Jenseits des Denkens

Willkommen im neuen Jahr 2025 – und damit ebenfalls willkommen zum Jahresrückblick 2024!
Wenn ich die letzten zwölf Einträge meines „Reisetagebuchs“ betrachte, handelten diese ganz überwiegend vor allem von den wichtigsten Elementen des „oligoamoren Baukastens“: Genau jenen Elemente, die für eine solide Grundkonstruktion von wesentlicher Bedeutung sind.
So ging es z.B. im Januareintrag um die Verbundenheit unter allen Beteiligten einer Mehrfachbeziehung und im Februarartikel um die Gewissheit des Angenommenseins mit seiner ganzen Persönlichkeit in einer solchen Konstellation.
Im März, in dem wir unglaubliche 5 Jahre Oligoamory feierten, ermutigte ich nochmals eindringlich dazu, vor allem der Magie der Liebe zwischen mehr als zwei Menschen in jedem Fall eine Chance zu geben, bevor man diese unter einem Wust eigener Vorurteile und Ressentiments ersticken würde. Trotzdem gab ich im April, im 100. Jubiläumseintrag, dazu sogleich Tipps, wie dementsprechend auf ein günstiges Ressourcenmanagement zu achten wäre – konkret materiell wie auch im Ideal.
Den Mai-Eintrag widmete ich darauf konsequenterweise dem empfundenen Maß an Zufriedenheit in unseren Beziehungen – insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen des Lebens in unserer heutigen Zeit.
Im Juni erinnerte ich daran, nicht zu vergessen, daß all unsere als Erwachsene eingegangenen Beziehungen mit ihrer anhängigen Verantwortung aus der Gestaltung unserer persönlichen Freiheit hervorgegangen seien; dies erweiterte ich im Juli-Eintrag um das Paradoxon des allseitigen Gewinns, der aus der freiwilligen Selbstbeschränkung sämtlicher Beziehungsbeteiligten hervorgehen würde.
Beständigkeit und Nachhaltigkeit, die Grundlagen jeder Form von echter Verbindlichkeit, war nochmals mein Thema im August – was den September-Eintrag vorbereitete, in dem ich dazu aufrief, den Kernwerten ethischer Mehrfachbeziehungsführung auch in weniger ersprießlichen Phasen treu zu bleiben. Um dies zu verdeutlichen, wählte ich für den Oktober-Eintrag ein geradezu melodramatisches Beispiel, bei dem unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen, Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treibt, wenn wir uns unhinterfragt normgesellschaftlichen Erwartungen überlassen.
Das Leben als Person mit Mehrfachbeziehungswunsch in der Normgesellschaft und ihrer Ellbogenmentalität begleitete uns dann auch hinein in den November – zusammen mit dem Wunsch nach authentischer Gewahrsamkeit, jenseits von grell-vereinfachendem Populismus.
Dieses bunte Paket rundete ich im Dezember mit dem Aufruf ab, ein solches „Dazwischengeraten“, welches unsere Lebensweise unweigerlich auf diese Weise mit sich bringt, nicht nur auszuhalten, sondern sich vielmehr als Quelle eigenen Selbstvertrauens zu erschließen.
Wenn ich diese bunte Liste des abgelaufenen Jahres noch einmal betrachte, freue ich mich einerseits über ihre Vielfalt – und ihre Bedeutsamkeit.
Andererseits regt mich der Inhalt auch noch einmal zum Nachdenken an – insbesondere im Angesicht einer derzeit sehr herausfordernden Weltlage und dem allgegenwärtigen Unfrieden, der aktuell an vielzuvielen Orten zu verspüren ist.
Denn „Orte“ – das ist ja nicht nur ein konkreter Begriff und beschreibt tatsächliche Stätten wie Charkiw oder Khartum. „Orte“ können auch Begegnungsräume sein, wie eben unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.
Und in diese Orte zieht der Unfriede der Welt am Ende doch auch ein; strapaziert, zermürbt, und erschöpft sie mit den täglichen großen und kleinen Meldungen des Außens: Von diffus-bedrohlichen weltweiten Kriegen und Krisen angefangen – bis hin zu persönlich spürbareren Berührungspunkten wie Klimawandel, Inflation oder Arbeitskräftemangel.
Und haben solche steten Tropfen der Verunsicherung erst einmal den Stein unserer Standfestigkeit und Toleranz unterspült, bildet sich darunter ein tückischer Morast an zunehmender Irritation, in der auch unsere soziale Flexibilität einzusinken droht.
Wodurch unsere Nahbeziehungen letztendlich zu leiden beginnen – da kann der Oligotropos noch so schön über Ressourcenmanagement, Wahlfreiheit oder Achtsamkeit schreiben…
Derzeit hängen Wahlplakate in unserer Republik. Auf manchen von ihnen stehen Schlagworte wie „Hoffnung“ oder auch „Zuversicht“ ¹.
Das sind gute Wort, die unser Land in der Tat auch in Zukunft benötigt. Und auch in unseren Beziehungen, für die Liebe darin, benötigen wir ganz unbedingt Hoffnung und Zuversicht. Wenn die konstanten Tropfen der Verunsicherung allerdigs fallen und fallen, ihre Frequenz sogar stärker und regelmäßiger zu werden scheint… – dann wird auch aus Hoffnung und Zuversicht über kurz oder lang ein so arg verdünnter Stoff, daß selbst dieser uns nicht mehr durch unseren Alltag tragen kann.
Irgendwann haben wir lange genug zugewartet – auf das Wunder, welches eh nicht kommt; darauf, daß sich die Dinge doch noch positiv wenden; daß es schon nicht so schlimm ist und wir es noch länger aushalten könnten.
Nein.
Irgendwann ist der Sprit schlicht erschöpft, die Geduld am Ende; selbst unsere Zuversicht ist schließlich durchgewetzt, so daß wir uns wund, schutzlos und ausgeliefert fühlen– ein unerträglicher Zustand, es geht nicht(s) mehr.
In dieser Verfassung wird unser Blick gehetzt: „Was? Der Wocheneinkauf ist erneut 20€ höher ausgefallen – da war doch gerade vor ein paar Wochen erst so eine Steigerung…!?“ „Das Auto ist schon wieder kaputt – hat der Mechaniker trotz all seiner Beteuerungen bei der Abholung neulich doch geschludert?“ „Unsere Kollegin – was stimmt nicht mit der, daß sie uns mal als Seelenmülleimer in der Mittagspause beansprucht – um uns eine halbe Stunde später für irgendeine mißliebige Kleinigkeit Zusatzarbeit aufzubürden…?“ „Und erst unsere Partner*innen, wie die schon wieder gucken…, bin ich in deren Augen heute mal wieder zu müde, zu fett, zu unperfekt, nicht sexy genug???“
So geht es im Moment einer Menge Menschen. Zu vielen. Und weil es uns so geht, beginnen wir, unter Stress in Unterstellungen und Annahmen zu operieren. Wir schämen uns für allzumenschliche Kleinigkeiten (die auch uns widerfahren) vor uns selbst; gleichzeitig versuchen wir irgendwo Schuld zuzuweisen, denn das ist alles, was gerade am Ende unserer Kräfte noch geht – und jemand anders soll es verdammt nochmal besser machen oder wenigstens verändern, damit es für uns jetzt erträglicher wird.
Wenn wir in dieser Weise über Errungenschaften wie Nachhaltigkeit, Wahlfreiheit und Authentizität längst hinaus sind und diese schon hohl klingen, weil sie keinen Halt mehr geben; wenn selbst Hoffnung und Zuversicht in solch einer Lage aufgebraucht sind – da habe ich mich gefragt, was fehlt.
Was uns dieser Tage vor allem fehlt, ist Vertrauen.
Vor allem jenes aus einem Schatz erlebter Erfahrungen zugesprochene Vertrauen, über das der US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Kulturturkritiker Henry Louis Mencken einst sagte, daß „es ein Gefühl sei, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde.“
Bzw. dieses gewähren lassende Vertrauen, von dem die deutsche Lyrikerin Damaris Wieser vor einiger Zeit schrieb, daß es „das Abschaffen unserer ständigen Kontrolle der Mitmenschen“ sei.
Ja, noch mehr: Genau das Vertrauen, welches der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran „eine Oase des Herzens“ nannte, „die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird“.
Erfahrungsschatz? Gewähren lassen?? Jenseits des Denkens???
Hat das tatsächlich etwas mit diesem von uns viel gesuchten und dringend benötigten Vertrauen zu tun? Hatte der englische Schriftsteller Samuel Johnson schon vor 300 Jahren Recht, als er schrieb, daß es „keine Freundschaft ohne Vertrauen, kein Vertrauen ohne Integrität geben“ könne?
Das Ethymologie-Wörterbuch des Dudens² leitet vom Wort „Vertrauen“ sofort auf das Wort „trauen“ weiter – „trauen“ so verwendet wie in dem Satz „Kann ich dir trauen?“
Dort wiederum ist im Duden zu lesen:
»trauen – Das gemeingermanische Verb mittelhochdeutsch trūwen, althochdeutsch trū[w]ēn, gotisch trauan, englisch to trow, schwedisch tro gehört im Sinne von „fest werden“ zu der unter ↑treu behandelten Wortgruppe. Aus dem urspünglichen Wortgebrauch im Sinne von „glauben, hoffen, zutrauen“ entwickelte sich die Bedeutung „vertrauen schenken“ und aus reflexivem „sich zutrauen“ die Bedeutung „wagen“.«
Die Weiterleitung zu ↑treu kennen wir hier auf meinem bLog schon seit Eintrag 66:
»Die heutige Form geht auf mittelhochdeutsch triuwe zurück. Vergleiche aus anderen germanischen Sprachen gotisch triggws „treu, zuverlässig“, altenglisch [ge]trīewe „treu, ehrlich“ (englisch true „treu, wahr, richtig, echt“) und schwedisch trygg „sicher, getrost“. Die Wortgruppe gehört zu dem indogermanischen *deru „Eiche, Baum“, zu dem auch ↑Trost (eigentlich [innere] Festigkeit) und ↑trauen (eigentlich: „fest werden“) gehören. Das Adjektiv treu bedeutet demnach eigentlich „stark, fest wie ein Baum“.«
Ok…, nach soviel Sprachgeschichte halten wir fest: „Vertrauen“ ist in gewissem Sinne in sich selbst begründet – ich kann es (so wie bei der Stabilität eines Baumes…) erst erfahren, wenn ich mich darauf einlasse bzw. es belaste, ob es trägt.
Plus: Das deutsche Sprichwort, welches noch an an manchen alten Fachwerkhäusern als Balkeninnenschrift zu lesen ist, ist darum ebenfalls folgerichtig:
„Vertrauen kommt von Treue – und geht auch mit ihr.“
Daß Vertrauen Treue oder – wie ich hier auf meinem bLog oftmals lieber sage – Loyalität benötigt, habe ich im erwähnten Eintrag 66 schon festgehalten, als ich Wikipedia zitierte: »Treue (mhd. triūwe, Nominalisierung des Verbs trūwen „fest sein, sicher sein, vertrauen, hoffen, glauben, wagen“) ist eine Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ausdrückt. Im Idealfall basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen beziehungsweise Loyalität.[…]«
Womit Samuel Johnson mit seiner Integrität gut im Rennen liegt – denn die Definition von Integrität als Bestandteil der Loyalität ist eines meiner Lieblings-Wikipedia-Zitate seit dem frühen Oligoamory-Werte-Eintrag 3: „…die fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln.“
Vertrauen ist demnach tatsächlich etwas, das wir Menschen nur „erfahren“ können. Durch faktisches Denken oder intellektuelle Argumente können wir weder davon überzeugt werden, noch andere dazu bekommen, uns zu vertrauen. Also ist auch Khalil Gibrans Oase damit vor dem bloßen Verstand in der Tat sicher. Das ist zwar sprituell und romantisch gesehen zunächst eine gute Nachricht – aber für unsere verrückte Zeit hält dies zugleich die Herausforderung bereit, daß wir uns zum Vertrauen durch reines „zur Besinnung kommen“ eben gerade nicht entschließen können, sondern daß dieser Schritt auf einer anderen Ebene gegangen werden muß.
Diesen zunächst knifflig wirkenden Zusammenhang, der beinahe schon widerspüchlich ist, hat für mich der zeitgenössische Aphoristiker Dirk Hintze äußerst klug folgendermaßen ausgedrückt:
„Vertrauen ist ein geliehenes Geschenk.“
Denn konkret auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen angewendet, verschenken wir unser Vertrauen ja vor allem genau dann, wenn wir unsererseits durch die Empfangenden bereits erfahren, daß diese, hm, postalisch gesprochen, ein „sicherer Ablageort“ dafür sind. Uns wurde also offenbar von der anderen Seite ebenfalls schon Vertrauen wiedergespiegelt, z.B. in irgendeiner Form von Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit oder der schon benannten Integrität.
Vor allem durch die Gegenprobe bestätigt sich die Grundidee: Zieht man aus einer Beziehung Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Integrität ab, war’s das sogleich mit dem Geschenk – und es zeigt sich, daß Anerkennung und Wertschätzung in Form von Vertrauen zwar „verliehen“ werden, sich dieses „Geschenk“ aber sofort in Luft auflöst, sobald die dafür Grund gebenden Erfahrungen nicht mehr wahrgenommen werden.
Und Khalil Gibran liegt goldrichtig, wenn es beschreibt, daß dafür keinerlei Denken notwendig, ja, es sogar abträglich, ist: Die Erfahrung von Vertrauen ist ein innerlich zusammengetragener Schatz an Momenten, denen wir situativ und daher intuitiv im Augenblick des Entgegenbringens Bedeutung verliehen haben. Die allermeisten Erfahrungen der Vergangenheit könnten wir daher mit dem Verstand auch gar nicht mehr bennenen – heute ist das Ergebnis jedoch, daß eine andere Person unser Vertrauen hat – oder eben nicht.
Damaris Wieser wiederum konkretisiert, daß „Vertrauen“ Teil jener Sphäre ist, in der auch Liebe und Freiheit zuhause sind. Denn deren Antagonisten (Widersacher) heißen Kontrolle und Sicherheit – und um Letztere geht es beim Vertrauen ja gerade nicht: Der Ast wird halten – und das „erwarte“ ich, bevor ich den Fuß darauf setze – ich setze den Fuß auf – und er hält in der Tat.
Daß wir hingegen heutzutage bei Stress in Mikromanagement verfallen – und jeden wie auch immer abwegigen Zweig im ganzen Wald so minutiös wie überflüssig zuvor prüfen müssen, erklärt daher über unsere Gegenwart sehr viel…
Bleibt mir fast nur noch, vor Henry Louis Mencken den Hut zu ziehen, der in meiner Lesart den Rahmen um das Vertrauen mit dem „mehr als die Summe seiner Teile“ erweiterte, so, wie ich es mir in der Oligoamory oft wünsche: Das Erleben von Vertrauen in die Anderen übersteigt sogar meinen eigenen ethischen Selbstanspruch. Ich erhalte durch mein Vertrauen noch mehr als meinen eigenen Einsatz zurück.
Umso mehr, da die „Tür des Vertrauens“ ja in beide Richtungen schwingt: Es geht eben nicht nur darum, stets von den anderen Vertrauenswürdigkeit zu verlangen, sondern diese auch regelmäßig selbst durch eigenes berechenbares und überwiegend unzweideutiges Verhalten zu erweisen.
Was wir demgemäß wirklich erfahren wollen, vor allem in unseren Nahbeziehungen, ist das, was in der Forschung „identifikationsbasiertes Vertrauen“ genannt wird. Es besteht aus den vier wichtigen Erlebensebenen:
- Enge Abstimmung, Offenheit und regelmäßige Kommunikation (wer hätt’s gedacht…?)
- Identifikation mit den Werten, Zielen und Bedürfnissen der betroffenen Beteiligten
- Gemeinschaft zwischen den Vertrauenden
- Gegenseitige Sympathie und die Entwicklung einer emotionalen Bindung
Ob wir jenseits privater Beziehungen jemals sogar diese letzte Ebene erreichen können? Ich glaube, dazu müsste unsere Gesamtgesellschaft deutlich anders aufgestellt sein, als sie es gegenwärtig ist.
Manchmal müssen wir sogar dafür Vertrauen vorstrecken, so wie vielleicht eine unerschrockene Löwenzahnpflanze instinktiv auf ausreichend Licht und Nährstoffe vertraut, während sie eine gepflasterte Oberfläche durchbricht.
Denn auch das hat unsere Welt längst erwiesen, daß solch ein scheinbar unbegründet optimistisches Vertrauen weit weniger absurd ist, als es im ersten Moment erscheinen mag.
Als im November und Dezember 1989 in der damaligen Tschechoslowakei im Verlauf der dortigen „Samtenen Revolution“ ein maßgeblicher Teil des „Eiserne Vorhang“ fiel, erschien kurz vor Weihnachten in der Hauptstadt Prag ein anonymes Graffito an einer Mauer – mit den Worten:
„In einer Welt voller Misstrauen ist Vertrauen die Revolution.“
¹ Wahlkampfkampagne Bündnis90/Die Grünen anlässlich der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar 2025
² Duden Band 7: Das Herkunftswörterbuch, Ethymologie der deutschen Sprache, Nachdruck der 2. Auflage (1997), Verlag Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG
Danke an Enrique auf Pixabay für das Foto!