Eintrag 50 #politisch

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 4

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Politisch Sein

Wer die vorigen drei Einträge [ 123 ] dieser Serie gelesen hat, könnte bis hierher vielleicht noch versucht sein, die Poly- und Oligoamory als ein Ergebnis der überbordenden Phantasie zweier kruder Schriftsteller und der schillernden Visionen einiger obskurer Sonderlinge abzutun.
Der Eventualität einer solchen zweifelhaften gedanklichen Zuflucht möchte ich allerdings mit diesem Artikel begegnen, denn die gesamte Entwicklung, die bis zum heutigen Tage zur Realisation von Poly- und Oligoamory führte, war von Anfang an keinesfalls ein Zufallsprodukt – und sie war, ebenfalls von Anfang an, stets politisch.

Bereits Teil 1 (Eintrag 47) habe ich mit dem Hinweis auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeleitet, welche mit ihrer zunehmenden religiösen Gewissensfreiheit den Menschen immer häufiger die Möglichkeit zu einem gleichermaßen spirituellen wie auch psychologischen Auf-Bruch aus bislang eng tradierten Strukturen bot.
Die ersten Personen, die in dieser Art von einem „erweiterten geistigen Horizont“ profitierten, waren, wie erwähnt, damals zunächst Mitglieder einer gebildeten bürgerlichen Mittelschicht – und aus dieser sollten auch die ersten mutigen Personen hervorgehen, die die neu errungene „Gedankenfreiheit“ auf vielerlei Weise zur Anwendung brachten.
Als Autor dieser Zeilen würde ich sagen, daß buchstäblich „die Zeit reif war“, denn nach der fast fieberhaften Industrialisierungswelle des 19. Jahrhunderts begann in einigen Kreisen gebildeterer Schichten die Erkenntnis zu reifen, daß die hektischen technischen wie strukturellen Umwälzungen in den Leben hunderttausender von Zeitgenossen problematische geistige wie gesamtgesellschaftliche Spuren zu hinterlassen begonnen hatten: Viele Menschen fühlten sich durch Landflucht und Verstädterung unbewußt entwurzelt und erlebten sich oft als bloße „Erfüllungsgehilfen“ undurchschaubarer maschinisierter Prozesse, was zu einem allgemeinen Gefühl von Entfremdung und Selbstverlust noch beitrug. Vielfach zu beobachtende Folgen waren Merkmale von (städtischer) Verelendung und erhöhtem Konfliktpotential, wie z.B. durch Alkoholismus, Gewaltausbrüche, div. „Geisteskrankheiten“ und Radikalisierung mittels „Banden-/Gruppenbildung“.
Die intellektuelle Antwort der Jahrhundertwende auf diese Erscheinungen fiel entsprechend vielfältig aus: In Parlamenten wurden die ersten Arbeitsschutzgesetze diskutiert; politische Strömungen begannen nationalistische Identifikationsideen anzubieten; die gerade erst aufblühenden Wissenschaften von Psychologie und Psychoanalyse versuchten, sich den neuartigen mentalen Phänomenen zu stellen (u.a. „Neurosen“, „Hysterie“, „Manien“, „Psychosen“); alternative Orientierung bietende, esoterische Gruppen entstanden (wie in Eintrag 48 dargestellt – aber z.B. auch Spiritismus und Theosophie); und aus dem Bewußtsein, daß die aufgelaufenen Entwicklungen vermutlich in erster Linie die Schwächsten einer Gesellschaft besonders betreffen würden (Arme, Kinder, Frauen) entstand die Keimzelle von Wohlfahrts-, Fürsorge- und Reformbewegung. Alle Personen und Organisationen, die hier anzusetzen versuchten, mußten jedoch erkennen, daß der „weibliche Wirkungskreis von „Heim/Herd/Kinderbetreuung“ nahezu gar nicht von den strukturellen Umbrüchen der Jahrhundertwende erfasst worden war, sondern daß bei den betroffenen Frauen sogar noch durch den traditionellen Nimbus „entsagungsvoller Selbstaufopferung der Familie zuliebe“ vor allem eine erhöhte Arbeitsbelastung bei vollständiger wirtschaftlicher Abhängigkeit festzustellen war.
Diese Erkenntnis wurde zur Geburtsstunde der 1. Welle des Feminismus, als gutsituiert Frauen in Wohlfahrtsorganisationen wahrnahmen, daß eine Veränderung der Lage ihrer weniger privilegierten Geschlechtsgenossinnen nur über eine gesamtgesellschaftliche Berechtigung und Teilhabe – alle Frauen betreffend – zu erreichen sein würde.
Es war die große Zeit der sg. „Suffragettenbewegung“, die ab 1903 über ein Vierteljahrhundert die Existenz und die Wahrnehmung weiblicher Belange und Bedürfnisse entschlossen und nachhaltig an die Öffentlichkeit brachte. Die daraus resultierende verstärkte Präsenz von Frauen an Universitäten und Regierungsinstitutionen, ihre vermehrte Würdigung als Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Künstlerinnen und ein daraus hervorgehendes, gesteigertes weibliches Bewußtsein, was sich in Politik, Spiritualität, Literatur und Forschung niederzuschlagen begann, war darum, wie ich eingangs sagte kein Zufall. Es war der Beginn der längst fälligen „Göttinnendämmerung“ (siehe dazu Teil 2 – Eintrag 48).
Die erste Welle des Feminismus endete mit zwei Weltkriegen, die ihrerseits auf verdrehte Weise und durch Not hervorgerufen – was berufliche Berechtigung und gesellschaftliche Bewegungsfreiheit anging – für Frauen weltweit zu einem deutlich vergrößerten Spielraum beitrugen.
Die restaurativ maskulinistische Gegenbewegung der darauffolgenden 50er Jahre des 20. Jahrhunderts (USA: Truman/Eisenhower-Ära; BRD: Adenauer-Zeit) kassierte jedoch anschließend zahlreiche dieser neu errungenen Freiheiten wieder – „Heim/Herd/Kinder“ wurden erneut als der „eigentliche Wirkungskreis“ der Frau proklamiert.

Diese Rückentwicklung löste maßgeblich die zweite Welle des Feminismus aus, welche dieses Mal allerdings auf eine breite Schicht ausreichend gebildeter Mitstreiterinnen in vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft aufbauen konnte. Dadurch entwickelte sich als Ausgangspunkt der zweiten Welle eine Herangehensweise, die zuvorderst auf die Schaffung einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung und eines aufzurüttelnden Problembewußtseins (Englisch: „Consciousness-raising“) gerichtet war. Diese „Bewußtseinsbildung“ löste in Folge wiederum eine erhöhte Wahrnehmung zahlreicher Mißstände hinsichtlich Berechtigung und Autonomie in den unterschiedlichsten Bereichen aus, so daß neben feministischen Belangen gleichzeitig Fragen der Bürgerrechte, von Rassenunterschieden, des Wettrüstens und internationaler Stellvertreterkonflikte (u. a. Vietnam, Palästina, Afghanistan) und ebenfalls der zunehmenden Umweltzerstörung in den Fokus rückten. Die „Bewußtseinsbildung“ berührte aber auch den individuellen Bereich, da in dieser Weise eine ganze Generation sich jetzt über den Begriff eines übergreifenden „Erwachens“ in intellektueller wie zugleich spiritueller Weise zu definieren begann.
Im Verbund mit verbesserten Kommunkationsmöglichkeiten erleichterte dies eine rasche solidarische Vernetzung verschiedenster Protestbewegungen und alternativkultureller Initiativen: Farbige Musikerinnen wie Aretha Franklin und Mahalia Jackson forderten Respekt und (Welt)Frieden, Künstlerinnen wie Yoko Ono oder Joan Baez prangerten soziale Mißstände an, „Neue Hexen“ und neopagane Priesterinnen wie Starhawk und Shekhinah Mountainwater blockierten kerntechnische Anlagen.
Zusätzlich zu diesen überpersönlichen Belangen geriet durch die Marktgenehmigung wirksamer medikamentöser Verhütungsmittel (Erstzulassung „Antibabypille“ USA 1960) ein weiteres weibliches Hauptanliegen zu einem der Kernthemen der „Zweiten Welle“, nämlich die Frage sexueller Autonomie. Obwohl das Augenmerk hier zuerst auf reproduktiver Selbstbestimmung lag, erweiterte sich dieses Thema sehr schnell zu einer Frage insgesamter sexueller Wahlfreiheit und Selbstgestaltung.
Durch die oben erwähnten übergreifenden Solidaritäts- und Vernetzungsmerkmale des Zweite-Welle-Feminismus begünstigt, griff diese Frage schon am Ende der 60er Jahre auf die bis dahin überwiegend in einen sozialen blinden Fleck verdrängte Queere und LGBT-Community über.
Nach meinem Verständnis war damit ein wichtiger (Zusatz)Effekt des Zweite-Welle-Feminismus, daß dadurch ab 1969 auch die LGBT-Bewegung ihren fälligen Prozess von Bewußtseinsbildung, Wahrnehmung, Berechtigung, gesamtgesellschaftlicher Teilhabe und Akzeptanz einleiten konnte (der, wie beim Feminismus selbst, bis heute noch nicht abgeschlossen ist).

Aus heutiger Sicht scheint es bizarr faszinierend, daß ausgerechnet das Eintreten für allumfassende sexuelle Autonomie den politischen Zweite-Welle-Feminismus im Sex War der 80er Jahre im Streit um die Einstellung der Bewegung zu Themen wie Sexpositivität, Pornographie, BDSM und der Rolle transsexueller Frauen beendete.
Die „Dritte Welle“ erhob sich ab 1990 somit aus der Erkenntnis, fürderhin konsequent Sexismen jeglicher Art entgegenzutreten.
Unterdessen hatten aber auch schon zahlreicher Menschen mit non-heteronormativen und non-monogamen Bedürfnissen und Hintergründen längst begonnen, aufgrund der Erfordernisse ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit, selbst nach lebbaren und lebensfähigen Umgehensweisen zu suchen.
Wer nun meinen Teil 3 – Eintrag 49 aufmerksam gelesen hat, kann leicht erkennen, daß „Polyamory“ in dieser Weise direkt ein Ergebnis einer solchen bedarfsorientierten Herangehensweise war – bezogen auf einen Bedarf, wie er zu der Zeit in neopaganen Kreisen bestand.
Dieser Bedarf, über rein sexuelle Autonomie hinaus zusätzlich noch über Unabhängigkeit und Gedankenfreiheit hinsichtlich der Ausgestaltung individueller Beziehungs(gestaltungs)konzepte zu verfügen, existierte allerdings nicht nur im alternativspirituellen Neuheidentum.
Auch die queere und die sexpositive Community (zu letzterer auch zunehmend die BDSM-Szene zählte) benötigte neue und progressive Beziehungsmuster, die einer promiskuitiven Sexualitätsauffassung Rechnung trugen.
Meiner Deutung nach ist die Beziehungsphilosophie der Polyamory mit ihrer eklektischen Herkunft (d.h. „bestehend aus Elementen unterschiedlicher Systeme“) aus alternativer Spiritualität, humanistischer Psychologie und integrativem Feminismus allerdings genau darum geeignet, auch in Teilen wesensverschiedenen Bedürfnislagen eine (Beziehungs)Gestaltungsgrundlage zu bieten:
Ein klassisches „Ménage à trois“ hat vermutlich anders gelagerte Anforderungen als eine BDSM-Spielbeziehung mit fünf Beteiligten oder ein egalitäres Netzwerk aus asexuell Liebenden.
Dennoch dreht es sich heute in jedem dieser Fälle noch immer um die selben Grundsätze, denen sich auch der Feminismus in allen seinen Phasen verpflichtet sah: Bewußtseinsbildung, daß ein Handlungssbedarf beseht; Wahrnehmung der Bedürfnisse der Betroffenen; ihre allseitige Berechtigung hinsichtlich selbstbestimmter Teilhabe und letztendlich uneingeschränkte Akzeptanz ihres so-Seins.

Und exakt in dieser Hinsicht empfinde ich „Polyamory“ (und damit natürlich auch meine eigene Konzeption der „Oligoamory“) als Beziehungsphilosophie nach wie vor als politisch – denn, wie ich schon oft genug betonte, ist „Oligoamory nicht etwas, das man macht, sondern etwas, das man IST “.
Und wenn der deutsche Politologe und Historiker Christian Graf von Krockow sagte, daß „Politik die stete Auseinandersetzung zwischen der Veränderung oder der Bewahrung bestehender Verhältnisse“ sei, dann haben mir die Gedanken und Lebensentwürfe von Kipling, Heinlein, Maslow, der Zell-Ravenhearts, der Suffragetten, der Blumenkindern, und die der Menschen im Stonewall bewiesen, daß Veränderung immer wieder notwendig – und Anpassung an diese Veränderung stets möglich ist.

Großes PS:
Von den Hexencoven des Wicca über die engagierten Gruppen des Feminismus bis hin zu queeren Aktivist*innen der LGBT-Bewegung und hinein in die Niederungen polyamorer Lebensweise: All diese Communities, Gemeinschaften und Initiativen scheinen in den USA freier zu atmen, sind liberaler, häufiger auf Kooperation angelegt – und insgesamt wirken sie von ihrer Einstellung deutlich inklusiver als hierzulande, mit einer Herangehensweise, die untereinander eher einer Auffassung von „Leben und Leben lassen“ entspricht, sowie der Denkweise „Dein xyz ist nicht exakt mein xyz – aber Dein xyz ist ok und mein xyz ist ok und wenn es drauf‘ ankommt sind wir schließlich eh alle im selben Boot“.
Warum ist dies in Deutschland oft so sehr anders, im Land der Laubenkolonien, Hausordnungen und Gartenzäune, wo stets vor allem so streitbar wie unerbittlich die Unterschiede und das Trennende betont werden, selbst wenn Gruppen dem Namen nach der selben Philosophie angehören?
Ich Oligotropos glaube, daß dieser Unterschied im Gebaren leider in der sehr verschiedenen Grundaufstellung der gesamtgesellschaftlichen wie auch der gesamtpolitischen Struktur der USA im Gegensatz zu Mitteleuropa (und insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland) besteht.
In den USA war der Kampf unterprivilegierter Gruppen stets auf „Berechtigung und Teilhabe“ ausgerichtet, egal ob es sich dabei um People of Color, religiöse Bekenntnisse, Geschlecht, sexuelle bzw. gendergerechte Orientierung oder um die Form individueller Beziehungsgestaltung handelte. Dank der Unabhängigkeitserklärung von 1776 (!) mit ihrer Zusicherung von „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ (dt.: „Leben, Freiheit und dem Streben nach Zufriedenheit“) war die Hervorbringung grundsätzlicher Freiheit für Individuen und Gemeinschaften in den USA von der ersten Stunde an Programm und festgeschriebenes Recht (wenn auch lange Zeit zunächst nur für weiße Männer).
Diese Ausgangslage war im „alten Europa“ und insbesondere in den höchst obrigkeitsstaatlichen Systemen, welche die Vorläufergebilde der BRD darstellten, eine völlig andere. Als ab Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erstmals umfassend in vielen Bereichen für eine gesellschaftliche Liberalisierung gestritten wurde, mußten die beteiligten Gruppen nicht nur für ihre Berechtigung und Teilhabe eintreten, sondern zur selben Zeit ebenfalls erst einmal einem über Jahrhunderte tradierten und immer noch in weiten Teilen patriarchal geführten wie auch autoritären Staat die einhergehenden Freiheitsrechte abgewinnen.
Dieses Klima eines von allen Beteiligten in Teilen aggressiv (z.B. APO / RAF) geführten Freiheitsprozesses führte zu einem Ellenbogendenken und einer kategorischen Durchsetzungsmentalität, dessen Erbe uns hierzulande bis heute in allen gesellschaftspolitischen Diskussionen mit ihrer teils erschreckend kaltherzigen und oft kompromisslosen Diktion bis hinein in die sozialen Netzwerke begleitet.

Ethische Mehrfachbeziehungsführung – wie die Poly- und Oligoamory – sind jedoch, wie ich nun in den vier Teilen meiner Serie gezeigt habe, ein Ergebnis eines über fast einhundertfünfzig Jahre zurückreichenden Entwicklungsweges von Multikulturalismus sowie zugleich sozialem Pluralismus.
Möchten doch diese beiden bunten Fahnen auch für unser Land – und damit für uns alle – auf lange Zeit zu einem Schmuck und einem Ansporn zu verstärkt solidarischem, integrativem und vor allem friedlichen Handeln geraten.



Danke an Wikimedia Commons für die Zurverfügungstellung einer Bearbeitung des Plakats „We can do it“ von J. Howard Miller (Creative Commons 4.0 Lizenz)

Eintrag 49

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 3

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

„Doppelt müht euch, mengt und mischt! // Kessel brodelt, Feuer zischt.“*

In meinem letzten Eintrag schrieb ich, daß sich zur Findung des Begriffs und der inhaltlichen Konzeption von „Polyamory“ zuvor noch zwei Menschen begegnen mußten.
Die eine Person war der Psychologiestudent Timothy Zell [Künstlername „Otter“ oder „Oberon“] der in seiner Ausbildung stark von der Denkweise Abraham Maslows (der übrigens auch ein Mentor des „Vaters der gewaltfreien Kommunikation“, Marshall Rosenbergs, war) beeinflusst wurde. Maslow zielte mit seinen Ideen auf einen ganzheitlicher Humanismus durch Individuation, insbesondere mittels Erforschung und Wahrnehmung eigener Bedürfnisse – einen Prozess, den er Selbst-Verwirklichung (Original: „Self-Actualization“) nannte. Zell hörte während seiner Studien u.a. Sätze wie diese:

„Selbstverwirklichende Menschen, Menschen also, die einen hohen Grad der Reife, Gesundheit und Selbsterfüllung erreicht haben, können uns so viel lehren, dass sie manchmal fast wie eine andere Rasse menschlicher Wesen erscheinen. Doch weil sie so neu ist, ist die Erforschung der höchsten Bereiche der menschlichen Natur und ihrer äußersten Möglichkeiten und Hoffnungen eine schwierige und gewundene Aufgabe. Sie hat für mich eine ständige Zerstörung liebgewordener Axiome mit sich gebracht, die unentwegte Auseinandersetzung mit scheinbaren Paradoxa, Widersprüchen und Zweideutigkeiten, manchmal auch den Zusammenbruch lang etablierter, fest geglaubter und scheinbar unangreifbarer Gesetze der Psychologie. Oft stellte sich heraus, daß es keine Gesetze waren, sondern nur Regeln für das Leben in einem Zustand milder und chronischer Psychopathologie und Ängstlichkeit, im Zustand der Behinderung und Verkrüppelung und Unreife, den wir nicht bemerken, weil die meisten anderen dieselbe Krankheit haben wie wir.“ ¹

Gewaltigen Eindruck hinterließ insbesondere der folgender Satz:

„Selbstverwirklicher sind ethisch; sie verfügen über soziales Gespür; sie haben eine umfassende Betrachtungsweise, einen Sinn für Wunder und ein Gefühl für das Mysteriöse. Aber sie sind auch von herkömmlicher Konvention befremdet. Sie fühlen sich von den Werten der gewöhnlichen Kultur losgelöst. Sie sind Fremde in einem fremden Land.“ ²

Zell unterhielt nämlich zugleich seit 1961 einen literarischen Zirkel, der sich vorwiegend mit fiktionalen Texten beschäftigte und dort schlug Robert Heinleins Roman Fremder in einer fremden Welt 1962 (siehe dazu Teil 1 – Eintrag 47) buchstäblich ein wie eine Bombe.
Maslows Anschauungen hinsichtlich persönlicher Potentialentfaltung kombiniert mit Heinleins visionärer Vorstellung eines alternativen, non-konformen Gesellschaftsmodells ergaben eine faszinierende Perspektive. Doch bei den meisten Menschen wäre es vermutlich bei einer solchen gedanklichen Perspektive in der Theorie geblieben.
Zell und eine kleine Gruppe motivierter Mitstreiter waren davon jedoch so inspiriert, daß sie versuchen wollten, ein solcherart gedankliches „Was-wäre-wenn“ in eine lebensfähige Praxis umzusetzen – analog zu dem chinesischen Sprichwort „daß es besser wäre, selber eine Kerze anzuzünden, statt bloß über die vorherrschende Dunkelheit zu jammern“. Die damaligen Studenten sahen vermutlich darüber hinaus die Gefahr, daß Maslows Gedanken auf akademischer Ebene (zu) wenig Eindruck auf tatsächliche gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit nehmen würden. Eine Zeit, die allenthalben Zeichen eines gesellschaftlichen Aufbruchs in vielerlei Hinsicht ankündigte [Kennedy/Johnson-Ära in den USA: u.a. Bürgerrechtsbewegung, Black Power, atomares Wettrüsten, Vietnamkrieg, Hippie-Kultur, Gay-Rights-Movement, Womens Liberation].
In Folge formierte sich 1962 aus Zells Lesezirkel die Organisation „Church of All Worlds – CAW“ (dt.: „Kirche aller Welten“), die 1968 mit sogar einem eigenen thematischen Magazin an die Öffentlichkeit ging, dem alternativ gegenkulturellen „Green Egg“ (dt.: „Grünes Ei“).
Einer der Autoren des „Green Eggs“, Tom Williams, beschrieb später die Überzeugung der CAW folgendermaßen:
„Heutzutage haben wir das seltene Privileg, bewusst die Mythen zu wählen, nach denen wir leben wollen und zu wissen, dass die Welt, die damit heraufbeschworen wird, von der mythischen Struktur der Bevölkerung abhängt – und dadurch buchstäblich alles sein kann, von Öl, Bombern und Umweltzerstörung durch Pentagon und Kreml bis hin zum Zauberwald der Galadriel³.“
In diesem bemerkenswerten Satz ist z.B. ebenfalls die „Erschaffung des (persönlichen) Mythos“ angedeutet, von der auch der Kommunikationslehrer Brad Blanton in seiner „Radikalen Aufrichtigkeit“ spricht (die „Radikale Aufrichtigkeit“ ist ihrerseits wiederum aus der „Gewaltfreien Kommunikation“ hervorgegangen).
Zell und seine Weggefährten hatten also folglich erkannt, daß die „wahre Magie der Gegenwart“ in der philosophischen Tatsache der Wechselwirkung vom „Sein, welches das Bewußtsein“ – sowie dem „Bewußtsein welches wiederum das Sein“ formt, liegt. Denn übersetzt lautet diese Erkenntnis, daß unsere Wahrnehmungen und Erwartungen stets stark von den Gegebenheiten und Ereignissen unseres Umfelds (unserer „Wirklichkeit“) geprägt, ja geradezu programmiert werden. Allerdings existiert zugleich auch der bemerkenswerte andere Aspekt, nämlich daß der menschliche Geist ebenso fähig ist, wiederum Gegebenheiten und Ereignisse (also unsere „Wirklichkeit“!) maßgeblich zu beeinflussen und zu modifizieren, wenn es gelingt eine Bewußtseinsveränderung herbeizuführen.
Da Zell und die Mitglieder seiner „Kirche“ daher betonen wollten, daß jeder entwickelte Mensch potentiell auf diese Weise zu „schöpferischem“ (und in diesem Sinne quasi „göttlichem“) Handeln in der Lage sei, wurde die CAW von vornherein neopagan (neuheidnisch, siehe Teil 2 – Eintrag 48) konzipiert, was ebenfalls durch Heinleins Roman (siehe Teil 1 – Eintrag 47) angeregt wurde – aus dem auch bereits die Bezeichnung „Church Of All Worlds“ entlehnt war, indem sich die dortigen Mitglieder ehrenhalber mit „Du bist Gott“ (engl.: „Thou Art God“) begrüßten.
Die von Zell ganz real gegründete CAW wurde damit in den Folgejahrzehnten ein schillernder Mittel- und Projektionspunkt für die sich entfaltende nordamerikanische Neopaganismus-Szene in all ihren Ausprägungen. Zu den (Science-)fiktionalen Grundlagen der Anfangszeit gesellten sich so schon bald Ideen aus der Wicca-Szene, dem (Neu-)Hexentum und des Göttinnen-Mythos (siehe Teil 2 – Eintrag 48).

Timothy Zell, der sich damals Otter Zell nannte, mit Morning Glory 1974

Auf diese Weise begegnete Timothy Zell 1973 schließlich der anderen „wichtigen Person“, die ich für meine Geschichte der Poly- und Oligoamory brauche – und selbstverständlich ereignete sich dieses Zusammentreffen vor dem Hintergrund einer gnostisch-neopaganen Tagung (dem „Gnosticon“), bei der Zell die Eröffnungsrede hielt.
Dort nämlich verliebte sich Zell in die unter den Besuchern anwesende Hexe Morning Glory Ferns (dt. etwa „Prunkwinde Farn“ – selbstgewählte [Pflanzen]Namen sind bei Hexen nicht unüblich). Und diese Begebenheit stieß eine Kette von Ereignissen an, die es nötig machen würden, spirituelle Theorie mit den Niederungen alltäglicher Lebenspraxis klug zu vereinen.
Denn die gestaltungsbedürftige Ausgangslage bot sich bis in das Privatleben unser beiden Protagonisten hinein nun folgender maßen dar:
Sowohl das Hexentum als auch die „Kirche aller Welten“ waren in unabhängigen Kleingruppen organisiert. Im Hexentum als „Coven“ (siehe Teil 2 – Eintrag 48), in der CAW in den von Heinlein vorgeschlagenen „Nestern“. In beiden Gruppenformen arbeiteten Frauen und Männer intensiv esoterisch, spirituell und psychologisch an ihrer individuellen wie auch gemeinschaftlichen Potentialentfaltung, egal ob magisch oder zum Zwecke der Persönlichkeitsentwicklung.
Möglicherweise wird sich nun jede*r Teilnehmer*in an einer kleinen Kursgruppe, Workshop, Seminar, was auch immer, selbst daran erinnern: Der Grad an notwendigem „Seelenstriptease“ im Rahmen solcher Kleingruppen kann recht erheblich sein – was eventuell dazu führt, daß unter den Beteiligten umständehalber ein beträchtliches Maß an Vertrauen und Vertrautheit miteinander entsteht. Im Idealfall läuft dadurch sogar exakt das ab, was der US-amerikanische Psychologe Scott Peck als die Schritte zur „Gemeinschaftsbildung“ bezeichnete (siehe Eintrag 8). Und es war ebenfalls Scott Peck, der in dieser Hinsicht ebenfalls auf ein potentielles Maß an dabei freigesetzter sexueller Energie hinwies. Vor dem Hintergrund der „Wilden 60er“ – aber noch vielmehr vor dem Hintergrund der extrem gegenkulturell freiheitlich aufgestellten „Coven“ und „Nester“ kam es dementsprechend immer mal wieder vor, daß Teilnehmer*innen miteinander auch dieser Energie nachgaben. Und es kam vor, daß sich Teilnehmer*innen wegen der zusätzlich hergestellten Vertrautheit noch darüber hinaus ineinander verliebten – und durch die Kleingruppenarbeit gab es ja sogar die Perspektive einer Art längerfristig fortführbaren Beziehung.
An Coven oder Nestern partizipierten nun allerdings durchaus Menschen, die in ihrem Leben sonst in anderweitigen intimen Beziehungen standen, z.B. zu Lebens- oder Ehepartner, die nicht Teil des Covens oder des selben Nestes waren. Woraus sich ein moralisches Dilemma abzubilden begann, welchem zunächst mit dem bereits bekannten Konzept der „Offenen Beziehung“ oder „Offenen Ehe“ zu begegnen versucht wurde.
Trotzdem stellte sich alsbald ein weiteres Problem dar: Unter dem Konzept der „offenen Beziehung“ konnten die neuen (Liebes)Verbindungen oftmals nur als Erscheinung der entsprechenden Kleingruppe gelebt und erlebt werden (analog: „Was in der Gruppe passiert, bleibt in der Gruppe.“). In der Praxis ließen sich jedoch weder Gefühle auf bestimmte Lebensbereiche beschränken, noch harmonisierte diese Herangehensweise mit einem Konzept ganzheitlicher „Selbstverwirklichung“ (wie z.B. nach Maslow, der diesbezüglich einen uneingeschränkten Ansatz postuliert hatte). So mußte auch Morning Glory selbst erleben, wie die „offene Ehe“ mit ihrem damaligen Mann zerbrach, als sie die Beziehung zu Timothy Zell aufnahm.
Als aktive Angehörige einer gegenkulturellen Szene, die sich sonst intensiv (und in Teilen sogar politisch) mit Werten wie Berechtigung, Ehrlichkeit, Selbstermächtigung, Inklusivität und Akzeptanz auseinandersetzte, wird diese Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit vermutlich besonders schwer hinnehmbar gewesen sein. Doch gemäß Maslow, der schrieb, „daß Selbstverwirklicher lösungsorientierte Menschen seien“ gingen Zell und Morning Glory in den nächsten 10 Jahren daran, für sich und ihre persönliche Umgebung ein Modell zu entwickeln (und zu leben!), welches schlüssiger mit den Zielen konsequenter Selbstentwicklung und „innerer Göttlichkeit“ in Übereinstimmung gebracht werden konnte.

Die Ravenheart-Familie 1996: v.l.n.r.: Wynter, Wolf, Liza, Morning Glory, Oberon

Aus ihren eigenen Erfahrungen in einer Dreier- und schließlich sogar in einer Sechsfachbeziehung (der sg. „Ravenheart-Familie) ging schließlich eine Zusammenlebens und -liebensform hervor, die Morning Glory schriftlich erstmals im Mai 1990 im „Green Egg-Magazin“ skizzierte.
Der Text, in dem weltweit erstmals das Wort polyamor im Kontext einer Beziehungsform gebraucht wurde, findet sich in deutscher Übersetzung HIER ³.
In ihm befinden sich bereits alle wegweisenden Grundwerte angedeutet, welche bis heute für ethische Mehrfachbeziehungen ausschlaggebend sind: Engagement, Verbindlichkeit, Aufrichtigkeit, Verantwortung und Transparenz.
[Warum das beschreibende Wort dann ausgerechnet „polyamor“ hieß? Dazu gibt es mehrere Quellen, z.B. hier und dort (beide Englisch). Morning Glory sagte in einem Interview einmal: „Wenn Oberon und ich Wörter prägen wollten, schauten wir meist auf griechische und lateinische Wurzeln. Der lateinische Ausdruck für „viele lieben“ wäre jedoch „Multi-amory“, was unbeholfen klang; und das Griechische wäre „Polyphilie, was wie eine Krankheit klingt. So wurde es „poly-amor“ – und der Rest ist Geschichte.“]

Und der Rest ist tatsächlich Geschichte.
Die Polyamory war der Durchbruch für die überfällige Befreiung und Berechtigung einer (Liebes)Beziehungs- und Erlebenswelt, die viele Menschen bereits so oder so ähnlich für sich empfanden und in Teilen in verschiedener Subkulturen auch schon mit Leben zu erfüllen suchten. Morning Glorys „Polyamory“ folgte damit hinsichtlich der Befreiung und Berechtigung bezüglich der Gestaltung von Beziehungsformen dem Weg, den die queere und LGBT-Bewegung wenige Jahre zuvor für geschlechtliche Präferenzen bereits zu ebnen begonnen hatte.
Dieses Nachfolge sollte jedoch in den nächsten 25 Jahren regelmäßig die Problematik aufwerfen, wie stark „Beziehungsführung“ von sexuellen konnotierten Rahmenbedingungen abhängig wäre – wodurch die Philosophie der Polyamory immer wieder in Gefahr gerät, als charakterisierendes Merkmal von lediglich promisken oder vorwiegend sexpositiven Kreisen für sich beansprucht zu werden.

(Mein) Fazit:
Der „Große Wurf“ von Morning Glory und Oberon Zell, eine schöpferisch selbstverwirklichende Philosophie mit einer gemeinschaftsstiftenden Lebensweise durch die Wahl von in Liebe verbundenen Zugehörigen zu verknüpfen, war in mehrfacher Hinsicht bahnbrechend.

  • Ganz zuvorderst für die neopagane Community – egal ob rein mystisch/esoterisch oder politisch (z.B. Faerie, Dianisches Wicca, Reclaiming etc.). Die Zell-Ravenhearts konnten mit ihrem ganzheitlichen Ansatz von Leben und Lieben und den daraus gewonnenen gruppenpsychologischen Erkenntnissen erheblich zu dem Verständnis spiritueller Selbstentfaltung in Gemeinschaft beitragen. Ab der Jahrtausendwende erschienen auf diese Weise z.B. Ratgeber wie z.B. „Wicca Covens: How to start and organize your own“ von Judy Harrow (Citadel 2000), die sich wie das 1×1 integrativer Gemeinschaftsbildung innerhalb eines Hexenzirkels lesen.
  • In jedem Fall gesellschaftspolitisch, indem durch die erstmalige Formulierung einer ethischen Form von Mehrfachbeziehungsführung zunächst überhaupt eine öffentliche Wahrnehmung dieser Lebensweise hergestellt wurde. Diese Wahrnehmung wirkte sich – ähnlich wie im queeren/LGBT Bereich – wohltuend zweiseitig aus: Nämlich durch die Manifestation im öffentlichen Bewußtsein, daß es Menschen mit diesen Wünschen und Bedürfnissen gab – wodurch es wiederum Menschen, die sich mit Mehrfachbeziehungsgedanken trugen, erleichtert wurde, sich zu diesen Empfindungen zu bekennen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und sich zu trauen, diese Lebensweise in die Tat umzusetzen. [Über die politische Dimension von Polyamory siehe Teil 4!]
  • Und natürlich – last but not least – in Privatleben vieler zehntausender von Menschen, die global bemüht sind, in die Fußstapfen Oberon Zells und Morning Glorys zu treten.
    Menschen, die alltäglich in ihren Mehrfachbeziehungen den „Weg des größtmöglichen Mutes“ gehen, sich z.B. ihren Ängsten und Eifersüchten stellen, die unablässig an sich arbeiten – um damit schließlich doch an der phantastischsten Erfahrung von allen teilzuhaben:
    Sich individuell selbst zu erkennen, sich zu verwirklichen und bei all dem zu erleben, wie wir mit unserem gemeinschaftlich schöpferischen Potential – in seiner magiegleichen Synthese als potenzierte Summe seiner Einzelteile – Mehrwert erzeugen können für das Wohl von allem, was uns umgibt und dem, was in uns ist.
Morning Glory und Oberon auf ihrer letzten gemeinsamen Australienreise 2006


* Zitat aus William Shakespeare, Macbeth, Gesang der drei Hexen, Akt IV, Szene 1

¹ A. H. Maslow (Ed: Richard Lowry), „Dominance, Self-Esteem, Self-Actualization: Germinal Papers“, Monterey, CA: Brooks/Cole, 1973

² A. H. Maslow, „Motivation and Personality“, 2nd Edition, New York: Harper & Row, 1970

³ Danke an Atman Wiska für die deutsche Übersetzung, Kontexteinbindung und Netz-Einstellung des Bouquet of Lovers“ von Morning Glory Zell-Ravenheart.

Danke posthum an Margot Adler und ihr Buch „Drawing Down The Moon – Witches Druids, Goddess-Worshippers and other Pagans in America“, completly revised and updated edition 2006, Penguin Books

Und tausend Dank an Oberon Zell-Ravenheart für die freundliche und höchstpersönliche Zurverfügungstellung der schönen Privatfotos. (Rechte Oberon Zell und CAW.org)

Eintrag 48

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 2

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Gött*innendämmerung

Die Umwälzungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert berührten auch das spirituelle Leben der Menschen, nachdem mehrere Jahrhunderte lang vorwiegend die christlichen Kirchen nahezu ausschließlich für die geistlichen Bedürfnisse der Bevölkerung von Europa wie auch Amerika zuständig gewesen waren. Durch nun immer größere gesellschaftliche Aufklärung, sich verbessernde Bildungschancen und zunehmende (Wahl)Freiheiten, begann sich ein Wunsch nach religiösen Modellen zu regen, die vermehrt aktive Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeiten boten, sowie eine Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens.
Dies führte neben einer zunehmenden Hinwendung zu z.B. hinduistischen und buddhistischen Lehren ebenfalls zu einem neu entfachten Interesse an vorchristlichen Traditionen der mediterranen Antike wie auch an den vor-christlichen, heidnisch-paganen Urreligionen Nordwesteuropas.

Die scheinbar plötzliche Aufmerksamkeit für antike und heidnische Mythen der Vorzeit kam allerdings durchaus nicht aus dem blauen Himmel: Archäologen wie Heinrich Schliemann oder auch Ägyptologen wie Sir Arthur Evans hatten z.B. mit neuen Techniken und konkreten Bodenfunden zu rekonstruieren begonnen, daß zahlreiche Legenden und Mythen der Vergangenheit in Teilen vermutlich einen belegbaren, wahren Kern enthielten. Die schiere Möglichkeit, daß Sagen wie die von Odysseus, Kleopatra, König Arthur, den Nibelungen und Attila, sogar Lugh mit der langen Hand oder den Gestalten der Edda sich so oder so ähnlich eventuell wirklich zugetragen haben könnten, inspirierte in Folge zahllose Künstler*innen in Bild, Wort, Skulptur und Musik, allerdings ebenso zahlreiche nationale Sammlungs- und Erhebungsbewegungen, die nun ein „wiederentdecktes Erbe“ der Kelten (z.B. Druidentum), Angel-Sachsen, Germanen, Slawen, etc. aus handfesten politischen Gründen beschworen und entsprechend instrumentalisierten.

Die wissenschaftliche Herangehensweise um die Jahrhundertwende besaß allerdings kaum irgendeinen kritischen Diskurs: Die meisten „Fach“leute auf ihrem Gebiet waren meist die allerersten Personen überhaupt, die sich mit einer bestimmten Materie auseinandersetzten, es gab nahezu keine Vergleichsmöglichkeiten und fachübergreifendes Arbeiten steckte noch in den Kinderschuhen. In Folge geriet die „graue vorchristliche Vorzeit“ regelmäßig zu einer schillernden Leinwand für freiheitliche Ideale, egalitäre Ideen und kulturelle Gegenentwürfe, die oftmals stärker dem Sehnen und dem Engagement der Forschenden selber als eindeutig belegbaren Feldbeweisen entsprachen. „Lücken“ wurden häufig zunächst wieder mit Poesie oder zweckdienlichem Wunschdenken gefüllt, eine kritische, wissenschaftliche Opposition gab es noch nicht.
Auf diese Weise begann sich die Vorstellung einer überraschend emanzipatorischen, versunkenen antik-heidnischen „Idealwelt“ zu etablieren, für die sich scheinbar europaweit immer mehr historisch-literarische und archäologische „Beweise“ fanden.
Federführend in dieser Hinsicht waren vor allem der Schweizer Altertumsforscher und Anthropologe Johann Jakob Bachofen („Das Mutterrecht“; 1861), der Ethnologe und Philologe James George Frazer („Der goldene Zweig“, 1890), der US-amerikanische Volkskundler und Philologe Charles Godfrey Leland („Aradia Die Lehren der Hexen; 1899), sowie – last but not least – die Anthropologin und Ägyptologin Margaret Alice Murray. Letztere formulierte schließlich in ihrem Buch „Der Hexen-Kult in Westeuropa“ (1921) eine volkskundliche Studie, die eine vollständige Theorie über eine paneuropäische, vorchristliche, paganistische Religion präsentierte.
Diese Religion sollte auf einem polaren (=gegensätzlich bei wesensgleicher Zusammengehörigkeit; Duden) Gottesbild beruht haben, welches aus einer lunaren, „ewigen Muttergöttin“ (z.B. Hekate, Kybele, Isis etc.) und ihrem Gefährten, einem solaren, „Vegetationsgott“ (z.B. Tamuz, Pan, Apollo etc.) bestand – und dadurch weiblich-matriarchisch betont war. Diese tief in die Zeit zurückreichende Verehrung wäre erst mit der mittelalterlichen Hexenverfolgung zu Ende gegangen, als die letzten Personen, die noch in Kleingruppen (sg. „Zirkeln“ oder „Coven“) diese Religion ausübten, ausgelöscht worden seien.
Der wissenschaftlichen Aufbereitung durch Murray (und ihren Vorschreiber*innen) folgte eine weitere Sehnsuchtswelle künstlerischer Annäherungen; beispielhaft seien hier Dion Fortune mit der „Seepriesterin“ (1938) oder Robert Graves mit seiner „Weißen Göttin“ (1948) genannt. Das Bedürfnis etlicher Menschen nach solch einer vermeintlich „unverfälschten Form ursprünglicher Spiritualität“ war groß – es galt nur noch, eine Form, einen Rahmen zu finden, um Lieder, Mythen und Götterbilder (wieder) zu einer praktizierbaren Religionsform zu machen.

Nun stammten die interessierten Rezipienten der „neuen alten Mythen“, die auch die Muße und den Horizont hatten, den erstaunlichen Entwicklungen in Forschung und Literatur zu folgen, vielfach aus einer bürgerlich gebildeten Mittelschicht. In dieser Mittelschicht war es seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unüblich, sich für gesellschaftlichen Austausch, Aufbau von Einfluß oder zu karitativen Zwecken „magischen“ bzw. „okkulten“ Vereinigungen, wie z.B. den Freimaurern oder den Rosenkreutzern anzuschließen (quasi als eine Art „sozialer Club“). Diese Vereinigungen besaßen häufig noch einen substantiellen Ritus an Zeremonien und Gebräuchen, die z.B. zum Zwecke von Neuaufnahmen oder bei festlichen Anlässen ausführlich praktiziert wurden.
Manche dieser Zeremonien waren tatsächlich sehr alt und gründeten in neoplatonistischen bzw. hermetischen Ritualen oder auch in Gebräuchen mittelalterlicher Handwerkszünfte. U.a. charismatische Personen wie Éliphas Lévi (Loge „Rose der vollkommenen Stille“ ; 1861), Samuel Liddell MacGregor Mathers (Hermetischer Orden der goldenen Dämmerung ; 1888) und der berühmt-berüchtigte Aleister Crowley (Orientalischer Templerorden [OTO]“ ; 1912) wurden auf diese Weise zu wegbereitenden „Formgebern“ einer aufblühenden magisch-heidnischen Neo-Spiritualität.
Es bedurfte nur noch weniger Federstriche, die verschiedenen Initiativen zu einem praktizierbaren Ganzen zu verbinden…

Diese Rolle war dem Briten Gerald Gardner beschieden, der 1949 aus den bisher skizzierten Ideen und Vorstellungen ein erstes Buch der Schatten kompilierte, mit dem er dann auch in der Praxis wagte, einen ersten tatsächlich praktizierenden heidnischen Zirkel der Neuzeit als spirituell arbeitende Gruppe mehr oder weniger öffentlich zu etablieren.
Gardner nannte das so entstandene Konzept „Wicca“ (nach der angelsächsischen Bezeichnung „Wicce“, »Hexe«) Er übernahm die erwähnte weiblich-matriarchische Betonung sowie auch die Covenstruktur (Hexenzirkel/Konvent), so daß stets eine „Hohepriesterin“ (oder auch „Magistra“) die rituelle Leitungsfunktion einer solcherart überschaubaren Kleingruppe übernahm.
Die zweite Hohepriesterin von Gardners eigener Start-Gruppe, Doreen Valiente, überarbeitete maßgeblich die in verschiedenen noch nicht völlig zusammenhängenden Teilen existierende Version des „Schattenbuches“, wodurch bis 1954 ein druckfähiges Exemplar für ein größeres Publikum geschaffen wurde.

Gardners und Valientes Konzeption von Wicca, als Herangehensweise für ein „praktizierfähiges Hexen- bzw. Heidentum“, traf einen nicht unerheblichen spirituellen Bedarf, der in Teilen von non-konformen, romantisierenden oder auch esoterischen Kreisen genau bezüglich des eingangs erwähnten Bedürfnisses nach „aktiver Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeit, sowie der Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens in spirituellen Belangen“ bestand.
Die von Murray übernommene, zellenartige und minimal-hierarchische „Covenstuktur“ („Zirkel“) als Kleingruppe von maximal 13 Teilnehmer*innen kam dabei zusätzlich einer potentiell individualistischen Gestaltungs- und Erlebenskultur entgegen.
Bis zu Gardners Tod 1964 entstanden durch diese Zellenstruktur – also durch das Bilden von „Ablegern“ des Muttercovens – in Großbritannien ca. 8 weitere Zirkel; der „internationale Durchbruch“ sollte aber über die USA kommen, in denen „Wicca“ auf höchst fruchtbaren Boden gelangte.

Schon 1960 war nämlich Monique Wilson durch Gardners vierte Hohepriesterin, Lois Bourne (aus dem urspünglichen Start-Coven), in Wicca eingeführt („initiiert“) worden.
1961 hatte Monique Wilson bereits ihren eigenen Ableger-„Coven“ (Zirkel) in Perth (Schottland) gegründet, wo sie ihrerseits 1963 das Ehepaar Rosemary und Raymond Buckland zu Praktizierenden der Hexenkunst weihte (welche seit 1962 in den USA lebten und in regelmäßigem Briefkontakt zu Gerald Gardner standen).
Rosemary und Raymond gründeten in Folge den ersten „offiziellen“ Wicca-Coven der USA in New York; jedoch hatten unabhängig davon seit 1954 längst etliche Kopien von Gardners „Buch der Schatten“ die Staaten erreicht, wodurch sich bereits eine Vielzahl unterschiedlicher nicht-gardnerianischer „Wicca-Traditionen“ zu etablieren begonnen hatten.
In den USA traf „Wicca“ somit jedenfalls rechtzeitig auf die brodelnde Mixtur aus Bürgerrechtsbewegung, gesellschaftlichem Aufbruch, Freiheitsstreben (Womens/Gay Lib.) und „spirituellem New Age“ der Kennedy/Johnson-Ära (Stichworte: Raumfahrtprogramm, Abschaffung der Rassentrennung, Hippiekultur, Vietnamkrieg, Konsumanstieg, Gesundheitsverbesserung, Erhöhung der Frauenbeschäftigung) – Faktoren, die schließlich maßgeblich auf die Grundideen ethischer Non-Monogamie Einfluß nehmen sollten.
Bevor jedoch zum ersten Mal das Wort Polyamory wirklich ausgesprochen und geschrieben wurde, mußten sich zuvor noch zwei wirklich bemerkenswerte Persönlichkeiten – eine Hexe und ein Magier natürlich – begegnen.
Von diesem außerordentlichen Zusammenwirken berichte ich in Teil 3.


In meinem heutiges Fazit möchte ich mich vollkommen dem Religionsanthropologen Michael Strmiska anschließen, der sich in seiner Forschung intensiv mit der „Renaissance“ paganistischer und heidnischer Bewegungen auseinandersetzt; er schrieb dazu:

„Moderne Heiden lassen religiöse Traditionen der Vergangenheit wieder aufleben, rekonstruieren sie und erfinden sie neu; Traditionen, die lange Zeit unterdrückt wurden, sogar bis zu dem Punkt, dass sie fast völlig ausgelöscht wurden…
Daher können die heutigen Heiden, von einigen wenigen möglichen Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten, dass sie religiöse Traditionen fortsetzen, die in einer ununterbrochenen Linie von der Antike bis zur Gegenwart überliefert wurden.
Sie sind moderne Menschen mit einer großen Ehrfurcht vor der Spiritualität der Vergangenheit, die aus den Überresten der Vergangenheit eine neue Religion – in modernes Heidentum – gestalten, die sie nach modernen Denkweisen interpretieren, anpassen und modifizieren“.

[…]
„Der Aufstieg eines modernen Heidentums (Neo-Paganismus) ist sowohl ein Ergebnis als auch ein Maß für die zunehmende Religionsfreiheit und die zunehmende Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt in modernen Gesellschaften, eine Freiheit und Toleranz, die durch die Eindämmung der manchmal unterdrückenden Macht möglich wurde, die in den vergangenen Jahrhunderten von christlichen Autoritäten ausgeübt wurde, um Gehorsam und Teilnahme zu erzwingen.
Um es anders auszudrücken: Das moderne Heidentum ist eines der glücklichen Stiefkinder des modernen Multikulturalismus und des sozialen Pluralismus.“
[siehe auch Teil 4]



Quellen:
Raven Grimassi, „The Wiccan Mysteries: Ancient Origins and Teachings“, Llewellyn 1997

Ronald Hutton, „The Triumph of the Moon – A History of Modern Pagan Witchcraft“, Oxford-Press 1999

Philip Heselton, „Wiccan Roots: Gerald Gardner and the Modern Witchcraft Revival“, Capall Bann 2000

Michael F. Strmiska; „Modern Paganism in World Cultures: Comparative Perspectives“; Santa Barbara, Dencer and Oxford (2005)

Danke an Simon Hattinga Verschure auf Unsplash für das Foto des Callanish-Steinkreises auf der Isle of Lewis (Äußere Hebriden).

Eintrag 47

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 1

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Von Dschungeln und Monden

Im Jahre 1865 wurde Rudyard Kipling in Bombay als Sohn einer anglo-indischen Familie geboren. „Anglo-indische“ Familien, das waren genau genommen wohlhabende britische Familien, die aber – durch die Kolonialherrschaft bedingt – vollständig in Indien lebten und auch weitgehend vom dortigen Kulturraum beeinflußt waren. In seinen Lebenserinnerungen schrieb Kipling später, daß er in seinen ersten Lebensjahren hauptsächlich von einer indischen „Ayah“ (Kindermädchen) betreut wurde. „Am Nachmittag, bevor wir uns schlafen legten, erzählte sie oder einer der Meeta (männl. Hausangestellter) uns Geschichten und indische Kinderlieder, die alle unvergeßlich waren, und als wir später ins Esszimmer geschickt wurden, nachdem wir angezogen worden waren, erhielten wir die Ermahnung: ‚Sprich jetzt Englisch mit Papa und Mama‘.“ Englisch, so schrieb Kipling weiter, hätte er auf diese Weise schließlich quasi als Fremdsprache empfunden.
Schon 1870 wurde der kleine Rudyard aber bereits aus diesem Paradies verstoßen: Er wurde (zusammen mit seiner jüngeren Schwester) zur weiteren Erziehung und Ausbildung – wie es damals üblich war – zu Pflegeeltern nach England geschickt. Der Sprach- und Kulturschock waren groß, die Sitten streng – und auch darüber finden sich Eintragungen in seinen späteren Lebenserinnerungen.
Erst zwölf Jahre später, 1882, konnte Kipling wieder an die Orte seiner verlorenen Kindheit zurückkehren, abermals begleitet von einem Wechselbad starker Gefühle; er schrieb: „Ich befand ich mich in Bombay, wo ich geboren war, und bewegte mich zwischen Anblicken und Gerüchen, die mich Sätze in meiner angestammten Sprache [Kipling bezieht sich auf Marathi!] stammeln ließen, deren Bedeutung ich nicht mehr kannte…“.
Kipling gelang es jedoch mit familiärer Unterstützung, auch dank seiner reichen Phantasie und seines ausgeprägten Intellekts, aus diesen widerstreitenden Erfahrungen inspiriert hervorzugehen. In den nächsten zwölf Jahren lebte und arbeitete er journalistisch wie schriftstellerisch in England, Indien und in den USA, heiratete und gründete eine eigene Familie.
Im Winter 1892, in dem auch seine erste Tochter geboren wurde, begann sich Kipling mit der Idee zu einem Kinderbuch zu beschäftigen, in welches auf diese Weise verschiedene Motive aus seiner eigenen Kindheit Eingang fanden. Da waren zum einen die uralten indischen Legenden, die er von seiner Ayah kannte, Fabeln aus dem „Panchatantra“ (eine Sammlung alter indischer Tiermärchen) sowie die Jataka-Erzählungen (Mythen über den Buddha in seiner tierischen und menschlicher Gestalt). Aber vermutlich auch geflüsterte Dienstboten-Geschichten über die „Dschungelkinder von Husanpur und Sultanpur“ (Berichte über mehrere „Wilde Kinder“, die dem Hörensagen zufolge zwischen 1846 und 1848 in den indischen Provinzen Agra und Oudh ohne menschliche Obhut in der Wildnis überlebend aufgefunden wurden¹). Und natürlich Kiplings eigne Lebenserfahrung, als „Spross zweier Welten“ – der indischen und der europäischen, und seinem eigenen Aufwachsen unter stark gegensätzlichen Anschauungen.
Diese – teils sehr persönlichen – Eindrücke bewegten Kipling zu der Auseinandersetzung mit einer Frage, die auch die gerade erst aufblühende Wissenschaft der Psychologie seiner Zeit ebenfalls stark beschäftigte: Welche Umstände sind es, die einen Menschen zum Menschen machen und was sind die entscheidenden Faktoren, welche die Entwicklung eines Individuums beeinflussen?
Rudyard Kipling beantwortete diese Frage für sich mit dem ersten Teil seiner ab 1894 erschienen „Dschungelbücher“, mit der Geschichte des Findelkindes Mowgli, der im Dschungel von Wölfen aufgezogen und schließlich von diesen, sowie einem Panther, einem Bären und einem Python „sozialisiert“ wird.
Kipling entwarf eine faszinierende und exotische Welt, in der ein Menschenkind seinen Weg zu Überlebensfähigkeit und Ethik findet, einzig angeleitet von den mythischen Kräften seiner inneren und der allgegenwärtigen äußeren, (ungezähmten) Natur. Sein Buch wurde ein Welterfolg, sicher auch, weil in seiner Erzählung an vielen Stellen der Glaube an ein „immanent Gutes“ im Menschen und in der Gesamtschöpfung hervorschimmert – möglicherweise ein Abglanz der zukunftsfrohen Zuversicht des 19. Jahrhunderts, vielleicht aber auch der Zuversicht von Rudyard Kipling selber, der seinen Lebensweg ja eben auch „zwischen zwei Welten“ finden mußte – und fand.

Etwa 25 Jahre und einen Weltkrieg später, um das Jahr 1920 herum, begann ein weiterer Junge, diesmal in den USA, seinen Weg „zwischen den Welten“ zu suchen. Jugendliteratur war noch keinesfalls so vielfältig wie heute, für „Knaben“ gab es aber neben Klassikern wie E.A. Poe (z.B. „Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“) oder J. Verne (z.B. „Von der Erde zum Mond“) zunehmend Autoren wie Jack London (u.a. „Der Rote“), H.G. Wells (z.B. „Die Zeitmaschine“) oder eben Rudyard Kipling (u.a. „Die Luftaufsichtsbehörde“), die sich an einem neuen Genre visionärer Fiktionen hinsichtlich Technik, Wissenschaft und Gesellschaft erprobten. Solcherart Geschichten begannen auch zunehmend in einem gänzlich neuen Format auf den Markt zu kommen, nämlich als wöchentliche oder monatliche Heftchenmagazine, in denen Erzählungen verschiedener Autoren für kleines Geld dem Lesepublikum dargeboten wurde.
In diese bunte Welt begab sich auch der junge Robert A. Heinlein, zunächst als Leser – aber nachdem er seine kurze Marinekarriere gesundheitsbedingt beenden mußte – schließlich als überaus eifriger wie begabter Schreiber.
Aus Heinleins Feder stammten fortan immer wieder Serien wie z.B. die zwiespältigen „Starship Troopers“ (bis 1959). Dieser Geschichtenzyklus war in seinem Militarismus und Totalitarismus stark von Heinleins eigenen Militärerfahrungen beeinflußt. Allerdings war Heinlein beim Militär ebenso aufgefallen, wie „gleichmachend“ – was z.B. Alters-, Standes- und sogar Geschlechtsunterschiede betreffend – militärische Strukturen sich außerdem auswirken konnten. Noch heute läßt sich sowohl in seinen Texten als auch in den späteren Verfilmungen ein Hauch von diesen überraschend egalitären Vorstellungen spüren, wenn vor martialischem Hintergrund Frauen wie Männer gleichermaßen berechtigt wie körperbewußt mit hoher Selbstverständlichkeit interagieren.
Als sich Heinlein ab Ende der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sich dem Zenit seines Schaffens näherte (er begann im Science Fiction Genre neben I. Asimov und A.C. Clarke zu den „Großen Drei“ gezählt zu werden), griff er eine Idee auf, die ihn schon seit gut zehn Jahren umtrieb: Eine moderne Konzeption von R. Kiplings „Dschungelbüchern“ zu entwerfen. Heinlein war, wie Kipling seinerzeit, ebenfalls regelmäßig in seinen Publikationen von der Frage fasziniert, „was den Menschen zum Menschen machen“ würde – und welche Kräfte dieses „Menschsein“ bestimmten. Heinlein wollte für seine literarische Projektion dieses Themas jedoch über Kiplings „Mowgli“ hinausgehen, dessen „Menschenjunges“ ja doch von eher nobel agierenden Tieren zu einer Art „edlem Wilden“ erzogen worden war. Heinlein erwog eine Konzeption, in der er nun ein menschliches Kind komplett nach den gesellschaftlichen Regeln, spirituellen Gebräuchen und Kulturvorstellungen einer völlig anders denkenden Spezies aufwachsen lassen wollte.
Das Produkt dieses Gedankenexperimentes wurde der Roman „Fremder in einer fremden Welt“ (1961) – in dem die Hauptperson, wie der Titel bereits andeutet, zurück unter „Ihresgleichen“, versuchen muß, ihren Weg zwischen zwei völlig unterschiedlichen Werteuniversen zu finden. Heinlein verleiht der „weltenwandernden“ Hauptperson Mike aber auch teilweise messianische Züge, die – durch ihre fremdartigen Erzieher mit teils übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet – wiederum der menschlichen Gesellschaft eine „neue Art zu Denken“ in Form eines spirituellen Vermächtnisses nahebringt. Die schließlich daraus entstehende „Kirche aller Welten“ (COW²) ist äußerst non-konformistisch egalitär und in Kleingruppen (sg. „Nestern“) organisiert, die sämtlich nach Selbstwirksamkeit und Potentialentfaltung streben.
Wiewohl es Heinlein in „Fremder in einer fremden Welt“ gelang, „anerzogene“ gesellschaftliche Strukturen wie Familie, Religion, Geschlechterrollen oder sogar Sexualmoral geschickt zu hinterfragen, blieb dieses Werk in manch anderen Teilen eher reaktionär (z.B. stereotypes Frauenbild).
Heinlein, der so erkannte, daß er als Autor ebenfalls immer „Teil eines Systems“ und damit auch Teil einer „Art zu Denken“ war, strebte daraufhin mit einem weiteren Buch an, sich literarisch von solchen Begrenzungen noch weiter zu befreien.
1966 erschien sein Roman „Revolte auf Luna“. Den Science Fiction-Hintergrund nutzte Heinlein diesmal dazu, eine herausfordernde (Mond-)Umwelt zu entwerfen, welche handfeste Auswirkungen auf Ressourcenverteilung, gemeinschaftlichen Nutzen und Optimierung des Vorhandenen für die menschlichen Luna-Pioniere hat. Der Autor legte nun besonderen Wert auf die Gesellschaftsstruktur einer Kolonistengemeinschaft, die auch nach mehreren Generationen noch mit einem Überhang an männlichem (Fach)Personal zurechtkommen muß. Heinlein wählte als Lösung dieser „Sozialen Frage“ das sich Ausbilden von Polyandrie, Gruppen- und Gemeinschaftsehen³, sowie eine unorthodoxe, hochintegrative Gesellschaftsform, in der Ethnien und Gesinnungsdenken keinen Platz (mehr) haben. Als im Laufe des Buches die Mondbewohner mit einer ökologischen Katastrophe konfrontiert werden (die sie durch die im deutschen Titel angedeutete „Revolte“ abwenden können), läßt Heinlein zum Ende des Buches die Frage offen, in wieweit die Freiheit eines Individuums durch demokratische Regeln der Gemeinschaft eingeschränkt werden darf.

Fazit:
Meiner Ansicht nach ist die visionäre Kraft der Fiktionen von sowohl Kipling als auch Heinlein dahingehend so sprichwörtlich „bahnbrechend“, weil beide Autoren es wagten, auf literarische Weise auszuloten, wie es um die konditionierten Grenzen „menschlicher Konventionen“ bestellt ist.
Eigene Lebenserfahrung veranlasste beide Schriftsteller, ihren Leser*innen einen Ausblick auf den fakultativ überraschend großen individuellen wie auch sozialen Gestaltungsspielraum zu ermöglichen, der sich bei Überschreitung des „Vorgegebenen“ (sei es aus Not oder aus Pioniergeist heraus) darzubieten beginnt.
Kipling und insbesondere Heinlein wollten dabei zeigen, daß im Hinblick auf die grundsätzlich anpassungsfähige Natur des Menschens unser mobilisierbares Potential vermutlich weitaus größer ist als unser Zutrauen angesichts vorgegebener, tradierter Muster, die wir als „feststehende Normalität (und Normativität! ) betrachten.
Und sie wagten es, anzudeuten, daß mögliche Veränderung aufgrund dieses Potentials quasi immer „nur eine Gedanken-Ecke weit weg“ läge, also innerhalb unserer Reichweite, mit Mut erreichbar – umsetzbar und folglich er-lebbar.

Teil 2
handelt von einer höchst bemerkenswerten Entwicklung, die nonkonformistisches Denken in Richtung ethischer nicht-Monogamie zusätzlich begünstigte.
Von Menschen, welche die Fackel aufnahmen und sich auf dieses Abenteuer tatsächlich einließen, handeln Teil 3 und Teil 4.



¹ Lucien Malson, „Die wilden Kinder“, Suhrkamp-Verlag 1964

² Die „Kirche aller Welten“ – im Original: „Church of all Worlds“ mit der Abkürzung COW; wird im dritten Teil dieser Artikelserie noch einmal sehr wichtig.

³ Ich als Autor bedauere sehr, bisher an dieser Stelle keine brauchbareren deutschen Wiki-Links setzen zu können. Eine günstigere, englischsprachige Parallele wäre hier definitiv Group marriage.

Danke an Marcus Dall Col auf Unsplash für das Foto

Eintrag 46

(Er)Kenne Dich selbst*

Neulich hörte ich in einem Gespräch zweier älterer Damen auf dem Wochenmarkt den Satz: „Na, wenn die beiden einander lieben, dann ist das doch schon mal ein guter Anfang…“
„Tja“, dachte ich so bei mir, „mit der Liebe ist das fast so eine Sache wie mit dem Huhn und dem Ei: Manchmal ist es schwer festzustellen, was Anfang, Mitte oder vielleicht schon Ende ist – und was wem vorhergeht oder zugrunde liegt…“
Da ich aber lieber auf meinem bLog philosophiere als auf dem Wochenmarkt, seid Ihr es, liebe Leser*innen, die ich hier dazu wieder in meine Gedankenwelt mitnehme:

Am Ende von Eintrag 14 zitierte ich die folgenden vier Sätze ¹ :
Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.


Ich würde diese Feststellungen gerne noch einmal genauer unter die oligoamore Lupe nehmen, da sie für mich sehr stark das enthalten, was die Grundlage einer stabilen Liebesbeziehung ausmacht.

Für insbesondere bemerkenswert halte ich die Formulierungen „eigene(s) Selbstverständnis“ und „Kernselbst“. Denn diese Begriffe heben hervor, daß stabile Intimität und Nähe nicht ohne eine grundlegende Selbstzurkenntnisnahme sowie eine überwiegende Akzeptanz seiner selbst möglich sind.
Die Schlußfolgerung scheint banal: Ist doch klar – wie soll ich anderen vertrauen, wenn ich mir selbst nicht vertraue?

„Absolut!“, stimme ich da als Reiseleiter auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory zu. Exakt das ist der Grund, warum ich bei so vielen Gelegenheiten die »Lust zur Selbsterforschung« betone, ohne deren Basisarbeit jegliches Beziehungsgebäude, welches wir darauf zu errichten versuchen, ein eher wackeliges Erdgeschoss behalten wird. Bzw. genau genommen einen „wackeligen Keller“, der quasi ein buchstäbliches Symbol des Unbewußten mit seinen unsichtbaren Truhen unserer Ängste und Abwehrmechanismen ist (siehe auch Eintrag 35).
„Ängste und Abwehrmechanismen“ sind, was unsere Beziehungsfähigkeit angeht, die entscheidenden Stichwörter, denn unsere Liebsten könnten uns soviel Bestätigung, Rücksicht, Empathie und Zuneigung entgegenbringen wie sie wollten – nichts davon hätte einen nachhaltigen Wert für uns, wenn wir nicht zuallererst in der Lage sind, solche Empfindungen überhaupt anzunehmen.
Wenn wir uns unserer eigenen Beweggründe nicht ausreichend klar sind (z.B. weil wir bisher davor ausgewichen sind, sie eingehend zu reflektieren) oder wenn wir mehr oder weniger bewußte Unaufrichtigkeiten als Teil unseres Beziehungsmanagements aufrechtzuerhalten versuchen, werden schon allein Selbstschutzgründe allzu weitgehende Einlassungstiefe in eine Beziehung verhindern. Denn wenn wir nicht geradewegs narzisstische Persönlichkeitsmerkmale haben (die häufig mit pathologischer Empathieunfähigkeit einhergeht), gäbe es dadurch immer einen Teil in uns, der im Wissen um unser inkohärentes Verhalten die allertiefste soziale Angst nähren würde: Daß wir es eigentlich (doch) nicht wert sind.

Wenn wir in dieser Art irgendwo in unserem tiefsten Inneren selbst glauben, „daß wir es nicht wert sind“, dann ergibt sich daraus ein Problem, Zitat: „wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben“. Demzufolge das (nicht-)Erleben unsere „Wahrnehmung“ beeinflusst. Und wenn unsere Wahrnehmung aufgrund von unvollständigem Selbstwert Mängel aufweist, dann werden wir, was „Liebe und Zuneigung“ von unseren Liebsten angeht – trotz deren bestem Ansinnen – statt Sicherheit und Fülle immer nur Unsicherheit und Mangel empfinden.
Und Unsicherheit begründet genau den von mir in Eintrag 42 beschriebenen, durch Stress aufrechterhaltenden Alarmzustand des „auf dem Sprung Seins“.

Der Volksmund sagt ja bereits: „Man muß auch die Fähigkeit haben, mal ein Kompliment annehmen zu können.“ In unseren Liebesbeziehungen geht dieses „Annehmen-Können“ weit über bloße Komplimente hinaus. „Annehmen-Können“ ist dort nämlich die Grundvoraussetzung für Akzeptanz und integratives Verhalten (z.B. Eintrag 33). Also größtmögliche Akzeptanz und Integration unserer eigenen Liebsten und in zweiter Linie eventuell wiederum deren Liebsten.
Ist aber bereits unsere Fähigkeit sowohl zur Selbst-Annahme als auch zum „Annehmen-Können“ noch geschwächt, dann leben wir sehr nahe an dem Reflex, bei potentiell auftretenden Schwierigkeiten sofort weitmöglichst von uns weg zu zeigen – und damit eventuelle „Schuld“ (also „Ursächlichkeit“!) immer den anderen Beteiligten zuzuordnen.

[An dieser Stell ist es mir wichtig, hier kurz auf die gesellschaftspolitische Dimension von guter Beziehungsführung hinzuweisen. Denn noch funktionieren die allermeisten soziopolitischen Modelle (Staaten, Kommunen, Familien, etc.) weitestgehend aufgrund dem Prinzip einer „Schuldgemeinschaft“.
Mit sich selbst also zuvorderst für „Klar Schiff“ zu sorgen, ist in dieser Hinsicht damit sogar ein Beitrag zu einer friedlicheren Welt.
Sind Menschen in ethischer Non-Monogamie, wie Poly- oder Oligoamory darum also „entwickelter“ als Leute in monogamen Beziehungen? Nein, das glaube ich nicht, gerade weil das Maß für „Beziehungsfähigkeit“, wie ich hier skizziere, an der Wurzel nicht eine Frage des gewählten Beziehungsmodells, sondern der Reflektionsfähigkeit des Individuums ist.
Da Monogamie die anerkannte Hauptbeziehungsform des derzeitigen Systems (mit seiner Mentalität der „Schuldgemeinschaft“) ist, mag es dort höchstens bislang „einfacher“ sein, Mißstände leichter zu ignorieren bzw. „jemand anderem“ anzuhängen.]

„Selbstzurkenntnisnahme“ ist auf diese Weise also auch ein wesentlicher Bestandteil des „Selbstvertrauens“. Wesentlich – um den Satz von oben noch einmal umzukehren – denn wenn ich mir selbst nicht vertraue, dann kann ich (auch) den anderen nicht vertrauen.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel nannte „Vertrauen“ einmal den „mittleren Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“, also gewissermaßen eine „Hypothese künftigen Verhaltens“ betreffend. Diese müsse sicher genug sein, um „praktisches Handeln darauf zu gründen.“ ²
Was unsere (Liebes)Beziehungen angeht, empfinde ich das als eine ganz ausgezeichnete Beschreibung. Wir Menschen „vertrauen“ im Alltag nämlich überraschend häufig zahllosen Umständen, die wir als „sicher genug“ erachten: Wir steuern Gefährte durch die Gegend, die zu Geschwindigkeiten weit jenseits von 100 km/h fähig sind, oder wir setzen uns rückwärts auf Stühle, die wir in diesem Moment gar nicht mehr sehen können (!) – felsenfest von der Tasche überzeugt, daß diese doch exakt da sein werden, in dem Moment, in dem unsere Hinterteile sich in Höhe der imaginierten Sitzfläche befinden…
Grundsätzlich also scheinen bestimmte Arten von „Vertrauen“ gewissermaßen doch zur zweiten Natur des Menschen zu gehören, ohne welches weitgehende Prozesse des Alltags unmöglich oder wenigstens sehr umständlich geraten würden.

Das gegenseitige Vertrauen, was wir für stabile Liebesbeziehungen benötigen, ist nun aber tatsächlich etwas komplexer als, jenes, welches wir benötigen, um uns auf einen Stuhl zu setzen oder ein Auto zu steuern. Diese beiden Vorgänge sind eher einem situations- bzw. eigenschaftsbasierten Vertrauen zuzuordnen: Wir haben z.B. gelernt, daß Stühle sich normalerweise nicht heimlich von der Stelle bewegen, wenn unbeobachtet (Achtung Ausnahme: Sitzbälle!) oder wir wissen, daß Autos auch bei hoher Geschwindigkeit in Kurven spurtreu und haltbar sind, wenn sie regelmäßig gewartet werden.
Unter Menschen benötigen wir jedoch ein „identifikationsbasiertes Vertrauen“, welches gemäß dem US-amerikanischen Philosophen David Kelley aus den Komponenten Offenheit/Kommunikation, Empathie, Gemeinschaft und Sympathie besteht ³.

Wenn ich mich für gegenseitiges Vertrauen aber mit den anderen Beteiligten mittels Kommunikation, Empathie und Sympathie in Gemeinschaft „identifizieren“ (was aus dem Lateinischen wörtlich übersetzt „gleichsetzen“ heißt!) soll, dann bedeutet das, daß ich zuerst mir selbst gegenüber sehr freundlich gesonnen sein muß.
Denn um bei unserem Beispiel mit dem Stuhl zu bleiben: Ich kann mich doch nur dann zuversichtlich „fallen lassen“, wenn ich mich, ohne Kontrolle aufzuwenden, darauf verlassen kann, daß auch die anderen „mir freundlich gesonnen“ – meine „Freunde“ – sind.

Womit wir auch in diesem Eintrag nicht um den Autor Saint-Exupéry und seinen „Kleinen Prinzen“ herumkommen werden: Wenn die Psychologen Cohen, Underwood und Gottlieb in ihrem Eingangszitat schrieben, daß wir für das Erleben von Intimität und Nähe das Gefühl von Verständnis, Bestätigung und Rücksicht benötigen, dann kommt unweigerlich der Faktor „Zeit“ ins Spiel. Zeit für das, was „Saint-Exupéry Zähmung nannte.
Das Buch „Der Kleine Prinz“ ist nun meiner Ansicht nach genau deshalb so merkwürdig anrührend und gleichzeitig so verstörend kompliziert, weil diese „Zähmung“ immer zwei Bestandteile hat:
Zum einen die offensichtliche, langsame Annäherung und das Kennenlernen der Hauptbeteiligten in der potentiell zustande kommenden Beziehung.
Zum anderen aber auch die „Heldenreise“, die jeder Mensch allein mit sich selbst bewältigen muß, um eigene Stärken und Schwächen zu erkunden (siehe auch Eintrag 18).

Womit sich für mich der Kreis zum „eigenen Selbstverständnis“, sowie zu „Bewußtheit und Wertschätzung für das Kernselbst“ schließt:
Wahres Vertrauen ist (erst) dann entstanden, wenn ich wahrnehme, daß die anderen mich als die Person, als die Identität, wertschätzen, als die auch ich mich respektiere.
Und in diesem Moment wären wir auch wieder bei der wohltuenden Kohärenz (=Sinnzusammenhang/ Folgerichtigkeit) von innerem und äußerem Erleben angekommen, die unsere Gehirne als den erstrebenswertesten Zustand erachten (siehe auch Eintrag 21).
Kohärenz jedenfalls, die wiederum allen unserer übrigen Beziehungskompetenzen als Kompaß dienen kann, wodurch wir besser an einem gemeinsamen Gleichgewicht von allseitigem Wohlergehen und persönlicher Zufriedenheit mitwirken können.

Ob das dann (schon) Liebe ist? Das müßt ihr da draußen entscheiden.
Für mich jedenfalls ist es weit mehr als nur ein guter Anfang.



* Selbsterkenntnis (Wikipedia)

¹ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“ – A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000

² Georg Simmel, Soziologie (1908); Gesamtausgabe, hrg. von O. Rammstedt, Bd. 11, 1992

³ David Kelley, Unrugged Individualism: The Selfish Basis of Benevolence, The Objectivist Center, 1996

Danke an Kristopher Roller auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 45

Die wunderbare Alltäglichkeit des Seins¹

In meinen Januar-Artikeln habe ich mich eingehend der Fragestellung des Vertrauens und Anvertrauens in unseren Beziehungen gewidmet – Grundvoraussetzungen, damit ein echtes, ja, ein authentisches und intimes Miteinander überhaupt möglich und erlebbar werden kann.
Mehrere Komponenten, die für gelingende Oligoamory bedeutsam sind, tauchen dort noch einmal auf, die, wie ein roter Faden, immer mal wieder in meinem bLog angesprochen werden:
Verantwortlichkeit (in erster Linie für sich selbst und in erweiterter Dimension dann auch für die Anderen), Verbindlichkeit (insbesondere hinsichtlich der von einem selbst einmal getroffenen Wahlen) und – nicht zuletzt – eine die ganze Person meinende Liebe.

Ich gebe zu, daß ich mit den sehr ausführlich Erwägungen zu diesen Themen eventuell manchmal die Ausdauer meiner Leser*innen auf eine harte Probe stelle, insbesondere in den Momenten, in denen ich mich scheinbar äußerst umfassend durch den „theoretischen Unterbau“ hangele.
Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und integrative Liebe sind allerdings – wenn wir mutig beginnen, diesen Ideen in unseren Beziehungen mehr Raum zu geben – am Ende höchst entscheidende Trümpfe für die alltägliche Machbarkeit und Lebbarkeit von ethischen (oligoamoren) Mehrfachbeziehungen.
Denn da wir in diesen Beziehungen immer mit lebendigen Menschen zu tun haben, bei denen wir uns hoffentlich wünschen, sie zu unseren „Liebsten“ zählen zu dürfen, werden wir dort vor allem mit den ganz praktischen, alltäglichen Fragen konfrontiert.
Und das sind dann eben meist konkrete Fragen, die da z.B. lauten, wie viel wir uns von unseren Liebsten gefallen lassen sollten (und die sich von uns), wie viel autonom gestaltbare Privatsphäre eine Person allein für sich behalten sollte – oder was zu tun ist, wenn irgendwo im potentiellen Beziehungsnetzwerk Menschen schon Eltern sind.

Die Essenz meiner persönlichen Antwort auf diese Fragen findet sich bei genauer Betrachtung in meinem etwas humorvoll daherkommenden Eintrag 34, in dem es um die selbstgewählten „Lebensgefährten“ geht.
Denn alle Menschen, die sich jemals mit Mehrfachbeziehungen auseinandergesetzt haben, sind früher oder später an den Punkt gekommen, an dem sie feststellen mußten, daß am Ende aller Gespräche, Abmachungen, Regularien, Übereinkommen und Freiheiten sich ein Kuchen einfach kaum teilen läßt – und das ist die Zeit.
Konkret gesprochen: Unsere persönliche Lebenszeit. Die wir als Individuum , aufteilen, verteilen, ja – auch zuteilen – können; die aber selber unerbittlich und unbeeindruckt davon bemessen und endlich bleibt.

Um dieses Dilemma kreist die gesamte Non-Monogamie und führt um diesen unsichtbaren aber nichtsdestoweniger unumstößlichen „Elefanten im Raum“ teils recht bizarre Tänze auf.
Die eben zu solch wenig ganzheitlichen wie menschlich exklusiven Herangehensweisen führen, sg. „Liebste“ pokémonartig nach „Bedürfniserfüllfähigkeit“ zu sortieren (siehe Eintrag 2) oder affärenähnliche Liebeleien auf raumzeitlich begrenzten „Inseln des Glücks“ mit ihnen zu arrangieren (Eintrag 43).

Warum wir dann (trotzdem) immer mittelfristig unzufrieden, irgendwie unerfüllt und bedürftig bleiben?
Nun, die theoretische oligoamore Antwort auf diese Frage würde lauten: Weil eine solche Beziehungsführung überhaupt nicht nachhaltig ist (siehe auch Eintrag 42), indem sämtliche Nachhaltigkeitskriterien gerissen werden, die da heißen beständig (konsistent), geeignet (effizient) und ausreichend (suffizient).

Und die philosophisch-psychologische Antwort würde lauten: Weil eine solche Beziehungsführung Kennzeichen einer „Trennungs- und Abspaltungsrealität“ (siehe Eintrag 26) ist.

Genau Letzteres ist aber nicht nur ein Problem der Non-Monogamie, sondern ein omnipräsentes Gegenwartsphänomen.
Das können wir z.B. dann beobachten, wenn Menschen über ihre Work/Life-Balance sprechen – also über ihre Einstellung gegenüber ihrer Arbeits- und Frei-Zeit.
Es gibt diesbezüglich sicher Ausnahmen, aber wenn man den allermeisten Menschen in dieser Hinsicht einmal zuhört, dann klingt es, als ob sie von zwei völlig getrennten Lebensbereichen sprechen würden. „Arbeit“ scheint oft einer Sphäre quasi-göttlicher Strafe anzugehören², „das richtige Leben“ findet hingegen in der Freizeit statt – und wenn man manchen Menschen glauben darf, dann eigentlich sogar nur im Urlaub: Auf einer ganz buchstäblichen, entrückten fernen „Insel des Glücks“.
In solchen Beschreibungen kommen dann auch die „Grauzonen des Alltags“, also die Übergangsmomente häufig ebenfalls schlecht weg: Einkauf, Kinderversorgung, profane familiäre Interaktion, alltägliche Funktionsabsprachen („Holst Du das Auto? / Hast Du den Klempner angerufen?“ ), usw. geraten zu Lästigkeiten, denen man sich möglichst rasch entledigen möchte – und entsprechend halbherzig tut man dies dann auch oft. Womit der Eindruck noch verstärkt wird, daß diese Tätigkeiten wohl definitiv auch mehr zum Bereich der „biblischen Plagen“ als zum erfreulichen, wahren Leben gehörig sind.

Diese fortwährend aufrechterhaltene „Trennungsrealität“ wird uns dann im Alter – oder spätestens in unserem letzten Stündlein – eine recht traurige Bilanz präsentieren: Unser Dasein war also überwiegend „Mühe und Arbeit“, „echtes Leben“ hat nur ganz selten einmal stattgefunden. Wenn ich auf diese Bilanz schaue, dann wird auch mir himmelangst und es wundert mich nicht, daß das Zittern Parkinsons oder das Vergessen der Demenz oder die Niedergeschlagenheit der Depression heute zu den „Zivilisationskrankheiten“ gehören…

„Ja, aber Oligotropos, es ist doch jetzt schon kaum noch möglich, mehr als eine Liebesbeziehung (wenn überhaupt) im Leben unterzubringen. Wenn wir Menschen so wenig Liebe erfahren, dann ist es doch kein Wunder, daß es uns irgendwann schlecht ergeht…!“

„Aaaargh – nein!“, will ich dann ausrufen. Haarscharf wieder in die Falle geplumpst.
Kennt Ihr das Sprichwort „Man sollte nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben“ ?
Denn die riesige Chance ethischer Non-Monogamie ist es, Mehrfachbeziehungen alltäglich lebbar zu gestalten. Das ist ein Grund, warum ich in zahlreichen meiner Einträge z.B. Scott Peck zitiere, der sich intensiv mit den Herausforderungen von Gemeinschaftsbildung beschäftigte.
Wenn wir uns einig sind, daß der „am schwersten teilbare Kuchen“ unsere begrenzte und irgendwann einmal auch endliche individuelle Lebenszeit ist – dann müssen wir das „Pferd“ genau von dieser Seite her auch aufzäumen: Von der Größe her, die im Zweifel die knappste Ressource in unserem Nachhaltigkeitsmix ist.
Und statt zu versuchen, dieser Tatsache mit Umgehungstaktiken zu entkommen, indem wir möglichst viel Energie darauf verwenden, wie wir den „Kuchen“ trotzdem noch irgendwie so dünn wie möglich auswalzen oder dehnen könnten, wie wir ihn eventuell bröckchenweise strecken oder fein vermahlen als ledigliches „Gewürz“ punktuell einsetzen würden, sollten wir stattdessen „das Prinzip umarmen“ und als Potential zu unseren Gunsten nutzen.

Wenn ich also in so vielen Einträgen Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und Inklusivität das Wort rede, dann dient das quasi der Vorbereitung dazu, wie wir möglichst viele vollwertige menschliche Beziehungen in unserem Alltag erfahren können. Ein „Alltag“, der dann jedoch eben auch als ein „vollwertiger Jeder-Tag“ erfahren wird, weil wir darin erleben: DAS ist unser wahres Leben, Hier & Jetzt.
Was doch auch sehr nachvollziehbar ist: Wir Menschen haben nicht den unendlichen Luxus, etwaige Wohltaten immer nur in ein eventuelles „morgen/dann/demnächst/ erst-wenn“ hineinzuprojizieren. Am Ende könnte es uns nämlich schnell wie in Hans Christian Andersens schrecklicher Geschichte vom kleinen Tannenbaum ergehen: „Nun werde ich wieder leben!“ jubelte dieser und breitete seine Zweige weit aus: aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb“ ³.

„Ich schaue mal, es könnte sein, daß ich im März wieder ein Wochenende frei habe…“
„Im Juni habe ich Jahresurlaub, da wäre es möglich…“
„Wenn die Kinder aus dem Haus sind…“

Aha. Da werden wir dann also „andere Menschen“ sein. Weil dann unser „wirkliches Leben“ beginnen darf. Weil wir dann endlich viel authentischer, wahrhaftiger, integerer sein können als jetzt, wo unser grauer All-Tag das verhindert…
Unser Alltag hindert uns daran, authentisch, wahrhaftig und integer zu sein? Und weil wir also wissen, daß wir im Umkehrschluß demgemäß meistens unaufrichtig, unecht und unzuverlässig sind, lassen wir auch lieber keinen in diesen Alltag hinein?

Wir geraten hier in eine recht sonderbare Schlange, die sich in den Schwanz zu beißen scheint.
Wir wünschen uns, daß sich unsere Liebsten uns gegenüber möglichst von ihrer besten Seite zeigen – und natürlich möchten wir uns wiederum ihnen von unserer besten Seite zeigen. Auf diese Weise werden aber die Hindernisse, die wir für uns und die anderen auftürmen, immer höher und absurder.

Wir müssten aus diesem Teufelskreis also komplett aussteigen.
Auf meiner Startseite schreibe ich:
„Endlichkeit“ – und der Beginn des 21. Jahrhunderts macht dies in vielerlei Hinsicht deutlich – legt uns Menschen dadurch ein sowohl sorgsames als auch nachhaltiges Haushalten mit unseren vorhandenen Schätzen substantieller wie ideeller Natur nahe.
Das Bewußtsein der allgegenwärtigen Endlichkeit hat in menschlichen Gruppen schon immer das faszinierende Talent von Aufteilung, gemeinschaftlichem Nutzen, und Optimierung des Vorhandenen hervorgerufen.“


Dies bedeutet, daß wir aufhören müssen, unseren Alltag als „minderwertigere Form unseres Daseins“ anzusehen. Oder vielmehr: Daß wir das vielleicht getrost unseren Liebsten überlassen dürfen, ob die das (auch) so sehen. Vielleicht holen die nämlich ganz gerne mit uns gemeinsam das Auto von der Werkstatt ab – weil sie dann 20 Minuten mit uns ungestört im Auto 1:1 sprechen könnten. Oder sie holen das Auto alleine ab, weil sie wissen, daß die uns damit die Wohltat eines entspannten Wannenbades ermöglichen. Vielleicht hören sie mit uns auch einen Podcast, während wir diesen verflixten Vorhang nähen müssen – aber immerhin haben wir dann währenddessen Diskussionsstoff. Oder sie gehen mit den Kindern raus – und wir können diesen Volant endlich ohne nervige Unterbrechungen fertig machen…
Vielleicht wären das Liebste, die morgens auch unser angebranntes Rüherei ertragen, weil wir es beim Föhnen im Bad in der Hektik mal wieder 3 Minuten zu lange aus den Augen ließen. Oder wir ertragen ihr quabbeliges Rührei, weil sie es zu früh ausgemacht haben, als sie von unten die Zeitung geholt haben…
Selbstverständlich könnte ein mäßig zubereitetes Rührei am frühen Morgen auch eine Menge negativen Stress bei allen Beteiligten hervorrufen. Vielleicht aber auch Mitgefühl und die (Selbst)Erkenntnis, daß es auch ohne die anderen angebrannt wäre, weil man fast jeden Morgen etwas verpeilt durch die Wohnung tappt.
Heute ist man aber wenigstens nicht allein aufgewacht. Und Nachmittags stellt man fest, daß irgendjemand die Pfanne nicht geschwärzt auf dem Herd hat stehenlassen…
Irgendjemand hört auch gerade im Wohnzimmer Französischvokabeln ab.
Und irgendjemand hat die Katze rausgelassen, obwohl man ausdrücklich gesagt hatte daß…

Haben wir in solcherlei Art erkannt, daß der wirkliche „Schatz“ unseres Lebens aus „Jedem-Tag“ besteht, dann sind wir auf dem besten Weg zu verstehen, wie wir diesen Schatz gemeinsam auch angemessen genießen können: Verantwortlich, verbindlich und integrativ.
Große Worte, die aber meistens schlicht bedeuten: menschlich, fehlbar und tolerant.
Denn würden wir uns nicht trauen, uns in unserer Alltäglichkeit unseren Liebsten zuzumuten – und könnten wir sie im Gegenzug in ihrer Alltäglichkeit nur schwer ertragen – dann würden wir den Großteil unseres gemeinsamen Schatzes wie im Märchen in Laub oder Unrat verwandeln: „unwerte“ Lebenszeit, die wir irgendwie „herumbringen“ müssen.
[„Nein, Oligotropos. Für mich kostbare Lebenszeit, die ich nicht immer mit meinen Liebsten teilen will…“ Ach so? Dann würde ich dazu raten, entweder meine Liebsten oder meine Einstellung zu ihnen zu verändern…]

Daß die „wunderbare Alltäglichkeit des Seins“ von uns verlangt, gelegentlich etwas „auszuhalten“, mit ungeklärten Emotionen, Empfindungen (und Gerüchen) zurechtzukommen, die nicht immer sofort ursächlich zuzuordnen sind, das ist für mich die gleiche Quelle, die auch Akzeptanz und Respekt hervorbringt, um wahre Intimität und Vertrautheit erst möglich zu machen.
Und damit ein tatsächliches Miteinander, heute, morgen und jeden Tag.




¹ Richtig: Zufällig-beabsichtigter Anklang an die „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera, in dem es u.a um die Konsequenzen kompartmentalisierter Beziehungsführung, Affären und Liebschaften geht.

² 1.Mose, Kapitel 3, Vers 17-19: Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.

³ Hans Christian Andersen, „Der Tannenbaum“, 1862

Danke an Jisu Han auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 44

Liebe Freunde

Vor über zweitausend Jahren stieg ein Mann aus Nazareth auf einen Hügel, um einer atemberaubten Menge nahezubringen, wie vorteilhaft es für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde man seine Feinde lieben.¹
Über zweitausend Jahre später überlege ich, ob es damals nicht eine gute Idee gewesen wäre, diesem bemerkenswerten Gedanken die Vorüberlegung vorauszuschicken, daß es mindestens ebenso vorteilhaft für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde es uns grundsätzlich schon einmal gelingen, wenigstens unsere Freunde zu lieben…

Wie kommt Euer Reiseführer Oligotropos auf solch eine weitgespannte Idee?
Durch Kontakt mit der in Teilen überraschend knackig-kompakten Realität der Gegenwart, welche Zeugnis davon ablegt, daß auch im Jahre 2020 wirkliche „Freundesliebe“ keine allgemein verbreitete Größe ist. Ja, daß sie für viele – vielleicht sogar die allermeisten – Menschen nicht einmal besonders erstrebenswert erscheint.
Eine steile These? Nun, dann hinein in das gelebte Leben:

In diesem noch frischen Jahr hatte ich in kurzer Folge zwei Gespräche mit geradezu Déjà-vu-artigem Verlauf.
Um dieser (kleinen) Stichprobe gerecht zu werden müßte ich allerdings zugeben, daß der Déjà-vu-Charakter vermutlich darin begründet war, daß jedes mal ich der Gesprächspartner war – und daß es in beiden Gesprächen um die Kernkonzeption der Oligoamory ging.
Dazu stellte ich dar, daß es mir diesbezüglich wichtig sei, daß in allen oligoamoren Beziehungen immer „der ganze Mensch“ gemeint sein sollte. Große Bedeutung hätte darum, daß ich einen anderen Menschen nicht im Kopf „kompartmentalisieren“ würde. Denn jeder Mensch wäre doch immer ein „Gesamtkunstwerk“ mit verschiedenen Facetten – z.B. Arbeitnehmer*in, evtl. Elternteil, Angehörige*r eines (schon bestehenden) Freundes- und Familienkreises, engagiertes Mitglied bei einem Hobby oder Ehrenamt, etc. Sollte ich also mit jemandem Freundschaft schließen, fände ich es integer, wenn ich dann die „vollständige Person“ mit all ihren Aspekten und mit all den bei ihr bereits existierenden Verbindlichkeiten meinen würde – und eben nicht nur ihr „Schönwettergesicht“.
So weit, so gut.
Allerdings erweitere ich dieses Bild auch noch zusätzlich um den Faktor „originärer Kategorienfreiheit“, den ich für die Oligoamory aus der Beziehungsanarchie entlehnt habe. Damit meine ich, daß ich, was die Quelle meiner Gefühle und den Ausdruck meiner Emotionen angeht, nicht (mehr) zwischen „nur Freunden“, „bloßen Bekannten“, „Familie“, „bester Kumpel“ usw. trennen möchte. Denn ich möchte bei all diesen Menschen gleichermaßen authentisch „ich“ sein können und meine ganzen Empfindungen ausdrücken dürfen.
Ergo wäre meine Immersion, meine Liebe und mein Vertrauen, die ich in all meine Beziehungen hineingäbe, für mich energetisch dieselbe. Was im Idealfall bedeuten sollte, daß ich z.B. zu meinen Kindern genauso ehrlich wie zu meinem Handballtrainer wäre, gegenüber der Postbotin genauso verbindlich wie gegenüber meiner Lebenspartnerin. Was zur Folge hätte, daß ich mich darum bemühen würde, in all diesen Bereichen meines Lebens authentisch die gleiche Person zu sein.
[Was für mich übrigens DIE Herausforderungen ethischer Non-Monogamie und der Oligoamory schlechthin ist. Die mich nach einer besseren Vision meiner selbst streben läßt, möchte ich hinzufügen…].

Die Reaktionen waren in kurzer Folge jedoch so, als ob meine Gesprächspartner*innen einen elektrisch geladenen Draht berührt hätten – oder als ob ich ihnen eine Büchse voller exotischer Würmer anbot:

Dialogpartner*in 1: „Oligotropos, ich trage die Verantwortung für alle Menschen mit denen ich in Beziehung stehe; praktisch meine ich damit aber, dass ich nur die Verantwortung für uns beide, dich und mich, tragen will. Was du mit Dritten vereinbart hast, wie sehr du sie teilhaben lässt, was sie evtl. wissen – das macht bitte nur untereinander aus wie es für euch gut ist.
Für mich bedeutet eine Beziehung, so wie du sie dir vorstellst, zu viel Verantwortung, das kann ich nicht tragen und dem würde ich nie gerecht werden können.“

Dialogpartner*in 2: „Oligotropos, ich merke, dass ich mit dem Ganzen überfordert bin und mir das ein bisschen viel ist. Ich bin etwas verunsichert.“
Und etwas später, da diese*r Dialogpartner*in tatsächlich Elternteil war: „Ich wüsste auch gar nicht, wie ich so ein Beisammensein kindgerecht verkaufen sollte.“

Da stand ich also mit meiner Oligoamory, als hätte ich an der Haustür Knöpfe verkauft².
Dabei hatte ich doch gerade dafür geworben, wie großartig es vielleicht sein könnte, wenn in einer Beziehung die beteiligten Personen sich gegenseitig komplett und umfassend wertschätzen würden…
Ist dies in der Realität oftmals also gar nicht erwünscht? Noch mehr: Ist dieser gesamte Gedankengang so absurd und abwegig, daß er nicht einmal Kindern vorgelebt werden dürfte?

Ich bin erschüttert: Wir schenken unseren Freunden personalisierte Kissen, manchmal sogar personalisierte Wellness-Urlaube, wagen es aber zugleich nicht, eine personalisierte, d.h. „exakt auf diesen besonderen Menschen zugeschnittene“ Beziehung mit ihnen zu führen.
Weil es „zu viel Verantwortung“ bedeuten könnte, weil es einen „überfordert“ und „verunsichert“

In meinem vorherigen Eintrag 43 gehe ich auf einige der angsteinflößenden Gründe ein, die unserem Denken in dieser Richtung wohl vor allem zugrunde liegen. Und in Eintrag 26 beschreibe ich das Resultat einer solchen Haltung, nämlich das fortgesetzte Verbleiben und Erleben einer „aufgespaltenen Realität“ – sowohl an uns selbst als auch hinsichtlich anderer Menschen.

Ein Großteil von uns Menschen scheint sich aber mit dieser fortwährend aufrechterhaltenen „Trennungsrealität“ gut arrangiert zu haben. Na klar, ganz sicher auch, weil wir damit aufgewachsen sind – und weil es eben dem normal-alltäglichen Modus entspricht, mit dem die meisten von uns in ihren Beziehungen interagieren. „Das Vertraute“ wirkt dann immer leicht wie „das Richtige“; Menschen sind „Gewohnheitstiere“, die Komfortzone wird bekanntermaßen von einem formidablen Schweinehund bewacht.

Allerdings scheint mir der Preis für diese Art von Beziehungen und Freundschaften, die rein situativen „Inselcharakter“ haben (und behalten sollen!), sehr hoch zu sein.
Wir Menschen sind nämlich offensichtlich schrecklicherweise durchaus in der Lage, ohne vernünftigen oder ersichtlichen Anlass abzulehnen und sogar zu hassen – aber die Fähigkeit zu unbegründeter Liebe, bzw. zu der für Liebe noch wichtigeren Einstiegsvoraussetzung „Vertrauen“, gestehen wir uns scheinbar nicht ohne weiteres zu.

Wir erschaffen uns dadurch als Folge eine sehr harte Wirklichkeit, die wir unbewußt selbst regelmäßig noch verstärken.
Würden wir einen Menschen „ganz und gar“ akzeptieren, dann hieße das, sie*ihn auch mit ihren*seinen Ideen und Träumen, Talenten und Schwächen, Sorgen und Nöten und mit anhängigem Alltag wahrzunehmen. Denn wenn wir keine reine „Aspektbeziehung“ oder „Schönwetterfreundschaft“ anstrebten, die immer nur punktuell gelebt würde, dann wären ja doch auch die nicht immer angenehmen Potentiale Teil der jeweils anderen Person.
Wie sollen wir uns aber wechselseitig wirklich wertschätzen, wenn wir uns gegenseitig aus weiten Teilen unseres Lebens heraushalten? Und jetzt spreche ich nicht mehr von Handballtrainern und Postboten, sondern von unseren selbstgewählten Freunden!
Wenn ich versuchen würde, eine enge Beziehung, der ich den Namen „Freundschaft“ gebe, auf lediglichen Teilaspekten aufzubauen, dann käme ich mir beim Blick in den Spiegel sehr unredlich und unehrlich vor, denn – Hand auf’s Herz – ich könnte mir dann überhaupt keine Meinung zu dem entsprechenden Gegenüber erlauben, wüßte ich doch genau genommen viel zu wenig über ihn*sie.
Und ich glaube, genau dieses unausgesprochene Empfinden liegt zahllosen Freundschaften – und anderen intimen Beziehungen – zugrunde. Und weil wir eben nicht dumm sind und weil wir immer noch einen Rest gesunder, gut funktionierender zwischenmenschlicher Instinkte besitzen, werden wir alleweil in solchen Beziehungen Inkohärenz (mangelnden Zusammenhalt, siehe auch Eintrag 25) verspüren und als Resultat selbst unseren engsten Freunden NICHT VERTRAUEN.
Wie sollten wir sie also jemals lieben können…

Wenn dies der letzte Ratschluß unserer derzeitigen Beziehungsfähigkeit ist, dann wird der alte Goethe weiterhin mit seinem über 200-jährigen Stoßseufzer Recht behalten (Eintrag 39): „Gemeinschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Mitglieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.“ Und wir werden Teil einer mißtrauischen und unfriedlichen Welt bleiben, die wir so auch an unsere Kinder übergeben werden, wenn wir nicht wissen, wie wir ihnen eine andere Form von „Beisammensein kindgerecht verkaufen“ könnten.
Wollen wir wirklich unser Leben inmitten solcherart un-verbindlicher Beziehungen verbringen?

An dieser Stelle möchte ich noch einmal an die unerschrockene Aufforderung des Schauspielers Anthony Hopkins erinnern, die ich in meinem Dating-Eintrag 30 zitiere: Wir müssen dringend damit aufhören, uns wechselseitig als „Andenken“ zu behandeln – oder wie ich es dort präzisierte – als willkürliche „Lebensdreingaben“.
Wir müssen einen Weg zu einer erhöhten Selbstehrlichkeit zurückfinden – was nun mal bedeutet, daß wir dazu die manchmal etwas schmerzhafte Mühe auf uns nehmen sollten, uns selbst erst einmal gut kennenzulernen.
Und zwar nicht, damit wir dann den kleinen Perfektionisten oder Kontroletti, der in den meisten von uns steckt, von der Leine lassen, damit er fürderhin möglichst jeden Fehler und jede Unvollkommenheit, die wir in und an uns gefunden haben, strengstens überwacht und im Zaum hält. Sondern um uns hinsichtlich unserer Selbstwirksamkeit zu ermächtigen und zu ermutigen. Um den Mut, der – wie im letzten Eintrag erwähnt – in der „Zu-Mutung“ steckt, aufzubringen, mit den anderen Menschen in wahrhaftige Interaktion zu treten.
Und ohne daß wir diesen Mut eine Weile aushalten, ohne daß wir seine Folgen eine Weile aushalten können – indem wir nämlich unserer eigenen Unvollkommenheit und der der anderen Menschen eine Weile Spielraum geben – nehmen wir uns die Möglichkeit herauszufinden, ob eventuell die Chance zu einer echten, tiefen, vertrauten, ja intimen, Verbindung möglich ist.

Übrigens: In der US-amerikanischen Sitkom „The Big Bang Theory“ ist über 279 kurze Episoden zu sehen, wie sieben Menschen eine überraschend oligoamore Beziehung miteinander eingehen. Dem liegt durchaus kein idealisierter Kennen- und Liebenlernprozess zugrunde. Selbst am Ende der letzten Staffel kann sich der Zuschauer vorstellen, wie die Protagonisten vermutlich noch in ihrer Senioren-WG zusammensitzen würden, sich gelegentlich etwas kindische Streiche spielen oder gelegentlich flapsige Einlassungen bezüglich der Charaktermerkmale der anderen vom Stapel lassen. Trotzdem habe ich noch nie eine Fernsehserie verfolgt, in deren Verlauf die Beteiligten stärker über Geschlechter-, Rassen-, Bildungs- und Stereotypengrenzen hinweg nach und nach zusammenwachsen und schließlich offen ihre wortwörtliche Liebe füreinander bekennen.
Soll es das Vorrecht cineastischer Fantasien bleiben, daß so etwas nur als idyllische Utopie etwas nerdiger Bildschirmfiguren existieren darf?

Vom entlegenen Eiland der Oligoamory rufe ich Euch heute deswegen noch einmal zu:
Versucht weiterhin, den „Weg des größtmöglichen Mutes“ zu gehen.
Bemüht Euch, „Vertrauen zu wagen“.
Gestattet Euch, Eure eigene Verunsicherung diesbezüglich zu bekennen und trotzdem – oder vielmehr deswegen – ein klein bißchen mehr anzustreben als Eure bisherige Komfortzone bietet.
Und vor allem: Behandelt Euch selbst und andere Menschen „vollwertig“ – das wäre, um mit Bertolt Brecht³ zu schließen, „die Hoffnung der Welt“.




¹ Matthäus-Evangelium Kapitel 5, Vers 44 und Lukas-Evangelium Kapitel 6, Vers 27

² Der Zauberer Gandalf der Graue wirft dem abweisenden Bilbo Beutlin in J.R.R. Tolkiens Buch „Der Hobbit“ vor, er würde ihn behandeln „als ob er Knöpfe an der Tür verkaufen würde“

³ Letzter Absatz aus dem Text „Die Hoffnung der Welt“„Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in acht Bänden“ , Suhrkamp Verlag, 1967:
„Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, daß die Fische naß werden?
Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selber gegenüber.
Es ist furchtbar, daß der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen.
Alle, die über die Mißstände nachgedacht haben, lehnen es ab, an das Mitleid der einen mit den anderen zu appellieren. Aber das Mitleid ist unentbehrlich. Es ist die Hoffnung der Welt.“


Danke an Kelsey Chance auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 43 #Verbindlichkeit #Vertrauen

Lieber verbindlich als verstrickt

Der Philosoph und ehemalige Kulturreferent Julian Nida-Rümelin schrieb letztes Jahr¹ : „In der Sprachphilosophie ist man sich einig, dass eine erfolgreiche kommunikative Praxis nur dann zustande kommt, wenn sich die an der Kommunikation Beteiligten an bestimmte konstitutive Regeln halten. Dazu gehört die Regel der Wahrhaftigkeit [Synonyme: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Loyalität, Rechtschaffenheit, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit]. Diese verlangt, dass ich, wenn ich etwas behaupte, auch selbst davon überzeugt bin, dass das zutrifft.
Ebenso können wir von unseren Kommunikationspartnern erwarten, dass sie uns vertrauen; das heißt, dass sie davon ausgehen, dass das, was ich sage, meinen eigenen Überzeugungen entspricht.
Diese Regeln sind nur vermeintlich trivial. Sie erlegen nämlich den Kommunikationspartnern die Verpflichtung auf, sich in ihrem Äußerungsverhalten an den von ihnen eingesehenen guten Gründen zu orientieren und nicht an ihrem Eigeninteresse. Denn in vielen Fällen würde das bloße Eigeninteresse gegen die Einhaltung der Regeln der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens sprechen. Wenn wir immer dann unwahrhaftig
[= unaufrichtig, unehrlich, illoyal, korrupt, unverbindlich, unzuverlässig!] wären, wenn dies in unserem Interesse läge, würde der kommunikative Akt schlagartig an Wert verlieren.“

Aus oligoamorer Sicht finde ich diesen Text klasse, da Kommunikationspartner darin quasi wie Beteiligte an einer Beziehung behandelt werden – und so ist es sicher auch: Wenn Menschen kommunizieren, und sei es auch nur kurz oder über ein belangloses (Sach)Thema, dann stehen sie in diesem Moment in wechselseitiger Beziehung zueinander und ein (Informations)Austausch findet statt. Oligoamor bemerkenswert finde ich selbstverständlich, daß genau in diesem Kontext von Nida-Rümelin ebenfalls wichtige Beziehungswerte genannt werden: „Wahrhaftigkeit“, „Vertrauen“ und „Gesamtinteresse“.
Was die angesprochenen „Guten Gründe“ angeht, muß ich allerdings zugeben, daß ich diesbezüglich etwas zurückhaltender optimistisch bin als der Autor der obigen Zeilen. In Eintrag 11 dieses bLogs setze ich mich ausführlich mit den „individuellen guten Gründen“ auseinander und versuche zu zeigen, daß, wiewohl wir Menschen auf der Bedürfnisebene tatsächlich dieses „allseitig Gute“ schätzen und auch meist herbeizuführen wünschen, wir auf dem Weg dorthin aber dennoch oftmals von der Wahl unserer dazu eingesetzten Strategien selbstsabotiert werden. Wenn wir trotz Wahrnehmung unserer „guten Gründe“ z.B. eine Erfüllungsstrategie wählen, bei der Fremdbedürfnisse ignoriert oder gar beschnitten werden – gerade dort geraten wir ganz schnell wieder in das tückische Fahrwasser unseres nicht immer gar so selbstlosen Eigeninteresses.

Auch das zitierte „Vertrauen“ ist uns buchstäblich nicht gerade „in die Wiege gelegt“. Im Gegenteil. Sowohl der Glücksforscher Stefan Klein² als auch der Philosoph R.D. Precht³ weisen in ihren Arbeiten darauf hin, daß ein Evolutionserfolg der Gattung Mensch u.a. auf einem genetisch verankerten Vorsichtsverhalten beruht:
Wenn ein früher Homo sapiens beispielsweise auf einer Wanderung einen Busch mit blauen Beeren entdeckt hätte, wäre seinem Gehirn NICHT zuerst die Idee gekommen: „Großartig – die nächste Mahlzeit ist gesichert!“ – sondern vielmehr der Gedanke: „Sei besser vorsichtig, die Beeren könnten vielleicht giftig sein…“. D.h.: In einer unvertrauten Entscheidungssituation hätte unser Gehirn in deutlich mehr als 50% der Fälle zu Vorsicht und Vermeidung geraten. In der Frühzeit der Menschheit war so ein „Wachsamkeitsprogramm“ auf jeden Fall ja auch sinnvoll: Nicht jede Beere war essbar, nicht jede Katze war zum Streicheln geeignet, nicht jede Höhle war unbewohnt – und wenn plötzlich ein paar langhaarige Nachbarn mit krummen Ästen vor der Tür standen, wollten sie einen selten zum Hockeyspiel einladen.
Eines unser heutigen menschlichen Probleme besteht darin, daß dieses Wachsamkeitsprogramm – was ja genau genommen ein „Überlebens-Sicherungsprogramm“ war – auch heute noch in uns in Form von einem überwiegenden, initialen (einleitenden/anfänglichen) Mißtrauen aktiv ist. Also auch jedes mal, wenn wir mit neuen Menschen konfrontiert werden. Unser Urprogramm versucht uns alarmiert zu halten und sagt statt „Hey, ein neuer Mensch – das könnte eine bereichernde Gelegenheit sein…!“ viel lieber: „Holzauge sei wachsam, dem Typen solltest Du lieber erst mal auf den Zahn fühlen…“. Und da wir ein leistungsfähiges Gehirn haben, was in der Lage ist in kürzester Zeit seine Datenbanken vergangener potentiell schlechter Erfahrungen zu durchforsten, ist ein Film aus (Vor)Beurteilung und Annahmen schnell gestrickt. Die Resultate sind dann auch im 21. Jahrhundert Mißtrauen, Vermeidung und am Ende Ablehnung und Ausschließeritis.

Aus der Kombination nicht immer astreiner Bedürfniserfüllstrategien aufgrund von nur mittelmäßig abgeklärten persönlichen „guten Gründen“ plus tendenziellem Anfangsmißtrauen als reflexhafte Standardreaktion entsteht leicht das, was gewissermaßen der antagonistische Nemesis der Oligoamoy ist: UNVERBINDLICHKEIT.
Und als getreulicher Autor und Chronist der Oligoamory, als Idealist, als Romantiker und insbesondere als leidenschaftlicher Anwalt eines bewußten und freien menschlichen Willens liegt für mich genau darin das Hauptproblem gelingender – oder oftmals vielmehr mißlingender – ethischer Non-Monogamie.

Unverbindlichkeit – das fängt manchmal schon zu einem ganz frühen Zeitpunkt an, wenn es heißt: „Joa, die Katrin und ich, wir haben da jetzt miteinander so ’ne Kiste, das will ich gar nicht irgendwie labeln…“. Schon in Eintrag 7 versuche ich zu beschreiben, daß dies nicht unbedingt ein reifer Ausdruck persönlicher Freiheit ist, sondern eher ein Eingeständnis von wenig reflektiertem Ungefähr.
Oder es betrifft das Drama klarer Nomenklatur insgesamt, überall dort, wo sg. „polyamore“ Menschen mit dieser Selbstbezeichnung zusammenkommen. Denn stellen wir uns schlicht z.B. eine*n Sozialwissenschaftler*in vor, die*der bei irgendeinem Poly-Stammtisch, -Workshop, -Seminar oder -Treffen die Anwesenden fragen würde, was das verbindende Merkmal aller Teilnehmer*innen hinsichtlich der Lebensweise und Philosophie der Polyamory wäre. Vermutlich stünde man erst einmal einer verlegen schweigenden Runde gegenüber, die dann etwas schelmisch gucken würde, bevor ein paar Leute sich grinsend in die Rippen stoßen um schließlich zu antworten: „…Daß wir alle Sex miteinander haben könnten!“. Oh weh, denke ich da, das wäre eine Antwort gewesen, wenn nach Promiskuität gefragt worden wäre oder nach Sexpositivität. Aber wenn das alles ist, was den kleinsten gemeinsamen Nenner polyamorer Mehrfach“beziehungen“ bildet, dann ist es kein Wunder, daß diese Lebensform immer um ihren Ruf und ihre Anerkennung fürchten und kämpfen muß. Und darum erkläre ich in Eintrag 2 auch ausführlich, warum ich mich genau nicht mehr zu solchen Polyamoren zählen möchte.
Denn am Ende wird diese Unverbindlichkeit dann erst recht eher früher als später ebenfalls die Auffassung hinsichtlich etwaiger Metamours (also den potentiellen weiteren Liebsten unserer Liebsten) prägen: Das sind Menschen, die ja der Partner im Schlepptau hat – man selbst möchte damit möglichst wenig zu tun haben. Weder im Sinne einer gemeinschaftlichen Verbundenheit (obwohl man den gleichen Lieblingsmenschen hat!), noch gar im Sinne irgendeiner Gesamtverantwortung für das gemeinsame Ganze. Das würde einem doch viel zu nahe rücken, wäre irgendwie beinahe schon unangenehm „real“, nee, das ginge gar nicht…

Zur Unverbindlichkeit nehmen wir Menschen Zuflucht, wie oben gesehen, wenn wir unser Eigeninteresse als das höchstwertige Gut in einer Beziehung ansehen. Eigeninteresse, welches uns den Rücken frei hält, um im Zweifelsfall nicht ganz aufrichtig zu sein, nicht ganz der Wahrheit verpflichtet sein zu müssen, was die eigene Loyalität daher flexibel hält, immer Spielraum für ein klein wenig Verführbarkeit läßt, uns nicht festlegt und moralische Bewegungsfreiheit einräumt.
Um alles in der Welt – warum wollen wir bloß in unseren intimsten Beziehungen so sein?

Weil wir Menschen sehr oft Angst vor Verpflichtung, Anforderung und Erwartung haben.
Wir haben Angst davor, verlässlich „jemand zu sein“.
Das scheint ein schreckliches Zeugnis zu werden, was ich uns da allen (mir eingeschlossen) ausstelle. Bleibt uns also doch nur als Ausweg die Monogamie – weil wir es gerade mal höchstens halbwegs schaffen maximal einem Partner, vielleicht ein bis drei Kindern und einem Haustier gegenüber eine einigermaßen authentische Vorstellung von uns zu bieten? Und wenn der schöne Schein bröckelt – raus mit einer Scheidung und hinein in die nächste Serialität?

In mehreren Einträgen auf diesem bLog habe ich geschrieben, daß ein Merkmal von „Erwachsensein“ eine gewisse Lust auf die Übernahme von Verantwortung sei. Echte Verantwortung, die ich im vorherigen Artikel noch einmal als „Verantwortlichkeit“ hervorhebe, geht nun aber unweigerlich mit (Selbst)Verpflichtung, mit Anforderungen und Erwartungen daran einher.
Warum haben wir trotzdem so große Not, verbindlich auf Beziehungsebene dafür einzustehen?

Ich glaube, daß hier der „blinde Fleck“ von Julian Nida-Rümeling dahintersteckt, daß nämlich unsere „guten Gründe“ oft eng mit unseren „Eigeninteressen“ verflochten sind.
In Eintrag 11 erzähle ich die Geschichte des „Schwarzen Fledermausmannes“, der ein guter Beziehungsmensch sein möchte. Er gerät allerdings in Turbulenzen, weil er sowohl bemüht ist, größtmögliche allseitige Bedürfniserfüllung anzustreben als auch seinem Eigeninteresse gerecht zu werden. Zu diesem Zweck wählt er verschiedene Strategien, die ihn schließlich aber nicht zum „großen Helden“ für alle machen, sondern am Ende muß er sich mit emotionalen Entladungen und in Folge sogar mit Selbstzweifeln herumschlagen.

Ihr lieben Leser*innen: Der „Schwarze Fledermausmann“, der sind wir alle!
Und wir leben heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Zeit, in der die meisten von uns es nicht gelernt haben, sich mit allen (!) eigenen Gefühlen anderen Menschen zuzumuten – denn wir haben Angst, dann statt Applaus Ablehnung zu erfahren.

Bitte laßt diesen Gedanken einmal auf der Zunge zergehen.

Was sollten unsere intimsten Beziehungen im Idealfall sein? Ein Ort an dem wir uns authentisch ganz als wir selbst zeigen dürfen, an dem wir alle Masken fallen lassen können – ein Ort an dem wir darauf vertrauen dürfen, daß wir dort (trotzdem) immer als die Person, die wir sind, angenommen werden.
Wir sind aber eben auch Menschen. Darum können wir nicht immer nur das sozial erwünschte Spektrum positiver und angenehmer Gefühle zeigen. Sondern wir sind auch mal traurig, zornig, bedrückt, verwirrt. Wir sind auch nicht immer perfekt. Wir werden es nicht schaffen allzeit aufrichtig, ehrlich, loyal, rechtschaffen, verbindlich und zuverlässig zu sein. Wir sind menschlich fehlbar – und wir werden darum Fehler machen.

Viele von uns versuchen in der heutigen Zeit (immer noch?), ihre Beziehungen als „letzte Bastion der Seligkeit“ zu halten. Beziehungen, in denen stets Harmonie herrscht, in denen alles freudig und leicht ist, aus denen man allzeit energetisiert hervorgeht und in denen nur Wertschätzung und Anerkennung ausgedrückt werden…
So verständlich diese Sehnsucht auch zu Beginn dieses verrückten 21. Jahrhunderts und seiner aus den Fugen geratenen Work/Life-Balance sein mag – so vollkommen unrealistisch ist sie aber auch. Und sie erlegt allen Beteiligten ungeheuren Druck auf: Zum einen, ein Ideal zu verfolgen, bei dem jede*r sich im Keller zu verstecken hat, die*der dagegen verstößt, zum anderen, dieses unerfüllbare Bild jeder neuen Beziehung überzustülpen, in der Hoffnung, es doch vielleicht dort erfüllt zu bekommen…
Folglich bleibt uns in der Wirklichkeit nur, unzusammenhängende Inseln kurzen Glücks zu erschaffen, die wortwörtlich „un-verbindlich“ bleiben müssen. Denn würden wir sie doch verbinden, wäre ja wieder das unvollkommene Gesamtbild unserer Persönlichkeit sogleich sichtbar – mit unserer zeitweisen Traurigkeit, mit unserem situativen Zorn, mit eventueller Bedrückt- oder Verwirrtheit und vor allem mit unserer Fehlerhaftigkeit. Also führen wir lieber kompartmentalisierte (aufgespaltene) und unverbindliche Beziehungen. Denn wir möchten den Anderen unsere Defizite nicht zeigen, weil wir Schwierigkeiten haben, wirklich zu vertrauen: Nicht den Anderen und ihrer möglichen Reaktion – und auch nicht uns selbst und ob wir wiederum deren Reaktion aushalten würden…

Ihr Leute, wenn wir Mehrfachbeziehungen in dieser Art angehen, dann wird jeglicher Beziehungsaufbau, jegliche Beziehungsführung, jeglicher Versuch „(mehrere) Menschen (zugleich) zu lieben“ reine Makulatur bleiben.
Ich betone das „gemeinsame Ganze“ und das „allseitige Vertrauen“ in der Oligoamory so sehr, weil es ganz auf dem Grund der Dreh- und Angelpunkt ist, mit dem (genau genommen) jede Beziehungsführung steht oder fällt.
Beziehungen können keine Orte der Perfektion sein. Keine Orte, wo immer Frohsinn und Leichtigkeit sind. Wo immer nur die gute Laune und die guten Gefühle vorherrschen. Wo es keine Differenzen gibt und wo niemals jemand verletzt wird.
Darum müssen Beziehungen zuallererst Orte des Vertrauens sein. Bzw. alle Beteiligten müssen zuerst die Mühe und den Willen aufbringen, sie gemeinsam dazu zu machen. Um den oben erwähnten Druck gar nicht erst zuzulassen, sich dort nicht in ganzer (fehlbarer) menschlicher Natur zeigen zu dürfen. Um einen Ort zu erschaffen, an dem auch Trauer, Zorn, Bedrücktheit, Verwirrung und Fehler den gleichen Raum haben können wie die vermeintlich einfacheren „schönen Gefühle“. Letztendlich ist ja auch „schön“ diesbezüglich eine (Außen)Bewertung: Ich bin ein Mensch – und manchmal lache ich und manchmal weine ich – warum sollte ich mir für eines von beiden eine Tüte aufsetzen? Darüber hinaus: Wirklich authentisch, wirklich aufrichtig und damit glaubhaft verbindlich kann ich doch auch nur sein, wenn ich mich in meiner Gesamtheit zumuten darf.
Folglich sind auch nur Beziehungen authentisch, aufrichtig und verbindlich, in denen alle Beteiligten so vollständig „Sein“ dürfen.

Und was ist, wenn die Anderen das nicht aushalten?
Wenn wir Menschen es wollen, dann halten wir scheinbar Unglaubliches aus. Wir gebären Babys, wir durchqueren nachts Schneestürme, retten Menschen aus brennenden Gebäuden oder halten Sterbenden die Hand. Meistens haben wir dabei eine Wahl: Nichts von dem müssten wir tun. Alle vier soeben aufgezählten Beispiele fallen vermutlich definitiv in die Kategorie „unangenehm“ – und schwer. Trotzdem werden sie getan.
Wenn es um Menschen geht, die wir lieben und denen wir vertrauen, dann können wir enorme Fähigkeiten aktivieren.
Diese Fähigkeiten zu haben bedeutet jedoch nicht, daß wir durch sie unverwundbar werden. Daß wir deswegen alles tolerieren, akzeptieren oder mitmachen. Und das wäre ja auch wieder über-menschlich un-menschlich.
Aber unsere (Mit)Menschlichkeit zeigt, daß wir, wenn wir es wirklich wollen und uns eine Sache bzw. Lebewesen wirklich wichtig sind, wir weit über unsere urzeitliche „Vermeidungsstrategie“ hinauswachsen können.
Möglicherweise ist es diesbezüglich wie mit dem ersten Menschen, der einen brennenden Ast in die Hand nahm: Dieser Mensch wagte Vertrauen. In erster Linie in sich selbst, daß er da etwas schaffen wollte, wogegen all seine tierischen Instinkte und Ängste heftig widersprachen. Aber vielleicht auch Vertrauen in eine Gruppe, die hinter ihm stand, daß die ihm bei einem Fehlversuch anschließend schon helfen und „aushalten“ würde, müßte sie sein Wehklagen ertragen und seine Brandblasen pflegen.
Ohne die „Zumutung“ die wir für unsere vertraute Gruppe auf diese Weise vermutlich gelegentlich sind, könnten wir jedoch beim nächsten oder übernächsten Mal auch nicht ihr Held und ihre Quelle allseitigen Wohlergehens werden. Mensch zu sein, miteinander zu sein, bedeutet, beides regelmäßig zu akzeptieren – an uns, wie auch an den Anderen.

Ich wünsche uns allen, darum immer wieder den Mut zu (Zumutung!) einem bewußten Sprung in ein Vertrauen zu finden, für das es manchmal scheinbar keine plausible Begründung gibt.
Und daß wir bei Menschen landen können, die uns (aus)halten wollen.



¹ Julian Nida-Rümelin „Digitaler Humanismus“, Artikel in der Max Planck Forschung 2/2019

² Stefan Klein, „Die Glücksformel – oder: Wie die guten Gefühle entstehen“, Fischer 2014

³ Richard David Precht „Die Kunst, kein Egoist zu sein – Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält“, Goldmann 2012

Danke an meine steten Musen Kerstin, Svenja und Tobias und an congerdesign auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 42

…sieh, das Gute liegt so nah.*

Der derzeit amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist jemand, der regelmäßig betont, daß Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen. In seiner Rede im Futurium Berlin¹ sagte er letztes Jahr sogar, daß zur Freiheit eine „Erwartung an die Verantwortung“ gehöre, die aus der Freiheit erwächst.
Ich, als Autor dieses bLogs, glaube, daß er damit Recht hat, insbesondere weil „Verantwortung“ aus meiner Sicht direkt etwas mit „Nachhaltigkeit“ zu tun hat, die ja als Untertitel auch der Oligoamory zugrunde liegt.
In der von mir schon oft zitierten Buchszene, in der der „Kleine Prinz“ des Autors Antoine de Saint-Exupéry auf den Fuchs trifft, erklärt der Fuchs: „Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ ²
Demgemäß bedingen sich also ebenfalls Vertrauen und Verantwortung…

Freiheit, Vertrauen, Nachhaltigkeit, Verantwortung – ich möchte versuchen, ein wenig zu ordnen, warum ich denke, daß diese Werte für oligoamores Denken und Handeln wichtig sind – und wie sie zusammenhängen.

In meinem 3. Eintrag führe ich die Nachhaltigkeit als bedeutenden oligoamoren Wert ein, indem ich erläutere, daß „Nachhaltigkeit“ drei wichtige Kernkriterien umfasst³, nämlich Konsistenz, Effizienz und Suffizienz. Dazu schrieb ich, daß in der Oligoamory Beziehungen „konsistent, also sowohl dauerhaft als auch (werte- und personen-)beständig“ seien sollten.
„Zugleich sollten oligoamore Beziehungen aber auch für die daran Beteiligten effizient sein. Damit sei nicht weniger gemeint, als daß die Beziehungen den Menschen darin dienlich sein sollten, geeignet für alle Beteiligte, und förderlich, sich nach ihren jeweils individuellen Potentialen entfalten und ergänzen zu können.
Und suffizient sollten sie sein, […] weil die Beziehungen zufriedenstellend und (selbst)genügsam sein sollten, also eben gerade nicht unendlich oder beliebig, sondern menschlichen Maßen von Überschaubarkeit und Vertrautheit angemessen.“

Auch wenn ich diese Zeilen heute noch einmal lese, fällt mir auf, daß dies auf jeden Fall einigermaßen ambitionierte Wünsche für jede Beziehung sind. Gleichzeitig nicke ich aber auch beinahe unwillkürlich mit dem Kopf, weil ich denke: „Ja, solche Beziehungen würden von ihrer Berechenbarkeit, von ihrem Spielraum meiner Freiheitsgestaltung und von ihrer Wahrnehmungsmöglichkeit meines Angenommenseins/Einbezogenseins definitiv stark zu meinem persönlichen Wohlbefinden beitragen!“
An dieser Stelle kommt für mich dann in mehrfacher Hinsicht wieder Saint-Exupéry mit seinem Fuchs ins Spiel. Der Fuchs zeigt dem „Kleinen Prinzen“ nämlich, daß ein solcher ersehnter Zustand nicht schnell herbeiführbar ist. Als Bedingung nennt er ein „sich vertraut Machen“, also einen allmählichen Aufbau von Vertrauen, der nur wechselseitig und über einen längeren Zeitraum zum gemeinsamen Ziel führen kann. Und dieser Prozess würde dahinein münden, daß mit der wachsenden „Vertrautheit miteinander“ die zunehmende „Verantwortung füreinander“ einherginge.

Daß dies in der Tat ein wegweisend nachhaltiger Gedankengang ist, fällt vor allem dann auf, wenn wir die Verantwortung, die ja am Ende der Kette steht, einmal weglassen:
Ohne Verantwortung, bzw. genauer „Verantwortlichkeit“ würde es mit dem Vertrauen vermutlich sehr schwer werden. Wer könnte Vertrauen in eine Person oder Institution haben, die Verantwortlichkeit für ihr Sprechen und Handeln ablehnen würde – oder in dieser Eigenschaft recht wetterwendisch oder beliebig wäre? Auch jedwede gemeinsam verbrachte Zeit wäre dann keine hilfreiche Verbündete mehr, denn die für unsere Gehirne so wichtige „Kohärenz“ (Folgerichtigkeit/Sinnzusamenhang) könnte sich nicht einpendeln: Der verläßliche, vorhersagbare Fundus an ähnlichen Erfahrungen bliebe aus.
Und dadurch wären wir seelisch/mental ständig „auf dem Sprung“, in einem halbalarmierten Zustand vorsichtiger Wachsamkeit, weil möglicherweise im nächsten Moment eine gänzlich neue oder andere (Beziehungs)Erfahrung gemacht werden müsste, als beim Mal davor – oder dem davor…
Diese Lage, wenn der Alarmschalter des Gehirns längere Zeit auf einer mittleren Position feststeckt, nennt die Wissenschaft „Stress“. Und wer möchte mittel- oder langfristig in einer Beziehung sein, in der Stress die Normalsituation wäre?
Auf diese Weise wird sich ein „Zufriedenheitszustand“ der Nachhaltigkeit nie ergeben, denn wir könnten niemals sicher sein, ob unsere Beziehungen beständig (konsistent), geeignet (effizient) und ausreichend (suffizient) wären.

Ohne so erlebte Nachhaltigkeit wiederum würden wir höchstwahrscheinlich früher oder später in einen unerfüllten und bedürftigen Zustand geraten, der uns alsbald zu Konsum und einer gewissen Maßlosigkeit ( = Mangel an Maß) treiben würde.
Und da „Zu-friedenheit“ ja genau genommen eine „In-Friedenheit“, ein „In-Frieden-Sein“ bedeutet, würden wir mit dem Verlust unserer Zufriedenheit zugleich auch aggressiver und kompromißloser werden.
Hoppla!
Haben wir da gerade etwas wiedererkannt? Aus unserem Alltag oder sogar bezüglich des Zustands der Welt?

Wenn mir das gelungen ist, dann bin ich meinem heutigen bLog-Ziel sehr nahe.
Denn mit der Oligoamory möchte ich ja auch „Lust auf das Vertraute“ machen.
Und dies kann beizeiten bedeuten, daß ich mich darum bemühen muß, aus einer situativen „Unzufriedenheit“ eben nicht in Konsum und Maßlosigkeit zu flüchten.
Oder es kann bedeuten, daß ich aufgefordert bin zu schauen, ob ich mit dem „Vorhandenen“, dem Vertrauten, nicht doch „in Frieden“ sein kann.

Diesbezüglich leben wir zugegeben in einer etwas zwiespältigen Zeit. Denn wiewohl es zunehmend Initiativen gibt, die, wie ich hier, der Nachhaltigkeit mehr Bedeutung verleihen wollen, so gibt es immer noch genug Stimmen, die das „Vertraute“ als rückständig, altbacken oder langweilig stempeln wollen, um uns aus unserem Frieden zu locken (und ohne Unzufriedenheit gäbe es sicherlich deutlich weniger Konsum…).
Wenn wir diese Dynamik auf die Ebene der Beziehungsführung übertragen, dann sehen wir schnell, wie wir in eine Haltung von „höher-schneller-weiter“ katapultiert werden könnten, die non-monogamer Lebensführung z.T. einen so schlechten Ruf eingebracht hat. Denn wenn der innere Frieden erst einmal verloren ist, dann besteht die Gefahr, daß die unerfüllte Bedürftigkeit stets die Hoffnung nährt, daß „da draußen“ immer noch etwas (also: jemand!) passenderes, tolleres, besseres sein könnte – und das „Wisch-und-weg“ moderner Datingportale ist geboren. Und irgendwann geht es dann nicht einmal mehr um das Ziel der Erfüllung eigener Bedürfnisse (und sei es in irgendeinem unerreichbaren Superlativ), sondern nur noch um das nächste Neue, Aufregende, Aufreizende, weil nur noch dieser Kick stark genug ist, das Leeregefühl kurzfristig wirklich zu unterdrücken.

Wenn wir nicht in solch ein Hamsterrad geraten wollen, dann bleibt uns – auch und gerade in Beziehungsdingen – vor allem, eine etwas in Vergessenheit geratene Tugend (wieder) zu mobilisieren: Zufrieden zu sein mit dem, was wir (schon) haben. Oder was mir in der Oligoamory besonders lieb ist: Das, was wir haben, sorgfältig zu erwägen.
Das scheint mir heute in einer Zeit, in der immer noch so häufig Konsumlaune künstlich erzeugt wird, sehr wichtig zu sein: Was brauche ich denn (noch), um zu-frieden, in Frieden, zu sein? Oder wenigstens: zufriedener. Und: Gibt es das (nur?) „da draußen“?

Mit dem, was ich (schon) habe, kann ich aber mein „In-Frieden-Sein“ vermutlich viel besser überprüfen. Und dabei kann ich ganz bei mir bleiben – und muß nicht auf ein „Außen“ oder etwaige Partner*innen zeigen.
Z.B., wie sieht es mit meiner Verantwortlichkeit aus? Zur Verantwortlichkeit gehören wichtige Eckpfeiler jeder (Mehrfach)Beziehungsführung: Meine Aufrichtigkeit, meine Loyalität, das Maß meiner Transparenz. Wie viel solcher Kapazitäten bin ich bereit aufzuwenden, um mich beständig, integer und, ja, berechenbar, als jemand zu bewähren, der vertrauenswürdig ist? Und habe ich den Willen und die Zeit dazu?
Letztere Frage ist gar nicht so unwichtig. Neulich las ich auf einem Datingportal in einem Profil den Satz: „Bitte schreibe mich nur an, wenn Du in Deinem Leben wirklich Raum für eine weitere Beziehung hast.“
Manche Menschen scheinen es also auch mit Flirts wie mit Milchtüten zu halten: Sie kommen mit einer neuen Packung nach Hause, nur um festzustellen, daß der Kühlschrank schon voll ist – Folge: Neue Packungen haben keinen Platz, vorhandene Packungen werden sauer…

Nachhaltige Beziehungsführung, wie ich sie mir in der Oligoamory wünsche, will also mit Sorgfalt ausgeübt sein. Meine persönliche Freiheit geht nämlich tatsächlich mit einer „Erwartung an (meine) Verantwortung“ einher:
Einerseits, daß ich mich selbst gut genug kenne, um zu wissen wo meine Stärken und meine Grenzen bzw. meine noch ausbaufähigen Potentiale liegen. Andererseits, daß ein Beziehungsprozess, auf den sich zwei (oder mehr!) Lebewesen freiwillig einlassen, immer gleichzeitig ein Hineinwachsen in eine Gesamtverantwortung füreinander bedeutet.

Und das ist doch genau genommen sehr gut so. Denn Nachhaltigkeit, mit ihren Aspekten von Konsistenz, Effizienz und Suffizienz bedeutet doch, daß eine bestimmte Sache für uns einen Wert gewonnen hat. Soviel an Wert, daß sie eben normalerweise nicht beliebig oder austauschbar ist. Und dieser Wert ist aus einem Zugewinn an Vertrauen zu einem Gegenstand, einer Person oder einer Beziehung heraus entstanden.
Und jede*r weißes von sich selbst: Wen oder was man in dieser Weise „lieb gewonnen“ hat, mit dem ist man im Umkehrschluß wiederum besonders bemüht oder sorgfältig, zeigt sich „verantwortlich“.

In dieser Hinsicht kann die Parole aus der Umweltbewegung „Nachhaltigkeit beginnt vor der eigenen Haustür!“ direkt auf unsere intimen Beziehungen übertragen werden: Wir müssen den Blick dazu nicht in die Ferne schweifen lassen oder auf das ewig grünere Gras der Nachbar*in. Als der beste Beziehungsmensch können wir uns hier und heute gegenüber uns selbst und in unseren Bestandsbeziehungen erproben, verantwortlich und frei.
Was enorm sexy ist, übrigens, richtig gehend attraktiv…
Welch‘ schöneres Argument könnte es für (potentielle) Teilnehmer*innen ethischer Mehrfachbeziehungen geben?



* 2. Zeile aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Erinnerung“.

¹ Rede am 26. September 2019 im Futurium in Berlin zur Kampagne „Freiheit ist unser System“.

² „Der Kleine Prinz“; 21. Kapitel; „Freundschaft mit dem Fuchs“

³ Danke diesbezüglich nochmals für Input durch Dr. Bernd Siebenhüner.

Danke an pine watt auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 41

tl;dr

„Ach ja, Oligotropos… – dein bLog“, so seufzte neulich eine Bekanntschaft aus den sozialen Netzwerken. „Aber du schreibst immer so viel… …und so lang…!“
Liebe Leser*innen: Ich bekenne mich in all diesen Punkten schuldig. Und wenn ich „schuldig“ sage, dann meine ich im Sinne radikaler Aufrichtigkeit damit „ursächlich“.
Als ich in verschiedenen sozialen Netzwerken noch sehr aktiv war, habe ich mir darum gelegentlich auch schon einmal von Rezipient*innen den recht eigenwilligen Kommentar „tl;dr“ eingefangen. Dieses Akronym aus dem Netzjargon steht für die englischen Wörter „too long; didn’t read“ – und sollen als Antwort auf einen als überlang empfundenen Beitrag bedeuten: „[Der Text war] zu lang; [deswegen habe ich ihn] nicht gelesen“.*
Solch eine Anmerkung ist dann in ihrer Einfältigkeit nur noch mit der unverfrorenen Einleitung zu toppen: „Ich hab‘ den Text nicht ganz gelesen, aber…“ und dann wird unverdrossen drauflos kommentiert.
Ihr lieben Menschen, die Ihr Euch mit mir in das wortreiche Innere des entlegenen Eilands der Oligoamory begebt: In einer Zeit, in der Simplifikation und Mundgerecht-Machung oftmals publikumswirksam als das Gebot der Stunde angepriesen werden, werde ich Euch diesen Bärendienst nicht erweisen.
Denn es wäre nicht redlich von mir, Euch zu suggerieren, daß es in Beziehungsdingen auf schwierige Fragen einfache bzw. schnelle oder gar universelle Antworten gäbe.

Von hier gehen die Einträge vom entlegenen Eiland der Oligoamory jeden Monat hinaus in die Welt…

Den Wunsch nach Einfachheit und Leichtigkeit kann ich selbstverständlich gut nachvollziehen. Und unser Gehirn ist diesbezüglich ja auch oft ein allzu williger Erfüllungsgehilfe: Wenn wir z.B. verliebt sind, flutet es unsere Existenz mit körpereigenen Wohlfühlstoffen, die uns in der Kennenlernzeit erst einmal mögliche Diskrepanzen und Konfliktherde übersehen lassen. Oder es schaltet in langjährigen Beziehungen auf „Autopilot“ und ist darum bemüht, etwaige Abweichungen von der kohärenten Routine so weit wie möglich in den Hintergrund zu verschieben, so daß die partnerschaftliche „Funktionsharmonie“ den eindeutigen Vorzug bekommt.

Ethische (Mehrfach)Beziehungsführung – auf jeden Fall nach oligoamoren Ideen – wird sich allerdings nicht mit der idyllischen Oberfläche begnügen. Wer sich auf die abenteuerlichen Gewässer der Non-Monogamie begibt, muß darauf gefaßt sein: Das geht unter die Haut. Denn ethische Non-Monogamie, die das Präfix „ethisch“ verdient, verlangt von uns, daß wir Lust daran haben uns „im Miteinander unter unseresgleichen zu bewegen, [und] Aufschluß darüber zu geben, wer wir sind“ ¹.
Darum wünsche ich mir auch, daß das Oligoamory-Projekt nicht so sehr als tagesaktueller bLog aufgefasst wird – bei dem der oberste Eintrag stets eine situative Befindlichkeit des Autors oder eine weltbewegende neuste Erkenntnis enthält – sondern mehr als ein Kompendium miteinander vernetzter Knotenpunkte.
In dem Sinne finde ich es natürlich schön, wenn jemand einen meiner Einträge für sich als gut gelungen ansieht und diesen Artikel besonders herausstellt, teilt etc. Aber als ledigliche „Fundgrube“ würden die ethische Non-Monogamie und die Oligoamory schwer nachvollziehbares Stückwerk bleiben, dem ohne Bezug zu den anderen „Knotenpunkten“ das stützende Rückgrat fehlen würde.
Denn noch einmal: Oligoamory ist keine „Methode“, die man, wie z.B. Büroyoga, getrennt vom ursprünglichen Kontext rein situativ erfolgversprechend anwenden kann. Oligoamory ist eine Philosophie und eine Lebensweise, die zur (Selbst)Berechtigung und (Selbst)Ermächtigung bzw. dem reflektiven Selbsterleben aller daran Beteiligten einladen möchte.

Und dafür kann ich keinen „einfachen“ Schlüssel vorgaukeln.
Noch mehr: Da ich als Grundansatz für meine Ideale und Ziele „Beziehungsführung“ gewählt habe, wünsche ich mir als Schauplatz unseres oben erwähnten „Selbsterlebens“ unsere engen Begegnungen mit anderen Menschen in überschaubaren, auf Vertrauen basierenden Gemeinschaften. Ich möchte also nicht, daß wir als meditierende Einsiedler*innen irgendwann erleuchtet auf unserem einsamen Berg mit einem letzten „Heureka!“ auf den Lippen erwachen, sondern, daß wir quasi ein Selbst-Entwicklungsprojekt auf einer lebendigen Leinwand sind – „Mobilis in Mobili“ (lat.: Bewegt im Beweglichen)² sozusagen.
Speziell mit Letzterem ist ganz offensichtlich, daß wir bei so viel buchstäblich „unvorhersehbaren“ Faktoren und Einflußgrößen wirklich den größtmöglichen Mut haben müssen, auf jeglichen Autopiloten und auf alle fremdgenerierten Rezeptbücher zu verzichten. Und daß wir stattdessen „Vertrauen wagen“³ und neugierige Offenheit wie einen bisher eher wenig ausgebildeten Muskel trainieren sollten.

Deshalb ist ein großes Thema der Oligoamory die Einheit von sowohl freiem wie auch gleichzeitig verbindlichem Handeln. In Eintrag 7 stelle ich dar, daß diese Einheit bewußt und widerspruchsfrei gelebt werden kann – und daß dies in der Tat gar nicht mal so schwierig ist (Ich glaube sogar, daß viele Menschen, die sich im Umwelt- oder Tierschutz engagieren, grundsätzlich schon eine solche Philosophie umsetzen, insbesondere was ihre Ernährungs- und Konsumgewohnheiten angeht). Denn im Zentrum steht dabei unsere individuelle Integrität, unsere „fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln“ (Zitat Wikipedia). Dabei kann es sich demgemäß nicht um ein für die Ewigkeit in Stein gemeißeltes Regularium handeln: Denn wir sind so lebendig wie unser Umfeld, mit dem wir interagieren. Stete Beobachtung, Neubewertung, Dazulernen und Anpassung sind also ein unveräußerlicher Teil davon.

In Eintrag 9 betone ich darum beim Thema „Emotionalvertrag“, der – unausgesprochen oder nicht – hinter jeder tieferen Beziehung steht, daß es diesbezüglich wichtig ist, sich selbst gut kennenzulernen. Denn um mich gut vertreten zu können, um für mich einstehen und verhandeln zu können, muß ich zuerst wissen, was ich brauche und muß daher die Mühe auf mich nehmen, meine eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse kennenzulernen. Und dabei wird mir nicht helfen, wer ich nach Ansicht meiner Eltern oder Lehrer oder Chefs sein sollte, sondern nur, wer ich jetzt gerade bin – mit meinen aktuellen Stärken und Schwächen – und natürlich, was ich denn von der anhängigen Beziehung erhoffe.

Weil wir aber doch oft aufgrund eines „vorgegebenen“ Selbstbildes operieren, versuche ich z.B. in Eintrag 14 die Komplexität dessen zu beleuchten, was diese „Vorgaben“ ausmacht. Und ich versuche zu skizzieren, daß wir nicht alle die gleichen guten Chancen haben, aufgrund unserer Aufgestelltheit und unserer individuellen Resilienz mit unseren möglichen Vorerfahrungen in Sachen „Beziehung“ umzugehen. Trotzdem bestätigt auch die Wissenschaft, daß die Anerkennung unseres Kernselbst die zentrale Aufgabe unserer Eigenwahrnehmung ist, bei der allen Nähemenschen unserer Wahl eine ganz besondere unterstützende Rolle zukommt.

Demgemäß wende ich in Eintrag 18 allerdings ein, daß es für diese besonderen Nähemenschen manchmal schwer werden kann, wenn sie während unserer nicht immer einfachen Anstrengungen die gesamte Bandbreite unserer Potentialentfaltung miterleben. Denn auch darin wäre ich ein unredlicher Autor, würde ich verschweigen, daß eine Selbsterforschungsreise stets immer nur schöne oder angenehme Ergebnisse zu Tage fördern würde.
Daß es in einer Beziehung auf Augenhöhe dann schlechterdings jedoch auch unmöglich ist, diese Potentiale unter dem Teppich zu halten, beschreibe ich in Einträgen rund um persönliche Doppelbödigkeit (Eintrag 21) oder (mangelnde) Transparenz (Eintrag 37). In diesen Zusammenhängen weise ich immer wieder auf eine Haltung von hoher Aufrichtigkeit hin, die nach meinem Verständnis noch über bloße Ehrlichkeit hinausgeht, insbesondere in dem Aspekt, genau auch unangenehmen Erkenntnissen bzw. Gefühlen ihren benötigten Raum und die erforderliche Aufmerksamkeit zu geben (was für alle Beteiligten eben auch mal schwer „auszuhalten“ sein kann).

Aus der Anerkenntnis dieser „dunklen Aspekte“ lade ich dazu ein, sich sogar Phänomenen wie Depression (Eintrag 22) oder Abspaltung (Eintrag 26) nicht zu verweigern, da es sich dabei meistens um Facetten unseres Seins handelt, die über lange Zeit in uns gewachsen sind – und die sich durch ledigliches Verleugnen nicht nur nicht bessern, sondern sich oftmals geradewegs selbst bestätigen und stärken – und dadurch in der Jetztzeit erneut wieder Schwierigkeiten in unserer Beziehungsfähigkeit aufwerfen werden.

Unsere „dunklen Aspekte“ können uns aber ebenso wertvolle Hinweise darauf geben, wie es um die Sehnsucht nach unserer (verlorenen) Intimität beschaffen ist – und welche Erfüllungsstrategien wir dafür in der Gegenwart heranziehen. Und damit sind wir der Dynamik „Wir – und die Anderen“ und wie wir uns darin verorten (wollen), ein großes Stück näher gekommen. Also auch unseren Beweggründen dafür, warum wir uns eventuell mit non-monogamen Ideen beschäftigen – und wo diesbezüglich unsere Talente und unsere Defizite liegen könnten (Einträge 27 + 28).

Deshalb liegt hinter der Philosophie der Oligoamory die beinahe beziehungsanarchistische Betrachtung all unserer Nähemenschen als Gesamtgemeinschaft (von der auch wir Teil sind), frei von künstlicher Reihenfolge oder Hierarchie. Bezüglich dieser selbstgewählten Zugehörigen ist also bedeutsam, welche Konzessionen und faulen Kompromisse wir eingehen würden, um ein anerkanntes Gemeinschaftswesen zu sein, bzw. wie wir genug Vertrauen und Einschließlichkeit aufbringen können, um klassische Autoritäts- und Angststrukturen zu verhindern (Eintrag 29 + 33).

Und damit schließt sich mein Bogen zum Anfang, indem ich mit der Oligoamory zu einer Berechtigung und Ermächtigung aller an einer Beziehung Beteiligten hinführen möchte, wie ich es speziell in meinen jüngeren Artikeln 37 + 39 auch noch einmal deutlich betone.

Als Erforscher oligoamorer Lande danke ich allen Leser*innen, die sich immer wieder die Mühe machen, meine vielen und langen Einträge zu lesen, über sie nachzudenken und über sie zu sprechen. Wenn ich mir etwas wünschen darf, so hoffe ich, daß wir alle auf diese Weise zu einer friedlicheren, bewußteren und integrativeren Welt beitragen. Auf ein Neues!



* Quelle Wikipedia und Urban Dictionary

¹ Zitat von Hannah Arendt, in voller Länge in Eintrag 39 nachzulesen.

² Motto der Romanfigur Kapitän Nemo des Autors Jules Verne – Kapitän Nemo ist seinerseits aber sicher kein günstiges Beispiel für ein „Gemeinschaftswesen“…

³ klingt fast wie das bekannte Willy Brandt-Zitat („Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“), ist aber nur so ähnlich. Sinngemäß stimme ich dem Altkanzler selbstverständlich in diesem Aspekt zu.