Wie war das mit der Polyamory? – oder –
Warum es die Oligoamory gibt

Am Strand des entlegenen Eilands der Oligoamory sitzend, schaue ich regelmäßig hinaus auf die Gezeiten des weiten Beziehungsozeans, der die zahlreichen Inseln des vielgestaltigen Archipels der Polyamory umspült. In letzter Zeit hat der Bootsverkehr dort draußen tatsächlich ein wenig zugenommen – wobei ich nun immer wieder Flöße, Kanus und ganze Schiffe entdecke, die unter ihrem Namensschild die Kennung „CNM“ oder auch „ENM“ tragen. Es dauerte eine kleine Weile, bis ich herausfand, daß diese Kürzel, die ja meist angeben, wo das entsprechende Fahrzeug registiert ist – quasi „unter welcher Flagge“ es unterwegs ist – für „konsensuelle Nicht-Monogamie“ (aus dem Englischen: „Consensual Non-Monogamy“) und sogar für „Ethische Nicht-Monogamie“ stehen.
„Aha“, überlege ich, „da ist eine Entwicklung im Gange – weitere Gäste im Archipel!“
Neugierig wie ich bin – und auf meinem Eiland mit ein wenig Muße gesegnet – beobachte ich die bunte Schar der Neuankömmlinge mit gewohntem Forscherdrang. Wobei mir nach einiger Zeit Muster aufzufallen beginnen, bei denen ich mich frage, ob die Besatzungen der entsprechenden Schifflein wirklich einen bewußten Kurs hier in die Gewässer der Polyamory eingeschlagen haben – oder was der eigentliche Grund ihres Hierseins sein könnte. Denn an ihren Schiffsbewegungen ist manches so eigentümlich, daß zwar noch erkennbar ist, daß es an Bord wohl noch mehr oder weniger eindeutig um eine Form „offener Beziehung“ geht, es jedoch mit dem Konsensuellen oder gar Ethischen allerdings – zumindest von meiner Beobachterposition aus – deutlich unklarer bestellt zu sein scheint.
Eine Weile denke ich noch: „Hey, es sind moderne Zeiten, das sind junge Leute mitten im Leben, es ist doch verständlich, daß sie auf ihre Weise die polyamoren Wellen reiten müssen.“ – habe ich doch selber oft genug in diesem bLog-Buch geschrieben, daß Mehrfachbeziehungen doch auch zum eigenen Alltag passen sollen…
Doch dann wiederum, als es da draußen schließlich vorhersehbar zu den ersten Beinahe-Karambolagen und Verletzten kommt, bin ich tatsächlich versucht, ein Leuchtfeuer zu entzünden, aus einigen Kanistern vielleicht wenigstens ein paar Bojen zu improvisieren, um den Leutchen da draußen zumindest einen Anhaltspunkt zu geben, wie sie besser ihren Kurs halten könnten. Und dann fällt mir ein, daß ich ja selbst kaum über irgendwelche maritime Ausbildung verfüge und in erster Linie Forscher und Beobachter sein wollte, wodurch ich auf das beschränkt bin, was ich seit über sechs Jahren mit einigermaßener Hartnäckigkeit tue: Auf das Eiland der Oligoamory aufmerksam machen und Flaschenposts mit Einträgen dieses bLog-Buchs dem Meer anzuvertrauen.
Nun, so sei es.
Zwei Fahrstile, die ich zunehmend beobachte – und warum ich sie für einen ungünstigen Kurs halte:
1) „Serielle Polyamory“
Das Phänomen der seriellen Polyamory wird schon von E. Rickert und F. Veaux 2014 in ihrem Polyamory-Buch „More than Two“ ¹ beschrieben. Eigentlich hören sich schon die beiden Begriffe im Zusammenhang paradox an. Seriell Beziehungen führen könnte man doch auch in einem monogamen Modell? Bzw. noch besser: Das ist doch quasi monogam – oder? Jein. Rickert und Veaux weisen auf diese Art nicht-monogamer Beziehungsführung u.a. in dem Kapitel hin, in dem sie über das Ende von Beziehungen sprechen. Was ja auch bei Mehrfachbeziehungen der Fall sein kann, da alle Dinge im Leben eben endlich sind.
Die persönliche Identifikation mit einer Lebensweise ethischer Mehrfachbeziehungen ermöglicht dadurch aber nun tatsächlich eine Vorgehehensweise, die es ja theroretisch gestatten würde, daß alle jemals eingegangenen romantischen Beziehungen nebeneinander weiterbestehen dürften (im Gegensatz zur „seriellen Monogamie“, die quasi eine Kette von nach und nach „aneinandergereihten“ Einzelbeziehungen darstellen würde).
Doch auf diese Weise wäre es leider auch möglich, sich nie wirklich mit dem Enden einer einmal eingegangenen Beziehung auseinanderzusetzen!
Solch ein „Drumherumkommen“ wird für das eigene Gewissen zusätzlich oft durch die Verquickung mit dem von mir so oft kritisierten, falsch angewendeten „Bedürfnismodell“ gerechtfertigt und für das eigene Gewissen erleichtert: Da Partner*innenmenschen zur Erfüllung verschiedener Bedürfnisse aufgenommen werden (…weil ja niiiiiiie nur ein Mensch alle eigenen Bedürfnisse erfüllen kann… [meine Kritik an diesem System zieht sich durch diesen gesamten bLog!]), weiß man ja nicht, wann einen vielleicht wieder die Sehnsucht nach Ostafrikareisen, Kitesurfen, Fusion-Küche oder BDSM packt – also, selbst wenn das eigene Interesse gegenwärtig an einem dieser Schwerpunkte (und der anhängigen Partner*innenperson, mit der man dieser Sache nachging) gerade nachläßt: Ab auf’s Regal damit, falls einen irgendwann im Leben doch einmal wieder das „Bedürfnis“ danach überfällt – da wäre es ja schön blöd, den ensprechenden Menschen völlig aus dem Leben zu verbannen. „Wir bleiben in Verbindung, sind ja in polyamorer Beziehung, gerade vertiefe ich aber die Beziehung mit XYZ (hier bitte aktuelles Interesse und zugehörige Erfüllungsgehilf*in einsetzen), so cool, daß du weiter zum Kreis meiner Lieblingsmenschen zählst, weiß du , nicht wahr…?“ heißt es dann am Ende – welches auf diese Weise, geschickt ausgespielt, kein eindeutiges Ende ist – obwohl es das faktisch höchstwahrscheinlich doch ist.
Um Augenhöhe und Respekt gegenüber der Partner*innenperson, die auf solche Weise „ins Regal“ gewandert ist, kann man sich so geschickt herumlavieren – und auch – was für die Psyche der beteiligten Personen noch viel bedeutsamer ist – um den ach so lästigen Trauerprozess, wenn Zeiten, Dinge und Gemeinsamkeiten einmal enden.
Apropos „Regal“… Dieses Phänomen hat ja mittlerweile längst einen Namen, der für ein bestimmtes Datingverhalten in der Monogamie ironisch zweckentfremdet wurde: „Benching“ heißt es neudeutsch (von Englisch „bench“ = Bank / Sims) und steht für soviel wie „auf die Bank verschieben“ / „warm halten“ (die Metapher stammt ursprünglich aus dem Sportbereich). Denn ehrlicherweise ist es genau das. „Drum‘ prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bess’res findet“ sagt das Sprichwort – und „Benching“ ist schlicht die Taktik, eine (bloß) einigermaßen interessante Person „auf der Ersatzbank“ bzw. „im Regal“ zu deponieren (und sie dort „in Reserve“ zu halten), um hoffnungsvoll zugleich nach etwas noch Kompatiblerem weiterzusuchen. Serielle Polyamory ist exakt das gleiche Vorgehen, übersetzt in die Welt der nicht ganz so ethischen Mehrfachbeziehungen; dort, wo die „vielen Lieben“ niemals enden müssen…
2) „Parallele Polyamory“
Noch häufiger als die Boote, die auf dem seriellen Kurs fahren, begegnen mir in letzter Zeit verstärkt solche auf Parallelkurs. Auch dort erlebe ich zur Rechtfertigung immer wieder das oben erwähnte „(Pseudo)Bedürfnismodell“: „Warum Fritzi mit zum Kitesurfen nehmen, wenn Fritzi Kitesurfen nicht mag? Da gehe ich mit Skylar hin, habe eine gute Zeit – und Fritzi darf sich in der Zeit anderen Dingen widmen – ist doch quasi win-win-win…“
Dabei bleibt es allerdings nicht:
„Und Fritzi quatscht mir und Skylar auf diese Weise nicht in unser Kitesurfen rein – und wenn ich mit Fritzi im Modellbahnkeller abhänge, dann weiß Skylar, daß mal ein paar Stunden Funkstille ist, weil sie*ihn das ja auch nicht wirklich was angeht, was wir da tun.“
Nachgefragt heißt es dann „Also wenn sich Skylar echt versuchen würde, sich irgendwie während der Modellbahnzeit aufzudrängen, dann wäre das schon ’nen Hinweis auf ’ne Art eifersüchtiges Machtspielchen..“ „Ja, voll bedürftig und ’nen Hauch koabhängig…“
Aber kein Problem – auch das kann Parallel-Polyamory regeln: Um so etwas Unnötiges im Keim zu verhindern, brauchen sich die betroffenen Leutchen ja nicht einmal zu kennen! Flugs auf der Wikipedia-Seite zu Polyamory nachgeschaut, ob man damit noch im „grünen Bereich“ wäre…: Cool ja, da steht bloß was von „einvernehmlich“ (also „konsensuell“) und etwas von „transparent“ (also „klar, offen, nachvollziehbar“).
Klasse, also alles richtig gemacht: Ich hatte mich damals mit Skylar geeinigt, daß wir unsere Beziehung für weitere romantische Partner*innenschaften öffnen wollen (✔️Check: konsensuell!)
UND als ich die Liebesbeziehung zu Fritzi aufgenommen habe, habe ich sowohl Skylar darüber informiert, daß ich jetzt noch mit Fritzi eine romantische Beziehung führe – und natürlich habe ich Fritzi schon beim Verlieben gleich darüber ins Bild gesetzt, daß es in meinem Leben schon eine romantische Beziehung mit Skylar gibt (✔️Check: transparent!).
Tatsächlich wurde mir sogar neulich von einem der Boote, welches einem Riff an der Küste des oligoamoren Eilands gefährlich nahekam – und dessen Besatzung ich dringlich nahelegte, daß doch um Himmels Willen für eine bessere Verständigung alle Besatzungsmitglieder einander unbedingt kennenlernen sollten – zurückgebrüllt: „Wo steht das, daß sich alle kennen müssen? Gar nichts steht da…!“
Und, verflixt und zugenäht: Recht hatten sie, während sie in den stürmischer werdenden Wind drehten – und ich stand am Strand, rang die Hände, die bestätigenden Fakten auf dem regennassen Tablet studierend – und sogar verzweifelt noch Morning Glory Zell-Ravenhearts polyamores Erstlings-Manifest „A Bouquet of Lovers“ ª von 1990 aufrufend, wo – wie konnte das wahr sein??? – auch nichts davon stand…
Ich musste erst mit einem heißen Earl Grey in der Hand und einem Handtuch um die Schultern (und im Kreis meiner Lieben) wieder in meiner Biosphäre sitzen, bevor ich meine Gedanken sortieren konnte.
Denn natürlich stand da nichts davon.
Weil Morning Glory und Oberon Raven-Zell es nicht als notwendig erachtet hätten, dazu ein Wort zu verlieren.
Denn sie waren Zeit ihres Lebens von Gemeinschaft, von ihren Lieblingsmenschen, umgeben. Alles, was sie dachten, taten und umsetzten, geschah vor einem Kontext von Zugehörigkeit und Gemeinschaftlichkeit, der für sie bereits viel weiter zurückreichte, als das Konzept der Polyamory selbst.
Seit meinem 26. Eintrag beklage ich mit der Anthropologin Jean Liedloff² und dem Erziehungswissenschaftler Daniel Hess³ die moderne „Trennungsrealität“ unserer westlichen Industriegesellschaft. Worin wir unser eigentlich gesamtheitlich angelegtes Dasein „kompartmentalisieren“, d.h. in Einzelaspekte auftrennen, um diese für uns im Alltag besser beherrschbar zu halten. Doch schon in Eintrag 6 versuche ich mit einer sinnbildlichen Geschichte darzulegen, daß wir im Reich romantischer Liebesbeziehungen dahingehend immer wieder an jene Grenze des ursprünglichen „Kontinuums“ stoßen, die deutlich macht, daß es Aspekte des Menschseins gibt, die sich einem solchen „Splitting“ einfach nicht ohne Weiteres unterwerfen lassen.
Morning Glory und Oberon Raven-Zell war das sehr bewußt. Morning Glory hatte dies in ihren spirituellen, neopaganen Ritualzirkeln erfahren, Oberon über die Bücher des Science-Fiction-Autors Robert Heinlein (dazu insbesondere mein Eintrag 49 zur „Geschichte der Polyamory“): Menschen in Beziehung sind eben keine Inseln mehr oder Soloinstrumente. Sie vereinen sich zu einem Zusammenklang, wodurch sie einen Schritt von ihrer Individualität zurücktreten, um gemeinschaftlich etwas zu wirken, was schließlich mehr als die Summe der beigetragenen Teile ergibt.
Für Morning Glory kam diese Erfahrung aus ihren Hexenzirkeln, wo mittels der Gruppenenergie unter den Worten „Vollkommene Liebe und vollkommenes Vertrauen“ buchstäblich die (bestehende) Wirklichkeit verändert werden konnte (und sei es ganz praktisch bei Aktionen für die Freiheit der Frau oder der Blockade einer Atomanlage).
Für Oberon waren es die einleuchtenden Schilderungen Heinleins, wie Lebewesen unter widrigen Umweltbedingungen Lapalien wie ethnische Herkunft, begütertes Aufwachsen oder Bildungsgrad beiseite schoben, um angesichts von Mangel und Hindernissen zusammenzuwachsen, Zugehörigkeit zu entwickeln und erstaunlichen Mehrwert zu generieren.
Als er und Morning Glory schließlich 1962 ihre erste eigene Gruppenform mit der „Church of All Worlds“ (Kirche aller Welten) gründeten, übernahmen sie darum sogar einige von Heinleins Formulierungen aus dessen Roman „Fremder in einer fremden Welt“ (1961): Die „Wassergeschwisterschaft“ (eine Wahl von quasifamiliären Zugehörigen mit denen man buchstäblich lebensnotwendige Grundlagen teilt) z.B. – und die „Nester“ als Oberbegriff für die sich ausbildenden Gruppenstrukturen. Wobei wir in Deutschland speziell dort genau hinsehen müssen, denn „Nest“ assoziiert hierzulande hauptsächlich ein einigermaßen gesichertes und gemütliches Gebilde worin sich einige niedliche Küken befinden. Das tut es zwar im englischsprachigen Raum auch – geht mit der Verbform „to nest / being nested“ noch deutlich darüber hinaus, da dies soviel bedeutet wie „verwoben/verflochten“.
Womit sich für mich der Bogen schließt, daß wir in romantischen Liebesbeziehungen unsere Leben miteinander verbinden und verflechten. Um wieviel mehr gilt dies also hinsichtlich Oligo- und Polyamory, den wirklich „ethischen“ Mehrfachbeziehungen, wenn sie diesen Namen verdienen?
Als Morning Glory Zell-Ravenheart (dazu auch Eintrag 113) daher schließlich erstmals das Wort „polyamor“ für Mehrfachbeziehungskontexte verwendete, war das „Verbundensein“, die Zugehörigkeit und das „einander Kennen“ bereits ein inhärentes Merkmal. Denn die Polyamory sollte gerade für solche Fälle – wie ich es auf diesem bLog schon einmal nannte – eine „Möglichmachung“ sein, wenn in Zirkeln, Kreisen, Gruppen oder „Nestern“ – in denen sich ja alle Beteiligten nichtsdestoweniger bereits kannten und gemeinschaftlich agierten – Liebesbeziehungen zwischen „mehr als nur zwei“ Teilnehmer*innen zu knospen begannen (oder zwischen mehr als denen, die rechtlich legitimiert vielleicht schon verbunden waren).
„Einander kennen“ oder „Kennenlernen“ ist – und war schon immer – damit in meiner Lesart und nach meinem Verständnis ein weiterer Grundpfeiler der Polyamory, der dicht vor allem neben denen der erwähnten Transparenz, der Einvernehmlichkeit und damit auch der Aufrichtigkeit steht.
Parallelität ist für mich daher ein Derivat, einerseits ein Preisgeben an das Verhängnis unserer (Trennungs)Gegenwart – aber andererseits auch oft ein unbewußtes Bequemmachen gegenüber der Aufforderung zur Arbeit an unserem Selbstkonzept, welche nach Morning Glory und Oberon Zell-Ravenheart mittels der Selbst-Aktualisierung nach Abraham Maslow ebenfalls Teil der Polyamory werden sollte.
Gleichwürdigkeit, Augenhöhe, Toleranz, Empathie und Solidarität? Polyamore Tugenden die sowohl für unsere Partner*innenmenschen gelten sollten – als auch auf uns, als Teil der gleichen (Mehrfach)Beziehung, von diesen zurückwirken, auf daß alle Beteiligten davon profitieren.
Ursprünglich in das Polyamory-Gebäude eingezogen als Werte der humanistischen Psychologie mit der Erkenntnis, daß beim Streben nach dem idealen Selbst jede*r Hilfe benötigt, um sein volles Potential auszuschöpfen (Carl Rogers: „On Becoming a Person“, 1961).
Genau diese Hilfe sind unsere Liebsten, die aus uns das Beste, was wir zu geben haben herausholen.
Denn nur gemeinsam wachsen wir über uns hinaus und schaffen für uns alle eine Welt voller Liebe und Verständnis.
¹ Eve Rickert und Franklin Veaux: „More Than Two: A Practical Guide to Ethical Polyamory“, Thorntree-Press 2014
² Jean Liedloff: „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit “, C.H. Beck, 2005
³ Daniel Hess: „Glücksschule – Glücklich leben & freudvoll lernen“, Novum Verlag, 2014
ª Der Text des „Bouquet of Lovers“ ist hier leider nur in englischer Sprache verfügbar.
Danke an Eila, Rosalie und Stefan für die Inspiration – sowie Elsemargriet auf Pixabay für das Foto!

