Ideal wozu?

Der Protagonist Robin von Loxley streift in der Fernsehserie von 1984 „Robin of Sherwood“ (Staffel 2, Episode 2 „Die Kinder Israels“) entnervt durch den dichten Wald. Er hat sich mit seinen Gefährt*innen gestritten, das gegenwärtiges Abenteuer scheint keinen guten Verlauf zu nehmen. Da er auf diese Weise vor allem mit eigenen Gedanken beschäftigt ist und er nicht darauf achtet, wohin sein Weg ihn führt, trifft er mit einem Mal in einer dunsterfüllten Schlucht auf eine Manifestation seines bisherigen spirituelles Ratgebers – den Wald- und Jagdgott Herne. Herne fragt ihn, warum er gekommen ist – und der frustrierte Robin gibt zu, daß er eigentlich genug hat und ihm am liebsten die Treue brechen würde. Nach einem kurzen Dialog entläßt der weise Herne Robin jedoch mit folgenden Worten:
Herne: „Deine Pfeile müssen bereit sein!“
Robin: „Das Ziel ist zu weit weg – ich habe es verloren!“
Herne: „Dann ziele erneut!“
Robin: „Zu welchem Zweck? Für welches Ende?“
Herne: „Es gibt keinen Ende und keinen Anfang. Es genügt, nur zu zielen.“
Morning Glory Zell-Ravenheart, die geistige Mutter und Namensgeberin der Polyamory, war eine Idealistin.
Ihre Ideale bezog sie aus ihrem Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft der Liebe – wie ihn vielleicht nur diejenigen empfinden konnten, die ihre Jugend und junge Erwachsenenphase in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Kalifornien erlebten –, aus ihrem neopagan-naturreligiösem Weltbild – an dem sie sich, einmal aufgetan, zeitlebens orientierte –, sowie der Literatur – speziell dem Werk des US-amerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers Robert A. Heinlein.
Die Liebe begriff Morning Glory, die zu Anfang noch schlicht Diana Moore hieß, als die große Wandlerin und Hinterfragerin von Umständen, von welchen die meisten übrigen Menschen annahmen, daß diese „schlicht so zu sein hätten, weil sie doch schon immer so waren“. Und zugleich war die Liebe auch Ansporn für sie, solchen Umstände immer mit einem Maß von mitmenschlicher Angemessenheit sowie Aufmerksamkeit für die ihnen innewohnenden Dynamik real gelebten Lebens zu begegnen. Für alle Unternehmungen, derer sich Morning Glory später auf dieser Basis annahm, war das eine bedeutende, ebenso achtsame wie bodenständige Grundlage, von der insbesondere 1990 ihr neues organisches Konzept für ethische Mehrfachbeziehungen (ja, die Polyamory!) profitierte.
Der Liebe begegnete Morning Glory allerdings zunächst schon 1965 wieder, als sie sich auf ihre eigene spirituelle Positionsbestimmung begeben hatte und sich dabei dem Neopaganismus und dem neuen Hexentum zugewandte, welche beide in ihren Kernsätzen und Ritualzirkeln den Worten „Vollkommene Liebe und vollkommenes Vertrauen!“ (Orig.: „Perfect Love and Perfect Trust!“) Ausdruck zu verleihen suchten. Naturspiritueller hexischer Neopaganismus der späten 1960er Jahre vereinte eine Sicht auf die Erde als lebenden, energetischen Organismus mit feministischem Gedankengut, welches ein eigenständig weibliches, seelisch-psychisches sowie kreativ-schöpfendes Geistesleben propagierte – und feierte vor diesem Hintergrund eine weltverbindende Gesamtschöpfung mit einer starken Betonung der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Die Hexenzirkel ihrer Zeit bildeten sich autonom, ohne hierarische Überorganisationsformen, und zielten darauf ab, intern frei von Standesdünkel, gesellschaftlichem Status oder Geschlechtergrenzen zu sein. Begriffe wie „Gemeinschaft“, „Integrität“, „Konsequenz“, „Verantwortung“ und das schon genannte „Vertrauen“ untereinander waren hier von Bedeutung – als Grundlage einer gerichteten und persönlich wirkmächtigen Veränderung der bestehenden Realität mittels des eigenen Willens.
Kenner*innen der Materie entdecken auch hier leicht diejenigen Elemente, die 25 Jahre später mit in die Formulierung der Polyamory eingeflossen sind…
1973 schließlich – Morning Glory hatte bereits mit einer offenen Ehe experimentiert – traf sie während einer neopaganen Convention auf ihren späteren langjährigen Lebensgefährten Timothy „Otter“/„Oberon“ Zell, Mitglied der Gruppe „Church of All Worlds“ (CAW), der sie schließlich nicht nur mit dem selbstverwirklichenden Gedankengut der „Humanistischen Psychologie“ nach Abraham Maslow, sondern auch mit den progressiven Ideen des oben erwähnten US-amerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers Robert A. Heinlein vertraut machte. Insbesondere dessen beide Werke „Fremder in einer fremden Welt“ und „Revolte auf Luna“ (siehe auch Eintrag 47, letztes Drittel) skizzierten fiktionale, jedoch plausible alternative Gesellschaftsmodelle, geprägt von Gleichberechtigung, Transparenz, Aufeinanderbezogenheit, Integration und liberaler Sexualmoral – vorwiegend gelebt in überschaubaren Kleingemeinschaften.
Da die CAW ihre eigenen lokalen Gruppen an diesem literarischen Modell auzurichten versuchte, entstand aus ihrem Mitvollziehen (seit 1984 Dreierbeziehung mit Oberon Zell und Diane Darling) letztendlich die Keimzelle der „Polyamory“, welcher Morning Glory schließlich mit einem Artikel in der Mitgliederzeitschrift der CAW zum Durchbruch verhalf.
Diese letzten drei Absätze geschrieben bzw. von Euch gelesen, scheint Morning Glory Zell-Ravenheart nahezu eine Art „Heilige Hippie-Mutter Maria“ der Mehrfachbeziehungen gewesen zu sein: Beherzt, in sich ruhend, voller Ideale, leidenschaftlich, dabei zielstrebig unterwegs auf dem Weg des sich-selbst-wirklich-Machens (der „Self-Realization“ nach A. Maslow).
Irgendwie war sie das alles vermutlich tatsächlich auf gewisse Weise. Und zugleich war sie es auch nicht, denn sie war schlicht ebenfalls einfach „eine von uns“, was in den Interviews und Geschichten von und mit ihr selbst fröhlicherweise stets erneut gut zu erkennen ist.
Neugierig? Hier zwei bekanntere Beispiele:
Als sie mit 20 Jahren Mitglied in einem dianischen (also der Göttin Diana gewidmetem) und dadurch rein weiblichen Hexenzirkel war, rebellierte sie gegen die Auflage, währen der Zeit ihrer Gruppenangehörigkeit zölibatär – also keusch – zu leben. Ihrem Protest als sexuell aktive und selbstbestimmte Frau verlieh sie Ausdruck, indem sie für sich als Hexenname die Bezeichnung „Morning Glory“ (dt.: „Morgen-Pracht“) wählte – was zwar im Englischen auch der Name für die Pflanze „Prunkwinde“ ist (und botanisch hergeleitete Hexennamen sind nichts unübliches…) – aber eben auch die englische Vulgärbezeichnung eines maskulinen Phänomens steht, welches wir in Deutschland als „Morgenlatte“ kennen. Mit diesem Namen identifizierte sie sich nichtsdestoweniger fortan und führte ihn bis zu ihrem Tod 2014.

1985, als sie bereits 10 Jahre mit Oberon Zell-Ravenheart in offener Ehe verheiratet war, entwickelte sie gemeinsam mit diesem ein Verfahren, um Ziegenkitze in Einhörner umzuwandeln (ja, ihr habt richtig gelesen) – eine Technik, die erfolgreich mehrere Male dank der Verflechtung der zu Beginn noch stark formbaren Keratinstränge der knospenden Kopfhörner bei verschiedenen Zicklein durchgeführt wurde. Obwohl die Herangehensweise sogar patentiert wurde, wandte sich Morning Glory nach wenigen Versuchen schließlich von dieser Form von „Wachstumsmanipulation“ ab, da sie dies letztlich nicht mit ihren naturreligiösen Werten in Einklang bringen konnte.
Morning Glory war also definitiv jemand mit Idealen, aber eine „Heilige“ – wenn man dies als Sinnbild einer Person verstehen möchte, die „über den Dingen steht“ – war sie ganz sicher nicht. Wie auch, war sie doch von 1984 an bis zu ihrem Tod Teil einer sehr dynamischen Mehrfachbeziehung, die während eines Zeitraums von 30 Jahren zwischen wenigstens drei und maximal sechs beteiligten Partner*innen fluktuierte.
Ob man in so einer Zeit seinen Idealen immer unumwunden treu ist? Niemals streitet? Sich nie irgendwann einmal zurückgesetzt empfindet? Niemals der Versuchung erliegt, der Wahrheit zu den eigenen Gunsten einen etwas bunteren Mantel anzuziehen (um Walter Moers¹ an dieser Stelle zu zitieren)?
Ich glaube, daß wäre übermenschlich – und meiner Ansicht nach verkündet insbesondere und ausgerechnet Morning Glorys „Geschenk der Polyamory“ an die Welt, wie sehr gerade auch zutiefste Menschlichkeit einen maßgeblichen Teil ihrerer Werte und Ideale bestimmt haben muß.
Denn der Text „A Bouquet of Lovers“ ², in dem sie 1990 in der Zeitschrift „Green Egg“ zum ersten Mal das Wort „polyamor“ verwendet, ist kein Manifest von Grundsätzen und Regeln– und so liest es sich auch überhaupt nicht. Es ist vielmehr eine…, ich würde sagen, eine verschriftlichte „Möglichmachung“, wie eine Mehrfachbeziehung auf ethische Weise für alle daran Beteiligten geführt werden könnte.
Denn wie ich in Eintrag 49 bereits schrieb, war Morning Glory in allererster Linie eine Praktikerin, die sich ihrer eigenen Schwächen und denen ihrer Mitmenschen recht genau bewußt war. Aus eigener Beobachtung und Erfahrung, sowie der humanistischen Psychologie Abraham Maslows wußte sie, daß Menschen durchaus in der Lage sind, altruistisch, bewußt und intentional (zielgerichtet) zu handeln; daß sie aber auch zu genau gegenteiligem Handeln in Form von Egoismus, Gedankenlosigkeit und Impulsivität in der Lage sind – Letzteres insbesondere, je weniger ausgeprägt das eigene Maß an Selbstverwirklichung gelungen, der Druck der eigenen empfundenen Bedürftigkeit indessen hoch wäre.
Gerade dadurch enthält ihr polyamores Vermächtins keinerlei „Du sollst…!“ dafür aber umso mehr „Goldenen Regel“ – die ja selbst tatsächlich mehr ein goldenes „Am besten wäre es….“ ist: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“
Darum haben in der Polyamory auch Eifersucht und Selbstzweifel durchaus einen Platz. Und darum können in der Polyamory auch Unaufrichtigkeit, Intransparenz sowie Illoyalität vorkommen – denn diejenigen, die ethische Mehrfachbeziehungen führen wollen, sind selbst auch (nur) Menschen.
Und darin wäre die Polyamory andernfalls doch auch eine dogmatische und recht tyrannische Beziehungsphilosophie, wenn ihre Ideale dergestalt streng daherkommen würden, daß ihre Sympathisanten an der Kompromisslosigkeit und Inflexibilität ihrer Anforderungen regelmäßig verzweifeln müssten…
Ideale, so sagt es der bereits mehrfach auf diesem bLog zitierte US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapieforscher Stephen Hayes, wurzeln allerdings in unseren persönlichen Werten. Werte, die sich z.B. nach sozialen Maßstäben ausrichten bzw. von denen wir eine Steigerung unserer Lebensqualität, innere Bereicherung oder sogar eine Reifung unserer Persönlichkeit erhoffen.
Damit aus Werten Ideale werden, müssen wir genau jenen Schritt vollziehen, bei dem wir bloßes persönliches Nutzdenken von einem inneren Streben nach Sinn trennen.
Denn – ganz praktisch auf die Polyamory bezogen, könnte ich sonst vollkommen mit mir übereinstimmend meine Partner*innen belügen, weil ich mir so einen Vorteil verschaffen oder schnell ein Bedürfnis befriedigen kann – wobei ich Kollateralschäden, z.B. bei anderen Beteiligten potentiell Leid zu verursachen, in Kauf nehme.
Die Polyamory ist jedoch eben auch idealistisch. Es geht in ihr – Morning Glory sei dank! – um einen tieferen Sinn, eine inhärente Ethik: Wie führen wir zu mehreren eine Beziehung ohne unwillkürlich oder gar willkürlich Leid zuzufügen – in der dafür stattdessen allen Beteiligten ein erweiterter Beziehungsrahmen gewährt wird, wo von gemeinsame Ressourcen zu profitieren ist sowie Mitfreude möglich wird?
Stoßen wir uns daher an den Idealen der Polyamory dabei dennoch immer wieder den Kopf, dann kann das zwei Gründe haben.
• Zu einen könnte es sein, daß unsere eigenen Werte derzeit ehrlicherweise nicht mit denen der Polyamory übereinstimmen. Wir legen z.B. eventuell auf Aufrichtigkeit, persönliche Integrität und Verantwortlichkeit auf unserem Weg der Bedürfniserfüllung weniger Wert, als es in einer komplexeren, ethischen Mehrfachbeziehungsphilosophie gewünscht und erforderlich ist.
An diesem Punkt müssten wir unsere aktuellen persönlichen Werte auf den Prüfstand stellen und sie gegebenenfalls anpassen – oder uns eingestehen, daß wir (aus welchen eigenen guten Gründen auch immer) bislang unserem Nutzdenken einen höheren Stellenwert einräumen als dem oben erwähnten Zugewinn an Sinn. Was also in sich weder ein Fehler der Polyamory noch von uns sein muß – aber möglicherweise passen wir gerade schlicht nicht zueinander.
• Zum anderen wäre es möglich, daß wir vielleicht – ohne es wirklich zu bemerken – die Ideale so weit über die Werte unseres Selbstbildes erhöht haben, daß wir uns regelmäßig an ihnen als scheiternd erleben. Und das tut weder uns gut, weil wir unser eigenes Handeln zunehmend als fehlerhaft und/oder ungenügend erleben und dies unserer Eigenbewertung hinsichtlich Beziehungsführung erheblich abträglich ist – noch der Polyamory, die uns irgendwann auf diese Art als so hochfliegend und lebensfremd erscheinen muß, daß es zu dem bekannten: „Habe ich versucht, aber es war zu schwierig…“ führt.
Beide obigen Punkte vereinen sich jedoch in einer deutlich freundlicheren Synthese, in der wir und die Polyamory prima koexistieren, ich würde sogar sagen, gedeihen können:
Denn es ist erlaubt zu scheitern! Ein bißchen wie in der fälschlicherweise Albert Einstein zugeschriebenen Weisheit „Es ist erlaubt zu scheitern. Wirklich versagt haben nur die, die es niemals versucht haben.“ Aber eigentlich ist es noch milder, noch menschlicher gemeint: Nicht alles (gleich) richtig zu machen ist unabdingbarer Teil der Erfahrung von ethischen Mehrfachbeziehungen.
Zugleich wird dabei durchaus etwas Selbstlosigkeit erwartet. Nach dem Sturz liegenzubleiben und dabei entweder die Schuld bei „den anderen“ zu suchen und/oder ersatzweise in Selbstmitleid zu verharren sind keine nachgerade ethischen Optionen. Stattdessen gelten vielmehr die visionären Worte der österreichischen Aphoristikerin Marie von Ebner-Eschenbach (die ebenfalls schon verschiedentlich in diesem bLog zu Wort kam) – welche derzeit tausendfach als Mem in den sozialen Netzwerken zu finden sind: „Aufstehen, Krone richten, weitergehen!“ Denn Erfahrungen benötigen unseren Mut, egal wie diese ausfallen, mit der gewonnen Einsicht danach noch weitere machen zu wollen.
Womit sich mein Bogen (oh, wie passend!) zu Robin Hood in meiner Anfangsszene schließt. Morning Glory Zell-Ravenheart formulierte die Polyamory in einer Weise, daß es darin eben nicht (nur) um das Treffen, das Erreichen eines konkreten Ziels geht, sondern vor allem um unsere Absichten und die Richtung, die wir dabei einschlagen.
Insbesondere das kleine Wort „ethisch“ in „ethische Mehrfachbeziehungen“ hebt dadurch hervor, daß der Prozess und das Bemühen hinter unserem Handeln genau genommen fast bedeutsamer sind, als das angestrebte oder erhoffte Ergebnis.
Stets in einem Idealzustand existieren zu wollen, ist hingegen schlicht unrealistisch – es war ebenfalls Marie von Ebner-Eschenbach, die einst beschwichtigend sagte „Ideale sind Leitsterne; sie leuchten uns den Weg und geben uns die Kraft, unsere Ziele zu erreichen.“
Die Oligo- und Polyamory wären dabei – um in diesem Bild zu bleiben – Orientierungshilfen, Richtungsweiser bzw. Landkarten für so einen Weg, Möglichmachungen eben.
Uns entscheiden, die Route wählen und gehen müssen wir natürlich trotzdem selbst.
Mit den Worten von Erich Kästner: Laßt es Liebe sein! ³
¹ Walter Moers „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“, Penguin Verlag; 1999
² Der Text des „Bouquet of Lovers“ ist hier leider nur in englischer Sprache verfügbar.
³ Das Zitat „Laßt es Liebe sein“ stammt aus der Geschichte „Das fliegende Klassenzimmer„ (1933) des deutschen Schriftstellers und Publizisten Erich Kästner und wird von einer der Hauptfiguren, „Martin Thaler“, gesprochen.
Danke an Sam von DGSstudios auf Pixabay für das KI-generierte Bild!
Und erneut herzlichsten Dank an Oberon Zell-Ravenheart für die höchstpersönliche Überlassung der privaten Fotos von Morning Glory und ihm. Sämtliche Rechte bei Oberon Zell-Ravenheart, CAW.