames als auch nachhaltiges Haushalten mit unseren vorhandenen Schätzen substantieller wie ideeller Natur nahe.
Das Bewußtsein der allgegenwärtigen Endlichkeit hat in menschlichen Gruppen schon immer das faszinierende Talent von Aufteilung, gemeinschaftlichem Nutzen, und Optimierung des Vorhandenen hervorgerufen.
Dabei zeigt sich weltweit wie auch in unseren kleinsten Gemeinschaften, daß wir dabei immer dann besonders erfolgreich sind, wenn wir von einer reinen Verteilungsgerechtigkeit hin zu einer möglichst individuellen Bedürfnisgerechtigkeit gelangen.
Die Oligoamory möchte zu der achtsamen Annahme dieser Lebensprinzipien für das Führen von in Liebe gegründeten Mehrfachbeziehungen einladen.«


Dem eingedenk, fällt mein heutiges Fazit daher trotzdem insgesamt positiv aus – was bei einem Romantiker und Idealisten wie mir aber auch nicht weiter verwunderlich ist:
Sehnsucht ist ein äußerst intensives Gefühlsgemisch, das uns oft an unsere innersten Wünsche und Träume erinnert. Sie kann uns dadurch sowohl schmerzen als auch inspirieren, uns mit beiden Impulsen anspornen, neue Wege zu gehen und das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfahren. Indem wir unsere Sehnsüchte letztendlich wahrnehmen und anerkennen, öffnen wir uns für die Möglichkeit, das, was wir suchen, auf verschiedene Weisen zu finden – und in unseren Strategien flexibel zu bleiben.
Denn letztlich ist es die Reise durch die Sehnsucht selbst, die uns lehrt, das Hier und Jetzt zu schätzen und währenddessen auch die gegenwärtigen Freuden des Lebens zu umarmen.

PS: Setzt doch in diesen letzten Absatz statt „Sehnsucht/Sehnsüchte“ mal „polyamor sein“ oder „oligoamor sein“ ein…



¹ aus „Hymne“, geschrieben 1800 von Friedrich von Hardenberg (1772 – 1801), bekannt als Novalis, erschienen in Geistliche Lieder, als Nr. VII, erstmals gedruckt von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck 1802 (sämtliche Herren waren Romantiker, selbstverständlich…)

² Scheibe, S., Freund, A. M., & Baltes, P. B. (2007). Toward a developmental psychology of Sehnsucht (life longings): The optimal (utopian) life. in Developmental Psychology, 43(3), 778–795.
Die „6 Kernmerkmale“ von Sehnsucht wurden von Baltes‘ Mitarbeiterin Prof. Dr. Alexandra M. Freund vom psychologischen Institut der Universität Zürich noch einmal in diesem Fachartikel konkret benannt.

³ Dieses Zitat stammt übrigens von dem Autor und Coach Tim Schlenzig, der die Persönlichkeitsentwicklungsplattform myMONK gründete.

Danke an Muse Nina für die Inspiration zu diesem Eintrag und ebenfalls Dank an Smiln32/Carla Bosteder auf Pixabay für das KI-generierte Foto!