Eintrag 19

Verliebt ins Hier und Jetzt

Neulich wurde in einem sozialen Netzwerk – innerhalb einer Gruppe, die sich mit Mehrfachpartnerschaften beschäftigt – über Verliebtheit diskutiert. Wir hier zuhause haben uns noch eine Weile weiter über diese Themen ausgetauscht – und so möchte ich meinen Blog nutzen, um unsere Gedanken auf diese Weise auch noch einmal zu teilen.

Zunächst haben wir überlegt, daß „Verlieben“ wahrscheinlich ein vollkommen individueller Vorgang ist, den jede*r Mensch vermutlich ganz persönlich erlebt – insbesondere wenn man die biologisch-stammesgeschichtliche, sowie die zerebral-hormonelle Ebene von Oxcytocin und Vasopressin, von Testosteron und Prolakin dabei einmal außer Acht läßt (sehr ausführlich dazu R.D. Precht in seinem Buch „Liebe – Ein unordentliches Gefühl “, Goldmann 2009, Kapitel 1: Was Liebe mit Biologie zu tun hat).

Dem wirklichen Verlieben ist ja oftmals das sogenannte „Schwärmen“ vorgeschaltet.
Schwärmen – das kann man auch für Helden, für Filmstars, Musiker*innen, Models und den unerreichbaren Traummenschen aus der Parallelklasse. Dieser „Zielgruppe“ ist gemeinsam, daß wir uns wegen der eingebildeten oder tatsächlichen Distanz zu diesen Personen eher in unsere eigene Vorstellung, die wir uns von diesen Leuten ausmalen, vergucken – und nicht so sehr in den tatsächlichen Menschen selber.

Wenn es dann „ernster“ wird, wenn wir uns dann tatsächlich in ein konkretes Gegenüber verlieben, dann ist uns hier aufgefallen, daß sich die Grundlage dafür trotzdem vielfach aus so etwas wie dem „Schwärmen“ ergibt. Überraschenderweise scheint es dabei nämlich – ähnlich wie bei den „Pragmatikern und Idealisten“ – meistens zwei Ausgangspositionen zu geben:
Die erste Gruppe verliebt sich in eine andere Person, weil diese etwas (für sie) tut.
Die zweite Gruppe verliebt sich in eine andere Person, weil sie glaubt, einen Teil der Persönlichkeit des Anderen erkannt zu haben.

Die erste Gruppe möchte ich hier, etwas künstlich, „dissimilatorisch“ (von Lateinisch „dissimilis“ unähnlich) nennen.
Personen, die zu dieser Gruppe zählen, sind meist von der Unterschiedlichkeit der Menschen fasziniert. Sie legen sehr stark Wert auf ihre eigene Selbständigkeit und schätzen dies darum auch bei ihrem Gegenüber.
Wenn sich auf diese Weise situativ immer wieder neue Spannungsfelder durch die vielfältigen Anregungen der verschiedenartigen Persönlichkeiten auszubilden beginnen, würde eine dissimilatorische Persönlichkeit vermutlich so etwas denken wie: Ja, das ist wirklich cool JETZT!“.
Der „Schatten“ eines dissimilatorischen Stils wäre ein gewisser „Genießermodus“, der insbesondere in Beziehung solche Momente auskostet „solange es währt“ und ein Übergewicht auf positive Reize („Es soll gut sein, es soll leicht sein – ist es nicht leicht, ist es/bist Du nicht richtig…“) legt.

Die zweite Gruppe möchte ich hier demgemäß als „assimilatorisch“ (von Lateinisch „assimilis“ ähnlich) bezeichnen.
Personen, die zu dieser Gruppe zählen, suchen bei sich und ihrem Gegenüber sehr schnell nach verbindenden Gemeinsamkeiten. Sie schätzen ein Wir-Gefühl und legen Wert auf allseitige Bemühungen um einen gewissen Zusammenklang.
Wenn sich auf diese Weise ein gemeinsamer Raum auszubilden beginnt, würde eine assimilatorische Persönlichkeit vermutlich so etwas denken wie „Ja, das ist wirklich cool HIER!“.
Der „Schatten“ des assimilatorischen Stils wäre daher ein Hang zu zwanghafter „Ähnlichmachung“ und insbesondere in Beziehung ein gewisser „Ganzheitswahn“ („Wenn nicht größtmögliche Übereinstimmung/Harmonie herrscht ist es/bist Du nicht richtig…“).

Trotz dieser Unterschiede verlieben sich beide Gruppen in schöner Regelmäßigkeit etwa gleich häufig. Und da „Verlieben“ für unsere Körper und unseren Geist, die rein biologisch eigentlich auf sehr ökonomische Energiehaushaltung getrimmt sind, stets Stress in Form von aufzubringender Zusatzenergie bedeutet, ist Ver-lieben niemals be-liebig (und überhaupt: Sonst könnte man es doch bei dem viel bequemeren Schwärmen belassen…).
Genau genommen stecken also auch hinter dem Verlieben stets ein oder mehrere Bedürfnisse oder sogar eine Bedürftigkeit, die auf das Gewährleisten von Wohlbefinden oder persönlicher Zufriedenheit abzielen. Fast immer sind dies Bedürfnisse der Kategorien Gemeinschaft und Beteiligung (z.B. Angenommensein, Fürsorge, Gemeinschaftlichkeit, Unterstützung, Verbindung), Verständigung und Verständnis (z.B. Aufmerksamkeit, Gegenseitigkeit, Gehört werden, Vertrauen), sowie Zuneigung und Liebe (z.B. Empathie, Nähe, Zärtlichkeit, Sexualität).

Diese Bedürfnisse aktivieren uns (oder versetzen uns zumindest in einen offenen, erwartungsfreudigen Zustand), so daß wir beim Verlieben – also zu einem Zeitpunkt, da wir das erwählte Gegenüber noch kaum einschätzen können – bereit sind, damit gewissermaßen eine Investition in eine potentielle bzw. fakultative Zukunft zu tätigen, die in unserem Leben möglicherweise nie reale Gestalt annimmt. Aufregende Rahmenbedingungen (wie bei dem in Eintrag 15 erwähnten „Brückenexperiment“) und/oder eine nur mäßig ausgeprägte, eigene Außenabgrenzung (wie bei vielen psychologischen und neurophysiologisch sensiblen Zuständen) können diesen Effekt zusätzlich sehr leicht verstärken.

Was im ersten Moment geradezu erstaunlich und schon beinahe etwas irrational klingt, ist für uns Mitglieder der Spezies „Homo Sapiens“ – egal zu welcher der beiden oben erwähnten Gruppen wir uns zählen – im höchsten Maße plausibel.
Denn wir Menschen sind absichtvoll und planend, weil wir bewußt-zeitliche Wesen sind, was uns vermutlich sogar von dem Gros aller übrigen uns verwandten Säugetiere unterscheidet.
Uns ist bewußt, daß wir eine Vergangenheit haben und eine noch gestaltbare Zukunft – und wir sind uns daher auch unserer Endlichkeit bewußt. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, daß unser Leben – buchstäblich auf Gedeih und Verderb – Prozeßhaftigkeit und Veränderlichkeit unterworfen ist. Der Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche (Ecce homo 1888) nannte diese unumgängliche Erkenntnis einmal sehr schön „Bejahung des Vergehens“, denn für uns Menschen bestätigt sich alltäglich, daß wir eben nicht dauerhaft im 100%ig gegenwärtigen „Hier & Jetzt“ verweilen können. Wir können diesen besonderen Moment anstreben, wir können ihn erleben, auskosten – aber er wird, wie alles andere, nicht von Dauer sein.
Und darum sind wir ja manchmal in gewisser Weise auf die Tiere oder die übrige Natur, die sich ihrer zeitlich begrenzenden Komponente offenbar nicht bewußt sind, neidisch – und die darum auf uns oft so „ausgeglichen“ und sogar „zufrieden“ (was ja tatsächlich ein „in-Frieden“ ist) wirken, weil diese ausstrahlen, daß sie intuitiv/instinktiv immer in ihrem Tun „richtig“ sind.
Dieses „immer“ gibt es für uns nicht – und darum auch kein fortwährendes „richtig“.

Mit der Verliebtheit ist es also so eine Sache: Denn sie schränkt uns bewußt-zeitliche Wesen allein durch die hormonelle Aufwallung in unserer Gesamtwahrnehmungsfähigkeit ein. Wie bereits 1788 der berühmte Freiherr Adolph von Knigge in seinem 4.Kapitel (2. Teil) „Über den Umgang mit und unter Verliebten“ sagte: »Mit Verliebten ist vernünftigerweise gar nicht umzugehn; sie sind so wenig als andre Betrunkene zur Geselligkeit geschickt; außer ihrem Abgotte ist die ganze Welt tot für sie.«
Gerade dieser Fokus auf den „Abgott“, also den geliebten Menschen, versetzt uns gewissermaßen in eine Art „raumzeitliche Sonderzone“, wo es für die Beteiligten sehr leicht ist, das „Teil fürs Ganze“ zu halten – will sagen: In unserer Verliebtheit können wir sehr leicht glauben, den wichtigsten Teil bereits bewältigt zu haben – nämlich daß die „Reise zueinander“ jeweils schon ihr Ziel erreicht hat.

Wie sogar Herr Knigge dazu (im selben Kapitel) bemerkte:
»Die glücklichsten Augenblicke in der Liebe sind da, wo man sich noch nicht gegeneinander mit Worten entdeckt hat, und doch jede Miene, jeden Blick versteht. Die wonnevollsten Freuden sind die, welche man mitteilt und empfängt, ohne dem Verstande davon Rechenschaft zu geben. Die Feinheit des Gefühls leidet oft nicht, daß man sich über Dinge erkläre, die ganz ihren hohen Wert verlieren, die anständigerweise, ohne Beleidigung der Delikatesse, gar nicht mehr gegeben und angenommen werden können, sobald man etwas darüber gesagt hat. Man verwilligt stillschweigend, was man nicht verwilligen darf, wenn es erbeten oder wenn es merkbar wird, daß es mit Absicht gegeben werden soll.«
Das hat der alte Freiherr zwar gut beobachtet – aber aus meiner Sicht preist er diese „glücklichsten Augenblicke“ der Verliebtheit ein wenig zu sehr. Denn was er beschreibt, ist genau genommen immer noch ein Zustand von Kommunikationslosigkeit, von vagem Ungefähr und von süßer Nicht-Gewissheit. Das allerdings kann uns den Beziehungsweizen noch vollständig verhageln, denn Nicht-Gewissheit ist eine akzeptable Basis für Schwärmerei und Verliebtheit – aber keine gute Grundlage für wechselseitige beständige Liebe.

Wenn wir nämlich dann wirklich aus der Verliebtheit heraus miteinander „in Beziehung gehen“, dann werden wir uns ja in jedem Fall auch in „sonstigen Zusammenhängen“ kennenlernen. Da tut unser Gegenüber vielleicht doch nicht immer das, was wir so faszinierend fanden. Oder es zeigt Seiten seiner Persönlichkeit, die wir bislang nicht erkannt oder erwartet hatten.
Was können wir diesbezüglich tun?
Das vielversprechndste Geheimnis solider Beziehungen, wenn man die glücklichen Betroffenen fragt, ist, daß die Beteiligten sich gegenseitig nicht nur als „Liebste“, sondern auch als „Freunde“ bezeichnen. Diese Menschen haben tagtäglich verinnerlicht, daß „den Anderen besser kennenlernen“ gleichzeitig „sich selbst besser kennenlernen“ bedeutet.

Für beide eingangs erwähnten Gruppen ist es also wichtig zu erkennen, daß weder inspirierende Erlebnisse noch gemeinschaftliche Harmonie sich durch unser (einseitiges) Wollen erreichen lassen.
Denn dabei versuchen wir das Unmögliche: Unsere Liebsten in unserer Vorstellung und in unserem Wünschen in einem bestimmten Zustand zu konservieren, der für uns „richtig“ ist und der uns anzieht, weil er uns so unähnlich oder so ähnlich ist. Was aber eben „prozeßhaft“ und „veränderbar“, unserer eigentlichen menschlichen Natur, in keiner Weise gerecht werden kann und damit unseren Liebsten quasi „verbietet“, sich jemals zu wandeln bzw. zu entwickeln.

Wenn man stattdessen seine Liebsten innerlich losläßt, dann ist man (jedesmal) im Hier und Jetzt angekommen und verharrt nicht mehr im ständigen „Wollen“. Die eigene Energie kann auf einmal ungehindert zu den Liebsten fließen und wird nicht mehr blockiert durch eigenes Festhalten oder Ausüben von Druck. Das heißt nicht etwa, nicht aktiv zu handeln, sondern das Handeln entsteht aus dem Augenblick heraus, ohne festen Plan. Man fixiert sich nicht auf ein Ziel, sondern ist ein Teil des Geschehen. Es bedeutet auch, den Moment, wie erkommt, anzunehmen, den nächsten Schritt zu machen oder zu lassen, dann aber die Folgen davon zu akzeptieren.¹

Und ob wir eher dissimilatorisch oder assimilatorisch veranlagt sind:
Dort beginnt das wirkliche „gemeinsame Wir“.




¹ Dieser letzte Absatz wurde von mir überwiegend dem Buch „Mit Pferden sein… – Das Leben ist einmalig“ von Sabine Birmann, Ippikon Verlag 2017, entnommen.

Danke an Jean-Alain Passard auf Pixabay für das Foto.

Eintrag 18

„Wenn einer in die Irre geht, dann heißt das noch lange nicht, daß er nicht auf dem richtigen Weg ist.“
Hans Bemmann, Stein und Flöte (1983)

Oh diese Oligoamoren! Ein ganzer Monat Vorarbeit und Feldstudien. Auswählen einer ethnologisch relevanten Gruppe. Richtmikrofon, Aufnahmetechnik und schließlich ein perfekt errichteter, sorgfältig abgetarnter Unterstand ganz in der Nähe ihres allabendlichen „Feuers der Geschichten“. All das, nur um den oligoamoren Eingeborenen eine weitere ihrer grandiosen Legenden abzugewinnen, von denen ich ja weiß, daß sie voller Sinnbilder für die Führung verbindlich-nachhaltiger Mehrfachbeziehungen stecken.
Und dann DAS! Ausgerechnet in dieser Nacht (in der wissenschaftlich relevanten Nacht!) erzählt da einer am Feuer doch tatsächlich das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“. Ja, wirklich! Das aus der Bibel, Lukas-Evangelium, Kapitel 15. Diese total verstaubte Homecoming-Geschichte, bei der es mir hier jetzt sogar zu peinlich ist, sie noch einmal komplett hinzuschreiben. Kann ja jede*r wortwörtlich in der Bibel nachlesen – oder im Internet.
Die ganze Vorbereitung für die Katz, die Feldforschung ruiniert, Erkenntnisgewinn: Null. Die Oligoamoren sind nicht einmal christianisiert. Eigentlich habe ich bisher noch gar nicht herausgefunden, woran sie so glauben – religiös meine ich. Wahrscheinlich ohnehin so ein Potpourri, zusammengetragen von all denen, die es im Laufe der Jahrzehnte zu diesem entlegenen Eiland geschafft haben. Wäre ja auch wieder typisch für die Oligoamoren – wo die doch so auf Potentialvereinigung und „mehr als die Summe der Teile“ stehen…

An Schlaf ist jedenfalls nicht zu denken, ich wälze mich unruhig auf meinem Feldbett hin und her und kann es immer noch kaum fassen. „Verlorener Sohn“ pfff…

Der Horizont färbt sich schon rötlich und kündigt den Beginn des neuen Tages an, da bin ich immer noch wach. Ich hocke vor meiner Büchersammlung, die ich eigens mit auf die Insel habe schaffen lassen. Aber auf Biblisches war ich eigentlich am allerwenigsten vorbereitet und ich habe kaum Literatur zu dem Thema dabei.
Aber dort – links bei den paar Werken zu Religion und Weltanschauungen, da steht ein Bändchen, dessen Umschlag einen Rettungsring zeigt. „Das Schweigen Gottes – Glauben im Ernstfall“ von dem Pfarrer und Professor Helmut Thielicke (erschienen 2000); ich meine dunkel, daß der etwas zu diesem Gleichnis geschrieben hat. Ich ziehe das dünne Taschenbuch hervor und finde tatsächlich auch alsbald die betreffende Stelle:

Der junge Mann ging wohl weg, um sich selbst zu finden.
Damit man sich selbst finden kann, muß man manchmal eigene Wege gehen. Zu Hause, in der Atmosphäre seines Elternhauses, mußte er ja immer tun, was der Vater wollte oder was die häusliche Sitte erforderte. Da fühlte er sich abhängig. Er konnte nicht tun was er wollte, sondern er konnte nur tun, was sich eben gehörte. Und darum gehörte er nicht sich selbst, sondern er gehörte den Gepflogenheiten seines Elternhauses. Da er außerdem nur der jüngere Bruder war, kam er erst recht nicht zu eigener Entfaltung.
Darum ging er weg, um sich selbst zu finden. Man könnte auch sagen: Er ging weg, um die Freiheit kennenzulernen.
Und diese Freiheit, die ihn lockte und die ihm versprach, daß er nun einmal ganz »er selbst« sein dürfe, diese Freiheit erschien ihm als Freiheit von allen Bindungen
.“

Ich pfeife durch die Zähne und sehe mich sogleich ertappt um – gut, daß ich meine Gefährtin nicht geweckt habe. Leise sage ich es in 12 Stunden zum zweiten Mal: „Oh diese Oligoamoren!“ Deswegen also gefällt ihnen diese Geschichte so gut… Weil es darin auch wieder um das Spannungsfeld zwischen Verbindlichkeit und Freiheit geht, welches ich in Eintrag 7 schon einmal beleuchtet hatte…! Neugierig geworden lese ich weiter, was der Professor schreibt:

Nun aber berichtet die Geschichte etwas Merkwürdiges:
Sie sagt uns nämlich, der verlorene Sohn habe all sein Gut mit unrechten Freunden, zweifelhaften Frauenspersonen und anderem üblen Gelichter vertan, sei schließlich an den Bettelstab gekommen, von allen verlassen worden und habe zu guter Letzt die Schweine hüten und aus dem Schweinetrog essen müssen.
Wenn also in seinem Aufbruch ein gewisser idealistischer Schwung gelegen und wenn ihn so etwas wie die Sehnsucht nach der Freiheit getrieben haben mag, so ist er bald kläglich gescheitert. Er suchte die Freiheit und sah sich bald geknechtet an seine Triebe, an seinen Ehrgeiz, an die Angst vor der Einsamkeit, der gegenüber ihm jede*r noch so obskure Gefährt*in recht war; er war geknechtet an das Geld, mit dessen Hilfe er seinen Leidenschaften frönte.
Und also war er nicht frei, sondern er war auf eine neue Weise gebunden. Aber diese Bindung war schrecklicher als alles, was er einmal als häusliche Bindung beklagt hatte.
Was war passiert? Nun ganz einfach dies, daß er sich im Gegensatz zu dem, was er sich vorgenommen hatte, eben selber nicht fand, sondern daß er sich verlor.
Als er sich selber suchte, da meinte er, er würde sich finden, wen er einmal alle seine Anlagen und Gaben zur Entfaltung brächte. Tatsächlich hat er sich dann in der »freien« Fremde ja auch entfalten können. Aber was war es, was sich da als seine »geprägte Form« nun »lebend entwickelte« ?
War es das sogenannte bessere Ich, waren es seine idealistischen Motive, die da zum Zuge kamen?
Vielleicht war das alles auch dabei. Aber jedenfalls entwickelten sich bei seiner Selbstentfaltung auch die dunklen Seiten seines Wesens: Trieb, Ehrgeiz, Angst, Wollust. Indem er sich selbst entfaltete, wurde er gerade an das verknechtet, was sich an dunklen Gewalten in ihm meldete und sich eben mitentfalteten. So saß er schließlich im greulichsten Elend einer Tagelöhnerschaft. So war er plötzlich der letzte Knecht.

Über dem Eiland der Oligoamory geht die Sonne auf – aber ich habe heute keine Augen für dieses Naturschauspiel. Ich sitze da, mit dem Buch in der Hand, wie vom Donner gerührt. Was sich mir nach diesen Zeilen offenbart hat, hat mir den letzten Zweifel genommen, warum die Oligoamoren diese Geschichte so faszinierend finden, daß sie sie in ihren eigenen Geschichtenkanon integriert haben.
Was ich zunächst nur für ein Sinnbild zu dem bekannten Zwiespalt zwischen Verbindlichkeit und Freiheit hielt, entpuppt sich bei tieferer Reflektion als bedeutende Parabel hinsichtlich unserer Motivation und inneren Aufgestelltheit in Sachen (Mehrfach)Beziehung.
Denn da wird ja zu Beginn auch oft von dem „Aufbruch“ (z.B. in die Polyamory) gesprochen. Und so ein verheißungsvoller Aufbruch ist es dann doch auch oft, voller Sehnsucht nach einer neuen Freiheit und voller Idealismus.
Bis – ja, bis wir manchmal schmerzhaft bemerken, daß wir uns selbst auch bei so einem Aufbruch immer „mitnehmen“. Und daß wir – so wie der „verlorene Sohn“ – wohl in neuen Beziehungs- und Gemeinschaftsformen zwar unser Potential entfalten – aber eben buchstäblich unser GANZES Potential: Sowohl das, was im Licht (also bewußt) ist – als auch unsere verschatteten Anteile (was in der Psychologie das „Unbewußte“ genannt wird, und das Anteile enthält, die wir selber nicht gar so gerne an uns wahrnehmen wollen).
Und das, ich weiß es selbst, kann einem die Beziehungssuppe gerade zu Anfang ganz schön versalzen, wenn man plötzlich von persönlichen Unsicherheiten, alten Ängsten, schlecht erlernter Kommunikation, Selbstüberschätzung oder lauernder Bedürftigkeit gebeutelt wird und eigentlich „nur“ auf der Suche nach Freiheit und liebenden Verbindungen war…
Der Zwiespalt zwischen Freiheitswunsch und Ver-Bindung – ja, darum geht es. Nicht aber, wie ich zu Anfang glaubte, im Außen – sondern tief in uns selbst.
Es ist nicht mehr viel Text im Kapitel übrig, darum lese ich rasch, was der Professor für sich aus der Geschichte ableitet:

Nun passiert die zweite Merkwürdigkeit:
Als er so im Elend des Knechtsdaseins sitzt, da sehnt er sich nach der Freiheit, die er als Kind im Elternhaus genossen hatte. Nun weiß er auf einmal, daß sie wirkliche Freiheit war. Ja, er weiß noch mehr: Er weiß nämlich plötzlich, daß Freiheit nicht etwa Bindungslosigkeit ist (die hat sich ja gerade als Knechtschaft entlarvt), sondern daß die Freiheit nur eine besondere Form der Bindung ist.
Freiheit habe ich nur, wenn ich im Einklang mit meinem Ursprung lebe, wenn ich also – so heißt das dann ohne Bild – im Frieden bin. Und als er sich darum zur Heimkehr entschließt, da ist das kein moralischer Entschluß, der ihn auf die lockende Fremde verzichten ließe – mit Ach und Krach und mit jenem moralischen Kater, wie er solche Entschlüsse zu begleiten pflegt –, sondern da ist es eine Wende, die von Freude erfüllt ist. […]
Das liegt daran, daß der Mensch seinem Wesen nach eben nicht eine geprägte Form ist, die sich nur lebend zu entwickeln brauchte, die also alles an Keimanlage in sich trüge, sondern daß er eben ein Wesen ist, daß sich nur dann verwirklicht, wenn es in seine Mündigkeit hineinwächst, und das sich gerade verfehlt, wenn es sich als ein isoliertes Ich und gleichsam als einen Solisten der Lebenskunst sucht.

Still sitze ich da, ein bißchen erschüttert.
Ich begreife, daß „Der verlorene Sohn“ für die Oligoamoren nichts weniger ist als ein uraltes, menschheitsumfassendes Thema.
Welches sich die Menschen überall auf der Welt seit undenklichen Zeiten in Legendenform erzählen, um sich daran zu erinnern. Es ist die selbe Geschichte, welche die Protagonist*innen durchleben müssen, ob im sumerischen „Gilgamesch-Epos“ (2600 v.Chr.), ob in der griechischen „Odyssee“ (800 v.Chr.), ob in den Märchen „Frau Holle“ oder „Das Wasser des Lebens“ (die von den Gebrüdern Grimm ab 1815 verschriftlicht wurden) – oder ob in der „StarWars-Saga“ (ab 1977) oder ob in den „Harry Potter-Geschichten“ (ab 1997).
Es ist das Thema der „Nachtmeerfahrt“, bei der die Heldin oder der Held sich auf eine abenteuerliche Reise begeben, die sich aber genau genommen zu einer Fahrt in das eigene Innere der Psyche entwickelt – und bei der die Helden mit ihren dunklen Aspekten in Form von Leidenschaften, Zwängen und Bedüftigkeiten konfrontiert werden.
Und auch dies berichten all diese alten und neuen Mythen: Kein*e Held*in bleibt von dieser Nachtmeerfahrt unberührt, einige erliegen sogar ihren Herausforderungen, in jedem Fall durchlaufen alle tiefgreifende Veränderungen.

Wenn wir also in die Gewässer rings um den seltsamen Kontinent der Offenen Beziehungen aufbrechen, zwischen den Inseln des vielgestaltigen Archipels der Polyamory kreuzen und dabei vielleicht auch einen Blick auf das entlegene Eiland der Oligoamory erhaschen, dann sind auch wir vielleicht aufgebrochen, um Freiheit, Abenteuer und möglicherweise Vergnügungen zu finden. Wir werden dort aber auch all den Monstern und Ungeheuerlichkeiten begegnen, die wir unerlöst mit uns bringen und dabei heraufbeschwören werden.

Unsere Suchwanderung nach gelingenden Beziehungen, unsere persönliche Queste zum Auffinden unserer Zugehörigen, unseres Soultribes, ist damit zugleich eine Reise, die uns mit der Übernahme von Verantwortung für uns selbst konfrontieren wird. Mit Selbsterkenntnis sowieso – eigentlich müsste ich vielmehr sogar sagen mit „Selbstanerkenntnis“– denn der „Aufbruch in Mehrfachbeziehungen“ gehört sicher zu einer der grundlegendsten Weisen, sich mit seinen eigenen Stärken und Schwächen zu konfrontieren.

Aber die Oligoamoren würden diese Legenden nicht auch deswegen lieben, wenn sie nicht auch trotz allem den möglichen Preis so sehr schätzen würden. Wie der Professor oben am Ende etwas altmodisch sagte: Das Hineinwachsen in die eigene Mündigkeit – und das Erleben von Freiheit in Verbundenheit.

Statt nun „Amen“ zu sagen möchte ich lieber zwei Zitate anhängen, die für mich persönlich das Ganze immer schon sehr berührend ausgedrückt haben.
Das eine stammt ursprünglich von dem französischen Magnetiseur Louis Alphonse Cahagnet (1805-1885) und ist in der Wicca-Religion durch die Hohepriesterin Doreen Valiente (1922-1999) als Teil der „Weisung der Göttin“ bekannt geworden:
Denn wenn du das, was du suchst nicht in dir selbst findest, dann wirst du es auch niemals außerhalb von dir finden“.

Noch schöner – und tröstlicher – hat es für mich dann nur noch der deutsche Schriftsteller und Philosoph Georg Philipp Friedrich von Hardenberg [aka Novalis] (1772-1801) in seinem Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ gesagt:
Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause. Immer nach Hause.“



Danke an Joshua Earle auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 17

Von Pragmatikern und Idealisten

Als ich das Buch „Gemeinschaftsbildung“ von Scott Peck las, erlebte ich gleich im ersten Kapitel etwas für mich unglaublich Beruhigendes. In diesem ersten Kapitel („In Gemeinschaft hineinstolpern“) beschreibt der Autor nämlich seine eigenen ersten Begegnungen mit Gemeinschaftsbildungsprozessen. Und gleich in seinem allerersten Kontakt mit diesem Thema beschrieb er ein Phänomen, welches auch ich genau genommen in allen menschlichen Gruppierungen so wahrnehme – und darum freue ich mich sehr, daß auch einer der prominentesten Vertreter des „Gemeinschaftsbildungsgedankens“ direkt damit konfrontiert wurde.
Natürlich handelte Scott Pecks Erlebnis von einem Gruppenbildungsprozess (an dem er damals selber teilnahm). Im Laufe dieses Prozesses beschreibt er, wie es zu einer Lagerbildung zwischen zwei Gruppen kam, was zunächst den Fluß der Veranstaltung erheblich behinderte:

>> So dauerte es nicht lange, bis jemand bemerkte „Hey Leute, wir haben es vermasselt. Wir haben den guten Geist verloren. Was ist los?“
„Für euch kann ich nicht sprechen“, antwortete einer, „aber ich habe mich geärgert. Ich weiß nicht warum. Es scheint mir, als hätten wir uns in abgehobene Diskussionen über menschliches Schicksal und spirituelles Wachstum verloren.“ Einige Teilnehmer nickten energisch, um ihre Zustimmung zu signalisieren.
„Was ist so abgehoben daran, über menschliches Schicksal und spirituelles Wachstum zu sprechen?“ konterte ein anderer. „Das ist doch etwas ganz Entscheidendes. Da geht’s lang. Darum geht es im Leben. Das ist doch die Basis, um Gottes Willen!“ Andere nickten jetzt ebenso energisch.
„Wenn Du sagst ‚um Gottes Willen‘, triffst Du meiner Meinung nach genau das Problem“, sagte einer derjenigen, die zuerst genickt hatten. „Ich z.B. glaube gar nicht an Gott. Ihr schwatzt über Gott und Schicksal und Geist, als wenn diese Dinge real wären. Nichts davon ist nachweisbar. Darum läßt es mich kalt. Was mich interessiert ist das Hier und Jetzt, d.h., wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene, die Masern meiner Kinder, das zunehmende Übergewicht meiner Frau, wie kuriert man Schizophrenie, und ob ich nächstes Jahr nach Vietnam einberufen werde.“
„Man könnte meinen, daß wir anscheinend in zwei Lager gespalten sind“, warf ein anderes Mitglied bescheiden ein.
Plötzlich brach die ganze Gruppe in ein schallendes Gelächter aus, weil er seine Interpretation so milde formuliert hatte.
„Man könnte meinen, daß – ja so ist es – man könnte meinen“, rief jemand laut heraus und schlug sich auf die Oberschenkel. „Ja es könnte möglicherweise so den Anschein haben“, sagte ein anderer und brüllte vor Lachen.
So setzten wir endlich heiter unsere Arbeit fort und analysierten die Spaltung zwischen uns. Wir waren in zwei gleich große Lager geteilt. Das Lager, zu dem ich gehörte, bezeichnete die anderen sechs Teilnehmer als „
Materialisten“.
Die Materialisten wiederum nannten uns „
Gralsritter“. <<

Wenn es Euch nun so wie Scott Peck und mir ergeht – und Ihr in menschlichen Gemeinschaften häufig wahrzunehmen scheint, daß sich z.B. In Gesprächen oder bei Herangehensweisen irgendwann zwei sehr unterschiedliche Ansätze gegenüber stehen – dann könnte das an dem Unterschied zwischen „Pragmatikern“ (Materialisten) und „Idealisten“ (Gralsrittern) liegen.

Pragmatiker
sind Menschen, der sich überwiegend an sachlichen Gegebenheiten ausrichten. Pragmatiker orientieren sich dabei weniger an Prinzipien, sondern überlegen in welcher konkreten Situation sie sich befinden und nutzen dann eine Vorgangsweise, die von – wer hätte das gedacht – Pragmatismus geprägt ist.
Wikipedia sagt dazu: „Der Ausdruck Pragmatismus (von altgriechisch πρᾶγμα pragma „Handlung“, „Sache“) bezeichnet umgangssprachlich ein Verhalten, das sich nach bekannten situativen Gegebenheiten richtet, wodurch das praktische Handeln über die theoretische Vernunft gestellt wird. Die philosophische Tradition Pragmatismus geht davon aus, dass der Gehalt einer Theorie von deren praktischen Konsequenzen her bestimmt werden soll. Daher lehnen Pragmatisten das Arbeiten mit starren oder gar unveränderliche Prinzipien (z.B. auch Maxime, Ideale) häufig ab.
Pragmatismus ist also eine Herangehensweise, wo überlegt wird was machbar ist und welche Auswirkungen das (eigene) Handeln hat.
Eine Stärke der Pragmatiker ist auf diese Weise, daß sie sehr ergebnisorientiert bzw., mehr noch, zielorientiert denken und handeln. Wenn Pragmatiker „Absicht“ sagen, bezeichnen sie damit fast immer bereits eine konkrete Handlungskette.
Wenn Pragmatiker also empfehlen „Nicht soviel denken, einfach machen…“ oder „Nicht verkopft sein, einfach leben…“, dann entspricht diese Aussage gewissermaßen ihrer inneren Natur, da es ihnen leicht fällt, auch situativ sehr schnell ihren Kompaß nach den jeweiligen Gegebenheiten (wieder) zu justieren und dadurch eine konkrete Orientierung hin zum nächsten Ziel bzw. zur nächsten Lösung in Angriff zu nehmen.
Letzteres führt dazu, daß Pragmatiker aus ihrer Sicht eher in einer Welt unterwegs sind, in der das „Sein das Bewußtsein formt“, weil sie überwiegend aus vorhandenen Tatsachen dann Theorien oder Handlungskonzepte für sich ableiten.
Als Varianten der Pragmatiker gibt es „Materialisten“, die letztendlich sämtliche Vorgänge auf das physikalische Wirken der greif- und meßbaren Materie beziehen und persönlich dieser damit auch den höchsten Stellenwert einräumen. Zu diesen zählen daher auch die „Utilitaristen“, die Handlungen oder Gegenstände nach einem Zweckmäßigkeits- bzw. Geeignetheitsgedanken beurteilen.

[Ebenfalls zu den Pragmatikern werden oft auch die philosophischen Strömungen des Hedonismus (basierend auf den Lehren des antiken griechischen Philosophen Aristippos von Kyrene) oder des Epikureismus (benannt nach den Lehren des antiken griechischen Philosophen Epikur) gezählt. Diese Selbst- oder Fremdeinordnung muß aber vorsichtig betrachtet werden, da „Hedonismus“ und Epikureismus“ sehr oft in sozialen Kontexten verkürzt mit „Lustmaximierung und Leidvermeidung“ paraphrasiert werden – eigentlich jedoch komplexe Philosophien der Lebensgestaltung nach Gesichtspunkten von Ausgewogenheit und Gelassenheit sind.]

Idealisten‏‎
sind Menschen, die überwiegend – wer hätte das gedacht – nach Idealen streben. „Ideale“ sind dabei meist Vorstellungen eines möglichst vollendeten oder ausgereiften Zustands, dem sie sich in ihren Herangehensweisen annähern wollen. Die „Ideen“, „Maximen“ oder „Prinzipien“ eines „größtmöglichen XYZ“ können dabei auch einem philosophischen, spirituellen oder esoterischen Kontext angelehnt sein, dem sie sich verpflichtet fühlen.

Wikipedia sagt dazu: „Idealismus (abgeleitet von griechisch ἰδέα „Idee“, „Urbild“) bezeichnet in der Philosophie unterschiedliche Strömungen und Einzelpositionen, die hervorheben, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist bzw. dass Ideen bzw. Ideelles die Fundamente von Wirklichkeit, Wissen und Moral ausmachen. Im engeren Sinn wird als Vertreter eines Idealismus bezeichnet, wer annimmt, dass die physikalische Welt nur als Objekt für das Bewusstsein oder im Bewusstsein existiert oder in sich selbst geistig beschaffen ist.

Im
ethischen Idealismus wird davon ausgegangen, dass wir durch vernünftige, verlässliche und verbindliche Überlegungen unser Handeln begründen und regeln können und sollen.“

Eine Stärke der Idealisten ist auf diese Weise, daß sie sehr prozessorientiert bzw., mehr noch, prozessbegleitend denken und handeln. Wenn Idealisten „Absicht“ sagen, bezeichnen sie damit fast immer eine Maxime, die – wie ein Leitstern in der Seefahrt – die Richtung anzeigt, ohne selbst physisch wirklich „erreichbar“ zu sein.
Wenn Idealisten also sagen, daß „…eine Wirkung oder eine Handlung sich aus vielerlei Ursachen zusammensetzt und jedes Vorgehen daher zuvor gründlich überlegt werden muß… (Erst nachdenken/reflektieren – dann handeln) “, dann entspricht diese Aussage gewissermaßen ihrer inneren Natur, da es für sie selbstverständlich ist, allen Begleitumstände zuvor eine ähnlich sorgfältige Betrachtung zuteil werden zu lassen, um zu einer bestmöglichen Vorgehensweise zu gelangen.
Letzteres führt dazu, daß Idealisten aus ihrer Sicht eher in einer Welt unterwegs sind, in der das „Bewußtsein das Sein formt“, weil sie überwiegend aus innerer Anschauung und aus gründlicher Reflektion einer Idee heraus zur Tat schreiten.
Eine Variante der Idealisten sind daher allerdings darum die „Fanatiker“ (in abgemilderter Form auch „Perfektionisten“), die alles und jeden kompromißslos der Erfüllung ihres Vollkommenheitsideals unterwerfen wollen.
[Ebenfalls zu den Idealisten werden oft auch die „Romantiker“ (benannt nach der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik) gezählt. Diese Selbst- oder Fremdeinordnung muß aber vorsichtig betrachtet werden, da „Romantik“ sehr oft in sozialen Kontexten verkürzt mit einem rückwärtsgewandt-sentimentalen Zustand überfließenden Gefühlsreichtums gleichgesetzt wird – eigentlich jedoch auf einer komplexen Philosophie aus Altruismus und Vergänglichkeitsbewußtsein beruht.]

Zwischen Pragmatikern und Idealisten kann es also schnell – wie in dem Beispiel von Scott Peck – gerade im Punkt „gemeinschaftliche Beziehung“ zu Konflikten kommen, weil sich Denk- und Herangehensweisen z.T. so stark unterscheiden, daß das Verhalten der „Gegenseite“ vom jeweils eignen Standpunkt her mißverständlich aufgefasst werden kann.
Die Folge sind oftmals Unverständnis und Kritik.
Auf Pragmatiker können Idealisten mitunter bis zur Erbsenzählerei umständlich und von dieser Welt sehr abgehoben wirken. „Idealisten suchen zu lange im dunklen Zimmer nach der schwarzen Katze, die gar nicht da ist“, würden Pragmatiker eventuell sagen.
Auf Idealisten wiederum können Pragmatiker manchmal unglaublich stumpf und unvisionär wirken. Idealisten könnten z.B. sagen: „Pragmatiker haben gar kein Interesse daran, hinter den Vorhang zu schauen. Ihnen gefällt der Vorhang.

Dabei sind für die meisten menschlichen Projekte beide Ansätze gleichermaßen wichtig: Idealisten überlegen, was wünschenswert wäre, Pragmatiker setzten sich damit auseinander, was machbar ist.
Wenn Pragmatiker keine Ideale haben, drohen ihnen Seichtheit und Banalität.
Idealisten hingegen, die glauben auf Sachbezogenheit verzichten zu können, schweben entweder in den Wolken und setzen nichts um oder sie verzetteln sich in endlosen Streitereien um ein hehres Ziel mit allen anderen.
Pragmatiker und Idealisten können sich deswegen sehr unversöhnlich gegenüber stehen bzw. der Versuch von Kooperation mündet in ein recht fruchtloses „Nebeneinander“.
Oder sie haben die Möglichkeit, das Beste aus beiden Welten heranzuziehen und zu einer gemeinsamen Synthese zu vereinen, wobei sie sich ergänzen und dadurch ihre extremen Erscheinungsformen abmildern.

Scott Pecks damaliger Gemeinschaftsbildungsprozess geriet übrigens dank des oben beschriebenen allgemeinen Heiterkeitsanfalles glücklich:

>> Wir erkannten, daß es die Materialisten nicht schaffen würden, uns Gralsritter „zur Vernunft“ zu bringen und uns davon abzuhalten unseren Idealen nachzujagen. Gleichzeitig akzeptierten wir Gralsritter, daß wir das andere Lager nicht vom bodenständigen Materialismus abbringen konnten. <<

Mit einer kreativen Lösung konnte sogar ein „Brücke zwischen beiden (Wahrnehmungs)Welten“ geschlagen werden, welche die Stärken beider Modelle vereinte:
>> Wir überlegten, für uns alle einen gemeinsamen, identitätsstiftenden Mythos auszudenken. Wir wollten den Organismus unserer Beziehungsprozesses weder als „rein materialistisch“ noch als „super-spirituell“ konzipieren. So brachte jedes Mitglied eigene Ideen ein, und wir entwarfen gemeinsam eine etwas skurrile Parabel, ein Gleichnis, in dem sich jeder Teilnehmer wiederfinden konnte:
Wir verglichen unsere Beziehungsprozess mit einer Seeschildkröte, die an Land ging, um ihre Eier zu legen, und die sich nun in den Ozean zurückschleppt, um zu sterben. Wie viele Nachkommen schlüpfen und trotz vieler Gefahren den rettenden Ozean erreichen würden, war dem Schicksal überlassen.
<<

Scott Peck resümiert dazu selber:
>> Die Auflösung der Reibung zwischen den „Materialisten“ und den „Gralsrittern“ war meine erste Erfahrung mit Konfliktlösung in einer Gruppe. Ich hatte vorher nicht gewußt, daß es für eine Gruppe von Menschen möglich war, die Unterschiede anzuerkennen, sie beiseite zu legen und sich immer noch zu lieben. In dieser kurzen Zeit konnte ich beobachten, wie Menschen Meinungsverschiedenheiten kreativ nutzten und überwanden. <<

Als Erforscher oligoamorer Lande möchte ich ergänzen: Diese Gruppe besonderer Menschen hatte sich freiwillig miteinander auf einen Gemeinschaftsbildungsprozess eingelassen. Ihre verbindende Stärke war es, daß sie trotz unterschiedlicher Grundkonzeptionen dem „gemeinsamen Wir“ – jenseits aller trennenden Unterschiede – bis zum Schluß den höchsten Stellenwert gaben.

Und da dennoch Idealisten und Pragmatiker im Alltag sehr unterschiedliche Sprachen sprechen können und Verständigung nicht immer gelingt, könnte es hinsichtlich oligoamorer Mehrfachbeziehungen vermutlich wichtiger sein – gerade bei der Wahl von Partner*innen bzw. Konstellationen – nicht so sehr nach FFM, MMF, MFMF…¹ etc. zu fragen, sondern vielmehr nach IPP, PPI, IPIP…



PS: Ich entschuldige mich ausdrücklich, daß ich in diesem Artikel den Plural der Wörter „Pragmatiker“ und „Idealisten“ nicht mit Genderstern versehen habe. Aus meiner Sicht als Autor wäre es diesmal auf Kosten der Lesbarkeit doch recht ungeordnet geworden.

¹ Die Buchstaben beziehen sich auf die häufig auf Dating- und Erotikportalen benutzten Kürzel für Kombinationen von Frau/Frau/Mann, Mann,Mann,Frau etc.

Danke an Anne für die Inspiration und Dank an Simona Robová auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 16 #Kommunikation

Kein guter Tag zum Grillen

In Eintrag 4 schrieb ich, daß ich hinsichtlich der Oligoamory „Kommunikation“ eher als „flexible Stellgröße“ denn als in Stein gemeißelten „Wert“ ansehe.
Die allermeisten Texte, Podcasts und Videos zum Thema ethischer Non-Monogamie betonen „Kommunikation“ als eine der wichtigsten Säulen funktionierender Mehrfachbeziehungen – und das selbstverständlich auch zu Recht und mit gutem Grund. Daher werde auch ich meinerseits in Zukunft garantiert noch den ein oder anderen bLog-Eintrag diesem elementaren Stoff widmen.
Gleichzeitig ist mir in letzter Zeit aufgefallen, daß „gute Kommunikation“ ihrerseits genau genommen ebenfalls „flexible Stellgrößen“ benötigt, um überhaupt stattfinden zu können.
Eine solche Stellgröße sind die eigenen Ressourcen bzw. die eigene Aufgestelltheit der kommunizierenden Personen.
Das mag im ersten Moment seltsam klingen – aber vielfach scheitert Kommunikation doch bereits an dem ersten gut gemeinten Rat: „Setzt Euch doch hin und redet mal vernünftig miteinander!“
Familie ist für kleine Gemeinschaften gelegentlich ein durchaus passendes Übungsfeld, darum bringe ich zu der Problematik, die ich skizzieren will, ein persönliches Beispiel.


So brachte mir meine Tochter am Donnerstag einen dieser berühmten „Informationszettel“ mit. Darin wurde ich als Elternteil über die Details des am direkt folgenden Montagabend stattfindenden „Schuljahrsendtreffen“ mit beiden Klassenlehrern, Eltern und Schülern unterrichtet.
Das Schreiben begann mit dem schönen Satz „Liebe Eltern, wie Ihnen schon von Ihrer Tochter / Ihrem Sohn mitgeteilt wurde, wollen wir am kommenden Montag auf unserem Grillplatz gemeinsam das Schuljahr ausklingen lassen […]“.
Der betreffende Zettel lag Donnerstagmittag irgendwann kommentarlos auf dem Küchentisch (wo ich ihn entdeckte, als ich wegen meiner eigenen Mittagspause den Raum betrat) und – die werten Leser werden es ahnen – es war mir davon bislang kein Sterbenswörtchen im Vorfeld „schon mitgeteilt“ worden.
Nun gebe ich zu, daß bei zwei Kindern in mittlerweile 8 Schuljahren sowohl eine Menge Zettel als auch eine Menge mehr oder weniger wichtige schulische Veranstaltungen an ein geplagtes Elternteil herangetragen werden. Es sind so viele, daß ich mir – um einigermaßen die Übersicht zu behalten – angewöhnt habe, die Ankündigungen nach „Dringlichkeitsgrad“ zu priorisieren. Auf eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit dem Mathelehrer über eine einbrechende Leistungskurve reagiere ich daher prompter als auf den Spendenaufruf zum Sportfest oder die Info mit den verschiebbaren Ferientagen. Und ganz am Ende meiner Liste kommen Einladungen zu sozialen Ereignissen, die mit Schule nur noch in sofern zusammenhängen, als daß die Menschen, die sich dort treffen, irgendetwas mit der Klasse 8b zu tun haben (was bei mir individuell außerdem daran liegt, daß ich bezüglich sozialer Zusammenkünfte zur Freizeitgestaltung mit größtenteils fremden Menschen in nahezu keinem Kontext großen Enthusiasmus aufbringe…).
Um eintreffende Nachrichten meinem System von „wichtig“ oder „unwichtig“ zu unterwerfen, muß ich sie nichtsdestoweniger alle zu diesem Zweck wenigstens einmal lesen (das ist immerhin schon mal ein Pluspunkt für mich!).
In diesem Fall wußte ich sogar, daß ich „kommenden Montagabend zwischen 18:00 und 20:30 Uhr“ größtenteils noch mit Tagesarbeit beschäftigt wäre und damit eine plausible Erklärung für meine Nicht-Teilnahme hätte. Ehrlicherweise müsste ich aber zugeben, daß ich für eine persönliche Vorladung durch den Mathelehrer mit einem Krisengespräch zur Leistungskurve selbstverständlich die Kapazität freigeschaufelt hätte (und dies auch nicht mit allzu großem Aufwand für mich verbunden wäre).
Immerhin traf ich meine 14jährige Tochter im Laufe des Donnerstagsabends doch noch einmal an und stellte ihr wiederum frei, ob sie zu dem Grillfest gehen wollte oder nicht („Die Schüler*innen teilen den Lehrern bis Freitag mit, wie viele Teilnehmer*innen aus ihrer Familie in etwa zu erwarten sind […] “). Auch bot ich ihr an, ihr dann etwas zum Grillen zu besorgen. Nun. Eltern von Teenagern ahnen es – die geschätzte Antwort war ein konkret-messerscharfes „Ach, weiß nich’…“.

Manche Ratgeber empfehlen es: Vielleicht wäre hier der Punkt gewesen, zu einem Gespräch über Kommunikationskultur – also quasi Metakommunikation – anzusetzen, angefangen von der allgemeinen Art und Weise des Überbringens schulisch relevanter Nachrichten bis hin zu dem konkreten Formulieren eines Meinungsbildungsprozesses – von dem ja wieder Handlungen weiterer Personen (in dem Fall meine) abhängig gewesen wären.
Kurzum – das tat ich aber nicht und ließ die Sache auf sich beruhen.

Auch wenn diese kurze Begebenheit eventuell jetzt kein so rosiges Licht auf die organisatorischen und rhetorischen Leistungen Heranwachsender wirft – so erzählt sie genau genommen in der Hauptsache etwas über mich.
Was mir klar wurde, als ich am Samstag von meiner Nesting-Partnerin angesprochen wurde, ob ich mich mit meiner Tochter über das Grillfest unterhalten hätte. Und ob ich nachgefragt hätte, was es mit der unterbliebenen Vorankündigung „…wie ihnen schon von Ihrer Tochter / Ihrem Sohn mitgeteilt wurde…“ auf sich gehabt hätte (denn meine Nesting-Partnerin legt als Herrin des Terminkalenders gelegentlich durchaus Wert auf zeitnahe und konkrete Koordinierung).

Hier fehlt doch jemand…?

Wie ist das also mit „meinem Anteil“ an dem (kommunikativen) (Nicht-)Geschehen?
Ich muß zuallererst zugeben, daß ich, Oligotropos, Angelegenheiten, die direkt mich selbst betreffen, an die oberste Stelle setze. Im Verhältnis zu dem beschriebenen Beispiel hätte mich also z.B. ein Schreiben vom Finanzamt, mit meinem Namen als Empfänger darauf, deutlich mehr beeindruckt – und zu einer engagierteren Reaktion geführt. Dabei hat die Schule ja das Ihrige getan, um mich einzubinden – denn mit der Anrede „Liebe Eltern“ war ja ganz eindeutig auch ich gemeint. Trotzdem war ich voreingenommen, indem ich den „Themenkreis Schule“ der Hemisphäre meiner (eben nicht mehr ganz so kleinen) Kinder zugerechnet hatte. Und das nicht so sehr im Sinne von „Ist nicht mein Problem“, sondern mehr im Sinne von „Nicht in erster Linie mein Problem“ – und damit eben nicht Hauptpriorität.
Damit begann für mich jedoch eine „Abwärtsspirale der Verringerung“. Das mag auch daran liegen, daß meine Kinder in der Schule insgesamt ziemlich gut sind. Wodurch ich im Allgemeinen in der Gesamterwartung lebe, daß der „Themenkreis Schule“ sich nicht von heute auf morgen in einen dramatischen Brandherd verwandelt, der meine volle Aufmerksamkeit verlangt (Aber man weiß ja: Gerade hinsichtlich solcher Erwartungen kann einen das Leben gelegentlich recht unversehens überraschen…). So degradierte ich die Begebenheit „Elternbrief & Grillfest“ zu einer „kleinen (Neben)Begebenheit“ und mein Gehirn, stets um kohärente Strukturen bemüht, erledigte die Ablage indem „klein“ mit „schon nicht so wichtig“ synonymisiert wurde.
Wie oben gezeigt, hatte ich meinem „internes Ablagesystem“ aber auch schon eine Steilvorlage geliefert, da mein Gehirn doch meine Abneigung betreffs „sozialer Aktivitäten“ bestens kannte – und so quasi auch noch Schützenhilfe vom „inneren Schweinehund“ bekam. Der „Schweinehund“ wiederum wußte bestens um meinen derzeitigen Erschöpfungszustand durch eine augenblicklich akut erhöhte Arbeitsbelastung bei mir.
Dennoch schaffte ich es, den Elternbrief gegenüber meiner Tochter anzusprechen, da ich für die Einkäufe zuständig bin und das Schreiben besagte, daß „alle ihr Essen und ihre Getränke selbst mitbringen“. „Einkauf“ und „für die Familie sorgen“ haben bei mir nämlich durchaus eine erhöhte Priorität (die ich tatsächlich unter nahezu allen Umständen aufrecht erhalte, sogar, wenn ich ziemlich angeschlagen bin).
Die unentschlossene Antwort meiner Tochter betreffs der Teilnahme war dann allerdings so unmotiviert, daß ich nicht einmal erkennen konnte, ob ich irgendwie zu ihrem Wohlbefinden in Sachen Grillfest beitragen konnte.
Und dies nagelte den letzten Nagel in den Kommunikationssarg: Das „Weiß nich’…“ meiner Tochter bestätigte mir, daß auch für sie das Sommerfest wohl ein Niederprioritätsziel war und ich hakte das Thema ab – als buchstäblich: Nicht der (weiteren) Rede wert. Womit auch jede weitere Unterhaltung über das „Wie“ der Nachrichtenübermittlung mitbegraben wurde. Denn warum noch Disharmonie riskieren, deren Auslöser dann ja auch noch ein Themas wäre, daß von allen beteiligten Seiten mit so wenig Dringlichkeit verfolgt wurde?

Das meinte ich am Anfang mit „Ressourcen“ und „persönlicher Aufgestelltheit“.
Echte Kommunikation wegen des anliegenden Themas, in der alle Beteiligten ihre Interessen darstellen konnten – egal wie diese dann qualitativ ausgefallen wäre – fand bei uns gar nicht erst wirklich statt.
Darum werden wir auch nie erfahren, wie dieses Gespräch abgelaufen wäre – und nur ihr werten Leser lernt hier (lediglich) meine Beweggründe kennen, bei denen es jedoch wichtiger gewesen, wenn es mir gelungen wäre, sie gegenüber den Mitgliedern meiner sozialen Gruppe (hier: Familie) offenzulegen. Auch „Familie“ ist ja genau genommen schon oft eine vollwertige „Mehrfachbeziehung“ (selbst wenn manche Verbindungen – Kinder zu Eltern z.B. – nicht immer auf freier gegenseitiger Wahl beruhen).

Wie beeinflußt also mein obiges Verhalten eventuell so eine „Mehrfachbeziehung“?
Zum einen darf ich natürlich mir und meinen eigenen Bedürfnissen auch in sozialen Situationen einen hohen Stellenwert einräumen. Denn – wie in Eintrag 11 dargestellt – bin ich schließlich der „Held meines eigenen Lebensfilmes“.
Gleichzeitig stehe ich aber nicht über oder neben dieser sozialen Situation, sondern bin Teil davon, womit ich – da ich ja freiwillig an meiner Gemeinschaft teilhabe – zu dem „gemeinsamen Wir“, welches ich in der Oligoamory so häufig zitiere, beitragen möchte. In Eintrag 11 zeige ich daher ebenfalls, daß es für Homo sapiens kein Widerspruch ist, darum in seinen Handlungen Eigennutz und Gruppennutzen zu vereinen, vorausgesetzt daß ein Mensch sich als Teil dieser Gruppe bzw. Horde empfindet.

►Dadurch ist es – auf diese soziale Gruppe bezogen – sehr oft äußerst wichtig, Thema bzw. Gesprächsanlaß von der Gelegenheit zur Kommunikation bzw. dem konkreten Gespräch selber zu trennen (wenigstens im Kopf). Denn sonst stülpe ich meine persönlichen Gründe (z.B. Erschöpfung, Bequemlichkeit, Angelegenheit individuell nicht so wichtig nehmen), die ich mit dem Thema verbinde, der möglichen Gelegenheit zur Kommunikation insgesamt über – und damit meiner ganzen sozialen Gruppe. Welcher ich auf diese Weise a priori eine Mitsprachemöglichkeit gewissermaßen entziehe – und damit meine eigenen Beweggründe an die allerhöchste Stelle für die gesamte Gemeinschaft setze: Das „gemeinsame Wir“ ist mir dabei verlorengegangen.

Und dies war ja in meinem Beispiel nicht einmal ein bewußt-absichtsvoller Prozeß von mir, sondern fußte auf einer Reihe individueller Gegengründe, die infolge meiner situativen Befindlichkeit aus meiner Sicht sehr nachvollziehbar ineinander griffen.
Trotzdem habe ich mir durch diesen kurzfristigen Erfolg (Ich muß jetzt nicht zum Grillfest gehen/beitragen) mehrere wichtige Chancen in Bezug auf meine Gemeinschaft verbaut:
Ich habe eigentlich nicht erfahren, ob Töchterlein wirklich zu dem Abschlußfest gehen wollte oder ob sie nur recht deutlich gespürt hatte, daß ich „die Sache“ eigentlich für mich schon entschieden hatte. Schließlich agieren ja auch die anderen Teilnehmer unserer sozialen Gruppe „reziprok“ – also beziehen wiederum in die eigenen Wünsche und Entscheidungen die Befindlichkeiten der Anderen als Wechselwirkung mit ein (insbesondere Kinder oder sensiblere Individuen).
Genauso bin ich einem Gespräch hinsichtlich der möglichen Verbesserung der Gesamtgesprächskultur aus dem Weg gegangen – und habe dabei ganz genau genommen sogar noch ein Paradebeispiel für schlumpfigen Umgang damit geleistet.
Wodurch ich obendrein mir selber die Gelegenheit genommen habe, mich gegenüber meinen Lieblingsmenschen offen zu zeigen, mit meiner evtl. Überforderung oder meinen Bedürfnissen.
Auf diese Weise ist das, was ich in der Oligoamory als die Kernkompetenz des „gemeinsamen Wirs“ ansehe, nämlich die gemeinsame Ressourcenvereinigung und die Kraft der Unterstützung daraus, gar nicht erst zur Entfaltung gekommen.
Selbstverständlich hätte am Ende das Ergebnis das Gleiche sein können: Vielleicht hätte die Gruppe nicht genug Kapazität gehabt, so kurzfristig das Projekt Grillfest irgendwie zufriedenstellend noch im Terminplan unterzubringen. Oder es hätte sich tatsächlich erwiesen, daß ohnehin wirklich niemand Lust darauf gehabt hätte.
Aber mehr Köpfe hätten vielleicht auch ganz erstaunliche Möglichkeiten gefunden oder überraschende Motivation gezeigt – die ich in meinem eigenen müden und harmoniebedürftigen Kopf allein gar nicht hätte vorhersehen können.
Plus: Auch Kommunikation kann, wie jede Fähigkeit, am Besten durch Übung verbessert werden. Sogar, wenn dafür ein nicht völlig harmonisches Gespräch in Kauf genommen werden müsste, weil auch das „wie“ (Zettel wortlos auf dem Küchentisch) dabei auf die Tagesordnung gekommen wäre.

Manchmal benötigen wir also den Mut, nicht „alles mit uns alleine abzumachen“. Insbesondere, wenn wir uns als Teil einer engen Gemeinschaft sehen. Selbst Dinge, die wir selber als vermeintliche Kleinigkeiten einstufen, werden höchstwahrscheinlich das Ganze – und damit alle anderen Beteiligten – auf irgendeine Art berühren.
Unser wechselseitiges Vertrauen können wir deshalb am meisten durch die Transparentmachung unserer persönlichen Beweggründe stärken.
Es ist möglich, daß uns dabei am Ende des Tages klar wird, daß diese „guten Gründe“ für die Anderen nicht ganz so heldig oder nachvollziehbar waren, wie wir selber dachten.
Aber die Wahrscheinlichkeit ist viel höher, daß wir von unserer Gemeinschaft und dem „mehr als die Summe ihrer Teile“ profitieren werden, weil uns von unerwarteter Seite Unterstützung oder wenigstens Verständnis zukommen wird.
Ich hoffe, daß mir nächstes Mal dieser freundliche Gedanke rechtzeitig hilft, wenn ich einem Gespräch von vornherein aus dem Weg gehe, weil ich glaube über nicht genügend Kapazität dafür zu verfügen.




Danke an sacriba von sacriba’s Blog für die Nachfrage hinsichtlich der „guten (persönlichen) Gründe) und Dank für das Küchentischbild an Jill Wellington auf Pixabay.

Eintrag 15 #Vertrauen

Trau, schau, wem? (Volkstümliches Sprichwort)

Ich finde das oft schwierig, überhaupt irgendjemanden kennenzulernen. Zu Anfang gibt es ja noch so gar kein Vertrauen, auf das man aufbauen könnte...“
Das sagte neulich ein*e Freund*in zu mir, als wir über Mehrfachbeziehungen sprachen.
Und obwohl dies im ersten Moment vollkommen nachvollziehbar klingt, gibt es dennoch zu jeder Zeit für die meisten von uns sogar schon zwei Arten von Vertrauen, die uns in so einem (schönen) Fall bereits zur Verfügung stehen.
Zwei?
Ja, richtig gelesen.
Und mit der eher unbekannteren Form, nämlich dem sogenannten „Swift Trust“ (deutsch etwa:„Rasches Vertrauen“), möchte ich heute ganz geschwind beginnen.

Swift Trust

Die „Swift Trust Theory“ wurde erstmals im Jahr 1995 von dem Neuropsychologen D. Meyerson, dem Organisationstheoretiker K.E. Weick und dem Sozialpsychologen R.M. Kramer in der Aufsatzsammlung „Vertrauen in Organisationen: Grenzen von Theorie und Forschung“ (erschienen bei Sage-Publications, London) formuliert.
Genau genommen beschrieben sie eine menschliche Dynamik, welche sie in unternehmerischen Zusammenhängen beobachtet hatten, nämlich wenn fremde Menschen einigermaßen plötzlich als Team zusammenarbeiten mußten.
Also: Zu einem Zeitpunkt, an dem weder zeitlich noch auf Grund von bereits bestehender Bekanntschaft irgend ein Kriterium für echtes Vertrauen erfüllt war.
Obwohl „Swift Trust“ also ursprünglich eine Erscheinung aus der Welt der Arbeits-Verhältnisse ist, glaube ich dennoch, daß es einige Kriterien davon gibt, die ebenfalls beim Kennenlernen und Verlieben für „Normal-Beziehungen“ ausschlaggebend sind (beobachtet Euch selbst!):

  • Orientierung: Da alle neu sind und die Situation noch nicht wirklich überschauen/abschätzen können, entsteht tatsächlich eine verbindende „Gemeinsamkeit“. Zusätzlich wird in solch einer noch unübersichtlichen Lage bei allen Beteiligten Adrenalin ausgeschüttet – wie bei dem berühmten „Brückenexperiment“¹, was einen zusätzlichen Anreiz zur Kooperation setzt.
  • Normativität: Ungewissheit läßt die meisten Menschen quasi wie ein „Sicherheitsnetz“ sehr stark auf angepaßte bzw. normierte Verhaltensweisen als „Krisenmodus“ zurückschalten. Umso erfolgreicher ist dabei, wer extreme Handlungen oder Äußerungen vermeidet und sich damit als verläßlich bzw. berechenbar positionieren kann.
  • Erwartungen: Ja, auch das ist belegt. Auch die jeweiligen Erwartungen an einen erfolgreichen Verlauf schaffen eine weitere „Gemeinsamkeit“ (obwohl die Details dessen, „was“ diesen Erfolg ausmachen soll, individuell stark abweichen können).
  • gleichartig ausgerichtete Aktivitäten und gemeinsame Belohnung(en): Sind quasi anfängliche „Verstärker“, welche die Möglichkeit einer Synchronisierung der Beteiligten erleben lassen (Deswegen balzen z.B. auch Tiere in komplexen aufeinander abgestimmten Mustern, um immer mehr Nähe [zu einem sonstigen Konkurrenten] zulassen zu können).
  • Der Eindruck starker wechselseitiger Aufeinanderbezogenheit: Für unser Gehirn gilt: Auch das Sein beeinflußt das Bewußtsein. Wenden wir uns gerade in einer Anfangsphase wechselseitig einander intensiv zu, nimmt unser Gehirn gerne das „Teil für’s Ganze“ – und erzeugt den Eindruck, daß es wohl bei soviel Vertrautheit schon eine gemeinsame Grundlage gibt (die realistischerweise noch nicht etabliert sein kann).
  • knappe Zeit: Viele erste Treffen sind situativ oder nur punktuell, meistens jedenfalls nicht alltäglich. Ähnlich wie im Brückenexperiment¹ fokussiert unser Wahrnehmungsapparat in solchen Situationen auf das Naheliegende (für egoistische oder unproduktive Aktivitäten, die uns in schlechtem Licht zeigen könnten, ist erst einmal gar kein Raum).
  • ausreichende Ressourcen (materiell oder psychisch): Auf einem Konzert kennengelernt, in einer Kneipe oder auf einem Seminar? Das alles sind in gewisser Weise „Wohlfühlumgebungen“ für uns, in denen wir uns – wenn auch nicht völlig „sicher“ – als „in Fülle“ bzw. auf jeden Fall in einer „Vorzugssituation“ erleben. Wir agieren großzügiger und unbesorgter.
  • starke Prozessorientierung: Persönliche Problemen oder individuelle Kritik werden in diesem Modus meistens weit nach hinten gestellt. Die allgemeine Priorität ist „…daß es erst mal möglichst reibungslos Fahrt aufnimmt“.

Die Kritik – auch die wissenschaftliche – an der „Swift Trust Theorie“ liest sich wie guter freundschaftlicher Rat: Dieses „Rasche Vertrauen“ ist in jedem Fall ein menschlicher Mechanismus zur Reduktion von Komplexität in einer unvertrauten Situation. Damit erfüllt es viele Kriterien, die z.B. auch in Modellen zum Krisenmanagement enthalten sind.
Und schon unsere Mütter sagten: „Niemand kann sich länger als 14 Tage verstellen.“ Womit sie auch beim „Raschen Vertrauen“ Recht behalten werden, denn bei langfristigerer Kooperation von Menschen erhält die Komponente „Kommunikation“ eine immer höhere Bedeutung. Gerade gute Kommunikation (oder vielmehr das Ausbleiben derselben) stellte sich aber als echte Achillesferse der „Swift Trust Theorie“ heraus, da diese Art von anfänglichem (Vor)Vertrauen für das grundlegende Vermitteln von Vertrauenswürdigkeit zwar elementar ist, aber als eben nicht als Ganzes für einen stabilen Beziehungsaufbau ausreicht.

Doch ich schrieb ja von „zwei“ Arten von Vertrauen, die uns auch ohne irgendwelche Vorkenntnisse betreffs unseres Gegenübers zur Verfügung stehen. Gibt es für uns also noch eine solidere Komponente als das „Rasche (Vor)Vertrauen“?
Ja – aber über diese Variante verfügen nicht alle von uns in gleicher Menge. Es handelt sich nämlich um das

Selbstvertrauen

Über etwas Selbstvertrauen zu verfügen ist in unvertrauten Situationen – insbesondere in Hinsicht auf andere Menschen – von großem Vorteil. Denn dies bedeutet ja nichts weniger, als daß wir auf diese Weise auch in unsere Kompetenz vertrauen, mit eventuellen Herausforderungen oder sogar Schwierigkeiten umgehen zu können. Wenn wir so überwiegend der Überzeugung sind, daß da nahezu kommen kann was will und wir uns diesbezüglich zutrauen, damit fertig zu werden, dann haben wir insgesamt weniger Angst – und das ist eine sehr wichtige Vorbedingung für echtes wechselseitiges Vertrauen.
Mit ausstreichendem Selbstvertrauen gelingt es uns ebenfalls besser, die anderen als „Helden in ihrem eigenen Lebensfilm“ (wie in Eintrag 11) anzusehen – die vielleicht mal unglücklich agieren, grundsätzlich aber, so wie wir selber auch, gute Absichten verfolgen.

Mangelndes Selbstvertrauen hingegen führt dazu, daß wir beginnen ängstlich zu werden, wodurch wir schnell in „Verteidigungsbereitschaft“ oder eine Abwehrhaltung gehen – denn dann glauben wir, daß wir anderen „nicht gewachsen“ sind, bzw. wir stufen uns selbst als „schwächer“ ein.
Selbstvertrauen hat durch diese Verknüpfung leider eine Menge mit unserer Grundeinstellung gegenüber anderen Menschen zu tun. Und diese Grundeinstellung wiederum ist sehr stark von unseren Erfahrungen während unseres Aufwachsens beeinflußt worden.
„Negative“ elterliche Bindungsstile, wie ich sie in Eintrag 14 beschrieben habe, verfolgen uns bis in unser Erwachsenenleben:
Ängstliche“ Bindungen haben z.B. den Glauben an unsere Selbstwirksamkeit untergraben, indem wir vielleicht überbehütet wurden und selten eigene Erfahrungen machen durften.
Vereinnahmende“ Bindungen stellten (zu) hohe Anforderungen an uns, bei denen wir uns als scheiternd oder als „nie genug“ erleben mußten.
Und in „abweisenden“ Bindungen erfuhren wir möglicherweise keine Unterstützung in Notsituationen bzw. daß Zusagen an uns selten eingehalten wurden.
Solche Lernerfahrungen aber vermitteln Menschen, daß sie weder den eigenen Fähigkeiten, noch anderen Personen, noch dem Leben selbst wirklich vertrauen können.

Leider haben sowohl die sozialen als auch die psychologischen Forschungen der letzten 25 Jahre erwiesen, daß nicht nur wir selber Opfer einer so „erlernten“ Haltung werden, sondern daß auch alle Personen, mit denen wir interagieren, diese Haltung – die sich ja oft in irgendeinem Maß von persönlicher Distanz oder innerer Reserviertheit niederschlägt – durchaus, wenn auch vielleicht nur unbewußt, registrieren.
Dies kann schlimmstenfalls zu dem Phänomen der „selbsterfüllenden Prophezeiung“ führen, in dem unsere innere Haltung exakt die Resultate und Reaktionen bei anderen Menschen hervorruft, die wir befürchten. Denn genau unsere Haltung aus Vorbehalt – oder zumindest Zurückhaltung – macht uns für die andere Seite zu „Wackelkandidaten“, die schwer einzuschätzen sind und bei denen es schwierig ist, den Mut zur Investition in ein Vorvertrauen aufzubringen.

Gemäß der deutschen Wikipedia bezeichnet Vertrauendie subjektive Überzeugung von der (oder auch das Gefühl für die oder Glaube an die) Richtigkeit, Wahrheit von Handlungen, Einsichten und Aussagen bzw. der Redlichkeit von Personen. Vertrauen kann sich auf andere oder das eigene Ich beziehen.“
Da ein angeschlagenes (Selbst)Vertrauen tiefe Ursachen hat, die nicht mit schlichtem positiven Denken oder einem 14tägigen Programm zur Verhaltensänderung aus der Welt geschafft werden können, möchte ich hier – wo ich mich ja hauptsächlich in der Welt verbindlich-nachhaltiger Nahbeziehungen bewege – drei mögliche Anregungen oder Hilfestellungen geben, die auch bei mir selber zumindest zeitweise gute Wirkung entfalten:

  1. Im weltweiten Netz surfe ich mit einem Adblocker und in sozialen Netzwerken blockiere ich ungeliebte Inhalte. Im wahren Leben „da draußen“ geht es zwar manchmal wie im Internet zu – trotzdem habe ich dort selbst maßgeblich die Wahl, mit welcher „Voreinstellung“ ich mich bewege. Die oft gewählte Schutzhaltung „Das Schlimmste annehmen, damit man wenigstens nicht enttäuscht wird“ ist bei Begegnungen mit echten Menschen fast nie sinnvoll, denn im schlimmsten Fall habe ich mich vielleicht selber geschützt – doch auch im besten Fall passiert dann höchstwahrscheinlich schlicht gar nichts. Denn nur, wenn ich mich mit „deaktiviertem Menschenblocker“ wenigstens etwas öffne, habe ich überhaupt die Chance auf irgendeine menschliche Begegnung. Und die kann ja nur dann wirklich weiter führen, wenn mein ausgeschalteter „Block“ der anderen Person signalisiert, daß wiederum ihre Zukunftserwartung in mich aussichtsreich ist.
  2. Wie in Eintrag 11 „Held im eigenen Film“ gezeigt, ist meine eigene Haltung ein direkter Beitrag zu einer zugewandteren Welt.
    Einmal färbt mein Sein selbstverständlich wieder direkt mein Bewußtsein: Wenn ich mißtrauisch bin, ist die Wahrscheinlichkeit exorbitant hoch, daß ich auch Mißtrauen erleben werde.
    Andererseits hilft manchmal tatsächlich etwas Zweckidealismus: Der Gedanke, daß „da draußen“ liebenswerte und vertrauenswürdige Menschen sind, macht mich selber friedlicher. Dadurch bin ich selber quasi mein eigener Beitrag zu einer „besseren Welt“. Auf diese Weise kann ich bereits in einer ersten kleinen Dimension Selbstwirksamkeit erfahren, was definitiv eine Basis für jeden weiteren Aufbau von gesundem Selbstvertrauen legt.
  3. (für Fortgeschrittene): Sehe ich mich dennoch enttäuscht, weil andere mich meiner Meinung nach eventuell ausnutzen oder ablehnen, versuche ich, meine Enttäuschung und meine Wünsche mitzuteilen. Wird von der anderen Seite das Verhalten fortgesetzt, erhalte ich für mich einen Moment großer Klarheit darüber, daß die Person gegenüber momentan nicht zu meinem Wohlergehen beitragen möchte. Da ich nicht wissen kann, was ihre Beweggründe dafür sind (und ich in so einer Konstellation dann oft genug mit mir selber zu tun habe und ich dann selten Ressourcen zur Klärung habe) kann ich mich aus dieser Situation entfernen bzw. den Kontakt zu dieser Person auf das notwendige Maß begrenzen.
    Das ist aber schon ein Riesenfortschritt, weil es eine situationsbezogen angepaßte Reaktion von mir ist. Und so kann ich selbstwirksam gezielt reagieren statt mit voreingestelltem „Blocker“ in eine Gesamtvermeidungshaltung zu verfallen, die mir von vornherein jede Möglichkeit auf potentielle Lebensfreude trübt.

¹ Schon 1974 veröffentlichten die amerikanischen Psychologen Donald Dutton und Art Aron in der Zeitschrift „Journal of Personality and Social Psychology“ ein Experiment, das sie auf zwei Fußgängerbrücken über dem Capilano Canyon in North Vancouver durchgeführt hatten. Dieses belegte eine erhöhte „Vertraulichkeitswahrscheinlichkeit“ unter unsicheren Außenumständen.

Danke an die Psychotherapeuten Doris Wolf und Rolf Merkle und ihrem Buch „Verschreibungen zum Glücklichsein“ (pAl-Verlagsgesellschaft 2017), in dem in knapper Form Zusammenhänge rund um das Thema „Vertrauen“ dargestellt sind.
Und Dank an Purnomo Capunk auf Unsplash.com für das Foto.

Eintrag 14

Amor und Psyche

Das Gespräch mit dem Oligoamoren letzte Woche hat mich nachdenklich gemacht. Irgendwie glaube ich immer noch, daß diese außergewöhnlichen Menschen über einen besonderen „6. Beziehungssinn“ verfügen, der uns „Normalsterblichen“ so meistens nicht zur Verfügung steht.
Und obwohl ich ja nun von den Oligoamoren schon ein paar Dinge abgeguckt habe, die die Grundlage guter (Mehrfach)Beziehungsführung bilden, so frage ich mich nun doch wieder, was uns denn eigentlich manchmal hindert, trotz dieses Wissens ein gutes Fundament für eine haltbare Beziehung zu etablieren.
Gibt es dazu auch außerhalb des entlegenen Eilands der Oligoamory meßbare Größen, die begründet die Qualität einer (Liebes)Beziehung beschreiben können?

So grabe ich mich eine Woche durch die Archive der alten Welt und entdecke – beinahe durch einen Zufallsfund¹ – die „Bestandsaufnahme zu Nähe in Beziehungen“ – Eine Einschätzung zur Nähe in zwischenmenschlichen Beziehungen – aus der „Zeitschrift für Persönlichkeit und Sozialpsychologie“ No. 57, S. 792-807, von E. Berscheid, M. Snyder und A.M. Omoto aus dem Jahr 1989.
Wenn mich jemand fragt, warum ich ausgerechnet diese Untersuchung, die ja dieses Jahr nun schon ihren 30. Geburtstag feiert, hervorkrame, dann möchte ich dies kurz erklären: Die „Nähebestandsaufnahme“ der oben genannten Wissenschaftler aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts bildete eine Grundlage für zahlreiche weitere Forschungen des zwischenmenschlichen Bindungsverhaltens, die bis heute andauern. „Bestandsaufnahme“ ist in dem Fall übrigens ganz wörtlich zu nehmen, denn aus den Parametern der Untersuchung wurde eine Art „Beziehungstest“ zusammengestellt, der bis heute im Internet absolviert werden kann (leider nur als englische Version verfügbar). In den letzten drei Jahrzehnten ist dieser „Test“ selbstverständlich viele Male, und nicht immer ernsthaft, abgerufen worden, um für Neugierige die vermeintliche „Güte“ ihrer Beziehung zu bestimmen.
Dennoch waren Berscheid, Snyder und Omoto wichtigen Ausgangspunkten auf der Spur. Sie ermittelten für eine „gute Nähebeziehung“ namentlich die Einflussgrößen a) „Häufigkeit von Interaktion“, b) „Vielfältigkeit von (gemeinsamen) Aktivitäten“ und c) „Stärke der (wechselseitigen) Einwirkung der Beziehungsperson(en) “.
Allein die Betrachtung der Häufigkeit von Interaktion zeigte, daß „Nähe“ in einer Beziehung nicht nur von einer rein „metaphysische Komponente“ im Sinne von „sich jemandem verbunden fühlen“ bestimmt wird, sondern ganz buchstäblich direkt von konkret miteinander verbrachter Zeit qualitativ abhängt [Ich hebe dies hervor, da bis heute insbesondere in den freiheitsbetonenden Kreisen der Polyamory – z.B. um Fern- und Wochenendbeziehungen aufzuwerten – dieser Zusammenhang immer noch regelmäßig relativiert wird. Er ist aber zutiefst menschlich, real – und elementar.].
Sehr irdisch-menschlich waren auch die Überlegungen hinsichtlich der Vielfältigkeit der Interaktionen, da die Wissenschaftler dort keinesfalls besonders ausgefallene Unternehmungen ansetzten, sondern vielmehr eine breite Palette alltäglicher Aktivitäten beschrieben (wie z.B. gemeinsames Wäschemachen, Besuch von Freunden – aber durchaus auch einen Konzertbesuch), welche dem Erleben von „Nähe“ in einer Beziehung förderlich sind.
Die dritte „Achse“ ihrer Variablen bildete die wechselseitige Einflußnahme der Beziehungsmenschen aufeinander, was die persönlichen Entscheidungen und Pläne betraf. Dies war ein wegweisender Gedanke – den ich persönlich als äußerst oligoamor empfinde – da die Wissenschaftler damit erstmals ein Maß für ein überpersönliches „gemeinames Wir“ formulierten. Also eine Betrachtung all der kleinen Gesten und Zugeständnis, die Menschen in einer echten Beziehung füreinander aufbringen, um zusammen wirkliche Gemeinschaftlichkeit und Verbundenheit zu erleben.
Indem in der Arbeit von Berscheid, Snyder und Omoto erstmals alle drei Faktoren (a-Häufigkeit, b-Vielfältigkeit, c-Aufeinanderbezogenheit) verbunden wurden, konnten auch erste Aussagen über die Belastbarkeit von Beziehungen abgeleitet werden. Denn damit stellte sich auch heraus, wie wichtig das Erfahren von „Nähe“ für essentielle Beziehungsbausteine wie z.B. Verbindlichkeit, Verläßlichkeit, Teilhabe und Identifikation ist. Und als bLogger über Oligoamory möchte ich hinzufügen: Und damit also auch für den „Nachhaltigkeitsfaktor“ einer Beziehung (siehe Eintrag 3).

Die „Nähebestandsaufnahme“ nach Berscheid, Snyder und Omoto brachte in den darauffolgenden Jahren allerdings regelmäßig weitere Wissenschaftler*innen auf den Plan, die bemerkten, daß das Optimieren von „Häufigkeit“, „Vielfältigkeit“ und „Aufeinanderbezogenheit“ zum Gelingen einer Beziehung trotzdem nicht immer ausreichte – oder vielmehr: Daß die Beziehungspersonen dieses „Optimieren“ oftmals scheinbar selbst sabotierten.
Eine der wichtigsten Untersuchungen zu diesem Thema verfassten die Forscher K. Bartholomew und L.M. Horowitz, betitelt „Bindungsstile unter jungen ErwachsenenTest eines vier-Kategorien Modells “ – in der „Zeitschrift für Persönlichkeit und Sozialpsychologie No. 61, S. 226-244 im Jahr 1991.
Bartholomew und Horowitz setzten nämlich noch einen Schritt vor Berscheid, Snyder und Omoto an, und zwar mit der Frage „warum“ Menschen miteinander überhaupt (Liebes)Beziehungen eingehen würden. Da sie bemerkten, daß manche Menschen durch die oben erwähnte „Selbstsabotage“ regelmäßig Schwierigkeiten beim Eingehen und Aufrechterhalten ihrer Liebesbeziehungen hatten, versuchten sie mittels Befragungen mögliche Ursachen zu ermitteln. Und weil Störungen in der Eltern-Kind-Bindung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts bei Tieren und Menschen vielfach untersucht worden waren (maßgeblich Harry Harlow, John Bowlby), vermuteten die Wissenschaftler einen Zusammenhang mit erlernten „Bindungsstrategien“ in der Kindheit und fragten daher sowohl nach dem Selbst- wie auch nach dem Fremdbild, welches die Proband*innen im Laufe ihres Aufwachsens entwickelt hatten.
Die Ergebnisse sollten sich an einem zwei-Achsen-Modell orientieren, wobei jeweils „besitzergreifend“ vs. „abweisend“ und „sicher“ vs. „ängstlich“ Gegensatzpaare bildeten.
Auf diese Weise identifizierten die Psychologen in der Tat bei ihren erwachsenen Teilnehmer*innen einen Zusammenhang hinsichtlich unterschiedlicher Bewältigungsstrategien für ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Nähe in der früheren Eltern-Kind-Beziehung mancher Proband*innen:
Wer z.B. „Opfer“ eines eher abweisenden elterlichen Stils geworden war, versuchte in der Gegenwart in seinen (Liebes)Beziehungen überwiegend nun ein positives Selbstwertgefühl dadurch aufrechtzuerhalten, daß andere abgewertet wurden.
Bei Menschen, die einen ängstlichen Stil erfahren hatten, schlug sich die erlittene Zurückweisung in Minderwertigkeitsgefühlen und manchmal auch in Vermeidung allzu intensiver Vertrautheit nieder – was tendenziell schon den Aufbau einer Liebesbeziehung deutlich erschwerte.
Die jungen Erwachsenen aus besitzergreifenden Elternhäusern wiederum zeigten in ihren Liebesbeziehungen eher eine Tendenz zu Unselbständigkeit – bis hin zu Selbstaufgabe und Überidentifikation mit ihren Partner*innen.
Interessanterweise zeigte sich aber auch, daß für eine „sichere“ Bindung ebenfalls immer ein Mindestmaß an Anhänglichkeit sowie ein Bezogensein auf den Partner vorhanden sein mußte.
Das „Zwei-Achsen-Modell“ erlaubte nachzuweisen, daß es bei all diesen Erscheinungen zahlreiche Mischformen und sogar widerstreitende Tendenzen geben konnte.
Diese Basisergebnisse wurden in den Folgejahren durch ergänzende Untersuchungen mehrfach abgemildert, da die Befunde ansonsten einen zu hohen Grad an „pathologischer“ Beziehungsführung nahegelegt hätten, wenn nur das Maß elterlicher Zuwendung in der Kindheit für die Beziehungsfähigkeit allein ausschlaggebend wäre (M.W. Baldwin et al. 1996²). Denn es stellte sich zusätzlich heraus, daß Peergroup und Freundeskreis in der späteren Pubertät und beim Eintritt ins Erwachsenenalter einen nahezu gleichwertigen Effekt haben konnten – der dann in der Lage war „Vorschädigungen“ evtl. zu verstärken oder sogar vollständig aufzuheben.
Daß unsere Vergangenheit jedoch immer „mitliebt“, insbesondere was unsere Motivationen angeht warum und wie wir uns „in Beziehung begeben“, erwies sich in das 21. Jahrhundert hinein allerdings als immer deutlicher.

Als wichtiges Beispiel möchte ich darum zuletzt die Studie „Übermäßiges Konkurrenzdenken und Beziehungen: Weitere Auswirkungen auf Liebesbeziehungen, Familie und Peers“ in der Zeitschrift „Psychologie“ No.2, S. 269-274 der Forscher B. Thornton, R. Ryckman und J. Gold aus dem Jahr 2011 hinzuziehen. Denn wiewohl auch diese Betrachtung auf den beiden zuvor genannten aufbaut, zeigte sie trotzdem, daß auch „äußere Faktoren“ in der Gegenwart unsere Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen können: Indem wir nämlich derzeit in einer Welt leben, die sehr stark einen „Kult des Individuums“ unterstützt und in der Nähebeziehungen gerne als „unzeitgemäß“ oder „klebrig“ und damit als Modell für Konventionalität oder gar als Beispiel für wechselseitige Abhängigkeit herhalten müssen. Da Nähe dennoch ein menschliches Grundbedürfnis bleibt, finden wir uns allerdings trotz solcher Anschauungen oft in Beziehungen zusammen – und aktuell werden ja gerade Mehrfachbeziehungsformen als Universallösung für unser Drama aus Individualismusstreben und Nähewunsch angepriesen.
Wenn wir allerdings in solchen Beziehungen (nur) auf unsere Individualität und die Erfüllung unserer damit verbundenen Bedürfnisse beharren, ohne die von Berscheid, Snyder und Omoto eingangs erwähnte Aufeinanderbezogenheit und Selbstzurücknahme zu berücksichtigen, dann betreten wir sehr schnell das Territorium des „Übermäßigen Konkurrenzdenkens“ (englisch: Hypercompetitiveness).
In ihrer Arbeit dazu konnten Thornton, Ryckman und Gold nämlich nachweisen, daß in solchen „Wettbewerbsbeziehungen“ ein hoher Grad an Selbstsucht, geringer Einlassung bzw. Oberflächlichkeit und Zweckdienlichkeit vorherrschte. Auch gelang es ihnen zu zeigen, daß die emotionale Unterstützung in solchen Beziehungen geringer ausfiel, das Konfliktpotential erhöht war und auch oft eine höhere Motivation bestand, das Verhalten der anderen Partner übermäßig zu kontrollieren. Selbst für uns Laien ist auf diese Weise zu erkennen, daß solche Merkmale bereits sowohl egoistischen wie auch narzisstischen Tendenzen den Weg bereiten.
Und Hand auf’s Herz – Spuren von übersteigertem Vergleichsdenken bringen wir heutzutage alle ein wenig in unsere (Liebes)Beziehungen ein: Sei es, wenn wir die Anderen stets korrigieren, an ihnen mäkeln oder sie vorführen, sei es, wenn wir ausgerechnet unsere Beziehungsmenschen als Vergleichspunkte wählen, wo sie oder wir „besser“ oder „schlechter“ wegkommen, oder sei es, wenn wir felsenfest überzeugt sind, alles selber schaffen zu müssen, weil auf niemand anderen Verlaß ist.

Amor und Psyche von Antonio Canova (Paris, Louvre)

Als ich schließlich aus den Archiven psychologischer Labore und Fragebögen wieder an das Tageslicht zurückkehre, bin ich genau genommen nachdenklicher als zuvor. Denn die moderne Wissenschaft scheint zu belegen, was die alten Griechen und Römer wohl schon vor gut 2000 Jahren wußten: Daß in uns die Kräfte von Amor und Psyche nach wie vor zahlreiche Abenteuer zu bestehen haben, bevor sie wirklich eine Beziehung auf Augenhöhe miteinander eingehen können. Und wir demgemäß mit unseren Lieblingsmenschen.
Wenn ich in dieser Art die Wissenschaftler*innen der Neuzeit als die modernen Dolmetscher*innen unserer verborgenen Innenwelt ansehe, eine Rolle, die in alten Zeiten eben von Geschichtenerzähler*innen und Poet*innen übernommen wurde, dann wollen auch sie uns zeigen, daß es für menschliche Beziehungen keine einfachen Antworten gibt.

Berscheid, Snyder und Omoto beispielsweise zeigen uns, warum es für nachhaltige Beziehungsführung nicht ausreicht, allabendlich mit der Chipstüte beieinander auf dem selben Sofa zu sitzen und bloß zusammen im Frust über die europäische Grenzpolitik vereint zu sein. Denn um wirkliche Nähe entstehen zu lassen, ist es vielmehr bedeutsam, daß wir wechselseitig unsere Grenzen erkunden, überschreiten und uns in die Partner hineinfühlen. Nähe und Verbundenheit benötigen Gemeinschaftlichkeit, in der wir uns von der inneren Wirklichkeit unserer Liebsten berühren und beeinflussen lassen – uns sie sich von uns. Und dadurch wird klar, warum echte Nähe und Verbindlichkeit Vollzeitprojekte sind, die weder schnell herzustellen, noch ohne regelmäßige Aufmerksamkeit von Dauer sind.

Gerade hinsichtlich dieses „Vollzeitprojekts“ betont dann genau auch eine Studie wie die von Bartholomew und Horowitz, warum es so wichtig ist, uns selbst und die anderen ausreichend wahrzunehmen:
Denn wir starten keinesfalls alle mit dem gleichen Gepäck. Und schnell können wir uns und unsere Liebsten in leidvolle Untiefen bringen, wenn wir „Beziehung“ oder gar „Liebe“ sagen – aber eigentlich unsere Bedürftigkeit nach Nähe zum Zweck der Selbsterhöhung über andere, aus mangelndem Selbstwert oder aus Unselbständigkeit heraus meinen.
Und weil nur wenige von uns mit prall gefüllten Liebestanks und hochglanzpoliertem Selbstwert in unser eigenes Liebesleben starten, gilt ganz besonders für den Aufbruch in Mehrfachbeziehungen wiederum ein Rezept, das schon Griechen und Römer empfahlen „Γνῶθι σεαυτόν”, bzw. „Nosce te ipsum” – nämlich: „Kenne Dich selbst!”. Diese Selbstzurkenntnisnahme, sowohl der eigenen Begrenztheit – aber auch der eigenen Potentiale – macht uns alle menschlicher und gnädiger einander gegenüber. Und das ist gerade in den Zeiten wichtig, wenn es mal nicht glatt läuft, wo uns Zweifel erfüllen und wo wir oder andere uns uns als wenig “beziehungsfähig” erleben.

Zu diesen Zeiten ist es dann besonders gut, wenn wir es schaffen uns nicht auch noch als Teilnehmer*innen eines wettbewerbsorientierten Rattenrennens in Beziehungsdingen mit den Dimensionen „schneller“ oder „mehr ist besser“ wiederzufinden. Thornton, Rickman und Gold konnten zeigen, wie unwillkürlich wir uns in einer selbstgestellten Falle wiederfinden, wenn wir dabei mithalten wollen und beginnen, unsere Beziehungen und die Menschen darin wie unseren Planeten zu behandeln: Als gäbe es jederzeit Ersatz um die nächste Ecke.

Und wer bis hierher noch glauben mag, daß gegenwärtige Wissenschaft und antike Mythen uns doch bestimmt jeweils unvereinbare Ideale vermitteln wollen, dem widme ich diesen letzten versöhnlichen Absatz, in dem ich S. Cohen, L.G. Underwood und B.H. Gottlieb in „Soziale Unterstützung, Bemessung und Intervention – ein Leitfaden für Wissenschaftler im sozialen und medizinischen Bereich “ , Oxford University Press, 2000 zitiere:
Intimität bzw. Nähe ist somit ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.


Manchmal kann Wissenschaft so schön sein.
Amor und Psyche hätten sich gefunden ♥.



¹ Die „Nähebestandsaufnahme“ nach Berscheid, Snyder und Omoto wird in der Fernsehserie „The Big Bang Theory“ von dem Charakter Sheldon Cooper in Folge 162 (8. Staffel, 3. Episode: „Werfen wie ein Mädchen“) erwähnt.

² Baldwin M.W., Keelan J.P.R., Fehr B., Enns V. & Koh-Rangarajoo E. (1996). Sozial-kognitive Konzeptualisierung von Bindungsarbeitsmodellen: Verfügbarkeits- und Zugänglichkeitseffekte. Zeitschrift für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie , Nr. 71, Seiten 94-109

Danke an Francesca Bratto auf Pixabay für das Bild aus dem Louvre.

Eintrag 13

Eben war noch alles gut…

Ein ausgewachsener oligoamorer Eingeborener, der mit großen Schritten aus dem Wald auf einen zukommt und dabei zugleich ein Tablet schwenkt, ist ein durchaus imposanter wie auch eigenartiger Anblick. Zudem, wenn es noch früh am Morgen ist und Dunstschleier zwischen den Baumstämmen aufsteigen, die ihrerseits von den ersten Sonnenstrahlen in sagenhaft leuchtende Gebilde verwandelt werden. Noch bevor ich den Teekessel neben dem Lagerfeuer absetzen kann, hat sich der ehrfurchtgebietende Ankömmling jedoch schon schnaufend neben mich auf einen beängstigend knackenden Campingstuhl herabgesenkt und beginnt zu sprechen:

„Deine Geschichte mit dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hat mir gut gefallen. Und auch wie Du darin zeigst, daß wir Menschen in unseren Beziehungen ganz ähnlich unterschiedliche Geschwindigkeiten haben.“
In einer Mischung aus Überraschung und Einschüchterung gelingt es mir immerhin so etwas wie meinen Dank hervorzustammeln und dem Oligoamoren einen Becher mit Tee anzubieten – den dieser auch annimmt und dann fortfährt:
„…Allerdings hast Du einen interessanten Zeitpunkt gewählt, an dem Du die Geschichte abgebrochen hast.“
„Naja…“, sage ich, indem ich endlich meine Stimme richtig wiederfinde, „Ich schrieb am Ende doch, daß alle Beteiligten in dem Moment eigentlich erst ganz am Anfang ihrer Beziehungsreise miteinander stehen. Und ich beschrieb auch ihre inneren Wünsche, Unklarheiten und Einwendungen, die es zukünftig gemeinsam noch zu integrieren gilt.“
Mein Sitznachbar wiegt den Kopf: „Für den seltsamen Kontinent der Offenen Beziehungen oder das vielgestaltige Archipel der Polyamory mag das vielleicht gerade noch so angehen…“, sagt er, „…aber nach oligoamoren Maßstäben könnte Deine Geschichte sogar da schon zu Ende sein.“
Jetzt falle ich wieder in meine anfängliche Rolle zurück, meinen Besucher mit offenem Mund und geweiteten Augen anzustarren.
Der aber sieht plötzlich sehr ernst aus, beinahe auch irgendwie traurig, als er weiterspricht: „Nun, lieber Oligotropos, Dir sind doch wahrscheinlich genug Mehrfachbeziehungen bekannt, die nach einigen Wochen oder auch Monaten von vielversprechenden und fulminanten Anfängen scheinbar urplötzlich und unvorhersehbar vollkommen aus dem Ruder gelaufen sind – wo oft einzelne oder mehrere Beteiligte ausscherten und zum Entsetzen der Übrigen verkündeten, daß sie so nicht mehr weitermachen könnten…“
Statt zu antworten nicke ich erst mal, denn ich kann erkennen, daß es dem Oligoamoren wohl wirklich um etwas Wichtiges geht.
„Hier, der Vincent in Deiner Geschichte und ebenfalls die Ivana wären solche Personen – ja vielleicht auch der Max.“

Nun hat mein Gesprächspartner mein Interesse vollends geweckt, ich setze mich auf, schenke Tee nach und frage: „Habt Ihr Oligoamoren da von etwas Kenntnis, was uns anderen bisher verborgen geblieben ist? Habt Ihr gar eine Art ‚6. Beziehungssinn‘?“
Mein Besucher gestattet sich nur ein halbes Lächeln, als er antwortet: „Das nun wohl gerade nicht. Dennoch sind manche von uns gute Beobachter – und natürlich haben wir im Laufe der Zeit unsere eigenen Erfahrungen gesammelt. Was nicht heißen soll, daß das entlegene Eiland der Oligoamory völlig von solchen Erscheinungen verschont geblieben ist.“
„Ach, das hätte ich so nicht gedacht“, sage ich. „Erzählt mir bitte alles, was Ihr über diese plötzlichen Stimmungsveränderungen wißt!“
„Nun“, beginnt mein Gast langsam, „zum Beispiel, daß es nie wirklich ‚plötzlich‘ ist.“
„Erklärt es mir!“
„Es ist doch so, daß wir als Lebewesen immer kleine Signale aussenden, auch wenn es vielleicht sogar unbewußt ist.“ „Ja…“
„Wenn nun in den Anfängen einer Mehrfachbeziehung bei einer oder gar mehreren Personen irgendwelche Irritationen im Verborgenen liegen, dann sind auch dafür diese ‚kleinen Signale‘ immer schon da.“
„Ich verstehe.“
„Ja – aber Menschen zeigen dann manchmal auf allen Seiten der Beziehung ein scheinbar seltsames Verhalten, welches Beobachtern oftmals eher auffallen kann als den Betroffenen selbst.“
„Dafür bräuchte ich ein Beispiel…“

„Also – z.B. kommt von manchen an der Gründung von Mehrfachbeziehungen Beteiligen kein großes, klares ‚Ja!‚, sondern mehr Äußerungen wie ‚Ok, lass es uns versuchen…‚ oder ein ‚Wenn Du meinst...‘ oder ‚Das könnte schon irgendwie gehen...‘. Nun ist es aber dadurch für die anderen Personen in der entstehenden Beziehung – vermutlich auch, weil sich alle noch nicht gut genug kennen – zu leicht, in so einem Fall die ‚kleinen Signale‘, nämlich, daß es sich da keineswegs um ein klares ‚Ja!‘ handelt, sondern um eine Befangenheit, die ausgedrückt wurde, zu übersehen. Oder es wird sich auf das Gesagte verlassen, den ein klares ‚Nein!‘ war es ja nun gerade auch nicht.“
„Aber es heißt doch“, wende ich ein, „daß Kommunikation in Mehrfachbeziehungen das Wichtigste ist. Das steht doch schon in nahezu jedem Artikel zum Thema…“
„Das mag schon sein“, erwidert mein Besucher, „aber gleichzeitig haben wir Menschen auch oft Angst, daß wir auf eine Nachfrage etwas hören müssen, was wir nicht hören wollen. Also fragen wir lieber nicht nach, denn die andere Person hat ja noch keinen Umstand ausgedrückt, der das nötig machen würde. Und solange diese nichts gesagt hat, kann ich mir weiter zusprechen, daß wohl alles ok ist und setze mein bisheriges Verhalten fort… Und das kann eine Art Teufelskreis – oder besser eine Teufelsspirale in Gang setzen, weil auch die Person, die ihre Unsicherheit nur indirekt ausgedrückt hat, erleben wird, wie alle Anderen das bisherige Verhalten fortsetzen oder sogar noch verstärken.“
„Aber Du gibst damit ja zu, daß das Erkennen der Unsicherheit schwierig ist…“, wende ich ein.
„Wir müssen nicht immer alles erkennen können, richtig. Wir müssen auch nicht auf die anderen ‚aufpassen‘. Aber als Erwachsene haben wir für uns die Verantwortung, den Mut aufzubringen, auch Dinge hören zu können, die wir vielleicht lieber nicht hören wollen. Schließlich geht es um nichts weniger als um den Aufbau einer Beziehung zueinander. Je rechtzeitiger wir also nachfragen, umso eher wird es auch eine gemeinsame Problemlösung geben können.“
„Ja aber…“
„Oligotropos, Menschen sind sehr unterschiedlich. Manche haben vielleicht keine gute Startposition, was Mehrfachbeziehungen betrifft. Dann ist so manches von Anfang an ‚zuviel‘, was den Stand ihrer inneren Entwicklung angeht. Vielleicht kommt der Mensch bei etwas nicht mit, weil er glaubt, daß es von ihm verlangt wird. Oder sie*er möchte es vielleicht selber gerne geben, weiß aber noch nicht wie. Oder sie*er hat sich noch nie damit auseinandergesetzt, ob sie*er überhaupt jemals so leben wollte.“
„Das klingt schwerwiegend…“
„Ist es für die Betroffenen auch. Denn für sie könnte sich der Beginn einer Mehrfachbeziehung schnell wie ein Sprint von Marathonlänge anfühlen, weil sie durch das Tempo der Anderen merken, daß sie aufholen müssten – und die Diskrepanz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, wird dann häufig immer größer.“
„Ah, jetzt beginn ich, den Einstieg mit der ‚Befangenheit‘ zu verstehen.“
„Ja genau. Denn der anfängliche Graben bleibt – und wird schlimmstenfalls allmählich größer. Und die Inkohärenz zwischen innerer Einstellung und dem, was nach außen gezeigt wird, die in so einem Menschen herrscht, die ist von außen durchaus zu bemerken.“
„Das wäre doch dann wieder der Moment für gute Kommunikation – oder sogar für ein Innehalten!“, sage ich eifrig.

Der Große neben mir seufzt schwer. „Ja, aber oft beginnt da eine weitere Phase, in der dann von den Beteiligten versucht wird, das Verspürte mit unglücklich angebrachtem Humor zu überspielen oder der Person, die Schwierigkeiten hat, das als bloße Schrulligkeit auszulegen. Denn in so einem Moment wirklich nachzufragen, würde ja erst recht das Risiko in sich tragen, nicht mehr mit dem weitermachen zu können, was man eigentlich gerne – und lieber – tun würde.“ Der Oligoamore pausiert und legt die Stirn in Falten, bevor er weiterspricht.
„Das kann auf beiden Seiten zu sehr dummen Gedankengängen führen. Die Seite, die die ersehnte Mehrfachbeziehung unbedingt für sich ins Ziel bringen möchte, denkt an so einem Punkt vielleicht ‚Ich muß mich hierbei jetzt durchsetzen, denn sonst verliere ich mich (und meine Bedürfnisdeckung)…‘ Und die unsichere Seite glaubt vielleicht ängstlich ‚Ich lass Dich machen, denn sonst verliere ich Dich möglicherweise…‘ Und leider wird da dann meistens zu lange gewartet, bis eine*r der Beteiligten sagt: ‚Halt stopp, so geht das jetzt nicht.‘.
An so einem Punkt beginnen alle aus Ängsten heraus zu agieren: Verzichtsangst gegen Verlustangst. Das kann nicht gut gehen.“
„Das wirkt für mich ganz schön dramatisch“, sage ich. „Was könnten die Beziehungsmenschen denn besser machen?“
Der Oligoamore schnauft; er sieht ein bißchen so aus, als ob er an etwas denkt, was ihm einstmals selber widerfahren ist. Wortlos fülle ich seinen Tee auf.
„Es wird nicht umsonst oft genug betont, daß die Langsamen die Tempomacher sein sollen“, fährt er schließlich fort. „Wenn man die Langsamen durch Druck machen oder selbstvergessenes Handeln aus dem Boot verliert, dann hat niemand mehr Freude. Denn irgendwo sitzt dann jemand zuhause, der aus Überforderung aus den Ohren pfeift und sehr unglücklich ist.
Ich meine: Wir reden hier doch über Menschen, die eigentlich starke Gefühle füreinander empfinden, die sich lieben. Eine Lösung findet sich also nur über ein gemeinsames, wohlwollendes Ganzes. Partei A könnte also z.B. sich um Lösungen für die eigene Verunsicherung bemühen. Gleichzeitig müsste Partei B aber mit der ersehnten Umsetzung warten. Und beides müsste in einem wechselseitigen Prozess geschehen – und zwar so, daß es auch wechselseitig spürbar wäre. Während A also ‚Komfortzonenstretching‘ betreibt, muß B sich in Selbstzurücknahme üben. Das ist beides ganz schön anspruchsvoll.“
„Puh, das hört sich für mich auch so an. Erst recht in einer Mehrfachbeziehung, wo gleich mehrerer Personen betroffen sein können…“
„Allerdings. Und das ist nicht alles. Der vorherige Prozess aus Unklarheit und ungenügender Aufmerksamkeit entwickelt sich allmählich, wie eine exponentielle Kurve. Die ‚Explosion‘ oder das ‚Aufgeben‘ von Beteiligten an deren Ende ist fast immer ein Verhalten, was an einem Höchstpunkt gewählt wird, wenn sonst keine andere Strategie mehr wirkt.
Meist müssen dann echte Schritte von den Dingen zurück gemacht werden, die man schon erreicht zu haben glaubte. Und die danach erfolgenden, langsameren Schritte werden eine ganze Weile noch nicht wieder bei dem ‚Schein-Erreichten‘ anlangen.“
„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das klingt so frustrierend…“

Da aber habe ich mit einem Mal die volle Aufmerksamkeit des Oligoamoren, denn sein Kopf fährt zu mir herum und er schaut mich mit wilden Augen an:
„Was ist die Alternative, Oligotropos? Wer in einer liebenden Beziehung hat die Verantwortung dafür, daß es allen damit gut geht?
Ihr Menschen vom Festland – ihr haltet es da wie mit einem Buch, bei dem ihr mitten in die Geschichte springt, weil Euer Bedürfnis – ja, ich sage sogar Eure Bedürftigkeit – an dem Punkt, an dem ihr endlich das Buch gefunden habt, schon dermaßen groß ist, daß ihr nicht mehr abwarten wollt, wie sich die Geschichte darin zunächst überhaupt entfaltet. Ihr wollt gleich mitten in der Geschichte sein – oder vielmehr an deren glücklichem Ende, ihr wollt dann alles sofort haben, das volle Programm. Es ist dann aber nur eine ‚Schein-Geschichte‘, denn über diesen Versuch einer Abkürzung ist eigentlich gar keine Geschichte entstanden. Und ohne die Geschichte gibt es auch nur die Illusion von diesem ‚Schein-Erreichten‘, das ich eben erwähnte.
Oft stimmt aber irgendetwas nicht für irgendwen, häufig gehen Menschen auf diese Weise über ihre eigenen Grenzen, manche möchten mehr gönnen als sie tatsächlich schon geben können – denn im Hintergrund bleibt ja die Dynamik aus erworbenen Ängsten, Vorbehalten oder Emotionalität trotzdem aktiv.
Gerade das ruft dann bei den Personen, die bislang mit ihrer Befangenheit ringen, eine Zeit lang noch das Phänomen von dargebotener Compliance (diese eher unfreiwillige Mischung aus Fügsamkeit und Konformität) hervor, hinter der im Inneren eigentlich ein sich aufschaukelndes Paradoxon steht: Tempo und Einklang sind noch gar nicht reif – aber der Mensch tut mal so, als ob.
Dabei sind ‚Abkürzungen‘ hier schlichtweg nicht möglich – und führen nur tiefer in den Konflikt der ‚Teufelsspirale‘, von der ich schon sprach.
Die Person gerät für sich selbst und für die anderen zu einem ’schwierigen Fall‘. Denn alle versuchen ein wenig so zu tun, als ob nichts wäre. Und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen leidet dabei am meisten – also wird sich trotz noch so blumiger allseitiger Versicherungen kein wirkliches Vertrauen aufbauen.
Jede*r von uns kann sich aber nur wirklich jemandem anvertrauen, dem sie oder er wahrhaft vertraut. Dabei wäre der Selbstausdruck jetzt so wichtig, damit alle verstehen, was in der leidenden Person gerade lebendig ist.“
„Jetzt verstehe ich, was Du mir zu verstehen geben wolltest, als Du anfänglich sagtest, meine Geschichte könnte an dem Punkt, an dem ich sie beendet hatte, wirklich schlimmstenfalls schon tatsächlich ganz und gar zu Ende sein.“ sage ich leise. „Ich werde darüber gründlich nachdenken. Was soll ich aber nun heute meinen Leser*innen in das Blogbuch der Expedition schreiben?“

Der Oligoamore erhebt sich ächzend – und ich erkenne noch mal, wie groß er wirklich ist. „Schreib‘ doch, daß es wichtig ist, daß jede*r sich auf ihre/seine Art äußern können muß. Schreib‘, daß es wichtig ist, daß alle sich im aufrichtigen Ausdruck voreinander üben. Jeder Mensch möchte ernst genommen und gehört werden.
Oft nehmen wir Übrigen so etwas aber dann persönlich, fühlen uns häufig selbst gemeint, vielleicht sogar angegriffen oder schuldig. Das passiert, wenn wir mit dem ‚Appellohr‚ hören: ‚Du mußt jetzt gleich etwas tun, damit es für mich besser wird…!‘ – Aber so ist das fast nie gemeint. Darum, Oligotropos, mochte ich Deine Erzählung unserer Legende vom gefallenen Helden, dem schwarzen Fledermausmann, richtig gerne: Menschen versuchen normalerweise für sich und für einander etwas Gutes zu bewirken; das kann auch ordentlich schief gehen – aber die Absicht dahinter war meist trotzdem erst mal gut. Das ist wichtig im Kopf zu behalten, vor allem in Liebesbeziehungen!“
Ich bin jetzt doch beinahe etwas gebauchpinselt von diesem letzten Lob des Eingeborenen – und darum merke ich gar nicht, daß dieser schon wieder mit langen Schritten fast im Wald verschwunden ist.
Und darum erhasche ich nur einen letzten Blick auf ihn, als dieser mir, sein Tablet dabei über dem Kopf schwenkend, noch zuruft: „Darüber schreibe weiter, Oligotropos. Schreibe weiter und erzähle unsere Geschichten!“
So bleibe ich heute etwas verwirrt an meinem Feuer zurück. Sehr unvermittelt ist diese Begegnung über mich gekommen – und mit ihr dieses ziemlich unbequeme Thema.
Doch plötzlich muß ich doch fast lachen, denn ich denke mit einem Mal: Sich auch etwas nicht so Angenehmes sagen zu lassen – ohne davor wegzulaufen… Vielleicht ist mir das heute auf sonderbare Weise beinahe ein bisschen geglückt.




Danke an Katrin, Kerstin, Sebastian und Silke ohne deren Erlebnisse und Erfahrungen ich diesen Eintrag nicht hätte verfassen können.
Und Dank an holgerheinze0 auf Pixabay für das Bild meines Besuchers.

Eintrag 12

Wie viel ist wenig?

Heute erreichte mich eine Nachricht vom Festland, in der ich gefragt wurde, was für die Oligoamoren denn die vielzitierten „Wenigen“ wären, die sich in einem ihrer Beziehungsnetzwerke zusammenfinden würden. Und wer das im Zweifelsfall festzulegen hätte, insbesondere in dem Fall, wenn Verliebtheit zu der Möglichkeit einer weiteren Beziehungsaufnahme führen könnte.

Diese beiden Fragen finde ich höchst spannend. Und so wie die Fragesteller*in bin ich auch der Meinung, daß sie in gewisser Weise zusammenhängen. Ebenfalls glaube ich, daß diese Fragen viele oligoamore Kernbereiche betreffen – hier also statt kurzer Antwort ein ganzer bLog-Eintrag, mit dem ich versuchen werde, mich diesem Themenbereich zu nähern.

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte der britische Psychologe Robin Dunbar bezüglich der Größe von Primaten-Gemeinschaften eine interessante Korrelation zwischen Gehirngröße und der Anzahl der möglichen Individuen solcher Gemeinschaften, aus der er schließlich die sogenannte „Dunbar-Zahl“ entwickelte, die er für Menschen mit durchschnittlich 150 bezifferte. Zum besseren Verständnis teilte er dieses Feld von 150 Personen noch in mehrere konzentrische Kreise ein, deren Mittelpunkt eine Einzelperson – also quasi Du oder ich – darstellt.
Den ersten und engsten Kreis beschrieb Dunbar mit der Bezeichnung „Intimität und Nähe“ und ordnete diesem die Zahl von 5 Personen zu. Er führte aus, daß in diesem „Kreis“ Leute versammelt seien, mit denen ein Mensch meist eng zusammenleben würde, die einen selbst sehr genau kennen würden (und umgekehrt), mit denen ein sehr hoher Grad an sozialer Interaktion bestünde und denen man das meiste Vertrauen entgegenbrächte.
Den zweiten Kreis beschrieb er mit der Bezeichnung „Freundschaft“ und gab dessen Zahl mit 15 Personen an. Diesem Kreis ordnete er jene Nahbeziehungen zu, mit denen immer noch sehr starke Verbindungen bestehen würde, z.B. daß Träume, Pläne, Freude und Leid miteinander geteilt würden, obwohl vielleicht miteinander nicht mehr unbedingt eine räumliche oder finanzielle Gemeinschaft bestünde und nicht mehr ein Großteil der Zeit miteinander verbracht würde.
Den dritten Kreis, der mit dem Begriff „Anteilnahme“ beschrieben werden kann, enthält etwa 35-50 Personen, die in ungefähr das abbilden, was viele von uns mit „Bekannte“ bezeichnen. Also auch engere Arbeitskollegen, Leute aus der eigenen Gemeinde oder dem Vereinsleben mit denen wir regelmäßig zu tun haben – auf jeden Fall eine Gruppe, deren Zugehörigkeit schon deutlich heterogen (uneinheitlich zusammengesetzt) ist. Dunbar verwies darauf, daß zu dieser Gruppe auch all jene Beziehungen und Freundschaften zählten, die nicht (mehr) regelmäßig gepflegt würden.
Die Bedeutung des vierten Kreises schließlich, der dann je nach Individuum 100 bis 200 Menschen stark wäre, könnte mit dem Terminus „im-Austausch-stehen“ beschrieben werden. Dort wären dann all die Personen angesiedelt, die uns noch gerade namentlich bekannt wären, mit denen wir aber eher bloß punktuelle Erledigungen oder Vorgänge verbänden, wie z.B. ein*e Hausärzt*in, eine Putzhilfe, evtl. eigene Kunden oder Ähnliches.
[Manche Dunbar-Modelle arbeiten noch mit darüber hinaus gehenden Kreisen von ca.500 bis1500 Leuten. Diese bilden dann Personenfelder ab, bei denen wir vom Gesicht her möglicherweise gerade noch wissen, daß diese z.B. wahrscheinlich in unserem Unternehmen oder an unserer Bildungsstätte tätig sind, obwohl uns der Name nicht mehr ohne weiteres zu ihnen einfallen würde – oder wo wir recht sicher sind, daß sie in unserer Stadt oder in unserem Viertel leben, wir aber keinerlei weitere biographischen Daten zu ihnen haben (und auch nie daran interessiert waren)]

Nun sind wir – um gewissermaßen Patrick McGoohan¹ zu zitieren, selbstverständlich keine bloßen Zahlen sondern echte Menschen. Dennoch fanden und finden sich für die Dunbar-Zahl und ihre „Kreise“ überraschend menschliche Entsprechungen im wirklichen Leben, die sich ohne künstliche Anordnung herausbilden, weil sie offenbar tatsächlich einem gewissen „menschlichen Maß“ nachkommen, mit dem wir uns unwillkürlich im Alltag gut arrangieren können. Anthropologische Beobachtungen zeigten z.B., daß afrikanische Selbstversorger-Dörfer sich noch heute häufig in zwei Siedlungen auftrennen, wenn die Marke von 150 bis 200 Einwohner*innen überschritten wird. Lager von kooperierenden Jägern und Sammlern von der menschlichen Frühzeit bis in das heutige Amazonien bestehen regelmäßig aus nicht mehr als 35 bis 50 Einzelwesen, um die Effizienz eines Beutezuges sicherzustellen.
Und von den 12 Jüngern Jesu bis hin zu im Internet angebotenen Fortbildungen, Intensivkursen oder Teambuilding-Seminaren wird man auf Wunsch-Teilnehmerzahlen von 8 bis 15 Beteiligten stoßen.
Insbesondere mit Letzteren betreten wir den oligoamor relevanten Bereich.

Denn interessanterweise weisen vor allem viele sowohl spirituelle als auch psychologische Beispiele auf eine intime „Obergrenze“ von ungefähr diesem „Dutzend“ Teilnehmer*innen hin: Seien es eben die oben zitierten Jünger, seien es Ausbildungsgruppen in katholischen Priesterseminaren, die Größe von kirchlichen Hauskreisen, Hexenzirkeln (im Neopaganismus) oder eben auch Gesprächsgruppen und Therapiekreise – aber auch kleine Musikensemble, die ohne Dirigenten auskommen (und sich also „intuitiv verständigen“).
Für die intensive Beschäftigung mit einem gemeinsamen Thema oder miteinander wird das schon seit jeher ganz handfeste Gründe gehabt haben: Denn irgendwo bei dem „Dutzend“ liegt ganz sicher die Schmerzgrenze, wo aus einer „Gruppe“ eine „Menge“ wird, in der entweder Einzelne zu kurz kommen oder sich Teilmengen, „Untergrüppchen“ oder gar Parteiungen bilden (und damit genau die Art „Heterogenität“ entsteht, wodurch in Dunbars 3. Kreis aus Freunden „Bekannte“ werden).
Weniger „handfest“, dafür aber um so bedeutsamer scheint hingegen zu sein, daß wir Menschen unterhalb dieser „Schmerzgrenze“ offenbar dazu tendieren uns tatsächlich eher auf einen „Gruppenprozeß“ einzulassen, es eventuell wagen, uns zu öffnen und damit sogar auf die Möglichkeit eines Konfliktfalles hin Verletzlichkeit riskieren (und auch das Zeigen unserer Fehlbarkeit und Verletzlichkeit!). Was nichts weniger bedeutet, als daß wir in dieser Beziehungsgröße wohl unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse oder Interessen gerade noch an uns heran lassen können, weil wir trotz eventuell situativ verspürtem Zorn oder Verletzung hier noch ein Gefühl von Übersichtlichkeit und Berechenbarkeit entgegensetzen, daß eine Atmosphäre von Respekt und Vertrauen (wieder)herstellbar ist.

Wenn mich also als Autor dieses bLog-Projekts zu verbindlich-nachhaltigen Mehrfachbeziehungen jemand wirklich festlegen wollte, dann sage ich: Bis zu ca.12 Beteiligten reicht auch aus meiner Erfahrung ein Bereich, in dem für alle Beteiligten eines kleinen (oligoamoren) Mehrfachbeziehungsnetzwerks genau die Verbindlichkeit und die Nachhaltigkeit noch lebbar und vor allem er-lebbar bleibt. Denn erstens wird genau die darüber hinausgehende Heterogenität eines Teilnehmer*innenfeldes die Verbindlichkeit für das Individuum beeinträchtigen, indem Integrität und Verläßlichkeit bei immer vielfältigeren Reizen schnell zu einer buchstäblich über-menschlichen Herkules-Aufgabe werden können. Und zweitens verwässern jenseits davon zunehmend die Nachhaltigkeitskriterien Beständigkeit (Konsistenz), Geeignetheit (Effizienz) und Genügsamkeit (Suffizienz) [diese angestrebten „Werte“ der Oligoamory finden sich in Eintrag 3].

Gibt es für mich als Autor auch eine „Idealgröße“?
Das jüdische Sprichwort besagt „Wer eine einzige Seele rettet, rettet eine ganze Welt.“ (Jerusalemer Talmud; Sanhedrin, 23 a-b; [ähnliche Aussage übrigens auch im Koran 5:32]).
Wenn ich dieses Bild mit dem Anaïs Nin-Zitat in Zusammenhang lese „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wird, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und das nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann“ (dazu Eintrag 6), dann könnte folglich schon das Führen einer einzigen Beziehung zu „nur“ einem weiteren Menschen eine intensive Entdeckungsreise in ein völlig einzigartiges Universum eröffnen, die uns mit ihrer unendlichen Vielfältigkeit ein ganzes Leben lang beschäftigen wird.
Und Hand aufs Herz: Allein die Aussicht auf eine solche Entdeckungsreise beim Verlieben in einen neuen Menschen fühlt sich doch schon dermaßen intensiv an, daß es uns in so einem Moment nahezu komplett in Beschlag nimmt.
Genau dieses Phänomen spielt ja insbesondere bei der Öffnung einer schon bestehenden Beziehung hin zu einer Mehrfachbeziehung oft so eine profunde Rolle: Für (meist) einen der Beteiligten tut sich so eine „neue Welt“ auf, was zunächst häufig zu formidablen Turbulenzen hinsichtlich Ressourcenmanagement, Zeitverteilung und einer Neuorientierung der Bedürfnisbefriedigung führt.
Die Herausforderungen von Ressourcenmanagement, Zeitverteilung und Bedürfnislage bleiben in Mehrfachbeziehungen allerdings immer ein wichtiges Thema, selbst wenn sich das anfängliche und nicht selten mit reichlich Hormonaufwallung versehene Chaos allmählich zu lichten beginnt.
Sensiblere Naturen (wie ich es als Hochsensible Person / HSP beispielsweise bin) können dann bereits mit zwei nahen Bezugsmenschen vollauf eingebunden sein, was sicher auch gelegentlich den Wunsch nach triadischen Dreier-Konstellationen besonders beflügelt (wenn auch vielleicht so kurzsichtig wie verständlich: Schließlich setzt sich ein Menschenwesen erst einmal selbst an die Stelle des „Zentralpunktes“ seines Beziehungsnetzwerkes).
Konsequent zu Ende gedacht finden wir uns mit der Oligoamory dennoch vermutlich dann irgendwo in Dunbars „Erstem Kreis“ wieder: Eine Gruppe von bis zu 6 Personen (nämlich 5 + ich), die miteinander den beschriebenen hohen Grad an Intimität und Nähe teilen, der für die gemeinsame Aufrechterhaltung sowohl von allseitigem Vertrauen als auch von allseitiger Vertrautheit so bedeutsam ist.
►Nicht zu vergessen: Wir sprechen hier über die Intensität in einer engen, aufeinander bezogenen Liebesbeziehung. Und „Beziehung“ heißt ja in diesem Kontext, daß es sich dabei dann um die Menschen handelt, mit denen wir maßgeblich unser Leben gestalten – und denen wir im Gegenzug unsererseits gestatten, maßgeblich auf unser Leben Einfluß zu nehmen. Denn die liebevollen Verbindungen und die vertrauensvollen Verhältnisse, die daraus (hoffentlich) miteinander entstehen, bedeuten im Idealfall nichts weniger, als darin die höchst erfüllende Gewissheit zu erfahren, daß alle einander gemeinschaftlich so wichtig sind, daß sie einander stets auch in wichtigere individuelle Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse – wenigstens gedanklich – miteinbeziehen.
Dieses Letzte ist für mich ein sehr oligoamorer Kerngedanke, da für mich hier die übersichtliche und menschlich berechenbare „Anzahl“ der wenigen Beteiligten direkt mit der Gewährleistung der oligoamoren Werte (insbesondere der Bereiche Verbindlichkeit, Berechtigung, Aufrichtigkeit, Identifikation und Nachhaltigkeit [siehe Eintrag 4]) verbunden ist.

Genau hier ergibt sich auch die Überleitung zu der zweiten Frage „Und wer entscheidet das?
Grundsätzlich ist sicherlich festzuhalten, daß zwischen Menschen immer Faszination, Attraktion, „Für-einander-Empfinden“ und Verliebtheit aufkommen kann – und wird.
Die Wahrscheinlichkeit, daß dies erst einmal die „kleinste mögliche Einheit“ betrifft – und damit zunächst oft nur zwei Menschen (egal, ob diese sich schon in Beziehung befinden oder nicht) – ist ebenfalls sehr hoch. In Folge lassen sich die Beteiligten dieser „kleinsten Einheit“ dann ja auf einen möglichen Prozess des Kennenlernens – und auch potentiell des Liebenlernens – ein.
Wenn dieser Prozess schließlich in die Überlegungen zu einer sich abzeichnenden Beziehung übergeht, dann werden dabei, selbst unwillkürlich, auch Fragen des jeweiligen Lebensentwurfs auf jeden Fall berührt, z.B.: Wie sehen sich die Beteiligten selbst? Als Einzelwesen, welches sich situativ immer mal wieder punktuell „in Beziehung begibt“ – oder eher als Gruppenzugehörige*r eines eventuell größeren Ganzen?
Eine oligoamore Beziehungsauffassung enthält sehr stark die Neugierde darauf, sich selbst als „mehr als die Summe seiner Teile“ zu erleben – und damit auch, sich intensiv mit der eigenen menschlichen Natur als „Gemeinschaftswesen“ auseinanderzusetzen.
So ein Ansinnen enthält allerdings bereits ein gewisses Maß an Lust auf Selbsterkenntnis und damit auch an Eigenverantwortung: „Ich möchte zu einem gemeinsamen Schatz an Wissen, Begabungen und Erfahrungen beitragen und daran teilhaben. Ich werde dabei viel von mir selber offenbaren (wie es ja auch Dunbar für den ersten und zweiten „Kreis“ darlegte) und auch die anderen Beteiligten werden sich mir gegenüber öffnen – was auch sein muß, denn ohne diese Gegenseitigkeit kein Vertrauensaufbau.“
Dadurch ist es letztendlich genau diese „Eigenverantwortung“, mit der jede*r schließlich für sich selbst darüber entscheiden muß, in wieweit neue Personen mittel- und langfristig zum eigenen Netzwerk passen werden.
Denn im Hinblick auf meine Zugehörigen, die ich mir so in gewisser Weise erwähle (und meine Zugehörigen erwählen mich), möchte ich ja auch an dem Potential unserer Gemeinschaft teilhaben , welches sich wiederum aus dem Potential der Einzelnen mit ihren Eigenheiten und Begabungen zusammensetzt. Im besten Fall also profitiere ich von beidem. Und genau dadurch erhält gerade dieses persönliche Nah-Umfeld in der Oligoamory so große Bedeutung.

Für manche Leser*innen mag dieser letzte Teil recht ideal und vielleicht schon etwas abgehoben klingen.
Darum kann eine „Gegenprobe“ mit der persönlichen Einstellung zu den Menschen im eigenen Beziehungsnetzwerk manchmal ein Gedankenanstoß sein.
Ich habe z.B. bemerkt, daß für mich das Führen von Fern- und Wochenendbeziehungen in obiger Hinsicht eine Herausforderung ist, weil ich oft Schwierigkeiten habe, dort einen für mich befriedigenden Grad an Gegenseitigkeit zu erleben. Denn in diesen Verbindungen befinde ich mich aus meiner Sicht meistens mit Menschen, die für das eigene Leben eine hohe Bedeutung haben sollten – die aber gleichzeitig räumlich oder zeitlich häufig von mir getrennt sind. Bei mir selber führt das oft zu einem Gefühl, daß sowohl die betroffenen Beziehungen als auch die Menschen darin für mein Leben nicht so recht Gestalt annehmen bzw. wortwörtlich „real“ werden, allein indem sie an meinem alltäglichen Leben weniger Anteil nehmen.
Ich persönlich habe für mich wahrgenommen, daß ich diese Beziehungen bereits mittelfristig als oligoamor schwer aufrechtzuerhalten empfunden habe, denn ich erlebe mich dort eher von einem „spannenden Feature“ fasziniert als wirklich in einer echten Verbindung zu einem Menschen aus Fleisch und Blut.
Womit meine Reise wieder bei Robin Dunbar angekommen wäre, der mir vermutlich aufzeigen würde, daß solche Beziehungen bei mir in eindeutiger Gefahr sind, von den beiden inneren Kreisen recht bald zum Rand des Dritten, mit den bloßen „Bekanntschaften“ darin, abzutreiben.

Ich selber möchte doch auch nicht darauf hoffen, daß meine Faszination als optional zuschaltbares Feature möglichst lange anhalten wird, denn wir verdienen es schließlich alle, als echte Menschen mit unseren Ecken und Kanten von unseren erwählten Liebsten wirklich ganz und gar akzeptiert und geliebt zu werden.
Und in dieser Hinsicht möchte ich mit der Oligoamory dazu einladen, in jedem Fall der Qualität und der Intensität den Vorzug vor Quantität und Zeitvertreib (neudt.: Entertainment) zu geben.²




¹ Richtig gelesen: Das Zitat stammt nicht ursprünglich aus einem Songtext von Iron Maiden, sondern aus der Fernsehserie „Nummer 6“ von 1967.

² Im Gegensatz zu meinen Vorstellungen der Oligoamory halte ich das Führen von – ich sage mal – weniger anspruchsvollen Mehrfach-Beziehungen in der Polyamory für absolut möglich und auch von dem dortigen Konzept abgedeckt. Die diesbezüglich kritischen Gedanken, die daher für mich zu einem eigenen Ansatz geführt haben, habe ich in Eintrag 2 niedergelegt.

Danke an Christine für die anregenden Fragen und an rawpixel auf unsplash.com für das Foto!

Eintrag 11

Held im eigenen Film

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern. Eine beliebte Gestalt, die an den Lagerfeuern besonders gerne beschworen wird, weil sich die Zuhörer*innen so sehr mit ihr identifizieren können, ist der schwarze Fledermausmann.
[Die Geschichte würde natürlich auch mit dem WunderWeib oder der DiversDiva als Protagonist*in funktionieren – aber heute möchte ich Euch die Geschichte so wiedergeben, wie ich sie von den Eingeborenen des entlegenen Eilands der Oligoamory selber zum ersten Mal gehört habe]:

Er ist ein Held.
Er ist der Fledermausmann,
der schwarze Chevalier.
Er gibt sein Bestes.
Er tut, was er tun muß:
das Richtige.
Er lebt für einen weiteren Tag.

Aber heute sitzt der Held grübelnd auf dem großen Wasserspeier aus Marmor, hoch über der Stadt und ist sehr nachdenklich. Denn in letzter Zeit scheinen seine Heldentaten nicht mehr so recht heroisch zu geraten – und er kann sich einfach nicht erklären, woran es liegt.
Er selbst weiß sich nichts vorzuwerfen: Er handelt, wie er seit jeher gehandelt hat, er ist mutig, er kämpft für das Gute – oder wenigstens für das, was er gestern noch dafür hielt.

Aber in den letzten Tagen scheint sein rastloser Einsatz immer weniger den beabsichtigten edlen Zielen zu dienen, denen sich der Fledermausmann aus eigenem Antrieb verpflichtet sieht.
So ist er doch eigentlich durch und durch das Ideal eines oligoamoren Beziehungsmenschen: Loyal, verläßlich, verantwortlich und integer.
Letztes Wochenende kam er also in dieser Weise von einem Treffen mit einem Paar – beide enge Liebste und Vertraute des Fledermausmannes. Es war ein intensives Wochenende, welches die Nähe und Intimität der Beziehung zwischen ihnen allen drei nochmals gestärkt hatte. Insbesondere zu der Frau konnte der Fledermausmann diesmal noch vertrautere Bande knüpfen, was ihm schon im Vorfeld für die gesamte Gemeinschaftlichkeit wichtig gewesen war.
Diese gesamte Gemeinschaftlichkeit hatte ihn ganz und gar erfüllt und auch auf dem Rückweg noch vollkommen in Bann geschlagen. Wie könnte er diesem einzigartigen Gefühl noch mehr Ausdruck verleihen und es in sich noch mehr steigern, jetzt, wo es ihn quasi von Kopf bis Fuß durchströmte? Er wäre nicht der Fledermausmann gewesen, wenn ihm dazu nichts eingefallen wäre: Noch vor der abendlichen Ankunft in seinem Geheimversteck wendete er sein dunkles Gefährt und sauste sogleich zu seiner dritten Liebsten, um mit ihr in dieser Nacht seine gewonnene Erfüllung zu teilen.
Am nächsten Morgen sah er im Spiegel nicht nur den Helden, der er war, sondern er spürte es auch in jeder seiner Fasern. Und darum lag die nächste oligoamore Heldentat wie selbstverständlich auf der Hand: Sofortige Transparenzherstellung und Teilen seiner Erlebnisse und Erkenntnisse mit seinen vorherigen Gastgebern. Heute mache ich alles richtig!
Was aber dann über unseren guten Fledermausmann hereinbrach, war nicht das, was er erwartet hatte. Denn gerade von der Frau seines dortigen Beziehungspaares wurde ihm ein gänzlich unheroisches Zeugnis ausgestellt: Wie er sich denn nach dem innigen Wochenende so bedürftig und so undankbar hätte aufführen können, daß er sich ja wohl in seinem Lustrausch und in seiner Unersättlichkeit noch auf der Rückfahrt an den nächsten Busen hätte werfen müssen? Ob ihm denn die intensive Nähe von Körper, Geist und Seele des Wochenendes so wenig bedeuten würden, daß es sie sofort mit der nächsten Sensation überschreiben müsste? Da sollte er einmal darüber nachdenken, ob es gut sei, wie beliebig er es mit seinen Liebsten halten würde…

Wenn es nur dabei geblieben wäre! Doch auch mit seiner dritten Liebsten schien er im Verlauf der Woche immer weiter vom selbstgesetzten Pfad der Tugend abzuweichen.
Mit ihr hatte er nämlich selbstverständlich auch eine Vereinbarung über Transparenz und Aufrichtigkeit – und so hatte er ihr nach und nach im Laufe des Montags das ganze Wochenende mit seinen Begebenheiten geschildert. Dabei war unserem Fledermausmann – achtsamer Beziehungsmensch der er ja war – aufgefallen, daß seine hiesige Liebste durchaus nicht alle Details so souverän verkraftet hatte, ja, daß er z.T. eine Spur von innerer Erschütterung, vielleicht gar von Ängstlichkeit oder Irritation an ihr wahrgenommen hatte. Ein klarer Fall für den Fledermausmann: Beziehungsleid erkannt – Beziehungsleid gebannt! Gerade darum war er doch ein oligoamorer Held, um tief eingelassen für Beständigkeit zu sorgen. Weiteren Nachfragen seiner Liebsten in den folgenden Tagen kam er nun mit weniger Einzelheiten und eher allgemeiner Beschreibung nach, um ihr quasi die Hand in einer für sie nicht ganz leichten Beziehungssituation zu halten und zu beweisen: Auf den Fledermausmann ist Verlaß als achtsamer Wächter und Wahrer deiner sensiblen Grenzen!
Doch am Donnerstag brach es dann wie ein Ungewitter seiner Liebsten über ihn herein: Daß sie diese ganzen Heimlichkeiten und das Würmer-aus der-Nase ziehen hinsichtlich x und y ganz schlimm fände. Daß er aus falsch verstandener Bevormundung ihr die ganze Wahrheit vorenthalten würde, ja es mit der Transparenz offensichtlich aalglatt halten würde. Wie überhaupt sein Verhalten in der Sache so wenig oligoamor sei…

Da war er dann auf seinen einsamen Wasserspeier geflohen, gebrochen, verzweifelt, sich mißverstanden fühlend. Nieselregen hüllt ihn ein und legt sich wie ein Schleier auf das Herz des schwarzen Chevalier. Wie hatte ein Held wie er nur so tief fallen können?

Die tragische Gestalt des Fledermausmannes in den oligoamoren Legenden ist für uns – wie auch für die gebannt lauschenden Zuhörer am Lagerfeuer – als Archetyp geradezu eine Art „Seelenverwandter“ und hat sehr viel mit uns selbst zu tun:
Denn Marshall B. Rosenberg erklärt anhand seines Modells der „Gewaltfreien Kommunikation“, daß nahezu alle Menschen für ihr Handeln normalerweise „sehr gute (persönliche) Gründe“ haben.
Wer diesen Satz jetzt schnell gelesen hat, die/den bitte ich, es nochmal zu tun – und dabei das Wort „gute“ liebevoll und ausdrücklich zu betonen, denn dies ist für das weitere Verständnis von äußerster Wichtigkeit!

Die psychologische Forschung (insbesondere die humanistische Psychologie mit den Vertreter*innen V. Satir, C. Rogers und A. Maslow) legt diesen „Guten Gründen“ das Vorhandensein universeller menschlicher Bedürfnisse zugrunde, die sich alle Mitglieder der Spezies „Homo sapiens“ zu erfüllen suchen (►Dazu zählen lebenserhaltende Bedürfnisse wie Luft, Wasser, Nahrung, Wärme, Licht und Schlaf; Bedürfnisse die Sicherheit und Schutz dienen – wie z.B. physische Gesundheit, Obdach und Privatsphäre; Bedürfnisse die Gemeinschaft und Beteiligung sicherstellen – wie z.B. Geborgenheit, Unterstützung und Kontakt; Bedürfnisse rund um Verständigung und Kommunikation – wie z.B. Aufmerksamkeit, Austausch, Wertschätzung und Aufrichtigkeit; Bedürfnisse hinsichtlich Zuneigung und Liebe – wie z.B. Angenommensein, Beständigkeit, Fürsorge oder Sexualität; Bedürfnisse bezüglich Erholung und Muße – wie z.B. Entspannung, Harmonie und Spiel; Bedürfnisse die Kreativität ausdrücken – wie z.B. Lernen, Selbstwirksamkeit, Spontaneität oder Eigenentfaltung; Bedürfnisse nach Autonomie und Identität – wie z.B. Selbstwert, Identifikation Erfolg oder Sinn – und auch Bedürfnisse der Lebensgestaltung und Sinnsuche – wie z.B. Bedeutsamkeit, Würde, Achtsamkeit und Kompetenz).

Diese allen Menschenwesen gemeinsamen „universellen“ Bedürfnisse sind aus sich selber heraus weder positiv noch negativ; jedoch motivieren sie uns Menschen zwecks Erfüllung zu bestimmten Handlungen.
Für unser gegenseitiges Verständnis, ja, für menschliche Kommunikation und Interaktion insgesamt könnte sich das grundsätzlich als phantastische Botschaft lesen: Wir alle haben die gleichen Bedürfnisse, wir alle sind gleich in unserem Streben nach Erfüllung dieser.
Was also ist zusätzlich zu beachten – wo steckt das „Häkchen“?
Darin, daß es im zweiten Schritt ganz wichtig zu beachten ist, daß sich die Art und Weise der Bedürfniserfüllung von Individuum zu Individuum sehr wohl unterscheidet. Folglich müssen wir zwischen „(universellem) Bedürfnis“ und „(individueller) Bedürfniserfüllstrategie“ trennen.
Was bedeutet, daß bei der Erfüllung also individuelle Prioritäten gesetzt werden.
Genau diese Unterscheidung zeigt, daß damit durchaus Konflikte entstehen können, wenn Bedürfniserfüllung z.B. auf Kosten anderer Lebewesen (und deren Bedürfnisse) betrieben wird.
Und die Tatsche, daß wir so zwischen „Motivation“ und „Strategie“ unterscheiden können, erlaubt uns, eine Ursache zu verstehen und sogar zu respektieren – aber gleichzeitig mit der Wirkung (auf uns bzw. die Umwelt) trotzdem nicht einverstanden sein zu müssen.
Kein Lebewesen, kein Mensch, hat also negative oder gar „böse“ Bedürfnisse – allerdings kann er/sie/es problematische Herangehensweisen zu deren Erfüllung wählen.
Doch selbst dabei ist es für einen einigermaßen gesunden Menschen immer noch fast ausgeschlossen, bei normal-unbewußtem Handeln wirklich abgrundtiefe Scheußlichkeiten zu vollbringen.
Denn die Hirnforschung der letzten Jahre (insbesondere J. Panksepp und T. Insel zu sozialer Anerkennung im hirneigenen Belohnungszentrum) und die Primatenforschung an unseren nächsten Verwandten (insbesondere F. de Waal) haben zusätzlich erwiesen, daß wir Menschen aufgrund unserer „Hordennatur“ normalerweise sehr stark nach der (positiv formulierten) Maxime „Was ich will, was man mir tu‘ – das füg‘ auch ich euch zu“ handeln. Heißt: Bei unserem Streben nach persönlicher Bedürfniserfüllung und persönlichem Nutzen sind wir aufgrund unserer biologischen und sozialen Komponenten fast immer sehr stark ebenfalls zu einem „Gruppennutzen“ motiviert, der am Ende natürlich auch wieder uns selbst zu Gute kommen könnte.

Fazit: Aufgrund unseres Strebens nach persönlicher Bedürfniserfüllung und der daraus hervorgehenden Motivation in Kombination mit unserer Tendenz zur Maximierung eines möglichst umfassenden sozialen Wohlergehens sind wir buchstäblich als handelnde Person „Held*in in unserem eigenen Film“.
Denn das oben Dargelegte zeigt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß hinter nahezu jedem menschlichem Tun eine grundsätzliche „gute Absicht“ steckt, die auf die Erhöhung von (irgendeinem) Wohlergehen bzw. auf Zufriedenheit abzielt, exorbitant hoch ist.
Und wiewohl insbesondere mediale Berichterstattung und Fiktion häufig von der gegenteiligen Faszination leben, so bitte ich – insbesondere in Liebesbeziehungen – zusammen mit Marshall Rosenbergs Konzept von „Gewaltlosigkeit“ doch erst einmal dem (sogar rational) viel naheliegenderen Vertrauen in die gute Absicht Raum zu geben.
Was also selbst im Falle von eigener Verletzung wenigstens bedeutet, zunächst ganz bodenständige, allzu menschliche Faktoren für einen Konflikt / ein Unglück wie Unbewusstheit/Unreflektiertheit, Bequemlichkeit, Ungenauigkeit, Selbstvergessenheit oder Überforderung anzunehmen, statt grausame Absicht und berechnenden Verletzungswillen zu vermuten.

Warum?
Meiner Ansicht nach ist der Nutzen, den wir für unsere menschlichen Beziehungen aus so einer Haltung eines eher wohlwollenden Vorvertrauens haben, dreifach.

  • Erstens beeinflußt dies ganz direkt das Bild, welches wir uns in so einem Moment von dem abgelaufenen Vorgang, der handelnden Person und somit auch vom gesamten Film – also unserer Welt – machen: Da ist ein Mensch, der aus seiner Sicht so gut wie möglich versucht(e), seine Bedürfnisse zu erfüllen. Sie*Er will/wollte es irgendwie richtig machen. Wenn dies nicht gelungen ist – und es vielleicht sogar schmerzliche Kollateralschäden gab – so ist die handelnde Person dadurch eher ein „gefallener Held“, vielleicht auch ein gebrochener Held (wie eben der schwarze Chevalier oder viele andere Superhelden, die eine nicht-lineare Legende haben); nicht aber das planvoll Böse, nicht der Antagonist, nicht der Feind. Allein durch diese Haltung verhindere ich, daß ich selber in eine polare Welt aus „Gut vs. Böse“, „Richtig vs. Falsch“, „Schwarz vs. Weiß“ abtauche. Ich bleibe offen, kann differenzieren und weiter Schattierungen und Zwischentöne wahrnehmen. Das ist gut für Gehirn und Herz: Denn mein Gesamtgefühl von Selbstwirksamkeit und Sicherheit bleibt intakt.
  • Zweitens erhält uns diese Sicht die Chance auf echtes Vertrauen, weil wir nicht „dichtmachen“, sondern verstehen wollen, was auf „der anderen Seite“ geschehen ist: Welche Bedürfnisse waren da denn nun eigentlich in Unterdeckung, daß es so gekommen ist? Allein schon dieses Interesse bildet nämlich genau genommen bereits die Knospe für eine entstehende Verbindung zum Gegenüber. Denn dadurch kann ein echter Prozess eingeleitet werden, indem das wechselseitige Verstehen der Motive und Motivationen in den Vordergrund rückt: Warum wurde so gehandelt? Und wie ist das bei Dir angekommen? Wer anfängt auf diese Weise zu denken, macht einen Dialog auf, in dem sowohl die „fremden“ als auch die eigenen Motive und Strategien zur Bedürfniserfüllung überdacht werden können.
    Und wer gemeinsam so weit kommt, steht schon kurz vor einer Synthese und dem Ausstieg aus dem möglichen Konflikt: Gibt es vielleicht künftig ein Vorgehen, was uns beiden/allen (bedürfnis)gerecht werden könnte?
  • Drittens erhalten wir uns auf diese Weise die Perspektive wahrzunehmen, daß wir alle vermutlich vielfach gefallene oder gebrochene Held*innen (aber nichtsdestoweniger Held*innen!) sind, die trotzdem immer noch jeden Tag versuchen, wieder und wieder – auch unter widrigsten Bedingungen – ihr Bestmögliches zu geben. Damit gestatten wir uns und den Anderen, daß wir Fehler machen dürfen, daß wir bereit sind darin dazuzulernen und daß wir weiter streben und es erneut anpacken können. Und das ist definitiv ein wirklich heroischer Beitrag zu einer (mit)menschlicheren Welt.

Insbesondere was unsere Liebsten und Lieblingsmenschen angeht, können das alles enorm beruhigender Gedanken sein – gerade in Momenten, wenn irgendetwas nicht glatt läuft und die Welt kopfzustehen scheint. Denn in dieser Weise sind wir also alle stets wirkliche „Helden im Alltag“, die durch die Bedürfnisse hinter ihren „sehr guten Gründen“ sogar in einer Art „Menschheits-Liga“ nach gleichen Zielen streben, egal ob WunderWeib, MultiMann oder DiversDiva.
Nur in der Wahl unserer Mittel unterscheiden wir uns – aber unter Superhelden ist das ja auch wahrscheinlich, da wir alle mit ganz unterschiedlichen Biographien, Kräften und Begabungen ausgestattet sind.

So wie der Protagonist unserer obigen Geschichte.
Denn auch er lebt für einen weiteren Tag.
Da wird er das Richtige machen und tun, was er tun muß:
Er wird sein Bestes geben.
Er ist der Fledermausmann,
der schwarze Chevalier –
und er ist ein Held.




Danke an Richard David Precht und seine ausführlichen Gedanken zur Natur und Moral des Menschen in seinem Buch „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ (Goldmann 2010);
und an Marcel auf Unsplash für das passende Foto vom Helden-Graffito.

Eintrag 10

Europa der vielen Geschwindigkeiten

Die Deutsch-Französische Freundschaft ist legendär. Eigentlich ist sie ja auch mehr als das: Eine echte Partnerschaft.
Und sie reicht schon eine geraume Weile zurück. Obwohl das am Anfang gar nicht so selbstverständlich war; damals hätte das wohl niemand vorherzusagen gewagt.
Denn wer Frankreich und Deutschland noch von ganz früher kannte, wußte: Da lag oft Streit in der Luft und das Trennende wurde betont.
All das, obwohl man schon immer Nachbarn war und quasi Tür an Tür lebte.
Dann aber, als die Idee der (europäischen) Gemeinschaft geboren war, da gab es hüben und drüben fast kein Halten mehr: Schluß mit den Kalamitäten der Vergangenheit! Ein rauschendes Fest wurde gefeiert, woran sich viele noch lange erinnerten – Deutschland und Frankreich rückten eng zusammen.
So eng, daß sie von Freunden und Kritikern bald gemeinschaftlich schon als „Motor“ bezeichnet wurden, so synchron verbunden ging es voran. Das war für die restliche Welt nicht immer einfach: Frankreich und Deutschland, manchmal beinahe wie symbiotische Zwillinge, die unbedingt den anderen beweisen wollten, daß ihre Allianz ein Erfolgsmodell war.
Deutschland und Frankreich – sie gaben darum oft den Takt vor, dem die anderen Folge leisten sollten: Vorbildlich – für ein Leben in Gemeinschaft.
Trotzdem war es nicht immer leicht miteinander. So viel gemeinsame Zeit: Da gab es auch Phasen mit Stürmen, echten Meinungsverschiedenheiten, selbst zeitweilige Alleingänge.
Aber die Sache hielt. Sogar so gut, daß eines Tages frischer Wind gewagt und beschlossen wurde:
Öffnung und Erweiterung! (zu einer europäischen „Union“…)

Österreich hatte ja Frankreich und Deutschland in ihrer Gemeinschaft schon lange beobachten können. Aber in so einer Art von Gemeinschaft hatte sich Österreich nicht wiedergefunden.
Gemeinsamkeiten und Nähe, ja, die gab es doch auch so schon lange genug. Gerade mit Deutschland… – schöne und weniger schöne Erinnerungen von ganz früher.
Die Öffnung zur Union war jetzt aber die Chance für Österreich, endlich „ganz offiziell“ dazuzurücken. Nicht wegen der alten Zeiten halber, sondern vor allem wegen diesem „frischen Wind“, der da jetzt durch das vereinte Ganze wehte (also Europa…). Und insbesondere mit Deutschland stellten sich Nähe und große Ähnlichkeit schnell wieder her.
Das war für Frankreich nicht immer eine leichte Zeit, Deutschland und Österreich so vertraut erneut Seite an Seite zu sehen. Ängste kamen auf, in ein (atlantisches) Abseits zu geraten, nur noch die „zweite Geige“ zu spielen. Und darum wurde es in Debatten jetzt auch manchmal laut, wenn um das „gemeinsame Wir“ gerungen wurde…
Doch trotz aller anfänglichen Zitterpartien und der Skepsis mancher Zweifler gelang die neue Beziehungsform als (europäische) Union, weil das, was alle zu bieten hatten und nun zusammenlegten, größer und mehr wurde als die Summe der Einzelteile.
Frankreich z.B. erkannte sich in Vielem in Österreich wieder: Die Urlaube, das Landleben mit seinen Stärken und Schwächen – und natürlich eine Vorliebe für gutes und reichliches Essen.
Nun konnte es geschehen, daß es sogar Deutschland war, welches von den Interessen der Partner überstimmt wurde – und es dauerte durchaus einen Augenblick, sich in diese neue Rolle mit Würde einzufinden…
Eine neue insgesamte Dynamik entstand: Partnerschaft, ja eine Gemeinschaft von gleich-Berechtigten wie -Verpflichteten.
Unkonventionell zuerst auf jeden Fall – aber visionär und zukunftsfähig.
Österreich, Frankreich und Deutschland wurden zu stärkeren Partnern: Für sich selbst, für einander und auch nach außen.
Und wie es mit der neuen Beziehungsform als Union beschlossen war, sollte es auch weitergehen: Offen für mögliche Erweiterung und die Dinge, die da noch geschehen mochten.

So kam eines Tages Kroatien hinzu, ermutigt und angezogen von den anderen Beteiligten.
Anfängliche Attraktion war sogleich vorhanden, denn mit Deutschland teilte Kroatien die Reiselust, mit Österreich die Leidenschaft für die Berge und mit Frankreich die alte Kunst des Weinbaus. Zu Österreich bestand sogar schon länger eine gewisse Nähe…
Trotzdem ist es für Kroatien nicht leicht, sich in dem längst gut etablierten Bündnis der anderen immer gleich genauso gut zurechtzufinden: Überall sieht sich Kroatien als „Neuankömmling“ vorgezeigt, obwohl es doch durchaus mit eigenen Errungenschaften glänzen könnte. Manches in dieser neuen Union geht Kroatien auch zu schnell – und gelegentlich kommt es sich vor wie ein bloßer „Juniorpartner“ , obwohl doch von Anfang an Gleichberechtigung versprochen wurde. Und etliches ist auch zunächst noch schwer zu verstehen – und nicht immer nehmen sich die „Alteingesessenen“ ausreichend Zeit für sorgfältige Erklärungen.
Aber Kroatien gehört nun dazu – da sind sich alle einig: Gekommen, um zu bleiben. Auch wenn das wieder viel Arbeit und Anpassung für alle bedeutet – auf verschiedene Geschwindigkeiten zu achten, zusammenzuwachsen und dabei alle mitzunehmen.

Frankreich, das ist Vincent, der vor über einem Jahrzehnt nach dem Studium ganz in Deutschland, genau genommen in Bayern geblieben ist, um dort „seine“ Karin zu heiraten.
Als die beiden vor anderthalb Jahren ihre Ehe öffneten, kam Max aus Österreich hinzu, den Karin eigentlich schon lange als Kollegen im Außendienst kannte.
Und nun haben diese drei vor kaum zwei Monaten die Kroatin Ivana auf einer dreitägigen Motorrad-Convention am romantischen Königsee kennengelernt.
Und wie das Leben manchmal so spielt: Im Laufe eines verlängerten Hüttenabends hat es irgendwie bei allen gefunkt…

Karin und Vincent vereinen das Beste aus Deutschland und Frankreich: Bodenständiges Denken mischt sich da mit romanischem Esprit zu einem gutmütigen Eigenwitz, mit dem die beiden seither auch alle Höhen und Tiefen des gemeinsamen Lebens gemeistert haben. Zwei Kinder, jetzt 8 und 10 Jahre alt, haben die beiden übrigens auch.
Über offene Beziehung und Polyamory waren beide ein wenig belesen und hatten in einem Gespräch mal – eher theoretisch – bekundet, daß „das ja für die Entwicklung ihrer Beziehung nicht ausgeschlossen sei…“
Vincent, der nach eigenem Bekunden selber ein „Auge für schöne Frauen“ besitzt, hatte seinerzeit jedoch auch bemerkt, daß der Max für die Karin längst mehr war, als nur der „Kollege im Außendienst“. Karin, beileibe kein Kind von Traurigkeit, hatte mit Vincent dann „erst“ nach zwei Wochen reinen Tisch gemacht, und da stand schon ein „Fortbildungswochenende“ mit Max im Raum, welches so gar nichts mit der Firma zu tun haben sollte.
Bei einer gemeinsamen Aussprache stellte Vincent überrascht fest, daß er Max als den extrem kompetenten Veranstalter „Crostini“ kannte, bei dem er schon zwei Kochkurse mitgemacht hatte – und dessen Social-Media-Grillseite er seither eifrig gefolgt war.
Nun folgte allerdings eine ziemlich „abgekühlte Phase“ in dem Verhältnis der drei, welche erstmal so gar nichts mit Grillen zu tun habe sollte.
Beinahe etwas verzweifelt war es am Ende Max, der plötzlich das Thema „Polyamory“ wie einen Rettungsanker für sich auf den Tisch brachte. Und überrascht feststellte, daß die grundsätzliche Idee davon Karin und Vincent gar nicht besonders neu war.
Ein dreiviertel Jahr und zahlreiche tiefe Gespräche (allseitige und gemeinsame) später, war eine erstaunliche Übereinkunft zustande gekommen. Vincent wollte Stabilität und Vertrauen gewinnen, Karin wollte „ihr Mannsvolk“ erhalten und Max, der ohnehin mit leichtem Gepäck lebte, bekam die Chance, zwei Straßen von den beiden entfernt in ein kleines Appartement zu ziehen.
Mit diesem Tag wurde Max mehr und mehr erst Dauergast und schließlich so etwas wie Dauerbewohner im Hause unseres deutsch-französischen Paars.
Die Kinder fanden diese Entwicklung am spannendsten, denn mit Max kam regelmäßig jemand zum Toben und Bolzen ins Haus – eine Rolle, bei der Vincent, der selbst Fernsehfußball „cruellement“ nennt, gerne jemand anderem den Vortritt ließ.
Durch die sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten des Trios ergab sich eine überraschend günstige Dynamik für Haushalt und Freizeitgestaltung, die dem gesamten Miteinander ziemlich förderlich war.
Und eines Nachts, als doch einmal alle zuhause waren, „geschahen Dinge“ im Gemach der Karin mit dem „Mannsvolk“, was Max und Vincent auch ihr Verhältnis zueinander auf ganz anderen Ebenen nochmal überdenken ließ…

Max, ein durchaus „lustiger“ aber gleichzeitig auch sehr nachdenklicher Tiroler, sieht sich nicht als „Bruder Leichtfuß“. Zugegeben, am Anfang hätte er nicht gedacht, wohin ihn „das mit dieser Karin“ mal führt. Aber jetzt ist ihm die „ganze Bande“ ganz schön ans Herz gewachsen. Insbesondere für die Kinder ist er eine Mischung aus Teilzeit-Papa und ältestem Bruder – und er war geradezu überrumpelt, mit wieviel Vorvertrauen er gerade von den Kiddies überrollt wurde.
Die Karin hat er schon immer für ihre große Selbständigkeit und Geradlinigkeit bewundert. Ja, schließlich hat es sich da so richtig reinverliebt, wollte es eines Tages nicht mehr missen.
Wenn er das nur mit dem Vincent, diesem eifrigen Besucher seiner Kurse, nur schon gleich gewußt hätte. Also – daß der zu der Karin gehört. Da hätte er ja schon mal ein Männerwort mit dem suchen können, ohne daß es zwischendurch erstmal zu so einem Kuddelmuddel kommen mußte.
Aber die Kurve haben sie ja gerade mal noch so gewuppt. Der Vincent kann in seinem gallischen Zorn ganz schön beeindruckend sein, daß muß er zugeben, der Max. Aber – das weiß der Max jetzt auch, Vincent hat genauso eine total romantische Seite und einen übermütigen, lausbübischen Charme, da wird nicht nur die Karin rot bis über beide Ohren, wenn er jetzt daran denkt.

Tja. Und nun Ivana. So hatte die sich ihren Urlaub in Deutschland sicher kaum vorgestellt. Erst dieses Bikertreffen am Königssee. „Hüttenabend“, wenn alle noch heute das Wort sagen, dann bekommt sie schon wieder dieses Kribbeln im Bauch… In dieser verrückten Stimmung aus überschäumender Laune und genialer Musik sind Karin und sie nach der letzten Band quasi übereinander hergefallen, die verblüfften Männer im gleichen Raum, noch mit Bier in der Hand, haben die beiden total ignoriert. Max hat sich dann tatsächlich irgendwann, beinahe vorsichtig, mit in das Getümmel gewagt – und wurde tatsächlich wilkommengeheißen. Und Vincent? Der hat die erotische „Installation“, die da plötzlich in seinem Schlafzimmer entstanden war, einfach nur genossen.
Wer die verrückte Idee hatte, die Kroatin dann am nächsten Morgen mit nach Landshut einzuladen, nach Hause, nach nur einer wilden Nacht? Das weiß keiner mehr. Nur, daß Ivana sich das so mir-nix-dir-nix zugetraut hatte.
Aber alle wissen, daß dabei eine total harmonische, ja beinahe familiäre Woche herausgekommen ist, was wirklich niemand hätte besser planen können.
Und alle wissen, daß Max plötzlich einen seiner Internetkontakt aktiviert hatte, wo es um irgendeine Vakanz beim BRSO ging, ob daß nicht etwas für Ivana sein könnte… Denn Ivana ist begabte aber schlechtbezahlte Cellistin am Nationaltheater in Rijeka und vielleicht ließe sich da etwas drehen…
Ivana mußte nach 10 Tagen zurück an die Adria.
Doch nach einem Monat war sie schon wieder zurück, diesmal mit Cello und einem Rollkoffer voller schwarzer Hosenanzüge… Karin, Vincent und Max hörten atemberaubt und durchaus etwas aufgeregt zu, als Ivana per Telefon mit einem Feuerwerk rollender „r“s und ihrer tiefen Stimme aus einem Volontariatsangebot einen Probevertrag herausverhandelt.
„JUHU Ivana kommt mit in den Zoo!“, jubeln die Kinder, noch bevor sie es schafft, den Hörer aufzulegen.

Ende und Abspann, Vorhang und Tusch?
Im Gegenteil. Eigentlich stehen alle vier sogar noch ziemlich am Anfang ihrer gemeinsamen Reise:

Karin hat in Ivana eine Freundin gefunden, bei der sie das Gefühl hat, sie könne dort endlich ganz sie selbst sein und als ob sie sich ihr Leben lang schon kennen würden. Wenn es nach ihr gehen würde, dann hätte sie jetzt endlich all die lieben Menschen um sich versammelt, nach denen sie sich schon immer gesehnt hatte. Hoffentlich teilen die anderen ihren Wunsch nach echter und enger dauerhafter Gemeinschaft…

Vincent ist etwas besorgt, weil er sich an die Zeit erinnert, als Max dazukam, was für ihn wirklich nicht einfach war und beinahe seine damalige Beziehung an den Rand des Abgrunds gebracht hätte. Max ist zwar ein genialer Freund (und mehr) geworden, mit dem es sich prima über Kugelgrill und Smoker fachsimpeln läßt – aber das vollständige Vertrauen zu ihm ist auch nach anderhalb Jahren noch nicht ganz wieder hergestellt.
Er weiß auch, daß er selbst zusammen mit Karin oft „das Programm“ im Hause vorgibt – aber er und sie sind ja auch noch Eltern, da spielen auch die Belange der Kinder nach wie vor eine gewichtige Rolle – und Kompromisse müssen berücksichtigt werden, damit diese Stabilität und Fürsorge erfahren können…

Max ist tief in sich verunsichert, weil er das Gefühl hat, er müsse sich gerade gänzlich neu erfinden. Er hatte gedacht, mit Karin seinen Stern zu finden und war dafür unter allen Umständen bereit, ihr Leben auch mit Vincent an der Seite zu teilen. Jetzt hat ihn diese Ivana voll erwischt – und zum ersten mal fühlt er sich zwischen zwei ganz verschiedenen Frauen hin- und hergerissen. Max weiß gerade gar nicht, wo er steht und wünscht sich Vincents französische Leichtigkeit. Vielleicht sollte er sich seinem allerbesten Freund und Quasi-Partner offenbaren, damit nicht wieder so ein Durcheinander wie vor über einem Jahr geschieht. Max möchte gerne endlich ankommen, eigentlich hatte er gehofft, es würde nun ruhiger, statt turbulenter…

Ivana erkennt sich selbst nicht wieder. Vor einem Vierteljahr hat sie das Wort „Mehrfachpartnerschaft“ noch nicht einmal gekannt. Geht so etwas überhaupt? Jetzt hat sie gerade Gefühle für drei Menschen entwickelt, die schon anfangen darüber zu sprechen, ob sie nicht in ein gemeinsames Haus ziehen sollten.
Ivana kommt aus einer Familie, bei der sie nicht einmal weiß, wie sie zuhause überhaupt erklären soll, was sie mit diesen Leuten so intensiv verbindet. Sie hat Angst – und ein Teil von ihr schämt sich auf seltsame Art sogar. Es ist alles neu: Karin, die Liebe zu einer Frau, ist das nicht verrückt? Max, ein lieber Kerl – aber mit seiner krachledernen Art geht er ihr manchmal auf den Senkel. Und Vincent? Mag der sie überhaupt wirklich? Es gibt Momente, da kann sie ihn noch ganz schlecht einschätzen. Manchmal scheint er sie geradezu ängstlich anzusehen…

Epilog:
Die lange Einleitung über die staatlichen „Vorbilder“ unserer Protagonist*innen habe ich gewählt um zu zeigen, daß es, wie in Europa, auch in Beziehung immer „vielerlei verschiedene Geschwindigkeiten“ gibt. Und so einheitlich wie Europa nach außen als Union auftritt – oder unsere vier Held*innen als geschlossene Biker-Formation auf einem Treffen – so unterschiedlich kann das Innenverhältnis darin aussehen.
Mit meiner kleinen und vielleicht etwas idealen Geschichte, bei der keineswegs abzusehen ist, wie sie ausgehen wird, möchte ich dazu anregen, über „(Mehrfach)Beziehungen der verschiedenen Geschwindigkeiten“ nachzudenken.
Und ich möchte zeigen, daß es wichtig ist im Hinterkopf zu behalten, daß diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den Handlungen und Wünschen unterschiedlicher Menschen immer aktiv sind, weshalb nach Momenten großer Eintracht auch immer wieder Situationen großer Differenzen und Scherkräfte in Mehrfachbeziehungen erlebt werden können.

Oligoamor möchte ich abschließend sagen: Je mehr den Beteiligten ein „gemeinsames Europa“ also ihr „gemeinsames Wir“, ihre „gemeinsame Mitte“ wichtig ist, umso besser werden sie diese verschiedenen Geschwindigkeiten erkennen, berücksichtigen und mit Respekt integrieren können.
Redet miteinander!



Svenja und Tobi: Das ist für Euch!

Danke an Marc Sendra Martorell auf Unsplash.com für das schwungvolle Bild.