Eintrag 2

Rückantwort an das Archipel der Polyamory

Liebe*r Freund*in,

Du fragtest mich, warum ich das vielgestaltige Archipel der Polyamory für ein bislang unbekanntes Eiland verlassen habe.
Zunächst einmal möchte ich Dich beruhigen, indem ich ja nicht aus der Welt bin, da meine neue Wirkungsstätte – entlegen wie sie auch sein mag – doch Teil Deines Archipels ist und bleibt.
Gleichzeitig möchte ich Dir ausführlich Antwort auf Deine Frage geben, da diese Angelegenheit für mich natürlich ebenfalls erhebliche Bedeutung hat:

Abgesehen von der mittlerweile etwas inflationären Anwendung des Begriffs „Polyamory“ auf doch recht unterschiedliche Erscheinungsformen und Lebensweisen von Mehrfachbeziehungen (was ich in Eintrag 1 kurz skizzierte), sind aus meiner Sicht auch dem polyamoren Kernbereich selber im 21. Jahrhundert vor allem drei problematische Aspekte entsprossen, die für Beziehungsmenschen meiner Art gegenwärtig regelmäßig wiederkehrende Stolpersteine dieser gesamten Beziehungsphilosophie darstellen.
Und diese neuralgischen Punkte hängen dabei auf gewisse Weise sogar miteinander zusammen.

1) Sexualität als wichtigstes gemeinschaftsstiftendes Hauptinteresse:
Diesem Absatz muß ich zuvor schicken, daß ich keineswegs „sexnegativ“ bin – ich selber schätze, genieße und praktiziere Sexualität in mancherlei Formen, und insbesondere meine Hochsensibilität läßt mich dabei regelmäßig grandiose Höhenflüge mit meinen Lieblingsmenschen erleben.
Was mich hinsichtlich der Polyamory aber immer wieder irritiert, ist die selbst in ernstzunehmenden Foren und Fachaufsätzen regelmäßig beschworene Betonung von gelebter Sexualität als essentiellen und unveräußerlichen Bestandteil der polyamoren Lebensweise.
Diese Betonung wird insbesondere meist dann besonders hervorgehoben, wenn die wichtige Rolle polyamorer Denkweise und Lebensart hinsichtlich der individuellen sexuellen Befreiung und der anhängigen Relevanz von diesbezüglichem moralischen Nonkonformismus Nachdruck verliehen werden soll. Diese Relevanz, die also genau genommen ein soziopolitisches wie kulturpolitisches Argument aus den Wurzeln des Feminismus wie auch der „Freien-Liebe-Bewegung“ ist, kann aus meiner Sicht in gelebter Anwendung in sich anbahnenden Liebesbeziehungen jedoch zu Verwicklungen führen.
Einmal ganz platt darin, indem „Poly-Amory“ als „Viele-Lieben“ dann als „Mit-Vielen-Liebe-machen“ mehr im Sinne von Promiskuität vor allem quantitativ ausgelebt wird.
Was wiederum in etwas abgeschwächter Form dazu führen kann, daß Sexualität in der Polyamory dann zum wichtigsten „gemeinschaftsstiftenden Hauptinteresse“ geraten kann, was in Folge so gewissermaßen als früh initiierter „Türöffner“ bzw. „Kompatibilitätstest“ auf potentielle Liebespartner*innen angewendet werden könnte.
Wiewohl ich ja selber oben erwähnte, daß gemeinschaftliche Sexualität etwas sehr schönes und bereicherndes sein kann, besteht für mich auf diese Weise das Risiko, daß auch das partnerschaftliche Interesse dann oft nicht weiter gehen wird als bis auf die rein sexuelle Ebene. Und selbst wenn dies für alle beteiligten Parteien völlig in Ordnung ist, habe ich damit trotzdem folgende zwei Probleme:
a) Für serielle bzw. parallel sexuelle Verbindungen ohne zusätzliche Beziehungsdimensionen braucht es keine (pseudo-)Legitimation durch eine so komplexe Beziehungsphilosophie, wie Polyamory es sein kann. Offene Beziehungen, Swinger-Arrangements, und Gelegenheits-Dating decken diesen Bereich bereits seit Jahrzehnten etabliert ab – also nennt die Dinge doch bitte bei ihrem richtigen Namen.
Sexualität als Hauptmerkmal der Polyamorie hervorzukehren, sorgt indessen vor allem für fragwürdige mediale Aufmerksamkeit – und dortige anhaltende Begriffsvermischung.
b) In einem solchen Arrangement kompartmentalisiere ich genau genommen meine Partner*innen, indem ich sie auf ihre sexuellen Aspekte reduziere. Womit ich also nicht mehr die Person als Ganzes anspreche. Dadurch erhöht sich meiner Meinung nach die Gefahr von Serialität bzw. Austauschbarkeit, wenn z.B. Attraktivität oder Leistung nachlassen, da die Beziehung eben vor allem auf diesem Teilzweck aufbaut. Und dies wäre für mich ein höchst unethischer Umgang mit meinen etwaigen Partner*innen – und ich selbst möchte natürlich ebenfalls von meinen Lieblingsmenschen keinesfalls so gesehen oder gar behandelt werden wollen.

2) Bedingungslosigkeit und Bedürfnislosigkeit:
Selbst die Wikipedia-Artikel nennen derzeit „nicht-besitzergreifendes Verhalten“ als günstige Grundvoraussetzung einer funktionierenden polyamoren Lebensweise. Dies wird allerdings oftmals mit „Un-Bedingtheit“ (meist der Liebe) gleichgesetzt. Diese Bedingungslosigkeit wird dabei regelmäßig auch mit den Begriffen „Freiheit von (wechselseitigen) Ansprüchen/Erwartungen“ oder „Bedürfnislosigkeit“ paraphrasiert.
Insbesondere polyamore Kreise, die sich mit politischer „Freier Liebe“, spiritueller „Universeller Liebe“ oder – wie unter 1) dargestellt – mit Pan- bzw. Polysexualität beschäftigen, betonen diese Maximen ganz besonders. Dabei wird meist als Begründung angeführt, daß erst wenn ein Mensch jenseits seiner sämtlichen Vor-Urteile, Ansprüche und Bedürfnisse gelangt wäre, er/sie zu einer wirklich entwickelten Form der Viel- bzw. All-Liebe (zu jedwedem Geschöpf) fähig wäre.
Dieses Postulat ist für mich aus meiner oligoamoren Sicht, selbst als Idealist, der ich bin, zutiefst un-menschlich. Mir scheint dadurch nämlich die polyamore Wurst so hoch gehängt zu werden, daß sie zum einen lediglich einer kleinen Elite vorbehalten wird (die auch gerne noch nachschickt, daß man zum „echten Poly“ nur geboren wird) – und zum anderen sich wir Übrigen regelmäßig als „unreif“, „nicht weit genug“, „unterentwickelt“ oder „scheiternd“ erleben müssen. Und das ist für mich kaum eine liebevolle Grundhaltung. Auch hier möchte ich weder meine Partner*innen so sehen, noch von ihnen nach solchen Maßstäben bewertet werden.
Was mich dabei jedoch am meisten nachdenklich macht ist, daß hier ein Ideal formuliert wird, dem wir Menschen von unserem eigentlichen Wesen her nicht gerecht werden können : Soll ich wirklich alles und alle (partnerschaftlich) lieben können? Ist es dann beliebig, mit wem oder was ich mich in Beziehung begeben kann – oder will?
Ich sage: Als Menschen sind wir Individuen mit einzigartigen Grundvoraussetzungen, kombiniert mit einer jeweils einzigartigen Biographie. Beides hat uns zu dem gemacht, was wir hier und jetzt gerade sind. Genau diese Einzigartigkeiten machen meine (potentiellen) Partner*innen für mich anziehend – und ich bin es wegen meiner Eigenheiten hoffentlich für sie… – eben darum liebe ich sie und wünsche mir mit ihnen enge Beziehungen. Ihre und meine Liebe knüpft also direkt an unsere Einzigartigkeiten, Eigenheiten und Ausprägungen an, denn gerade das macht uns Menschen wechselseitig interessant und bereichernd.
Aber selbstverständlich haben wir Menschen genau wegen unserer biologischen und biographischen Unterschiede auch exakt jene unterschiedlichen Präferenzen, daß für uns bestimmte Einzigartigkeiten, Eigenheiten und Ausprägungen attraktiv erscheinen. Wodurch es genau nicht beliebig, frei oder universell ist, wer oder was zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Sondern zutiefst menschlich, wenn wir Bedürfnisse, Wünsche und auch Ansprüche hinsichtlich dem haben, was sich exakt die besonderen Personen in unseren selbstgewählten Beziehungsgemeinschaften wechselseitig erfüllen wollen.
Ein Anspruch auf Anspruchslosigkeit hingegen, der sowohl unsere Biologie negiert als auch unser Biographie marginalisiert, entlarvt sich für mich als Widerspruch in sich.

3) Pokémon-Poly und die Unendlichkeit der Liebe(n):
Last but not least habe ich aktuell den Eindruck, daß die Polyamory von manchen ihrer Anhänger*innen zu stark als Modell einer „zeitgemäßen Beziehungsform“ propagiert wird. Die dabei starke Betonung des sexuell- wie bindungsanspruchs-befreiten Individuums hat dabei zu der seltsamen Erscheinungsform der „Pokémon-Polyamorie“ geführt, wozu vermutlich unsere Lebensweise mit Paradigmen einer westlichen Industrienation, wie u.a. betonte Eigenständigkeit, Ideal einer Leistungsgesellschaft, substantielles Arbeitsnomaden- und Singletum, beigetragen haben.
So wird dieser zunächst etwas putzig klingende Modus dann auch vor allem – aber nicht nur – von Solopolys¹ gelebt, die dafür häufig als polyamore bzw. beziehungsanarchistische² Begründung anbieten, daß nach freiheitlich-aufgeklärtem Verständnis „…ein einziger Beziehungsmensch für alle evtl. bestehenden oder aufkommenden Wünsche und Bedürfnisse eines anderen Individuums gar nicht geeignet/in der Lage/zu belangen sei.“
Die Lösung gemäß dieser Doktrin besteht dann häufig darin, sehr individuell und freiheitlich-aufgeklärt alsdann jeweils ein*e Partner*in für jedes mögliche anfallende Bedürfnis anzunehmen – und sich in diesen Beziehungen dann jeweils mit dem entsprechenden Menschen (nur) nach situativer Befähigung zu verbinden: Shoppen mit René, Sex mit Lou, Kultur mit Alex, Workshops mit Fritzi, Kitesurfen mit Micky und Kochen mit Jojo, etc….
Meiner Meinung nach ist ein solches Vorgehen weder besonders polyamor, noch sehr aufgeklärt – oder gar zukunftsfähig. Ich empfinde es vor allem als egozentriert und den Partnern als ganzen Menschen gegenüber ungerecht. Denn auch hier liegt wieder die Kompartmentalisierung und Zweckreduzierung vor, die ich schon in 1) bemängelte: Es wird nicht der ganze Mensch mit seinen Stärken und Schwächen gesehen, wohl auch nicht gewollt – und sicher keinesfalls erwünscht oder geliebt. So werden Menschen zu (wechselseitigen) Bedürfniserfüllmaschinen.
Da wird mir himmelangst vor solcher „Poly-Amory“, weil ich befürchte, daß wir dabei irgendwann die Menschen, die aus irgendwelchen Gründen ihren designierten Zweck nicht mehr erfüllen wollen oder können, in die Wüste jagen. Und was würde uns selbst wohl widerfahren, sollten wir selber einmal krank, behindert oder alt werden? Wieviel Liebe ist dann für uns in diesem Modell noch drin?

Nein, liebe*r Freund*in. Dies alles sind Gründe, bei denen ich nicht möchte, daß sie einmal Teil meines Nachrufs sind, wenn ich dereinst alt und vereinsamt abtrete, weil ich Menschen unter polyamorer Flagge vorwiegend als Sexobjekte, arbiträre Wesen oder Wunscherfüller*innen betrachtet habe.
Darum habe ich Segel gesetzt hin zu jenem Eiland der Oligoamory, weil mir diesbezüglich das „Viele-Lieben“ zu beliebig zu werden droht.
Und hier hoffe ich, mit den Wenigen, die sich ob meiner sämtlichen Eigenheiten auf mich einzulassen bereit sind, verbindlich-nachhaltige Beziehungen aufzubauen, auf daß wir einander Zugehörige und vielleicht sogar Soultribe werden.

Mit dem Versprechen, Dir regelmäßig zu schreiben, grüßt Dich Dein Freund


Oligotropos

PS: Auf die Frage, ob ich/wir unbedingt noch einen weiteren Begriff benötigen, um Mehrfachbeziehungen zu beschreiben, werde ich als Expeditionsleiter dieser Entdeckungsreise selbstverständlich mit „JA!“ antworten.
Den oft damit implizierten Vorwurf, daß so bloß eine weitere „Schublade“ erschaffen würde, halte ich – wie stets in einem solchen Fall – entgegen, daß ein Begriff immer erst einmal nur ein Begriff ist, und das eine sg. „Schublade“ erst durch die Kombination von Begriff plus Bewertung (meist einer negativen) entsteht.
Begriffe selber unterstützen meiner Ansicht nach indessen meistens gute Kommunikation, mit dem Ziel, daß Menschen sich beschreiben und verständigen können – indem sie damit z.B. eine individuelle Ausgangsposition skizzieren. Und danach weiter miteinander sprechen sollten Menschen dann ja trotzdem, um wirklich ein wechselseitiges Verstehen zu bewirken.
So könnte ein Mensch nun z.B. sagen: „Ich wünsche mir für mich persönlich, enge oligoamore Beziehungen zu führen. Oligoamory gehört dem Bereich der polyamoren und transparenten Mehrfachbeziehungen an, die wiederum im weitesten Sinne eine Form von offener Beziehung darstellen.“





Fußnoten:
¹ Solopoly: Ein polyamorer Mensch, der zwar alleine lebt, dabei aber gleichzeitig Teil von Mehrfachbeziehungen sein kann.
² Beziehungsanarchie: Eine Form von Mehrfachbeziehung, in der alle anhängigen Partner*innen bzw. Beziehungen keine Rangfolge oder Gewichtung haben, sondern gleichwertig nebeneinander existieren.



Danke an Joanna Kosinska auf unsplash.com für das Foto!

Eintrag 1

Wie es dazu kam, daß ich mich aufmachte, das entlegene Eiland zu entdecken:

Meine vorherige Ehe wurde von meinen damaligen Freunden und Bekannten stets als „Offene Beziehung“ bezeichnet – eine Beschreibung, mit der sich meine damalige Frau und ich niemals als zutreffend beschrieben wohlfühlten.
Wir hatten kurz vor Ende des letzten Jahrtausends, wenige Jahre bevor wir dann 2002 heirateten, „lediglich“ – und zugegeben, vermutlich etwas naiv – miteinander ausgemacht, daß niemals einer von uns beiden eine weitere sexuelle Begegnung außerhalb unserer Beziehung mit jemand anderem erleben sollte, für den man nicht wahrhafte Zuneigung und Gefühle empfand (!).
Ja, Ihr da draußen habt richtig gelesen. Während viele Paare in „Offenen Beziehungen“ ebenfalls wohl die Vereinbarung haben, weitere sexuelle Begegnungen zuzulassen, wird dort häufig gerade das Heraushalten von Zuneigung bzw. Liebe ebenfalls festgelegt, um die Bestandsbeziehung zu sichern – und wir beide hielten es damals genau genommen nahezu umgekehrt.

Diese gewissermaßen antithetische Übereinkunft funktionierte für uns über ein Jahrzehnt gut bis…, ja, bis aus den zugelassenen Gefühlen und der Zuneigung eines Tages unversehens ein Wunsch nach einer echten weiteren Nahbeziehung im Raum stand.
Die geneigten Leser*innen mag es eventuell verwundern, da diese Folge beim heutigen darüber Nachsinnen sich doch als recht logische Konsequenz einer solchen Haltung darstellen mag. Wir jedoch hatten nie irgendein Vorgehen, einen B-Plan für genau diesen Moment überlegt, wenn aus den Empfindungen für einen weiteren lieben Menschen ein weiterer vollwertiger Beziehungswunsch entstehen würde…
Sämtliche Beteiligte fielen buchstäblich aus allen rosa Wolken.

Dementsprechend versuchten wir von da an etwa ein Jahr lang zu dritt (also gut, zu fünft, wenn man die Kinder mitzählt), gewissermaßen im „Heimwerkermodus“, mit Verständnis, Humor, und Mitgefühl eine Herangehensweise an dieses vermeintlich konventionslose neue Miteinander hinsichtlich veränderter Konfigurationen an Tisch und Bett zu finden.
Erst einige Zeit später gerieten wir – quasi durch eine Zufallsempfehlung – an das Buch „More Than Two – A Practical Guide to Ethical Polyamory“ von Eve Rickert und Franklin Veaux. Und diese 480-Seiten starke Abhandlung wurde quasi unsere erste wirkliche Grundlage – wenn man so will eine erste Landkarte – hin zu einem echten Verständnis der Bedeutung und der Auswirkungen von Mehrfachbeziehungen, insbesondere betreffs der daran Beteiligten.
Dadurch ergaben sich aber auch letztendlich Kriterien bezüglich der Bedürfnisse und Ansprüche eben jener Beteiligten an die Substanz dieser der Polyamory anhängigen Beziehungsphilosophie und der angestrebten eigenen Lebensweise selbst.

Am Ende trug unser selbstgezimmertes Floß darum dann auch nur noch zwei von uns (und nicht die Stammbesatzung!) vom altweltlichen Gestade der Monoamory zu dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory hinüber, mit Landkarte und viel Idealismus im Gepäck.
Meine Hoffnung, daß meine Suchwanderung hier alsbald ihr ersehntes Ziel finden würde, erwies sich allerdings als verfrüht. Dabei erschien das neue Land zunächst weit und frei und voller spannender Bewohner*innen, deren Gepflogenheiten wir uns mit Eifer anzupassen suchten.
Dies geschah über rege Teilnahme an netzseitigen Foren zum Thema, über den Besuch von Stammtischen mit Einheimischen – und natürlich auch mit dem gezielten Eingehen einiger weniger Liebesbeziehungen mit jenen (den Einheimischen, nicht den Stammtischen).
Sogar das erstaunliche Atoll der Beziehungsanarchie nahmen wir dabei anfänglich mit Ehrfurcht zur Kenntnis und wagten sogar einige Schritte auf seiner eigentümlich egalitären Oberfläche.

Indessen: Nach beinahe drei Jahren intensiver Forschungsarbeit hatte sich in meinem kleinen Expeditionscorps Unruhe und Verwirrung ausgebreitet. Denn als ob ein zürnender Amor die Sprachen der polyamor Lebenden verwirrt und verstreut hätte, wollte sich keine beständige Basis für die dazugehörige Lebensweise etablieren lassen.

So gab es dort etwa Liebende, die wie in einer geschlossenen Ehe zu Mehreren lebten. Etliche Menschen sahen sich hingegen als Teile weitverzweigter und offener Beziehungsnetzwerke an. Einige wiederum lebten jedoch nahezu ausschließlich allein und verbanden sich mit jeweils ausgewählten Partner*innen nur auf Festivals, Seminaren oder an besonders gestalteten Wochenenden. Teilweise wurde dazu die unbedingte Deckungsgleichheit mit freier oder universeller Liebe postuliert. Andere Polyamoristen schienen indessen etwas zu leben, was Swingen nicht unähnlich war, und eine Anzahl führte sogar serielle oder parallele Affären im Namen der Viel-Liebe, und überhaupt schien die Betonung persönlicher sexueller Aspekte und Freiheiten vielerorts im Vordergrund zu stehen.
Aber dem ungeachtet nannten sich alle stolz Praktizierende der Lebensweise „Polyamory“ – und behaupteten dies besonders vehement und laut in Abgrenzung zu ihren nächsten Nachbarn, die mit entsprechender Leidenschaftlichkeit exakt das Gleiche wiederum für sich in Anspruch nahmen…

Die überall hervortretenden Meinungsverschiedenheiten schienen dadurch die verheißenen Merkmale von Transparenz, Verantwortung und Verbindlichkeit, durch die auch ich einst motiviert zu dem Archipel der Polyamorie aufgebrochen war, auf jederzeit verhandelbare Fußnoten zu reduzieren.

Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, daß ich eben nicht nur als Forscher, sondern selbst auch als Suchender gekommen war, mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen daran, was ich an Mehrwert für mich in polyamoren Beziehungen zu finden hoffte.
Was mir aber besonders deutlich wurde war das Dilemma, daß der bloße Begriff der Polyamorie zu Beginn des 21. Jahrhunderts von den Nutzer*innen nicht mehr konsistent verwendet wurde – und also auch nicht mehr in der Kommunikation zum Zusammenfinden Gleichgesinnter und zur Gemeinschaftsbildung taugte.

Was war zu tun?
Sich mit „Mission Impossible“ zufriedengeben und im Ungefähren mit Kompromissen einrichten? Ruhelos wanderte mein Fernglas über den vielgestaltigen Archipel, der auf einmal so unwirtlich und zerklüftet erschien. Sollte es…?

Doch dort, am äußersten Ende des Archipel, kaum sichtbar, in flimmernde Ferne entrückt, war da nicht doch noch ein weiteres Eiland, nominell dem Archipel zuzuordnen – und doch in seiner Ausprägung eigenständig? Mit einer streng wirkenden Küstenlinie – jedoch üppig grünendem, höchst lebendig erscheinendem Inneren…?
Ein Eiland, welches noch so ursprünglich wähnte, als wäre es bislang noch von keiner sauren Quelle der Begriffsverwässerung getrübt worden.

Mein Entschluß stand umgehend fest. Mit einem kleinen Boot wagten eine einzige Begleiterin und ich die ungewisse Überfahrt. Doch glücklich knirschte schließlich rauh der Kies des Strandes unter unserem Kiel.
Und so setzte ich endlich meinen Fuß in dieses neue Land.
Als ich dabei die mitgebrachte Herzflagge mit der blauen Doppelspirale entrollte, meinte ich in der Weite des blühenden Landesinneren einige wenige menschliche Silhouetten von Mitgliedern des hiesigen Stammes wahrzunehmen. Die kurze Erscheinung dieser ausgewählt Wenigen war es, die mir in jenem Moment den Namen des kleinen Eilandes eingab – und so sprach ich, die Insel betretend:
„Ich nenne Dich OLIGOAMORY!“





(Dank an Ken Suarez auf unsplash.com für das Bild der Insel!)