Bedürfnisse – Reloaded

In meinem vorhergehenden Eintrag habe ich – wie schon verschiedentlich auf diesem bLog zuvor – mein Bedauern darüber ausgedrückt, daß zur Begründung des eigenen Wunsches nach einem Leben in Mehrfachbeziehungen und Polyamory aus meiner Sicht zu häufig ein „falsch aufgefasstes Bedürfnismodell“ herangezogen wird.
Daher bin ich auf die dahinterliegende Interpretation von Bedürfnissen ebenfalls immer mal wieder punktuell in verschiedenen Einträgen dieses bLogs eingegangen.
Da mir dieser Komplex allerdings als eine regelmäßig wiederkeherende und zentrale Themenstellung in der Polyamory erscheint, will ich mit diesem Eintrag hier noch einmal meine Position dazu gesammelt festhalten.
Zunächst möchte ich dazu erneut betrachten, was denn genau ein „Bedürfnis“ ist – und wie es in den Kontext der Polyamory Eingang gefunden hat.
»Unter einem „Bedürfnis“«, so sagt es die deutsche Wikipedia, »versteht man in der Alltagssprache ein Verlangen, einen Wunsch, Ansprüche oder etwas zum Leben Notwendiges, meist Materielles. In der Psychologie wird Bedürfnis oft definiert als Zustand oder Erleben eines Mangels, verbunden mit dem Wunsch, ihn zu beheben oder als das Verlangen oder den Wunsch, einem empfundenen oder tatsächlichen Mangel Abhilfe zu schaffen.«
Wissenschaftlich indessen rückten „Bedürfnisse“ erstmals substantiell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Fokus der psychologischen Forschung, als die US-amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Abraham Maslow und Carl R. Rogers sich bei der Entwicklung der modernen postiven Psychologie (Maslow ab 1954) und einer echten, personzentrierten Psychotherapie (Rogers ab 1957) mit dem Selbstkonzept sowie den dazugehörigen, inneren Motivationen, (An)Trieben und Neigungen ihrer Patienten auseinandersetzten.
Abraham Maslow strukturierte aus dieser Forschung die gewonnenen Erkenntnisse schließlich sogar in der später nach ihm benannten „Maslowschen Bedüfnispyramide“, durch die er darstellen konnte, daß innerhalb der menschlichen Bedürfnisse teilweise Hierarchien von Notwendigkeit bestehen – wie z.B., daß zunächst essentielle Grundbedürfnisse zur Aufrechterhaltung des Lebens gedeckt seien müssten (Atmung, Wärme, Wasser Nahrung, Schlaf, Schutz) um erst darauf aufbauend danach zu streben, sozialen Bedürfnisse (z.B. Zugehörigkeit, Kommunikation, Gemeinschaft etc.) oder solchen der Selbstverwirklichung (z.B. Unabhängigkeit, Freiheit, Kreativität etc.) nachzukommen.
In Kooperation mit einem Schüler von Carl Rogers, dem Psychologen und Kommunikationsforscher Marshall B. Rosenberg zeichnete sich auf diese Weise schließlich die Qualität menschlicher Bedürfnisse als universell (allen gemeinsam), unabhängig von Zeiten (Epochen), Orten (Regionen, Kulturen) und Personen (Subjektivität) ab.
Bedürfnisse stellten sich demnach als Ausdruck zugrunde liegender, elementarer Gefühle dar, die anzeigen, daß Bedürfnisse erfüllt sind bzw. Gefühlen, die anzeigen, daß dies nicht der Fall ist.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich vermutlich niemand so sehr fortgesetzt mit dieser identifizierten Quelle der Bedürfnisse und ihren Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben wie der erwähnte Marshall Rosenberg¹. Rosenberg stellte fest, daß der Vermittlung von Bedürfnissen insbesondere in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine grundlegende Rolle zukommt, der individuelle Versuch des Ausdrucks dieser Bedürfnisse aber häufig durch ungünstige, sozial tradierte Muster (z.B. Sprachgebrauch) regelmäßig auch zu Mißverständnissen und Krisen beitrug.
Als eine mögliche Herangehensweise zur Beilegung und potentiellen Verhinderung solcher Krisen entwickelte Rosenberg ab 1963 sein Lebenswerk: Das Modell der „Gewaltfreien Kommunikation (GFK)“ : ein auf Freiwilligkeit beruhendes Kommunikationskonzept mit dem Ziel, menschliche Beziehungen in einer Weise zu entwickeln, dass die Betroffenen spontan und gerne zum gegenseitigen Wohlergehen beitragen.
Den letzten Satz im Ohr, war der Weg von hier in die Polyamory kurz. Etliche gemeinschafts- und kooperationsorientierte Initiativen griffen ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts immer regelmäßiger auf die „Gewaltfreie Kommunikation“ als entwicklungsbegleitendes Hilfsmittel zu. Über die Verwendung in Bildungseinrichtungen, Beratung, Therapie, Mediation und Coaching wurde sie so schließlich ab Mitte der 90er auch bereits Teil des „polyamoren Werkzeugkastens“ – insbesondere als Teil einer auf Augenhöhe und Friedfertigkeit angelegten Gesprächskultur in romantischen Mehrfachbeziehungen.
So weit, so gut.
An dieser Stelle kurz ein „Disclaimer“ meinerseits: Etliche Jahrzehnte später gibt es durchaus berechtigte Kritik sowohl an der Methodik der „GFK“ selbst als auch an der Persönlichkeit Marshall Rosenbergs. Dieser war im Detail sicher selber kein „Heiliger über den Dingen“ und auch nicht frei von eigenem Anspruchdenken. Die „GFK“ als Instrument ist eine Kommunikationsform, die, wie jedes psychologisch-zwischenmenschliche Medium, Aufmerksamkeit, Schulung und Übung benötigt – und andernfalls Manipulation und mißbräuchlichen Einsatz ermöglichen kann. Dieses ist mir vollständig bewußt, in all den Jahren, in denen ich mich selber mit dem Modell beschäftigt habe. Die wissenschaftlichen Grundlagen der zugrundeliegenden Bedürfnislehre nach A.Maslow und C. Rogers sind allerdings valide, ebenso die inhärente Mechanik bei besonnener Anwendung.
OK. Wodurch wir also schon mit dem Aufblühen der Polyamory im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch bereits die berühmt-berüchtigten „Bedürfnisse“ mit an Bord und im Gespräch miteinander haben…
Was ja genau genommen eine gute Nachricht ist, wenn wir wissen, daß Bedürfnisse uns allen gemeinsam sind und wir über diese unsere Gefühle mitteilen können. Rosenberg selbst sagte sogar einmal „Bedürfnisse sind das Leben, das in uns nach Ausdruck sucht“.
Dazu sind zwei Grundlagen allerdings noch einmal ganz wichtig:
Zum einen müssen wir verstehen, Neigungen, Wünsche und Strategien von „Bedürfnissen“ zu unterscheiden.
Denn zum anderen sind Bedürfnisse auf diese Weise „kleinste gemeinsame“ Bausteine des eigenen Selbstausdrucks.
Diese beiden Säulen sind extrem wichtig, wenn man verstehen möchte, was ich eingangs mit dem „falsch aufgefassten bzw. falsch angewendeten Bedürfnismodell“ meine.
Wenn wir eine Neigung, einen Wunsch oder sogar schon eine Strategie (also eine Herangehensweise) in uns spüren, ist es für die Funktionsfähigkeit des Modells – und um nicht manipulativ zu sein! – von größter Relevanz, herauszufinden, was auf der untersten, echten Bedürfnisebene dahintersteht.
Beispiel in meinem letzten Eintrag (welches ich gerne nutze…) „Kitesurfen“.
Aber es gibt natürlich kein „Bedürfnis nach Kitesurfen“… Jedoch: „Kitesurfen“ erfüllt hingegen eine ganze Gruppe von damit im Zusammenhang stehenden, echten Bedürfnissen², die da z.B. lauten könnten „Bewegung“, „Freiheit“, „Stärke“, „Mut“, „Spontaneität“, „Glück“, „Überraschung“, „Leidenschaft“, „Aktivität“, „Selbstgefühl“, „Wachheit“, „Leichtigkeit“ und „Vergnügen“. Und falls wir es gar mit anderen zusammen betreiben, erfüllt es vielleicht auch noch „Zugehörigkeit“, „Geselligkeit“, „Freundschaft“, „Gemeinschaft“, „Vertrauen“, „Toleranz“, „Verständnis“, „Offenheit“, „Aufgeschlossenheit“, „Bestätigung“, „Begeisterung“, „Unterstützung“ und „Zusammenarbeit“…
Wow! Das alles kann „Kitesurfen“ für uns tun???
Genau – richtiger gesagt: Zu all dem kann „Kitesurfen“ bei Dir beitragen. Beziehungsweise noch präziser formuliert: das alles kannst Du für Dich tun, wenn Du mit Deinen Freunden zum Kitesurfen gehst!
Und exakt dies ist der Punkt, warum ich gewissermaßen seit 1997 sauer auf die Autorinnen Dossie Easton und Janet Hardy bin, die in ihrem ansonsten recht brauchbaren Buch über Schlampentum³ erstmals in publikumswirksamen Umfang jenes unglücklich-unsägliche Narrativ verbreiteten, …dass ja zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse niiiiiiemals nur ein einzelner anderer Mensch (wie in der pfuipfui exklusiven Monogamie) ausreichen würde…
Ein Narrativ, welches seitdem in seiner unerträglich stereotyp wiederholten Redundanz daher auch noch in die aktuellsten Werke und Ratgeber rund um das Thema Polyamory Eingang gefunden hat (2022 gerade erst wieder sogar in Jessica Ferns „Polysecure“ ª) – und welches auch in Interviews und Netzvideos allzeit gerne angebracht wird, weil es scheinbar so schön folgerichtig klingt (übernommen u.a. auch von Esther Perel in mehreren ihrer Talks).
„Na gut, Oligotropos…“, könnte man mir ja jetzt entgegen halten. „Es mag ja sein, daß wir uns selbst mit ‚Kitesurfen‘ einige Bedürfnisse aus den Bereichen Individualität und Selbstverwirklichung erfüllen. Aber in der Polyamory geht es ja um Menschen und ihre Beziehungen untereinander. Was ist mit den ganzen von Dir aufgezählten sozialen Bedürfnissen? Dafür brauchen wir doch die anderen Menschen (und Beziehungen) beim Kitesurfen, damit diese unsere von Dir erwähnten Bedürfnissen wie Zugehörigkeit, Geselligkeit, Freundschaft, Gemeinschaft, Vertrauen, Toleranz, Verständnis, Offenheit, Aufgeschlossenheit, Bestätigung, Unterstützung und Zusammenarbeit erfüllen – denn alleine könnten wir das ja wohl nicht…?“
Jein. Womit wir nämlich wiederum bei den Strategien wären. Denn „Kitesurfen“ ist, wie wir ja an der Summe der dadurch bedienten Einzelbedürfnisse sehen können, definitiv eine solche „Strategie“. Wir hätten stattdessen aber auch zu Tanta Erna zum Kaffee fahren können und hätten dort mit ihr Geselligkeit, Gemeinschaft und Bestätigung erfahren können. Oder zu einem Meeting in der örtlichen Bibliothek für Toleranz, Offenheit und Aufgeschlossenheit. Oder auch nur einen Schwatz mit dem Nachbarn halten, um wenigstens Zugehörigkeit in unserem Kietz zu erfahren.
Fun fact: Aus diesem Grund gilt übrigens auch „Sexualität“ (die ja in vielen Diskussionen oftmals als unbedingtes Grundbedürfnis ins Feld geführt wird!) als „Strategie“. Sexualität erfüllt nämlich auch gleich ein ganzes Bündel von Bedürfnissen, die da sein könnten, wie z.B. „Nähe“, „Zuneigung“, „Wärme“, „Zärtlichkeit“ sowie „Liebe“. Und da das Stichwort „Grundbedürfnis“ fiel müsste man dort fairerweise von der Basisfunktion her schauen und sagen: „Ok, die dahinterliegenden, ursprünglichen Grundbedürfnisse lauteten originär ‚Reproduktion/Vermächtnis‘…“.
Um uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen, können wir also verschiedene Strategien wählen, von denen uns sogar mehrere auf unterschiedliche Weise helfen, unser Ziel zu erreichen.
Und auch das ist hinsichtlich des besagten „unglücklich-unsäglichen“ Narrativs von großer Bedeutung.
Rosenberg selbst sagte dazu: „Auch wir selbst wissen nie, was wir genau wollen, bis wir es bekommen.“ Ein höchst wichtiger Satz – denn er ergänzte an anderer Stelle ebenfalls, daß alle übrigen Mitmenschen ansonsten ja „einen magischen Gedankenlese-Rubin in ihrer Stirn benötigten“ um ganz genau zu wissen, was wir bräuchten. Den haben sie aber nicht – und sogar wir selbst müssen das Ergebnis unserer eigenen Wünsche und Strategien ganz genau genommen tatsächlich erst einmal hinsichtlich der Wirkung auf uns selber abwarten(!), um zu erkennen, ob wir sie richtig gewählt haben, wenn sie dann zu unseren Bedürfnissen wirklich beitragen – oder eben nicht.
Genau darum kann niemand anders als wir selbst wählen, ob wir lieber zu Tanta Erna fahren oder mit den Freund*innen zum Kitesurfen – wir wägen ja für uns ab, wo wir die bestmögliche Deckung unseres inneren Bedürfnismixes vermuten – und stürzen uns danach frohgemut ins feucht-windige Abenteuer.
Und nach dem Kitesurfen müssten wir über diese erfolgte oder nicht-erfolgte Bedürfnisabdeckung zur Erfolgskontrolle zurück auf unsere Gefühlsebene: Wie fühle ich mich denn jetzt? Glücklich? Euphorisch? Ärgerlich? Traurig? Oder gar beschämt? Nicht denken! Fühlen!!!
Für Marshall Rosenberg war es daher bedeutsam, Bedürfnisse in Form von Bitten ausdrücken zu können. Er nannte das „auf unsere Bedürfnisse aufmerksam machen“. Und es war ihm außerdem wichtig, daß es in so einem Abgleich normalerweise im Ideal möglich sei, den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden.
Die größten Pannen identifizierte er deswegen dort, wo es darum geht, wie man von anderen Menschen das empfängt, was den eigenen Bedürfnissen förderlich sein kann. In einem Moment der Bedüftigkeit sei ja oft die subtile Botschaft „Ich leide, weil eines meiner Bedürfnisse nicht erfüllt wird.“ Weil aber niemand anders als nur wir selbst tatsächlich unseren emotionalen Mangel fühlen könnten, würde beim Gegenüber in erster Linie meist lediglich der unwillkürliche Drang ausgelöst „diese Person wieder in Ordnung zu bringen“ – wodurch häufig Mißinterpretationen und Mißverständnissen sowie ungünstigen Strategien des Beitragens Tür und Tor geöffnet wären.
Speziell bei Letzterem sehe ich leider auch regelmäßig in Diskussionen und Unterhaltungen unter polyamoren Personen, wie dieser emotionale Schmerz instrumentalisiert wird, um die anderen Prozeßbeteiligten zum Beitragen zu bewegen. Plötzlich werden aus dem Wunsch nach bestimmten sexuellen Praktiken und sogar aus dem Streben nach Polyamory daselbst ein „Bedürfnis“ formuliert (so wie „Kitesurfen“…) – meist leider mit der Absicht, indem das eigene Ansinnen brechstangenartig als „Bedürfnis“ in der Art eines unveräußerlichen Grundrechts präsentiert wird, die unabdingbare Erfüllungspflicht durch die anderen Parteien einzufordern. Was – wenn man mir bis hierher textlich gefolgt ist – genau eine gewaltsame Umkehr der tatsächlichen Verantwortlichkeit betreffs der Bedürfniserfüllung ist. Es ist aber gleichzeitig auf diese Weise deutlich zu erkennen, was unbewußter, emotionaler Schmerz, der so in eine Beziehung getragen wird, anrichten kann.
Und es gibt noch eine Sache mehr, die das Hardy-Easton-Narrativ auslöst. Ein Phänomen, welches leider sehr in unsere Gegenwart paßt – welches ich aber als Oligotropos, Ersinner der „verbindlich-nachhaltigen Mehrfachbeziehungen“ ebenfalls als bedenklich erachte.
Indem die verantwortungsumkehrende These aufgestellt wird, dass niiiiie nur ein Mensch zur Erfüllung all unserer Bedürfnisse da sein kann, wird indirekt zu dem aufgefordert, was ich seit Eintrag 2 als „Pokémon-Polyamory“ bezeichne: Sich „ein Tierchen für jedes Plaisirchen“ zu suchen, so daß durch das Beitragen der unterschiedlichen Personen ein größtmöglicher Bedürfnismix in uns abgedeckt werden kann.
Dieses Verhalten habe ich auf diesem bLog mehrfach kritisiert, weil ich darin die Gefahr von Utilitarismus (zweckorientierte Nutzethik) und Kompartmentalisierung (Aufspaltung in [genussorientierte] Einzelaspekte) unserer Lieblingsmenschen und Liebsten sehe.
Ich nehme aber noch eine andere Problematik wahr – und diese betrifft genau das oligoamore Nachhaltigkeitskriterium: Es gibt – wie gesehen – kein universelles Menschheitsbedürfnis nach „Kitesurfen“. Genausowenig wie ein universelles Grundbedürfnis „Mit einem Sportwagen durch Paris zu fahren, den Wind im offenen Haar“. Es gibt ebensowenig ein „Bedürfnis nach BDSM“ wie „Den Friedensnobelpreis zu erhalten“. Daher gibt es auch keinen Anspruch auf Erfüllung solcherlei „Bedürfnisse“, schon gar nicht, weil es sonst ja womöglich gar nicht zumutbar wäre, ein brauchbares menschengerechtes Leben zu führen… Denn Bedürfnisse sind (nur) ein lebendiger Ausdruck unserer inneren emotionalen Landschaft, keine Berechtigungsscheine.
Das Narrativ falsch angewendeter Bedürfniserfüllung verführt zu einem extrem konsumorientierten Denken – genau aufgrund der oben dargelegten Verantwortungsumkehr – daß uns dieses Dasein, die Welt im Allgemeinen und speziell all die anderen Menschen (darunter natürlich insbesondere die uns nahestehenden Liebsten!) doch schließlich irgendwie die Verwirklichung dieser Dinge schuldig sind. Daß es demgemäß nur eine Frage des richtig zusammengestellten Bedürfniserfüll-Mixes wäre, daß all diese Möglichkeiten doch in unserer Reichweite lägen…
Pustekuchen.
So ist es nicht. Solch ein Anspruchsdenken ist – wie gezeigt – sowohl von der Ansatzseite der Grundüberlegung her als auch bezüglich der Verantwortungszuordnung verkehrt – und für unseren Planeten genau die Katastrophe, die sich abzuzeichnen begonnen hat.
Es ist nichtsdestoweniger richtig, daß wir alle in unserer Menschenfamilie die gleichen Bedürfnisse haben, ja. Daß wir sie aber immer alle vollständig erfüllt bekommen ist (abgesehen hoffentlich von den Basis-Grundbedürfnissen) so unwahrscheinlich wie unrealistisch – und eben auch in keiner Weise für Mutter Erde machbar.
Um unser aller Wohlergehen halber, um das von uns selbst, von unseren Liebsten und dem ganzen wundervollen Rest – bitte ich darum Euch alle da draußen: Erlaubt Euch, Eure Gefühle zu fühlen. Fühlt sie ganz. Nehmt Eure Bedürfnisse wahr, die daraus entspringen und stellt Euch der Verantwortung, selbst für Euch und diese zu sorgen. Macht auch auf Eure Bedürfnisse aufmerksam – denn nur Ihr seid es, die sie wirklich wahrnehmen könnt, sowohl in Art als auch Ausmaß. Dann tragt wechselseitig zu ihrer Erfüllung bei, mit trial and error – so gut Ihr es vermögt.
Doch bitte wählt Strategien, die nachhaltig sind; nicht die, die ein unstillbares Begehren in ein unendliches Außen projizieren – sondern solche, die auf innerem Wachstum und Verständnis basieren, die die Verbindung zu Euch selbst und zu anderen stärken und ein harmonisches Miteinander hervorbringen. Solche, die darauf abzielen, innere Zufriedenheit und Selbstakzeptanz in Euch zu finden. Wählt Wege, die echte Verbindungen schaffen und – anstatt materielle Bedürfnisse zu befriedigen – die Kommunikation und Empathie in den Mittelpunkt stellen.
¹ Einer der bekanntest Live-Vorträge Marshall Rosenbergs zur „Gewaltfreien Kommunikation“ befindet sich in englischer Sprache auf „Häppchen“ aufgeteilt auf Youtube. Über Bedürfnisse im GFK-System spricht er ab Teil 2.1. – Auszüge verlinke ich hier:
2.1 – Needs Part 1
2.2 – Needs Part 2
3.1 – How to receive
3.2 – What is alive?
4.3 – The urge to fix a person
4.4 – The shift of responsibility
4.5 – How to contribute
Eine kurze Beschreibung des Konzepts der Gewaltfreien Kommunikation ist bereits auf diesem bLog verfügbar in Eintrag 20.
² Eine ausführlichere Listenübersicht mit Gefühlen und Bedürfnissen zur Selbstbeschreibung findet sich z.B. HIER (gfk-plus.net)
³ Schlampentum: Die Queer-Community hat sich das ursprünglich negativ (im Sinne von „unmoralisch“) konnotierte Wort zu Eigen gemacht. Heute steht es als Begriff für Menschen, die nicht in das hetero- und mono-normative, genderstereotype Spektrum fallen, insbesondere promiskuitiv-sexpositive Personen, die autonom über ihre Sexualität bestimmten.
Janet W. W. Hardy & Dossie Easton: „The Ethical Slut – a guide to infinite sexual possibilities“, Greenery Press 1997
Deutsch: „Schlampen mit Moral: Erweiterte Neuausgabe: Warum es an der Zeit ist, Sex und Liebe neu zu denken – wie Polyamorie, offene Beziehungen und andere Abenteuer gelingen können“, mvg-Verlag 2020
ª Jessica Fern: „Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Non-monogamy“, Scribe UK, 2022;
Deutsch: „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“, divana-Verlag, 2023
Danke an TANYA LAYKO auf Unsplash für das Foto und Mike Oldfield für seinen ikonischen Song „(Never going to get) To France“ (1984)

