Eintrag 90

Beziehungs-Anatomie

Die US-amerikanische KrankenhausserieGrey’s Anatomy verdient mit ihren demnächst 20 Staffeln ganz sicher das Prädikat „episch“. Mit kleinen Unterbrechungen wird dort seit 2005 (gut: im deutschsprachigen Raum seit 2006…) geheilt, gehofft, gebangt, geliebt, gestorben, gewonnen und getrennt was das Zeug hält.
Wie bei den meisten Krankenhausserien setzt das rein Medizinische auch bei diesem Format eigentlich vor allem bloß den Rahmen der Handlung. Im Detail – und ganz vorwiegend – geht es um die zwischenmenschlichen Beziehungen des Krankenhauspersonals, ihrem Wohl und Wehe auf der Suche nach…
Ja, was eigentlich?
Auf den einschlägigen Streamingdiensten wird die Langzeit-Ausstrahlung sogar als „LGBTQ-Serie“ verschlagwortet (und empfohlen) – Grund genug also, um allein darum hier auf meinem bLog zu erscheinen?
Nun ja… In der Serie dürfen lesbische und schwule Menschen mitspielen, und das Thema der geschlechtlichen Identität – und auch der Wechsel dieser – wird in mehreren Folgen behandelt.
Allerdings könnte man die Serie aus polyamorer Sicht wiederum durchaus eher als schaurig-fröhlichen Verkehrsunfall einer überraschend traditionell-konservativen Gesellschaftsmoral betrachten.
Denn einerseits: Zwischen Assistenz- und Oberärzten wird heftig geflirtet und gepimpert, was das Zeug hält. Da gibt es reihenweise mal Verliebtheits-, mal Trost- und selbst Vergeltungssex…
Aber andererseits: Genau genommen ist diese bunte Reihe, in der mit schöner Regelmäßigkeit Mißverständnisse im Raum stehen gelassen werden, man sein Gegenüber möglichst unvorteilhaft falsch auffasst und vom Anderen im Zweifel die negativsten Beweggründe annimmt, bloß eine einzige lange Jagd nach der oder dem letztendlich „Einen“.
Und so ist das Etikett „LGBTQ“ auch leider nur auf ein zartes Rütteln an der Heteronormativität¹ begrenzt. Ob lesbisch oder schwul: Auch diese Mitwirkenden des Regenbogens suchen wie selbstverständlich nur ihr eines seelenverwandtes Gegenüber, um mit diesem für den Rest des Lebens fortan glücklich zu sein. Gleichfalls die Transperson, die erwartungsgemäß ebenso auf ein Dasein an der Seite einer anderen Person hofft, die sie so akzeptiert, wie sie ist… – …aber die Betonung bleibt eben auf „einer“.
Weil also die Serie in dieser Eigenschaft so hinreißend mononormativ² daherkommt, scheint sie schon dadurch auf den ersten Blick jenes oben erwähnte (Schlacht)Fest an allüberall aufflammendem Beziehungs-Chaos zu versprechen.

Zum einen ist das rege Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit variierenden Genital-Kontakten ja gewissermaßen ein stillschweigend legitimierter Frei- und Erkundungsraum der monoamoren Gesellschaft für sich ausprobierende Single-Menschen. Dafür werden selbst Kollateralschäden in Kauf genommen – denn schließlich geschieht dies alles in dem allgemein anerkannten Bestreben, das beste/passendste Pendant für sich zu finden.
So werden mit schöner Regelmäßigkeit Herzen gebrochen, heiße Bindungsschwüre geschworen, Beziehungskisten gezimmert, zusammen Wohnraum bezogen und sogar hastig geheiratet, nur um auf dem umkämpften Terrain die beste Partie zu sichern.
Und so kommt es, wie es kommen muß: In gleichermaßen schöner Regelmäßigkeit trennen sich die auf diese Weise konfigurierten Partnerschaften dann doch schließlich wieder; oftmals, weil plötzlich doch Seiten am Partnermenschen auftauchen, die man im Eifer des Gefechts völlig übersehen hatte – oder weil der eigene Glaube, da draußen könne eventuell doch noch ein genauer passendes Exemplar Partnermensch existieren, schließlich – von genug Zweifeln am „Bestand“ genährt – die Oberhand gewinnt…

Zum anderen wird die soeben beschriebene Dynamik obendrein durch den etwas kauzigen Anspruchs des mononormativen Ideals verstärkt, daß dieses „Spiel“ selbstverständlich zu dem Zeitpunkt aufzuhören hat, wenn der*die*das „Eine“ gefunden/errungen worden ist.
Wurde gerade noch mit der Hoffnung auf Erfahrungsgewinn und dem Sortieren von Kompatibilität durch diverse Betten getobt, so soll diese hormonelle Wallfahrt exakt in dem Moment enden, in dem an ihrem Ende der „heilige Gral“ der größtmöglichen Passgenauigkeit in Form des künftigen Lebenspartners gefunden wurde. Auch diese reichlich utopische, und menschlichen – sowie vor allem ganz individuellen – Wesenszügen so gar nicht angepaßte, Maxime leistet in der Serie (wie ja auch in der Realität) dem Zuspitzen der Dramatik, allerhand Leid und schließlich etlicher sich als alternativlos aufdrängenden Trennungen zusätzlich Vorschuß.

All die Zuschauer*innen der Serie, die bereits zuvor ohnehin gewisse Zweifel am „ewig zweisamen Bund fürs Leben“ hegten, reiben sich spätestens da stets aufs Neue die Hände: Grey’s Anatomy bestätigt wieder und wieder im Spiegel einer Fernsehserie die offensichtlichen Gründe für nach wie vor hohe Scheidungsraten³ – und damit genau genommen auch die strukturelle Dysfunktionalität dessen, was von ihren Kritiker*innen (speziell in der Beziehungsanarchie) als bigotte Mogelpackung „RZB“, der „Romantischen Zweierbeziehung“, tituliert wird.

Wir Leser*innen dieses bLogs – und auch ich als Schreibender – können diese Betrachtungsweise wahrscheinlich nachvollziehen. Denn ein Leben in Mehrfachbeziehungen konfrontiert uns ja exakt mit diesen Erscheinungen, bei denen man den Charakteren der Serie am liebsten gelegentlich zurufen möchte: „Hey, habt ihr euch schon einmal überlegt, was wäre, wenn ihr euch jetzt nicht zwischen zwei Leuten entscheiden müsstet!?“
Die Dynamik von Grey’s Anatomy, die davon lebt, daß es immer wieder darum geht, sich, selbst unter größten Schmerzen für alle Beteiligte, zu entscheiden, wäre selbstverständlich sogleich verpufft. Egal, ob bei der vorehelichen „Jagd“ stets immer nur ein Ziel in serieller Manier verfolgt und umworben werden darf – oder ob nach dem „Zieleinlauf“ ab sofort unantastbare Zweisamkeit zu herrschen hat, bzw. anderweitig sofortige Beziehungsauflösung die Folge sein muß.

Wir (ich schreibe das jetzt mal so kollektiv), das „Mehrfachbeziehungsvolk“, wissen indessen, daß wir durchaus in mehreren romantisch-intimen Liebesbeziehungen mit verschiedenen Menschen zugleich sein können. Und wir wissen, daß unsere Gefühle für zusätzliche weitere Personen auch dann aufkommen können, wenn wir uns bereits in „festen“ Partnerschaften befinden – und diese Verbindungen dürfen parallel existieren und müssen einander nicht unvermeidlich ablösen.
Ein Denken in Mehrfachbeziehungen begrüßt letztendlich das „und“ – und empfindet ein „oder“ als vorab reduzierende Konvention.

Warum schlagen wir uns aber in Mehrfachbeziehungen dann nicht so viel besser?
Wenn Grey’s Anatomy ihr „LGBTQ-Prädikat“ ernster nähme, wenn die Serie nicht nur Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, sondern auch Beziehungsformen und Liebesweisen inkludieren würde – wäre sie dann automatisch weniger hochdramatisch?
Ich glaube leider nicht, denn auf den zweiten Blick sind die Schlußfolgerungen, welche die Fernsehserie bezüglich unseres allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungs- und vor allem Beziehungsanbahnungsverhaltens nahelegt, dennoch ebenfalls für Mehrfachbeziehungen überwiegend anwendbar.

In den vergangenen Wochen habe ich mich nach einiger Zeit wieder verstärkt durch verschiedene Foren rund um unser Thema gelesen – und müsste nun zugeben, daß es häufig nicht gar so sehr anders in Mehrfachbeziehungswelten zugeht als in vorabendlicher Serienlandschaft.
Vor allem zwei Brennpunkte, welche die Macher*innen der Serie Grey’s Anatomy für stete Spannungsbögen regelmäßig bedienen – und die ich oben bereits kurz habe anklingen lassen – verwandeln auch für Beziehungen mit mehr als nur zwei Beteiligten das Leben rasch zum Melodram auf ganzer Linie.

Zu viel – zu schnell
Im Krankenhaus erfolgt das Kennenlernen bei der Arbeit, es folgt ein rasanter Flirt, bei dem sich Freunde und Bekannte noch mit Tipps und Spekulationen beteiligen dürfen – und nicht lange und die Kernbeteiligten finden sich zu einem körperlichen Stelldichein (meist) im Bereitschaftsraum der Klinik wieder. Das alsbaldige Herbeiführen einer sexuellen Begegnung scheint unumstößlich zum Kennenlern-Kanon zu gehören – und danach ist es entweder sofort „große Liebe“ oder wenigstens ein Fegefeuer entfachter Leidenschaften, weil irgendwelche Details nicht geklärt sind – was aber in jedem Fall auf Wiederholung und Fortsetzung drängt. Und weil das Nahumfeld ja den schwindelerregenden Prozess entsprechend mitbekommen hat und nun mit der flott initiierten Sexualität gewissermaßen „Tatsachen“ im Sinne gesellschaftlich akzeptierter Paarbindung geschaffen wurden, muß schnell der Rest einer vollumfänglichen Beziehung hinterheretabliert werden. Zumindest für den Augenschein – und wenigstens so weit, daß man sich selbst (und das potentielle Partnerwesen) davon mitüberzeugt (siehe dazu auch vorherigen Eintrag 89).
Zu Anfang dieses heutigen Eintrags habe ich die zugrundeliegende Moral von Grey’s Anatomy als „überraschend traditionell-konsevativ“ beschrieben.
Vielleicht ist die Serie aber durchaus tiefgründiger, weil sie das gezeigte hektische Verhalten der Beteiligten – mit dem sie manchmal den Untergang einer Beziehung zusätzlich noch schneller betreiben, als ihnen bewußt ist – gegen eine innere Sehnsucht ausspielt: Nämlich dem Wunsch nach Kennenlernen und gesehen-Werden, um sich über die Perspektive für echte Vertrautheit klar zu werden.
Monogamie mag uns als eine Art etwas seltsame (und im Kern vermutlich unnötige) Selbstbeschränkung vorkommen. Was in der Monogamie jedoch eben vielleicht für „nur einen“ Partnermenschen gilt, das gilt für uns in der Poly- oder Oligoamory doch auch. Die oben beschriebene, für Serien so sehr geeignete „Jagd“ ist lediglich das übriggebliebene Zerrbild einer Hoffnung, die in uns allen wohnt: Menschen um uns zu haben, die uns so annehmen, wie wir sind. Und im Gegenzug dafür Menschen um uns zu sammeln, denen wir trotz all ihrer Eigenheiten vertrauen.
Auch in der Poly- und Oligamory lassen wir uns aber oft zu schnell davon hinreißen, diesen Prozeß abzukürzen – oder möglichst schon das Ergebnis der Entwicklung vorzuziehen. So schaffen auch wir überstürzt „Tatsachen“ bei denen sich eventuell nach kurzer Zeit gleich mehrere Personen damit auseinandersetzen müssen, daß bestimmte Grundlagen, die genau für gemeinschaftliches Vertrauen, angemessene Wert-Schätzung und Gewißheit, die auf gesammelten Erfahrungen beruht, schlicht fehlen. Wodurch Selbst- und Fremdverunsicherung beginnen um sich zu greifen, profane Eigenschaften zu schwer erträglichen Eigentümlichkeiten werden und genau der Beziehungsfrieden, nach dem alle Beteiligten eigentlich für sich auf der Suche sind, sich genau nicht mehr einfinden wird.
Was direkt zum nächsten Punkt führt.

Stets das Schlimmste annehmen
Bei Grey’s Anatomy ist es gewissermaßen schon Manier: Die Charaktere, selbst wenn sie befreundet sind, schaffen es immer wieder, sich in drastischster Form mißzuverstehen. Dabei hilft enorm, niemals nachzufragen, sich hingegen sicher zu sein, was das Gegenüber will, braucht oder beabsichtigt – und natürlich: die Handlungen der anderen Personen so auszulegen, als ob diese bei ihrem Vorgehen den Vorsatz zu größtmöglicher Schadensverursachung hatten.
Wenn es keine Fernsehserie wäre, könnte man sich als Betrachter wundern, wie dies allein unter Menschen möglich ist, die einerseits einem engen Freundeskreis angehören und dort z.T. die biographischen Hintergründe von einander kennen – und die anderseits täglich buchstäblich Hand in Hand aufeinander abgestimmt arbeiten müssen, um Leben zu retten…
Aber nicht jede*r von uns muß täglich Leben retten – ok, abgesehen vom eigenen – oder?
Unsere menschlich-evolutionär verankerte Negativerwartung (siehe dazu auch Eintrag 43) trübt uns jedoch schon bei normal-etablierten Alltagsbedingungen gelegentlich die Sicht. Oft kommt dazu noch eine weitere ebenfalls typisch menschliche Eigenschaft, nämlich die Tendenz, Maßgaben des eigenen Handelns auch für alle Anderen als Allgemeingültig anzusehen (übrigens auch eine kognitive Verzerrung aus Eintrag 89: die Verzerrungsblindheit) – und dadurch Abweichungen davon als unklug oder geradewegs als absichtlich niederträchtig zu gewichten.
Wenn dazu nun noch ein weiterer Keim der Unsicherheit unsere so bestenfalls dösenden („schlafend“ wäre ja eine Beschönigung…) Hunde weckt, dann nehmen die meisten Angelegenheiten – speziell in Beziehungsdingen – einen wahrhaft unschönen Verlauf.
Insbesondere im Verbund mit dem oberen Abschnitt „Zu viel – zu schnell“ stellen sämtliche Beteiligte in sich eventuell fest, daß – um eine Tennis-Metapher zu benutzen – zu hastig zum Netz geeilt wurde – und noch überhaupt nicht genügend zu einer Verbindlichkeitsgrundlage beigetragen worden ist, die das Verhalten der übrigen beteiligten Personen als berechenbar oder (ausreichend) verlässlich erscheinen läßt. Dies gilt in so einem Moment selbstverständlich in besonderem Maße für potentiell neu hinzukommende Menschen, die gerade noch in der Kennenlernphase stecken. Dies kann aber auch urplötzlich für Bestandspartner*innen gelten, mit denen wir uns schon lange in gefestigten Beziehungsmustern wähnten.

Polyamory – und Oligoamory – sind Lebens- und Liebesweisen, die von ihrer Konzeption her diesen menschlichen Ausprägung mit gemeinsamen Werten entgegenkommen wollen.
Weil eben Fiktionen wie Grey’s Anatomy aber auch z.B. der Harry-Potter-Zyklus“ in ihrer Dramaturgie davon profitieren, daß selbst nahestehende Personen, die auf der gleichen Seite stehen, schlicht nicht miteinander sprechen, wollen die obengenannten Formen von Mehrfachbeziehung betonen, daß Gleichberechtigung und Teilhabe in einem Beziehungsnetzwerk elementar sind; daß dort jede Stimme, jede Idee, auch jedes Bedenken, gleichwürdig und auf Augenhöhe sowohl ausgedrückt als auch wahrgenommen werden sollte.
Dies bildet die Grundlage dafür, daß alle Beteiligten sich trauen, wirklich aufrichtig und transparent (= offen, zugänglich und unmittelbar) zu sein, wodurch es überhaupt erst eine Basis für gemeinsame Vertrauensarbeit und wahres Kennen-Lernen, was seinen Namen verdient, gibt. Wenn alle nach und nach auf diese Weise gewahr werden, daß auch die anderen Personen ihren Beitrag zum „Ganzen“ anerkennen, beginnt sich Verläßlichkeit auszubilden – und aus der kann irgendwann dann tatsächliches Vertrauen wachsen.

An einem etwas unwahrscheinlichen Ort habe ich dazu ein erstaunlich passendes Zitat gefunden. Robert Pölzer, Chefredakteur der Zeitschrift „Bunte“, schrieb zur Krönung des britischen Monarchen König Charles III. (Ausgabe 20/2023):
»Werte machen wehrhaft. Werte sind das Fundament der Liebe. Denn Liebe ist ohne aufrichtige Werte keine Liebe, sondern nur ein Spiel. Nur wer mit dem Herzen gibt, kann wahre Liebe erfahren.«

Wenn Herr Pölzer „wehrhaft“ sagt, dann meint er „widerstandsfähig“. Und Widerstandsfähigkeit benötigen wir – in all unseren menschlichen Nahbeziehungen – weil unsere Bedürftigkeiten eben eher dazu angelegt sind, uns hinzureißen, insbesondere in den Momenten, in denen wir unbewußt oder selbstvergessen, wie der sprichwörtliche Esel der Karotte, nur unserer nächstliegendsten Neigung folgen.
Über Widerstandsfähigkeit – gelegentlich auch Resilienz genannt – verfügen wir alle in unterschiedlichem Maß bereits seit unserem Aufwachsen. Aber nach heutigem Stand der Wissenschaft ist sie auch etwas, das wir in unserem weiteren Leben ausbauen dürfen.
Ich glaube daher fest, daß wir dahingehend wie gute Ärzte für uns handeln können:
Ein solides Fundament pflegen, unseren (Mehrfachbeziehungs-)Werten treu sein, im Zweifel das Tempo drosseln und lieber sorgsam statt überstürzt handeln – und zuversichtlich niemals gleich vom Schlimmstmöglichen ausgehen.
Denn so bedenklich, daß es einer OP bedarf, ist es im Liebesleben in fast allen Fällen, die ich je erlebt habe, normalerweise nicht.
Heute ist ein guter Tag, um Leben zu retten.



¹ Heteronormativität bezeichnet eine Weltanschauung, welche die Heterosexualität als soziale Norm postuliert. Zugrunde liegt eine binäre Geschlechterordnung, in welcher das anatomische/biologische Geschlecht mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung gleichgesetzt wird. Das heteronormative Geschlechtermodell geht von einer dualen Einteilung in Mann und Frau aus, wobei es als selbstverständlich angesehen wird, dass eine heterosexuelle Entwicklung vorgesehen ist und damit der „normalen“ Verhaltensweise entspricht – andere Aspekte der menschlichen Sexualität werden oftmals pathologisiert. Damit können Homophobie und andere Formen der sozialen Menschenfeindlichkeit einhergehen. Der Begriff der Heteronormativität ist zentral in der Queer-Theorie, welche die Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt.

² Mononormativität bezeichnet die Annahme, dass romantische und sexuelle Beziehungen nur zwischen zwei monogamen Partnern bestehen können oder normal sind, sich also auf Praktiken und Institutionen beziehen, die monosexuelle und monogame Beziehungen als grundlegend und „natürlich“ in der Gesellschaft bevorzugen oder bewerten (Quelle: Englischsprachige Wiktionary)

³ …aber steigen tun sie – entgegen medialer Gerüchte – nicht mehr; siehe HIER (Quelle: Statista)

Der letzte Satz des heutigen Eintrags stammt natürlich von der beliebten Serienfigur Dr. Derek Shepherd (Patrick Dempsey).
Und ja: In Staffel 15 Folge 13 „Gratwanderung“ wird kurz über die Möglichkeit von Senioren-Polyamory spekuliert. Aber auch in dieser Folge bleibt es genau lediglich bei Spekulation.

Danke an das National Cancer Institute auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 89

Kognitive Verzerrung¹

Zweitausendsiebzehn war für mich das Jahr, in dem ich mich unverzagt unter das polyamore Volk mischte.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich zuvor drei Jahre Erfahrung in solider Küchentisch-Heimwerker-Polyamorie gesammelt; anderhalb Jahre davon hatte ich noch dazu in einer engverbundenen, familiengleichen Dreierbeziehung mit Haus und Kindern gelebt – und nun dachte ich demgemäß, daß ich auch für weitere potentielle Partnermenschen bereit wäre.
Die damalige Zeit vor der Corona-Plage war solchen Intentionen gegenüber freundlich gesonnen. Ich war bereits Mitglied in dem damals größten deutschen Polyamorie-Forum auf Facebook – und dort war es nicht unüblich, schlicht zu Vernetzungszwecken einfach auch mal interessante Personen, mit denen man schon einmal einmütig in Beiträgen zu diversen Themen Übereinstimmungen festgestellt hatte, anzuschreiben und – so denn der km-Radius der wechselseitigen Wohnorte auch noch eine ökonomisch brauchbare Nähe erkennen ließ – sich auch einfach mal „live“ zu treffen.
Auf diese Weise hatten meine Liebste und ich zu jener Zeit dann also ein paar erste Treffen von, hm…, „dateartigem“ Charakter.

Ein wenig „goldfiebrig“ war die Situation schon, denn die „andere Seite“ war meistens genauso gespannt, wen und auf was man treffen würde wie das eigene Ich.
Und „goldfiebrig“ war, was mich anging, auf jeden Fall eine gute Beschreibung.
Das lag ganz vorderhand schon daran, daß sich auf diese Weise ja erst einmal rasch zwei, drei Gelegenheiten für Treffen ergaben, was eine gewisse Fülle und Auswahl suggerierte.
Zusätzlich war es so, daß fast alle Personen, die mutig in dieser Art zu Verabredungen bereit waren, so wie ich selbst auch seit einiger Zeit gerade „raus aus dem polyamoren Besenschrank“ getreten waren – und nun ihre Vorstellung von ethischen Mehrfachbeziehungen einen konkreteren Abgleich mit dem grünen Leben angedeihen lassen wollten (auf jeden Fall mehr als in der doch etwas blutleeren Form einer bloßen Forumsdiskussion…).

In dieser Weise traf ich mich mehrmals mit Kristina. Kristina war aufgeschlossen und lustig (und so war sie mir schon in den sozialen Netzwerken aufgefallen) – aber sie war deutlich jünger als ich und ein konkretere Abgleich unserer sonstigen Interessen (abgesehen von Polyamorie) erwies bald, daß es nicht so furchtbar viele Schnittmengen gab. Zusätzlich erinnerte mich das Aussehen von Kristina ein wenig an eine ehemalige, ziemlich aufdringliche Nachbarin (welche wiederum älter als ich gewesen war) – und ein sehr schrulliger Teil von mir befürchtete, daß Kristina dieser in einigen Jahren eventuell ähneln könnte, was mir als unangenehme Reminiszenz nur schwer auszuhalten wähnte.
Wenn jetzt einige von Euch Leser*innen die Augen rollen, dann kann ich Euch von meinem heutigen Standpunkt nur zustimmen: Ich war mit einer „Liste im Kopf“ unterwegs – und glaubte, daß sich „das perfekte Date“ ganz sicher noch alsbald einfinden würde. Ganz gemäß dem albernen Spruch „…drum prüfe, wer sich länger bindet, ob sich nicht noch was bess’res findet…“.
Ich war durch diese selbstgefällige Herangehensweise dann auch in kürzester Zeit recht vollständig betriebsblind.
Beim zweiten Treffen saßen Kristina und ich zuhause bei mir auf dem Sofa und Kristina sprach… ach, über irgendetwas. Neugierig genug mußten wir ja wohl beide aufeinander gewesen sein, sonst hätte sich doch vermutlich kein zweites Treffen ergeben – aber aufgrund der oben erwähnten suggerierten Fülle hielt ich auch das für (zu) selbstverständlich.
Ich schaute also Kristina mehr zu wie sie sprach, als daß ich tatsächlich zuhörte und merkte dabei nahezu körperlich, wie ich unterdessen an einen Punkt gelangte, an dem sich mit einem Mal die Option für mich auftat, mich in Kristina zu verlieben.
„Ach“, dachte ich, „das ist ja famos wie das mit der Polyamorie geht!“ Durch mein „polyamor-Sein“ schien ich in eine Lage versetzt, mich willentlich in eine (weitere) Person verlieben zu können, trotz meiner „Liste im Kopf“, welche praktische, theoretische und sogar ästhetische Gegengründe aufführte . Und ich war ganz offensichtlich befähigt, die Weiche „Verlieben – ja oder nein?“ aufgrund meiner Freiheit, mich mittlerweile gedanklich gewohnt in Mehrfachbeziehungsräumen zu bewegen, bewußt wählen oder vermeiden zu können. Genial!
Ich entschied mich damals für ² die Weiche und wählte „Verlieben!“ – und genoß die folgenden Minuten in denen Kristina ahnungslos meiner inneren Erwägungen weiterredete, es sich für mich aber um sie herum eine immer wundervollerer Aureole von Anziehung und Liebreiz verdichtete und ich mich von Moment zu Moment immer mehr in sie verschoß.
Am selben Nachmittag noch war dann auch Kristina klar, daß sich atmosphärisch von meiner Seite aus irgendetwas wohl maßgeblich verändert hatte. Kristina war – wie sie später zugab – durchaus bereits von mir angetan, aber, da sie hinlänglich schüchtern war, von meiner bisherigen Haltung zunächst doch etwas verunsichert. Als ich also endlich meinen Schmetterlingen Flugerlaubnis erteilte, flatterten mir die ihren sogleich beschwingt entgegen – und der Rest, tja, der Rest könnte Geschichte sein.
Nein, der Rest IST sogar leider Geschichte, denn meine Beziehung mit Kristina währte nur etwa ein Vierteljahr und dann fuhren die Sache vor die Wand – aus Gründen, die ich gegebenenfalls mal in einem anderen Eintrag darlegen werde – heute soll es um etwas anderes gehen.

Sechs Jahre im Mehrfachbeziehungsuniversum später denke ich regelmäßig an diesen Nachmittag mit Kristina.
Denn für eine geraume Weile zementierten sich dort mehrere amouröse Fehlschlüsse in mein Hirn, die mir meine Wahrnehmung im nächsten halben Jahrzehnt „Poly- und Oligoamory“ unnötig verdrehten.
Fehlschluss 1: Da draußen gibt es viele spannende Menschen die für Mehrfachbeziehungen aufgeschlossen sind. Mit etwas Recherchefähigkeit und Beharrlichkeit wirst du also immer wieder jemanden interessantes finden und kannst so den Kreis deiner Liebsten stets konsolidieren (=einpendeln, ins Lot bringen, auf Stand halten).
Fehlschluss 2: Du besitzt die Fähigkeit, dich gezielt zu verlieben – oder kannst wählen, dies nicht zu tun. So wirst du genau den richtigen Kreis von Personen für Dein Netzwerk zusammenfinden. Du wirst weder an die falschen Typen geraten, noch wird es „Hals-über-Kopf-Aktionen“ geben.
Fehlschluss 3: Du bist ein toller Kerl und hast eine Menge Potential zu bieten. Wenn Du ein Angebot machst, dann ist es an diesem Punkt bereits schon so gut, daß es kaum mehr abzuweisen ist. Die Vorzüge, mit dir in Beziehung zu gehen, sind offensichtlich.

2017 wusste ich noch nicht, daß dies Fehlschlüsse waren. Im Gegenteil – ich hielt diese Vorstellungen für (selbst)erklärlich und daher für plausibel.
Punkt 1 führte allerdings zu einem immer größeren Aufwand in meinem Datingverhalten, so daß ich auf dem Höhepunkt meines „Sortierwahns“ Mitglied von fast einem Dutzend Partnerbörsen war – fest davon überzeugt, daß „mehr Auswahl“ in letzter Konsequenz unausweichlich zu einem „mehr an Passgenauigkeit und Kompatibilität“ führen müsste.
Punkt 2 ließ mich lange glauben, daß ich mit der Gabe des „Bewußten Verliebens“ über eine Art innere Schutzvorrichtung gegen Fehlentscheidungen in Liebesdingen verfügen würde – leider war jedoch genau das Gegenteil der Fall.
Und Punkt 3 war schlicht das pure Selbstverständlichhalten von Dingen, die eben in keiner Weise selbstverständlich sind oder waren – und damit eine ganz und gar gar nicht nachhaltige Konsumentenhaltung, die so überhaupt nicht zur Philosophie der Oligoamory (siehe deren Untertitel) passte.

Im gerade zurückliegenden April 2023 las ich in der „Einbecker Kompakt“ (physische Ausgabe 19.04.) ein faszinierendes Interview mit dem bekannten Schauspieler und Sprecher Bjarne Mädel³. Auf die Frage des Journalisten Kristian Teetz »Wann ist man denn man selbst?« antwortet Herr Mädel:
»Das ist eine spannende philosophische Frage: Wer ist man eigentlich wirklich, wenn niemand zuguckt? Wer bin ich, wenn ich mich nicht selbst beobachte? Das ist ja fast unmöglich zu sagen. Deshalb habe ich z.B. auch nie begonnen Tagebuch zu schreiben: Denn wenn ich es später lese, dann möchte ich, dass es grammatikalisch einwandfrei und gut geschrieben ist. Und in so einem Moment, in dem ich darüber nachdenke, wie und was ich schreibe, bin ich gleich beim Performen und nicht mehr dabei, ehrlich festzuhalten, was ich in dem Moment wirklich empfinde.«
Und Bjarne Mädel ergänzt im selben Interview:
»Aber trotzdem ist es mir auch schon passiert, dass ich mich privat als jemand anders ausgegeben habe oder versucht habe, mich in ein gutes Licht zu stellen. Ich erinnere mich z.B. an meine Zeit mit einem guten Freund in einer WG: Da habe ich an einem Tag mal mein Zimmer aufgeräumt, mir eine Kanne Tee mit einem Stövchen und ein paar Keksen hingestellt und mich dann mit einem Buch aufs Sofa gesetzt. Das sah alles sehr gemütlich aus, aber hinterher wurde mir klar, dass ich das eigentlich nur gemacht habe, damit das „Bild“ stimmig ist, falls jemand in das Zimmer guckt. Meine Gemütslage war eine vollkommen andere. Ich wollte in der Situation einem schöngeistigen Bild entsprechen, das ich selbst gerne von mir gehabt hätte.«

Mit diesen Beschreibungen hat Bjarne Mädel auch mich entlarvt: Auf dem Mehrfachbeziehungskontinent war auch ich viel zu lange mit einem „Bild“ von mir selbst unterwegs, welches ich selbst von mir gerne gehabt hätte – und von dem ich mir ebenfalls gewünscht hätte, daß ich es wenigstens anderen Menschen um mich herum von mir hätte präsentieren können. Dadurch habe ich aber den viel wichtigeren Faktor „Authentizität“ eingebüßt – weil ich „gediegener“ und weniger nervös, unerfahren und selbstunsicher erscheinen wollte, als ich es realistischerweise war.
Was jedoch schlimmer war, daß in meine Richtung zumindest diese Selbsttäuschung ein klein wenig zu gut funktionierte: Denn so hielt ich schließlich sogar meine Verliebtheit für einen integrativen Teil des „Bildes“.

Fehlschluss 1 – der über die Reichhaltigkeit potentiell zur Verfügung stehenden Partner*innen – ist ja bei Licht besehen noch leicht zu widerlegen. In Eintrag 78 nenne ich für Deutschland ca. 10.000 wirklich aktive polyamoren Menschen, an anderer Stelle wird die Zahl von 0,2% der Gesamtbevölkerung genannt, die sich überhaupt ein Leben in Mehrfachkonstellation vorstellen kann (womit wir bei 84 Millionen Einwohnern irgendwo knapp oberhalb von 160.000 Leuten landesweit landen…). Selbst ausgezeichnete Recherchefähigkeiten – über die ich tatsächlich verfüge – werden also hier in jedem Fall eher früher als später schlicht an ganz reale Ressourcengrenzen stoßen.
Fehlschluss 2 hingegen führte zu einer Art Selbstsabotage, die sehr hartnäckig war. Und dusseligerweise vertauschte ich durch die Selbstzuschreibung einer „Fähigkeit des Verliebens“ die Ausnahme – also gewissermaßen das Wunder (!) – mit dem Erwartungsgemäßen.
Verlieben ist bei mir nämlich eigentlich – wie bei den allermeisten Menschen auch – etwas, was mir nicht so häufig passiert. Es war daher auch im Fall von Kristina etwas durchaus außer-Gewöhnliches.
Womit genauso Kristina was mich anging etwas Besonderes war (Fehlschluss 3). Und das hätte von dort an besser mein Fühlen und Denken bewegen sollen – und nicht der Glaube an genügend Auswahl und Herbeiführbarkeit.
Denn wenn ich die Unselbstverständlichkeit der Verliebenssituation richtig eingeschätzt hätte, hätte ich vermutlich auch in den holprigeren Zeiten unserer danach entstehenden Beziehung viel engagierter und entschiedener für diese Beziehung gekämpft. Ich schreib‘ es für Euch also nochmal hin: Verliebtheit, Leute, die seid ihr selbst; da seid ihr höchstwahrscheinlich ganz und gar echt aus eurem tiefsten Inneren! Traut euch selber in dieser Hinsicht und ordnet nicht das Verlieben dem Freiheitsideal eines Fühlens und Handelns in Mehrfachbeziehungsmöglichkeiten zu!
Vier Jahre Oligoamory später weiß ich heute über mich, daß Verlieben bei mir (nach wie vor) die große Ausnahme ist – egal in welchem Beziehungsmodell ich mich bewege. Heute weiß ich: Wo ich verliebt bin, da ist es „richtig“. Aber dort bin ich dann auch wirklich gefordert, all die guten Seiten von Verbindlichkeit , Aufrichtigkeit und Verantwortung einzubringen, eben genau weil es so un-selbstverständlich ist.

In dem bereits erwähnten Interview entwirft der Schauspieler Bjarne Mädel ein sehr passendes Bild. Ein Protagonist in seinem neuen Hörbuch sei »…neidisch darauf, dass andere dieses Gefühl des Angekommenseins haben. Er beschreibt eine Sehnsucht nach Beständigkeit, nach Zugehörigkeit. Das ist auch ein Thema was mich interessiert: Was bedeutet „zu Hause“ sein?«
Bjarne Mädel fügt zwei Fragen später hinzu:
»Und so habe ich den Satz „Andere wohnen im Leben“ geprägt: Es gibt Menschen, die eindeutig wissen, wohin sie gehören, und die „wohnen in ihrem Leben“. Bei mir selbst ist es eher zugig und eine Tür steht offen. […] Aber eigentlich sind diese Menschen oft viel glücklicher, weil sie eben nicht denken, auf der nächsten Party ist mehr los, und nicht denken, dass sie immer auf der Suche sein müssen. Solche Menschen sagen eher: Wir bleiben auf dieser Party, bis wir müde sind. Andere rennen den ganzen Abend von einer Fete zur nächsten und am Ende haben sie dann eigentlich nirgendwo richtig gefeiert, niemanden richtig kennengelernt, mit niemandem ernsthaft gesprochen, nichts erlebt.«

Absolut weise Worte. In den letzten Jahren habe auch ich über mich herausgefunden – und dieser bLog hat ein wichtiges Stück dazu beigetragen –, daß „Zugehörigkeit“ und „eindeutig wissen, wohin ich gehöre“ zentrale Fragestellungen in meinem Leben sind. Das ist keineswegs nur geographisch zu verstehen (aber auch) – sondern es betrifft vor allem darüber hinaus das „in-sich-selbst-zuhause-Sein“.
Wäre ich das mit größerer geläufiger Gewissheit, dann wäre ich wahrscheinlich nicht so lange meiner Selbst-Inszenierung erlegen. Ich würde vertrauensvoller „in mir selbst wohnen“ – und damit auch den Regungen meiner selbst mehr vertrauen.

Nach über vier Jahren Oligoamory wünsche ich uns allen also heute folgerichtig mit den Worten von Bjarne Mädel, daß wir daher auch „in unseren Beziehungen wohnen“.
Was mir als eine vollständig passende Metapher erscheint: Eine Person wie eine (neue) Umgebung wirklich kennenlernen, sich selbst dieser Person wie einem Zuhause widmen – unbeeindruckt davon, ob vielleicht woanders mehr los ist – und bleiben, bis man gemeinsam schrumplig ist.

Wodurch es für mich auch wieder mit der Oligoamory stimmig ist: Ich bin überzeugt, daß wir an mehr als nur einem Ort – nicht aber an beliebig vielen – zuhause sein können.
Und ein „Zuhause“ erkennen wir schließlich daran, daß wir dort wirklich ganz und gar „wir“ sein dürfen: verbindlich, authentisch und angstfrei.
Home is where the heart is.



¹ Kognitive Verzerrung: ist ein kognitionspsychologischer Sammelbegriff für systematische fehlerhafte Abweichungen vom Normalzustand bzw. der Verhältnismäßigkeit bei eigenen Beurteilungen. Menschen schaffen ihre eigene „subjektive Realität“ aus ihrer Wahrnehmung von Informationen. Die individuelle Konstruktion der Realität (und nicht der objektive Informationsinhalt) kann so das Verhalten von Personen bestimmen. Daher können kognitive Verzerrungen manchmal zu Wahrnehmungsverzerrungen, ungenauen Urteilen, unlogischen Interpretationen und Irrationalität führen.
Siehe auch: Liste kognitiver Verzerrungen

² Die Leser*innen die jetzt grinsen und denken „Haha, Oligotropos, ich hätte mich auch daFÜR entschieden…“ müssen zur Vollständigkeit wissen, daß ich in den nachfolgenden Jahren zahlreiche Dates hatte, bei denen ich mich durchaus daGEGEN entschied. Zumindest dachte ich das – also daß ich das entschied… Die unverzerrte Wahrheit hingegen war allerdings höchstwahrscheinlich die, daß in mir bezüglich der anderen Personen schlicht gar kein Verliebtheitsfunke aufkam. Soviel zum Thema Bewußtheit…

³ Bjarne Mädel ist unter anderem durch seine Rolle als „Tatortreiniger“ bekannt. Der Journalist Kristian Teetz (Redaktionsnetzwerk Deutschland) hat ihn zur aktuellen Veröffentlichung des neuen Hörbuchs mit Texten von Ingrid Lausund „Bin nebenan – Monologe für zuhause“ (SpeakLow 2023, Länge ca. 4 Stunden), bei dem B. Mädel die Regie führte, interviewt.

Danke an Enrique Meseguer auf Pixabay für das Foto! Und danke an Kristina, die den obigen Text gelesen und auch von ihrer Seite für zutreffend befunden hat (Name ist von mir aus Datenschutzgründen verändert).

Eintrag 88 #Exklusivität

…und nicht exklusiv?

Normalerweise vertrete ich auf diesem bLog die Ansicht, daß Oligoamory etwas sein sollte, „das man tut“ – und nicht etwas, „was einem passiert“. Damit möchte ich dann vor allem die Bewußtheit betonen, mit der ich mir hier in diesem Projekt wünsche, wie wir Mehrfachbeziehungen auffassen, führen und pflegen.

In der Praxis sieht das natürlich trotzdem in vielen Fällen doch anders aus. Dort sind romantische Mehrpersonen-Konstellationen durchaus überwiegend noch „ein Ereignis“ und sehr viel seltener das Ergebnis strategischer Lebensplanung.
Womit ich meine, daß selbst jetzt, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, sicher nur wenige Individuen (selbst wenn es Teenager wären…) gerade zuhause sitzen und denken: „Och ja, in ein paar Jahren eine Gemeinschaft mit zwei, drei, vier (…) Liebsten, das ist genau so, wie ich mir mein Privatleben später vorstelle…“ Und die dann auch noch aktiv daran gehen würden, diese Vorstellung konsequent und zielstrebig umzusetzen.
Wenn wir nicht gerade vor einem sehr liberalen, vielleicht sogar queeren Hintergrund mit starken individualistischen Regenbogen-Vorbildern aufwachsen, dann ist das doch eher noch die große Ausnahme.

Worauf ich damit hinauswill ist, daß, wenn wir uns für einen kurzen Moment in dieses Bild hineindenken, auffällt, wie stark wir in Beziehungsdingen doch nach wie vor in der Dimension denken, welche als die „soziale Rolltreppe“ bekannt ist.
Zur Erinnerung: Die „soziale Rolltreppe“ ist der Lebensentwurf, der von der derzeitigen Mehrheitsgesellschaft überwiegend gelebt wird – und daher meist auch der, welcher von den derzeitigen sozioökonomischen Strukturen in der Regel unterstützt wird. Aktuell ist dies z.B. unser westlicher Lebenslauf, welcher aus Kindergarten, Grundschule, weiterführender Schule, Ausbildung und/oder Studium und Berufseinstieg besteht; in die letzten Phasen dieses Werdegangs fällt dann meist die Partnerfindung, vielleicht auch schon der Beginn der Familiengründung… – und mit diesen ersten grundlegenden Festsetzungen starten wir meist nach wie vor in unser weiteres Leben (und unterscheiden uns darin nicht besonders von den Generationen vor uns). Das Bild der „Rolltreppe“ – statt des eines „Förderbandes“ z.B. – legt zusätzlich nahe, daß es sich bei der zurückzulegenden Entwicklung normalerweise um ein stetes „aufwärts“ oder „besser“ handelt (oder wenigstens handeln sollte), so wie sie der Idee von Leistungsgesellschaften häufig zugrunde liegt.

In Eintrag 12 erwähne ich den häufig zitierten, widerständigen Ausruf „Ich bin keine Nummer, ich bin ein freier Mensch!“ ¹, mit dem wir meist darauf hinweisen wollen, daß wir in unserem Leben trotzdem die Steuerleute unseres selbstgewählten Kurses sind – und würden unsere Biographien eventuell auch oberflächlich betrachtet langweilig normativ daherkommen…
Ja, schon… Aber dann – genau genommen – doch auch wieder nicht.
Denn die „soziale Rolltreppe“ ist schon sehr lange in Betrieb, länger als alle von uns hier leben, sie umgibt uns weitestgehend bis heute – und das „macht“ selbstverständlich etwas mit uns.
Und da dies hier ein BeziehungsbLog ist, insbesondere: Es macht etwas mit uns bezüglich der Art, wie wir „Beziehungen denken“.

An dieser Stelle muß ich selbst etwas vorsichtig sein, weil die Grundlagen jener Einflüsse, welche unser menschliches Liebes- und Partnerwahlverhalten beeinflussen, aus meiner Sicht immer noch nicht gut genug erforscht sind. Soziologische Betrachtungen, wie z.B. in Friedemann Karigs Kompilation „Wie wir lieben“ (Aufbau Taschenbuch 2018) oder evolutionäre Herangehensweise wie die von Christopher Ryan und Cynthia Jethá in „Sex – die wahre Geschichte“ (Klett-Cotta 2016)² scheinen zunehmend darauf hinzuweisen, daß Homo sapiens darin durchaus strategisch flexibler und vielfältiger ist, als die derzeit auf unserem Planeten vorherrschenden Gesellschaftsformen nahelegen mögen. Gleichzeitig war das monogame Partnerschaftsmodell über viele Jahrhunderte auf genau diesem Planeten über viele Jahrhunderte (beinahe mehr ein, zwei Jahrtausende…) überaus erfolgreich, wovon derzeit 8.075.200.000 Erdenbürger Zeugnis ablegen (Stand April 2023).

Und ich selbst muß persönlich vorsichtig sein, weil ich als bLogger nicht fremdwesenartig in einer Untertasse unsere Erde als neutraler Beobachter umkreise, sondern den gleichen Mechanismen und Regeln hier unten unterworfen bin wie ihr alle anderen auch.

In Eintrag 84 postuliere ich die Verbindung zwischen zwei Personen als das „kleinste Polykül“ – als kleinste Untereinheit von Beziehung(en) gewissermaßen.
Es scheint, als ob wir als Menschen doch eng an dieses erstanfängliche „Junge trifft Mädchen“ [oder Junge trifft Junge oder Mädchen trifft Mädchen oder Divers trifft Junge, Divers trifft Mädchen, Divers trifft Divers…] gebunden sind.
Ein monogames Modell macht es in so einem Moment leicht, weil der anhängige Emotionalvertrag der Monogamie in den AGB „Exklusivität“ beinhaltet, so daß sich die beiden Beteiligten sowohl zunächst als auch fürderhin voll aufeinander konzentrieren dürfen – ja, modellseitig sogar müssen.

Wer hingegen den Schritt in das Möglichkeitenuniversum von Mehrfachbeziehungen hineingewagt hat, hat damit irgendwann – wenigstens gedanklich – genau diese beschriebene Exklusivität…, tja, was…? Abgelegt? Wegdefiniert? Ich sage hier an dieser Stelle mal mit Bedacht: …zumindest abgemildert, gemäßigt, reduziert.
Denn aus den oben genannten und auch aus den in Eintrag 84 dargelegten Gründen glaube ich nicht, daß Exklusivität ein Merkmal ist, welches wir in unseren menschlichen, romantischen Intimbeziehungen vollkommen verleugnen können [oder gar in ihr Gegenteil „Beliebigkeit/Austauschbarkeit“ verkehren können, was zumindest nach oligoamoren Maßstäben in Sachen Liebe und verbindlich-nachhaltigen Beziehungen keinen Sinn ergäbe (siehe auch Eintrag 3)].
Die Exklusivität ist also trotz Abmilderung, Mäßigung oder Reduktion noch da. Und damit müssen wir uns auch in Mehrfachbeziehungen dieser Tatsache immer noch stellen.
Ein Umstand, der in der Poly- und Oligoamory manchmal vergessen oder verdrängt wird und der dadurch regelmäßig in Beziehungen für Leid sorgt.

So gibt es z.B. das „Einhorn-Phänomen“. Das vielgesuchte „Einhorn“ ist insbesondere für ein in Mehrfachbeziehungen noch unerfahrenes, häufig heterosexuelles Paar (aber nicht nur) ein scheinbar „einfacher Einstieg“: Eine (oftmals weibliche) Person, die bisexuell ist und damit romantisch wie intim mit beiden Partner*innen des Kernpaares kompatibel ist. Eine Art „Passepartout“, bei dem doch wenig Drama zu erwarten sein sollte…
Die Schattenseite der legendären Suche nach dem Einhorn – oder gerade dem Finden eines Einhorns – ist, daß dieses in dieser Konstellation überwiegend der bislang angesammelten biographischen Exklusivität des Kernpaares gegenübersteht. Dies betrifft einmal die Anspruchsebene: Das Kernpaar hat sich schon länger vorher auf die passenden Merkmale und Kriterien, die das Einhorn erfüllen sollte, bloß miteinander geeinigt; zum anderen betrifft es die Schutzrechte des Individuums: Das Einhorn ist eben nur solange ok, wie es seine Rolle unterschiedslos und konstant gegenüber beiden Beteiligten des Kernpaares erfüllt. Ist dies nicht mehr der Fall (und emotional identische Beziehungen sind menschlicherseits doch bei Licht betrachtet höchst unwahrscheinlich) gefährdet das Einhorn entweder seine Beziehung zu einem der Partner (durch ungleiche Zuteilung von Zuneigung) oder gar die Beziehung des Kernpaares (weil sich eine*r der Partner*innen stärker zum Einhorn hingezogen fühlt als zum Kernpartner).
Womit meist in jedem Fall das Einhorn zurück in den Wald gejagt wird, um den exklusiven Frieden der Kernbeziehung nicht weiter zu gefährden bzw. wiederherzustellen.

Oder es gibt das sogenannte „Cowboy/Cowgirl/Cowdiverse-Phänomen“: Bei einem (Kern)Paar verliebt sich ein*e Beteiligte*r in eine weitere Person, der/die/das andere Beteiligte jedoch nicht. Die hinzukommende Person beginnt nun eine intensive romantische Beziehung zu dem einen Beteiligten, so daß sich die andere Person des ursprünglichen Kernpaares bald wie das sprichwörtliche „5. Rad am Wagen“ (also genau genommen wie das 3. Rad…) vorkommt; trotz vieler Beteuerungen des Gegenteils irgendwie abgehängt und nahezu ausgeschlossen. [Ein „Cowboy“ stellt in der „klassischen“ Polyamorie eigentlich eine Person dar, die sich aus einer „Herde“ polyamorer Menschen eine Person quasi wie mit einem Lasso einfängt und zurück in die Monogamie zieht – aber in Konsequenz trifft die Erscheinung und das Erleben hier ja auf den nichtverliebten Teil des Kernpaares zu].
Wieder ist es auch in diesem Fall scheinbar die Exklusivität, welche eine Beziehung gefährdet bzw. gefährdet ist, ein insgesamtes Miteinander sabotiert und auf jeden Fall zu einem empfundenen Ungleichgewicht führt.

Ich schreibe „scheinbar“, weil ich glaube, daß die meisten von uns hinsichtlich „Exklusivität“, die ja als „Keimzellenleim“ für jede zwischenmenschliche Beziehung notwendig ist, sowohl in ihrem Ausleben als auch in ihrem Erleben noch zu sehr der oben erwähnten althergebrachten „sozialen Rolltreppe“ unterworfen sind.
Wir übertreiben gewissermaßen, weil wir es nicht anders gewohnt sind – und es daher auch nicht so sehr viel besser können.
„Exklusivität“ so besagt es das Internet-Wörterbuch „Woxikon“, kann mit „Ausschließlichkeit“ und sogar mit „Unbedingtheit“ synonymisiert werden. Nach meiner Beobachtung verhalten wir uns auch in Mehrfachbeziehungen noch häufig genau so, als ob wir solcherlei Sinngehalt wie eine Art inneres Gebot für uns in Anspruch nehmen. Das wird gerade dort besonders sichtbar, wenn es zu Konflikten kommt: Wir verteidigen unser eigenes Vorgehen mit Zähnen und Klauen, dabei reduzieren wir das Geschehen fast immer auf „eine harmonische, zu schützende Beziehung“ auf der einen Seite und „das zerstörerische, eifersüchtige, neidvolle, kleinliche (etc…) Andere“ auf der anderen. Plötzlich wallen in uns seltsame Beschützer*inneninstinkte auf, wir fordern für uns Uneingeschränktheit ein – oder wir pochen auf vereinbarte Regularien und angestammte Rechte…

Insbesondere „Dreierkonstellationen“ gelten in Mehrfachbeziehungskreisen daher oft als besonders gefährdet und krisenanfällig. Wenn in einer so engen Konfiguration Exklusivität erst volle Sprengkraft mit ihrer rein ausschließenden oder beharrenden Wirkung entfaltet, ist es fast immer fatal.

Zusätzlich fatal: Wenn wir die Abmilderung, Mäßigung oder Reduktion von Exklusivität in unseren (Mehrfach)beziehungen als Bedrohung unseres Selbst erleben.
Die erwähnte anfängliche Exklusivität aus Eintrag 84, die den inneren Magnetismus zwischen zwei Menschen fördert, ist grundsätzlich etwas ganz wichtiges: Dadurch erleben wir nämlich, daß wir gemeint sind.
In der monogamen Welt, in der die meisten von uns aufgewachsen sind, ist Exklusivität aber oft als ein Versprechen gehandhabt worden, als eine Art Belohnung, die uns in unserer (künftigen) Partnerschaft zuteil werden würde.
Und eine Belohnung ist Teil eines Systems, in welchem Leistung eine Rolle spielt.
Viele von uns stammen aus Lebenswelten, in denen wir in unserem Aufwachsen wenig Zuspruch für unser Kernselbst erfahren haben. Oft sind wir beliebig oder austauschbar behandelt worden und konnten genau dadurch manchmal nicht ohne Selbstzweifel erkennen, ob wir gemeint waren. Vielfach waren wir uns unserer wunderbaren Einzigartigkeit in unserem ganzen Tun und Sein, unserer gesunden Exklusivität also, nicht wirklich sicher. Statt dessen mussten wir mit besitzergreifenden, ängstlichen oder sogar abweisenden Erziehungs- bzw. Bindungsstilen zurechtkommen, in denen wir häufig mit angepasstem und/oder erwartetem Verhalten in Vorleistung gehen mussten, um überhaupt positive Resonanz zu erhalten (siehe auch Eintrag 14).

Wenn wir uns daher eines Tages in polyamoren Umständen wiederfinden, können wir mit solch einer ungünstigen Vorprägung schnell Probleme bekommen. Eine monogame Beziehung verspricht uns in ihren AGB die Sicherstellung von Exklusivität in unserer einzugehenden Partnerschaft, worunter wir, mit einem schlecht aufgestellten Kernselbst allzu leicht verstehen, daß eine monogame Partnerschaft uns endlich die erhoffte Einzigartigkeit und damit die Anerkennung unseres individuellen Seins garantiert.

Auch in der Poly- und Oligoamory, wie ich ebenfalls in Eintrag 14 herausarbeite, müssen wir, damit diese gelingen können, Bestätigung, Vertrauen, Akzeptanz, Empathie und Zuneigung erfahren können. Aber dort ist es eben genau nicht die Aufgabe der Exklusivität, dies sicherzustellen.
Exklusivität in Mehrfachbeziehungen, dient dort – so wie ich die bLoggerin Sacriba in Eintrag 84 zitiere – vielmehr dazu, vertrauliche Räume für Verletzlichkeit und Authentizität zu schaffen und um dadurch Energie zu (re)generieren, die dann der Gesamtbeziehung wiederum zugute kommen kann.

In einem Polyamory-Forum, welchem ich angehöre, kam auf diese Weise vor gut einem Monat die Frage auf, ob Mehrfachbeziehungen als Gesamtbeziehungen einen verbindenden „Zweck“ bräuchten – in etwa so wie ein Verein oder eine Stiftung.
Ich glaube, daß das in gewissem Sinne zutrifft, es ist das, was ich in vielen meiner Einträge „das gemeinsame Wir“ nenne.
Dieses „gemeinsame Wir“ kann indessen sehr unterschiedlich gestaltet sein; da ist es mehr wie mit dem häufig strapazierten Werbespruch „[…] ist ein Gefühl“ (setzt bitte darum bei […] euer Ding ein).
Genau aber dieses Gefühl des „wir sind da irgendwie alle zusammen drin“ ist gleichzeitig wichtig, wenn es der oben erwähnten problematischen Auffassung und Anwendung von Exklusivität in Mehrfachbeziehungen vorbeugen soll: Mehrfachbeziehungen sind eben kein Kuchen, wo Beteiligte sich unbeobachtet „ihr Stück“ herausschneiden können, um es dann womöglich noch irgendwo anders zu verzehren.

Der Umgang mit Exklusivität in Mehrfachbeziehungskontexten wird also immer ein Prüfstein für den Zustand der Gemeinschaftlichkeit als Gesamtbeziehung sein.
Für die meisten von uns wird jedoch vermutlich der Umstand schwerer wiegen, daß dieser Umgang mit Exklusivität insbesondere immer wieder ein Prüfstein für unsere eigene innere Aufgestelltheit sein wird: Ob wir über ein gut etabliertes Kernselbst verfügen, ob wir gelernt haben, unsere Bedürfnisse zu bekunden, ob wir an uns selbst glauben.
Oder ob wir regelmäßig heftig an dem klammern, was wir für uns festzuhalten suchen, weil uns noch so vieles fehlt, uns nie gegönnt wurde; wir uns selbst relativiert und aufgelöst erleben, solange Exklusivität noch als Kompensation für unsere Wertschätzung und Einzigartigkeit herhalten muß.

Das heutige Schlußwort überlasse ich dem amerikanischen Anwalt, Schriftsteller, Trans-Aktivisten und außerordentlichen Professor Dean Spade, der sagte:
»Für mich geht es darum, Beziehungen zu schaffen, die auf einer tieferen und realeren Vorstellung von Vertrauen beruhen. So dass Liebe nicht durch Exklusivität definiert wird, sondern durch tatsächlichen Respekt, Fürsorge, die Verpflichtung, mit freundlichen Absichten zu handeln, Verantwortlichkeit für unsere Handlungen und den Wunsch nach gegenseitigem Wachstum.«



¹ Weiterhin gilt: Das Zitat stammt nicht ursprünglich aus einem Songtext von Iron Maiden, sondern aus der Fernsehserie „Nummer 6“ von 1967.

² Original: Christopher Ryan, Cynthia Jethá – „Sex at Dawn: How we mate, why we stray, and what it means for modern sexuality“; Harper Perennial 2011


Danke an Gerd Altmann auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 87

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…

„Eins, zwei, drei im Sauseschritt eilt die Zeit – wir eilen mit.“ So dichtete einst Wilhelm Busch – und, kaum zu glauben aber wahr, der Oligoamory-bLog ist nun schon vier Jahre alt geworden!

Für mich als Vater des Geburtstagskinds eine mit Stolz erfüllende Gelegenheit, noch einmal über einen der verschlungeneren Pfade durch die Landschaften ethischer Mehrfachbeziehungen zu schreiben.

Einer dieser schmalen Pfade, den sich fast alle Beteiligte regelmäßig entlangbewegen müssen, führt nämlich durch ein tückisches frostiges Tal, welches ich geradezu als „Zwiespalt“ bezeichnen würde, und zwar zwischen der Abwägung persönlicher Freiheit auf der einen Seite und unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit auf der anderen.
Mehrfachbeziehungsmodelle wirken auf den ersten Blick ja auch häufig vor allem deswegen so attraktiv, weil sie uns zu versprechen scheinen, daß in ihnen für uns als Teilnehmende mehr von Ersterem (also der persönlichen Freiheit) bei gleichzeitigem erhöhtem Zweiteren (unserem Verlangen nach [mehr] Verbundenheit) zu erlangen ist – auf jeden Fall wenigstens stärker, als dies in (nur) einer monogamen Verbindungen herbeizuführen wäre.

Sehr viele Personen, die ich kennengelernt habe, und die sich mit Ideen oder gar der Umsetzung von Mehrfachbeziehungen beschäftigen, haben sehr regelmäßig schon an irgendeiner anderer Stelle in ihrem Leben Kontakt zu – hm, ich nenne es mal: „alternativem Potential“.
Das muss nichts Gewaltiges sein. Aber oftmals sind es kleine bis hin zu etwas größeren Entscheidungen gegen das, was in der überwiegenden Normal-Gesellschaft gewöhnlich oder vorwiegend gebräuchlich ist. Und dies kann alles mögliche sein: Das Babytragetuch, der Kauf von Bio-Lebensmitteln, Engagement in einer karitativen Organisation oder einem politischen Gremium, alternative Spiritualität, Identifikation mit einer Subkultur (Teilnahme an besonderen Festivals diverser Musikgenres, Mittelaltermärkte oder auch BDSM-Partys), Beteiligung an Gemeinschaftswohnformen oder Tauschringen, bis hin zum Gestalten aktueller Kunst und Kultur.
Vielfach haben sich Menschen also hier schon in bestimmten Bereichen ihres Lebens „frei gedacht“ von einem „so tun es alle“.

Grundsätzlich ist dies für mich eine äußerst erfreuliche Entwicklung, die für mich auch zur Geschichte von Mehrfachbeziehung im 20. Jahrhundert, so wie ich sie z.B. in meinem vierteiligen historischen Rückblick [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] dargestellt habe, paßt.
Allerdings haben sich erst während der Lebenszeit unserer eigenen Eltern (oder wenn ihr Generation Y, Z oder Alpha angehört: unserer Großeltern) viele patriarchalische Institutionen aufzulösen begonnen [z.B. lockerte in Deutschland die Ärzteschaft erst Ende 1970 ihre restriktive Haltung gegenüber der „Pille“, welche endlich ein Meilenstein zur reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen auch hierzulande wurde; erst 1976 (!) sogar trat das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts in Kraft, demzufolge es danach keine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung in der Ehe mehr gab und Frauen nun auch ohne Erlaubnis des Mannes Erwerbstätigkeit aufnehmen durften].
Dadurch hat das Streben nach (mehr) Freiheit insbesondere unter solchen noch sehr lang etablierten Obrigkeitsstrukturen z. T. zu einem Effekt des gelegentlichen Überschießens geführt, den ich manchmal etwas besorgt betrachte – denn: „gewohnt“ in Freiheit zu agieren sind wir alle, Frauen, Männer und Diverse, genau genommen noch nicht.

Was ich damit sagen will ist, daß wir „Freiheit“ dadurch unter bestimmten Umständen in unseren Beziehungen gelegentlich wie eine Art uns zustehendes „Abwehrrecht“ gegen jegliche wahrgenommene Bevormundung, gegen jedwede gefühlt ungerechtfertigte Haftbarmachung – aber darum leider bisweilen auch zu leichtfertig gegen manche echte Verantwortlichkeit ins Feld führen.

Verwunderlich ist das eigentlich alles gar nicht. Denn was unsere Liebe angeht, da wollen wir doch „ganz wir selbst“ sein, dort spüren wir, das diese maßgeblicher Teil von dem ist, was ich hier auf dem bLog so oft unser „Kernselbst“ nenne.
Womit wir zu der anderen Seite des tückischen Tals, des Zwiespalts, kommen – unserer Sehnsucht nach verlässlicher Verbundenheit. Denn in unserem Kernselbst würden wir keine Liebe benötigen, wenn wir als „soziale Tiere“ nicht diese Bezogenheit, diese Hinwendung zu anderen menschlichen Wesen ebenfalls in uns trügen.

Die Formulierung „Sehnsucht nach Verbundenheit“ habe ich übrigens mit einigem Bedacht gewählt, da ich glaube, daß wir in diesem Verlangen einerseits recht idealisiert über uns urteilen und andererseits, wie Wikipedia sagt, gleichzeitig gelegentlich mit dem ängstlichen Gefühl verbunden sind, „den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können“.
Was „im Fall der Fälle“ bedeutet, daß wir durch unsere Sehnsucht nach Verbundenheit recht schnell in ein dramatisches Agieren geraten können, welches – um ein Bild zu wählen – einer Person, die auf einer gefrorenen Wasserfläche im Eis einbricht, nicht unähnlich ist.

Wie und warum kommen wir überhaupt auf’s Eis?
Fast immer ist es unser Idealismus: Wir schaffen das schon! Wir können doch wohl einen solide zugefrorenen See überqueren. Uns wird dabei schon nichts zustoßen, sind wir doch Kenner von Wetter, Eisbeschaffenheit und ganz speziell von diesem See!
Auf die Beziehungsebene übertragen möchte ich hiermit ausdrücken, daß wir meistens mit einem idealisierten Bild von uns selbst losziehen. Einer Selbstbeschreibung, bei der wir vielleicht sagen würden: „Ich sehe mich als einen Menschen, der (auch in Mehrfachbeziehung!) verbindlich und loyal handeln wird. Dazu habe ich ein Set Orientierungspunkte in mir, die mir wichtig sind und innerhalb derer ich mich daher bewegen werde.“
So kann doch wenig schiefgehen, denken wir – und es geht hinaus auf den See.

Manchmal haben wir in diesem Augenblick schon unser Selbstbild sowohl hinsichtlich unserer Verbindlichkeit als auch unserer Orientierungspunkte verlassen. In Eintrag 9 schrieb ich über den „Emotionalvertrag“ der hinter jeder intimeren zwischenmenschlichen Beziehung steht. Und entweder, dieser „Vertrag“ läßt zu, daß eine Beziehung von allen daran Beteiligten als „offen“ (für weitere Verbindungen) aufgefaßt wird – oder wir haben es ausgelassen uns dieser allseitigen Gleichbewertung zu versichern, weil…, ja, weil uns unsere persönliche Freiheit gerade wichtiger war. Bzw. weil wir unserer persönlichen Freiheit in diesem Moment einen höheren Stellenwert eingeräumt haben als der Verbundenheit zu einer/einem bereits vorhandenen Partner*in.
Wodurch sich in diesem Fall sofort ein tiefer, unheilvoller Riß auf dem See bilden wird, sobald wir unseren Fuß bloß daraufsetzen. Denn egal, was von dort geschieht, ethisch im Sinne von transparent, von gleichberechtigt oder gleichwürdig wird es ab jetzt von hier aus schon nicht mehr weitergehen.
Unsere Sehnsucht nach mehr Verbundenheit hat uns vorgegaukelt, daß wir diesen See schon überqueren könnten – die Voranstellung unserer persönliche Freiheit hat dabei aber sämtliche unserer eigenen Sicherheitsventile (die ich oben Orientierungspunkte nannte) platzen lassen; ja klar, können wir jetzt noch den See betreten – aber auf dem nun eingeschlagenen Kurs werden wir eben nicht mehr verbindlich oder loyal sein, diesen Teil unseres eigentlich für uns in Anspruch genommenen Selbstbildes haben wir in dem Prozess fallen lassen.
Natürlich kommt es da auch ein bißchen auf unsere persönliche Resilienz und unser Ego an (also auf unsere Dickhäutigkeit, würde der Volksmund sagen) – aber solch eine Abscheidung eines Teils von dem, was wir bis vor kurzem noch als Teil unserer Identität beansprucht hatten, wird an kaum jemandem mittelfristig spurlos vorüber gehen. Vom zwickendem Gewissen, eventuell Katzenjammer, bis hin zu echter Reue und massivem Scham (vor allem vor uns selbst) können die Folgen reichen, speziell in dem wahrscheinlichen Fall, daß wir es nicht über den See schaffen werden (sprich: das es mit der weiteren/zusätzlichen Beziehung [auch/trotzdem] nicht gelingt).

Ich habe mich jetzt in meinen Beschreibungen gerade schon ein wenig hinreißen lassen hinsichtlich des Umstands, daß sogar die Öffnung einer Beziehung nicht klar vereinbart ist.
Wie steht es um den See, wenn das aber so ist – also vereinbart?
Nun, dann begeben wir uns dementsprechend mit dem Selbstbild „Ich sehe mich als eine Person, die verbindlich und loyal hinsichtlich all ihrer Verbindungen handeln wird.“ auf den See, sprich in eine weitere Beziehung hinein.

Mensch! Die MÖGLICHKEITEN die wir nun auf diesem See haben!
Diese schwindelerregende Perspektive, der Sauerstoffschock, der ungeahnte Schwung den diese neue Erfahrung bietet…
Eis sieht auf der Oberfläche ja auch zu cool aus, glatt, verlockend und glänzend – und sehr leicht vergessen wir, daß darunter auch Gefahr droht…
Sehr schnell ist es geschehen, daß exakt in diesem zu Kopfe steigenden Moment unser persönliches Freiheitsstreben unsere eben noch wacker dirigierte und selbst durch das Beziehungsmodell abgesicherte Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit sabotiert – und aussticht.
Dazu gesellt sich ein Phänomen, welches speziell in Mehrfachbeziehungskreisen als „NRE“ („New Relationship Energy“, zu Deutsch in etwa: „Neubeziehungs-Energie“) bekannt und gelegentlich gefürchtet ist. Die englische Wikipedia konkretisiert: »Neubeziehungs-Energie (oder NRE) bezieht sich auf einen Gemütszustand, der zu Beginn sexueller und romantischer Beziehungen auftritt und typischerweise mit erhöhten emotionalen und sexuellen Gefühlen und Erregung einhergeht.«
„Neubeziehungs-Energie“ kann für die hinzukommende Beziehung also prinzipiell auch etwas Gutes bedeuten – aber leider ist sie manchmal bereits das Kennzeichen brechenden Eises.

Was genau hat uns daher auf den See geführt?
Wenn unsere „Sehnsucht nach (mehr) Verbundenheit“ einen erhöhten Bedürftigkeitsanteil enthält (und das ist, weil wir eben noch keine „gewohnten Freiheitsanwender*innen“ sind, gar nicht so unwahrscheinlich), dann besteht die Gefahr, daß in dem Moment, wo sich für uns die schiere Möglichkeit einer weiteren intimen/romantischen Beziehung abzeichnet, wie in meinem ersten Beispiel wir unsere Sicherheitsventile sprengen. Wir „wollen“ so dringend aufgrund unserer inneren Bedürfnislage (bzw. eben irgendeiner dortigen „Unterdeckung“) eine weitere Beziehung – und würden dafür blind – und durch reichlich NRE-Hormonen zusätzlich enthemmt – auch hier einen Teil unseres eigentlich von uns in Anspruch genommenen Selbstbildes fallen lassen, nur um uns irgendwie bloß diese Beziehung sicherzustellen.
Das Eis bricht.

Es geschieht etwas, was viele Bestandspartner*innen in Mehrfachbeziehungen, auch noch in „ethischen“ wie der Polyamorie, zu regelmäßig erleben: Die geliebte Person scheint nicht nur plötzlich überwiegende Teile von Gefühlen, Zeit und substantiellen Ressourcen der neuen Beziehungsperson zuzuwenden, nein, Einwendungen, Kummer, Hinweise auf bestehende Verbindlichkeiten und Verpflichtungen werden mit dem (ausgesprochenen – oder auch impliziten) Hinweis auf die persönliche Freiheit weggewischt, relativiert, vielleicht verlacht oder mit Hinweis auf fehlende Mitfreude, besitzergreifendes Verhalten und monoamore Kleinlichkeit sogar als „unberechtigt“ verurteilt.
Daß Bestandspartner*innen an diesem Punkt ihre gerade im Eis einbrechenden Lieblingsmenschen buchstäblich „nicht wiedererkennen“ ist hier absolut verständlich: Denn bis vor kurzer Zeit hat sich der Lieblingsmensch ja noch zu Werten und Idealen seines „Kernselbst“ bekannt (und danach verhalten) die jetzt plötzlich nicht mehr festzustellen sind.

Sind wir die Person, die solcherart ins Eis eingebrochen ist, dann wird es schwer uns „zu retten“. Da wir gerade den für uns selbst noch sicher geglaubten Boden unter den Füßen verloren haben, merken wir, daß wir „ins Schwimmen“ geraten…
Die neue Beziehung, die aber noch gar nicht wirklich etabliert ist, wollen wir um jeden Preis behalten, die bereits vorhandene(n) nicht lassen, denn die haben uns bis eben noch den Halt des festen Ufers geboten – uns so zerschlagen wir im Namen der persönlichen Freiheit (weil wir ungestüm versuchen Herr*in der weggleitenden Lage zu bleiben) immer mehr von dem Eis um uns herum, so daß sowohl die Gefahr besteht, daß wir wirklich untergehen – als auch das Risiko wächst, daß wir von außen nicht mehr erreichbar sind und das letzte an „Substanz“, was uns mal mit dem Ufer verbunden hatte, auch noch zerstören.

Sehr regelmäßig wird in poly- und oligoamoren Kreisen immer noch der persönlichen Freiheit und der unbedingten „Offenheit“ des Liebens ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt, in einer Weise, wie man sie vermutlich dem höchsten und alle anderen Karten schlagenden Trumpf in einem Kartenspiel beimessen würde. U.a. in meinem Eintrag 28 (Freiheit der Liebe) und Eintrag 67 (offen Lieben) beschreibe ich, warum diese Herangehensweise aus meiner Sicht nicht dazu beiträgt, auf Augenhöhe beruhende, vertrauensvolle und wertschätzende (Mehrfach)Beziehungen zu etablieren.

Sich Bahn brechende persönliche Freiheit ist in menschlichen Nahbeziehungen wie ein scharfer Granatsplitter, mit dem Potential viel Schaden anzurichten bis hin zur Zerstörung der betroffenen Beziehungen. In Eintrag 42 argumentiere ich, daß in unseren vertrauten Beziehungen unser persönliches Freiheitsstreben daher in persönliche Verantwortlichkeitsübernahme eingebettet sein muß.
Für unsere Bestandspartner*innen sind solche „Selbstentäußerungsereignisse“ (wenn wir uns im fiebrigen Bemühen um eine andere Beziehung von eigentlich wichtigen Teilen unseres Selbst entäußern) wie oben beschrieben, beängstigende und häufig auch verletzende Vorgänge.
Wir können als fehlbare – und gelegentlich bedürftige – Menschen vermutlich nie völlig verhindern, daß sich solches ereignet.
Was wir aber tun können ist, daß wir aus eigenem Antrieb zu unserem Kernselbst zurückfinden, Verantwortlichkeit für unser Handeln übernehmen und uns damit für die Menschen die uns kennen – und nicht zuletzt auch für unser eigenes Identitätsgefühl! – dem wieder Profil geben, was uns wichtig ist und uns ausmachen soll.
Unsere Sehnsucht nach Verbundenheit – so unerfüllt oder schon erfüllt sie in diesem Moment gerade ist – wird es uns danken. Denn am Ende des Tages zählt in unseren Herzen nicht, welche Teile von uns wir um den Kampf für die persönliche Freiheit geopfert haben, das hält uns weder warm noch zufrieden.
Am Ende des Tages wollen wir zu unseren Liebsten zurückkehren, wollen uns an ihrem Wiedererkennen mitfreuen, wenn sie uns wahrnehmen.
Und wir wollen beim Blick in den Spiegel ganz ungeteilte Freude an uns selbst haben, daß wir idealistisch, etwas verrückt und sicherlich auch mit ein paar nicht immer ganz berechenbaren Eigenheiten unterwegs sind. Daß wir aber nach allem trotzdem einen beruhigenden Sinnzusammenhang, eine echte Souveränität verleihende Schlüssigkeit zwischen unserem idealen Selbst, welches wir gerne wären, und unserem tatsächlich wahrgenommenen Selbst, welches wir hier und jetzt gerade sind, erkennen können¹.
So bestätigend wie beruhigend.

…oder wie Johann Wolfgang von Goethe in seinem „Osterspaziergang“ (aus dem Drama Faust ), dessen erste Zeile mir als Überschrift dieses Eintrags diente, es am Ende des gleichen Gedichts beschrieb:

»Zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!«


¹ psychologisches Konzept der sg. Kohärenz nach Carl Rogers

Danke an Vincent Foret auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 86

Liebst Du mich (noch)?

Du sagst, du liebst den Regen,
aber du öffnest deinen Regenschirm
wenn es regnet.

Du sagst, du liebst die Sonne,
aber du suchst dir einen schattigen Fleck
wenn sie scheint.

Du sagst, du liebst den Wind,
aber du schließt die Fenster
wenn er weht.

Deshalb habe ich Angst,
als du sagtest
dass du mich auch liebst.

(anonym. türkisches Gedicht, „Korkuyorum“ [dt.:“Ich habe Angst“])

Wenn die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ gestellt wird, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Ursula Nuber, dann stehen dahinter eigentlich tiefere Fragen wie z.B. „Warum liebst Du mich?“, „Was liebst Du an mir?“ oder auch „Warum bist Du mit mir zusammen?“.
Für liebende Menschen – für uns und unsere Partner*innen also – ist es darum wichtig, wenn wir darauf eine gute Antwort, nein, nicht nur „hören“, sondern mit unserem ganzen Dasein erleben und empfinden dürfen.
Denn Antworten wie die Folgenden hat vermutlich jede*r schon einmal in der Hektik des Alltags zurückbekommen: „Na klar…!“, „Natürlich, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier…“ oder sogar „Warum fragst Du, das weißt Du doch!“.
Solcherlei rasche „Beschwichtigungen“, die ja oft ohne viel Nachdenken erwidert werden, können heikel sein, denn wenn die fragende Person sich ihrer Sache tief im Inneren wirklich ganz sicher wäre, hätte sie höchstwahrscheinlich doch nicht gefragt…
Dies sieht auch Ursula Nuber so, die lange Jahre Chefredakteurin der Zeitschrift „Psychologie Heute“ war und sich als Praktikerin in ihren Büchern darüber hinaus mit Bindungsstilen in Partnerschaften und den Dynamiken in Langzeitbeziehungen auseinandersetzt.¹
Ihre wichtigsten Erkenntnisse kann ich hier auf diesem bLog für ethische Mehrfachbeziehungen sämtlich unterstreichen, da ihre Erscheinungen mir in den letzten Jahren auf meiner Reise durch die Sphären der Poly- und Oligoamory regelmäßig begegnet sind.
Zusätzlich habe ich allerdings festgestellt, daß Mehrfachbeziehungen offensichtlich die Fähigkeit haben, in Partnerschaftsdingen nicht nur wie ein Brennglas, sondern auch in gewisser Weise wie ein Zeitraffer zu wirken, so daß bestimmte Umstände in romantischen Mehrpersonenkonstellationen gelegentlich deutlicher – aber vor allem schneller – zu Tage treten, als es bei herkömmlichen Paarbeziehungen der Fall ist.

Interessanterweise ist eine der Stellgrößen, die zu der „Brennglaseigenschaft“ beitragen, gerade das Vorhandensein von mehreren Beziehungsbeteiligten, da diese Vielfalt in gewisser Weise für uns als Menschen – wie in meinem Eintrag 83 der Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch sagt – ein „Stressor“ ist. Gleichzeitig wissen wir dank der modernen Stressforschung, daß „Stress an sich“ erst einmal keine Aussage darüber erlaubt, ob wir dies als anregend und positiv im Sinne von sg. „Eustress“ erleben – oder eben als überfordernd und belastend, so wie das Wort „Stress“ überwiegend im Alltagsgebrauch verwendet wird: als negativer „Distress“.
Die Stressforschung gibt damit zugleich eine Antwort auf die Frage, wie es sein kann, daß manche Menschen unter dem gleichen Stress über sich hinauswachsen und sogar zu altruistischen Akten für die Gemeinschaft fähig sind, während andere zu den berüchtigten „Hamstern“ und Eigenbrötlern werden, die nur noch das eigene Wohl und Überleben im Sinn haben.

In ihrem Buch „Sag mal, liebst du mich eigentlich noch?“¹ läßt die Autorin Ursula Nuber den schweizerischen Psychotherapeuten und Paarforscher Guy Bodenmann zu Wort kommen, der erklärt: »Unter [Di]Stress vernachlässigt man die Pflege der Liebe. Man nimmt sich zu wenig Zeit füreinander, wird unachtsam, verliert Positivität, ignoriert eigene Bedürfnisse und die der anderen. [Di]Stress macht egozentrisch, intolerant und dominant.«

Frau Nuber ergänzt jedoch, daß es eben in Beziehungsdingen hier nicht vorrangig um den „von außen“ generierten Stress geht, der die Beteiligten unter Druck setzt, sondern um den in der Beziehung „hausgemachten“, der wesentlich zersetzender sein kann – und letztendlich über Auflösung oder Bestand der Beziehung entscheidet.

Die beiden wesentlichsten Aspekte, die hierbei eine Rolle spielen, und die auch bei Frau Nuber allenthalben zu finden sind, lauten aus meiner Sicht:

1. Wertschätzung

Die wahrscheinlich häufigste Klage, die ich in zahlreichen persönlichen Gesprächen – aber auch immer wiederkehrend in den sozialen Netzwerken – hinsichtlich ungünstig verlaufender Mehrfachbeziehungen gehört habe, läßt sich auf die Wurzel „mangelnde Wertschätzung“ reduzieren. Das ist keine Kleinigkeit, sondern das Beziehungsgift Nr. 1 schlechthin, lautet mein Lieblingszitat auf diesem bLog doch:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«²

Neben dem oben genannten, erst einmal „neutralen Stressors“ der Mehrpersonenkonstellation könnte es in Mehrfachbeziehungen möglicherweise ein Problem sein, daß wir die Verliebtheit bzw. Liebe darin als etwas zu selbstverständlich sehen, weil sie ja gerade von mehreren Seiten scheinbar so reichlich eingebracht wird. Dadurch ist die Verführung hoch, die „Erhaltung“ dieses gemeinsamen Schatzes vielleicht ebenfalls zu sehr als Selbstverständlichkeit anzusehen – und dadurch zu vernachlässigen.
Als Kennzeichen solcher Vernachlässigung identifiziert Psychologin Nuber fünf Punkte, die vermutlich jede*r, der*die*das jemals in Beziehung war, nachvollziehen kann:
Erstens die rasch nachlassende Wertschätzung für das oben zitierte „Kernselbst“ der anderen Beteiligten. Einander das Ego zu stärken und eben nicht als Selbstverständlichkeit – oder, wie der Schauspieler Anthony Hopkins es einmal formulierte, als bloße „Lebensdreingabe“ – behandelt zu werden ist eine der wichtigsten Säulen einer jeden Beziehung.
Zweitens nennt Frau Nuber die „fehlenden Gesten der Liebe“, womit sie keine Galadinner oder Traumurlaube meint, sondern die schlichten Zeichen der Verbundenheit; speziell die kleinen Rituale, die im Alltag Zusammenhalt symbolisieren.
Drittens bezeichnet sie mit „fehlendem Verständnis“ die Unwilligkeit zum Perspektivwechsel hin zu den berühmten „Mokassin der Anderen“, in deren Schuhe man sich gelegentlich stellen sollte. Gerade hier sei ein wichtiges Werkzeug verborgen, nicht nur Empathie zu üben (was nicht allen von uns leicht fällt), sondern vor allem erst einmal gerade nicht eigener Selbstbezogenheit zum Opfer zu fallen (!).
Als Viertes zählt sie „fehlenden Respekt“ auf, womit sie die unter Erstens erwähnte fehlende Wertschätzung dahingehend erweitert, daß innerhalb einer Beziehung oft sehr schnell Respektsgrenzen fallen gelassen werden, die man locker befreundeten oder gar fremden Personen gegenüber nie überschreiten würden, sowohl verbal z.B. als auch im Verhalten.
Dies mündet beim Punkt Fünftens in dem Ausdruck „zu viele Verletzungen“ die sich oft schon nach kurzer Zeit auf diese Weise zugefügt werden.

Auf diese Weise verflüchtigen sich in einer Beziehung möglicherweise bereits nach kurzer Zeit für die Beteiligten die ursprünglichen Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen und Freundschaft, welche nun einem sich verdichtenden „psychischen Smog“ weichen (ein Konzept des australischen Psychotherapeuten Russ Harris). Dieses Phänomen beschreibt einen Zustand, in dem ich bereits etliche in Turbulenzen geratene Polyküle (auch meine eigenen!) erlebt habe: Ein verunsichertes und verzweifeltes Suchen nach echtem Kontakt, bei dem sich die Beteiligten aber in einem dichten Nebel aus Gedankenkarussellen, starren Haltungen und Verletzungsbefürchtung bewegen und so stattdessen immer öfter zusätzlich erneut schmerzhaft aufeinanderstoßen.
Infolge sinkt das Selbstwertgefühl zusätzlich, die Atmosphäre wandelt sich von einem Ort der Nähe zu einem Ort des Mißtrauens und die Isolation der Beteiligten schreitet fort.

Spätestens jetzt wird klar, wie die Frage „Liebst Du mich (noch)?“ ein Indikator dafür ist, daß beteiligte Personen mit sich hadern, ob sie in der Beziehung noch gesehen werden, ob sie noch wichtig sind – bzw. sogar ob sie noch „richtig“ sind.

Der Schlüssel an dieser Stelle ist, ob es den Beteiligten in einer (Mehrfach)Beziehung gelingt, für sich eine positive und stärkende Antwort auf die Frage zu finden, was denn ihre Identifikation mit der Gesamtbeziehung ausmacht:
Gemäß den drei Autoren meines zu Beginn dieses Abschnitts eingebrachten Zitats, Cohen, Underwood und Gottlieb², bedeuten Nähe und Intimität – also „sich als geliebt zu empfinden“, daß man Respekt erfährt, daß es eine Atmosphäre der Offenheit gibt, in der wir Resonanz erfahren für unsere Sorgen, Wünsche, Freuden und Ängste, wo wir umfassend „gehört“ werden.
Die Psychologin Ursula Nuber nennt auch hier fünf Punkte:
Erstens die diesem Abschnitt als Überschrift dienende Wertschätzung, in dem Sinne, daß es durchaus in jeder Beziehung wichtig ist und wichtig bleibt, warum jemand geliebt wird – und das diese Frage ebenso wenig banal wie jede ihrer möglichen Antworten ist. Ausschlaggebend ist, daß die Frage gestellt werden darf – noch mehr aber, daß sie immer mal wieder auch ohne ausgesprochen zu werden eine individuelle – eben auf das Kernselbst der anderen – zielende Antwort erfährt.
Zweitens, daß es dazu eben Aufmerksamkeit benötigt, die wirkliches und echtes Interesse signalisiert, wozu die berühmte wahrhafte und aktive Kommunikation von miteinander Sprechen und Zuhören stattfinden muß. Wir müssen erkennen wollen, wie es unseren Lieblingsmenschen geht – und wir möchten das für uns selbst doch auch, um uns als wahrgenommen zu empfinden.
Drittens, wie oben auch Cohen, Underwood und Gottlieb beschreiben, müssen wir uns gegenseitig in unseren Stärken unterstützen. Das mag wie ein schwaches Werkzeug klingen – ist es aber nicht, da genau dies unser Erleben garantiert, wenn wir unterstützt werden, daß wir so registrieren definitiv mehr als „nur eine Lebensdreingabe“ für den Spaß der anderen zu sein.
Viertens: Quasi als Erweiterung von Drittens nennt Frau Nuber „Solidarität“. Womit präzise die meiner Meinung nach wichtigsten (Mehrfach)Beziehungsqualitäten Verbindlichkeit, Berechenbarkeit und „sich sicher sein können“ gemeint sind. Dieser bLog würde ohne diese Werte keinen Sinn ergeben.
Fünftens und Letztens: Empathie, mit der Frau Nuber aber vor allem „emotionale Nähe“ bezeichnet und die sie mit dem Satz „Hier, bei Dir / bei Euch bin ich richtig.“ in Worte fasst.

2. Veränderung zulassen

Nächsten Monat wir das Oligoamory-Projekt fünf Jahre alt, Euer Oligotropos ist neulich 50 Jahre alt geworden…
Auf der Startseite dieses bLogs schrieb ich einst einige Zeilen über die Wahl des Oligoamory-Symbols aus Herz und Doppelspirale – aber über die Auswirkungen dieser Doppelspirale habe ich in meinen Einträgen bisher noch längst nicht so viel gesagt wie über die Auswirkungen des allgegenwärtigen Herzens. Die Doppelspirale die ich ja als Kennzeichen für Zeit und Endlichkeit gewählt habe, steht damit auch für Veränderung, der wir gemäß Ursula Nuber in unseren Beziehungen oft einen zu untergeordneten Stellen wert einräumen – falls überhaupt.
In einem Gespräch mit dem Journalisten Ben Kendal, der unter anderem der Einbecker Morgenpost sein Interview³ zur Verfügung stellte, erläutert die Psychologin, warum wir daher viel zu häufig noch mit einem wenig förderlichen, romantisch verbrämten, statischen Bild der anderen beteiligten Personen an unsere Beziehungen herangehen.
Dies kann nämlich einerseits dazu führen, daß wir bestimmte Charakterzüge einer Person, die wir zu Beginn einer Beziehung schätzen, irgendwann als nervtötende oder entwicklungshemmende Eigenheiten ablehnen. Berühmte Beispiele sind ja der „stille Fels in der Brandung“, der eines Tages als maulfauler Kommunikationsverweigerer wahrgenommen wird. Ebenso wie das Gegenstück des lebhaften „Social Animals“, dessen animierender Aktionismus und Extroversion mit der Zeit zu einem Zerrbild aus Unruhestifterin und Nervensäge zerrinnt.
Andererseits, und da benennt Frau Nuber doch eine – vielleicht von uns manchmal verdrängte – unumstößliche Tatsache: Menschen verändern sich ihr Leben lang – und sie verändern sich auch in ihren Beziehungen, womit sich demgemäß dann ebenfalls diese Beziehungen verändern.
Die Psychologin rät daher, danach zu streben sich in seinen Unterschiedlichkeiten anzunehmen und eben nicht mit „Rettungsphantasien“ oder „Bestandsforderungen“ darauf zu reagieren. Es sei wichtig, dahingehend die Erwartungen an die Beziehung zu überprüfen, denn Beziehungen müssten „sich bewegen dürfen“, um bestehen zu können.
Wörtlich sagt sie: »Nur weil wir jetzt glücklich sind, heißt das nicht, dass das immer so bleiben wird. Sie müssen damit rechnen, dass es Herausforderungen geben wird. […] Jeder Mensch muss sich darauf einstellen, dass sich Partnerinnen und Partner in einer Art und Weise entwickeln können, mit der er nie gerechnet hätte. […] Gleichzeitig zieht man in einer solchen Situation oft Bilanz: Möchte ich mit diesem Mann oder dieser Frau noch weitere Jahre leben?«
Auf den Untersuchungen der US-amerikanischen Psychologin Judith Wallerstein aufbauend, die in ihren Studien Langzeitbeziehungen erforschte, erklärt Ursula Nuber, daß „glückliche Beziehungen“ in der Lage sind, ihre Situation realistisch einzuschätzen, zwar von den „guten Zeiten“ zu schwärmen – aber auch „schlechte Zeiten“ zur Sprache zu bringen. Gerade diesen Beziehungen gelänge es, auch in schwierigen Zeiten festzuhalten und daran zu glauben, daß darin eine Entwicklungschance läge. „Glückliche Beziehungen“ würden ihr Beisammensein nie als „vollendetes Kunstwerk“ oder als selbstverständlich hinnehmen; Liebe sei ständig im Wandel und kein statisches Gebilde.
Frau Nuber resümiert, daß der Sinn einer Liebe also nicht das ist, was gesellschaftlich allgemein als „glücklich“ angepriesen wird, sondern vielmehr die gemeinsame Entwicklung der Beziehungsbeteiligten. Sei es den Beteiligten bewußt, daß der Sinn eines gemeinsamen Lebens darin läge, miteinander (auch manchmal unter Schmerzen) zu wachsen, könnten sie dadurch gestärkt jeder möglichen weiteren Hürde gegenübertreten.
Würde eine solche (Langzeit)Beziehung irgendwann einmal auf ihre Krisen zurückschauen, würden die Beteiligten nicht mehr wissen wollen „Sind wir noch glücklich?“, sondern „Ja!“ auf die Frage antworten, die da hieße „Hat unsere Beziehung noch einen Sinn?“. Denn dies sei die Frage, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sinnvolle Anhaltspunkte fürs gemeinsame Weitermachen liefern würde.

Wenn die Sonne scheint.
Wenn der Wind weht.
Und solange die Liebe währt.



¹ Ursula Nuber: „Der Bindungseffekt – Wie frühe Erfahrungen unser Bindungsglück beinflussen und wie wir damit umgehen können“, Piper 2020 und „Sag mal liebst du mich eigentlich noch?“, Piper 2022

² S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000.
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

³ aus Einbecker Morgenpost Kompakt, Mittwoch 8. Februar 2023 –„Vor allem zählt Wertschätzung“; von Ben Kendal

Danke an Rebecca Scholz auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 85

Kleine Selbsterforschung

Auf welchen Schultern stehst Du?
In wessen Spuren gehst Du?
Mit welchen Augen siehst Du?
In welchen Büchern liest Du?

Mit welchem Segen lebst Du?
An welchen Plänen webst Du?
An welchen Orten weilst Du?
Und wessen Leben teilst Du?*

In meiner letzten Neujahrsansprache im Januar 2022 habe ich uns alle vergangenes Jahr aufgefordert, in unseren Beziehungen bewußte und proaktive Entscheidungen zu treffen. Als ich soeben meinen Stromtarif mithilfe einer sehr freundlichen Servicemitarbeiterin anpasste, mußte ich lächelnd an diesen damaligen Aufruf denken, da ich ja im Falle meines Energieverbrauchs auch schlicht die brieflich angekündigte Preiserhöhung aus Bequemlichkeit hätte übernehmen können – mit dem exemplarischen Nebeneffekt, sich das restliche Jahr mit den kleinen Stimmchen im Kopf herumzuschlagen, daß ich mich doch rechtzeitig um eine Verbesserung meiner Konditionen hätte kümmern sollen…
Beziehungen sind da nicht anders: Entweder wir suchen regelmäßig die Punkte auf, bei denen wir glauben, daß dort noch etwas zu Gunsten der Beteiligten zu erreichen ist – oder wir verharren im behäbigen Eimer unseres Status quos, vorderhand bequem, aber um den Preis der erwähnten nagenden Stimmen und eines unwillkürlich fortgesetzten (und vermutlich weiter ansteigenden) Unbehagens.
Überhaupt drehten sich meine Einträge des Jahres 2022 sehr stark darum, wie präsent wir unsere Beziehungen zu führen in der Lage wären. Im Februar setzte ich mich z.B. dafür ein, uns selbst und unsere Beziehungen als vollumfängliche Verbundenheit zu betrachten, um zu verstehen, wie wir selbst mit unserem Wohl und Wehe, sowie mit unseren Entscheidungen dahingehend, darin bestehen. Dafür lieferte ich im März ein persönliches Beispiel, wie schnell eine aus eigener Befindlichkeit etwas selbstvergessen angestoßene Dominokette buchstäblich auf einen selbst zurückfallen kann. Im April beleuchtete ich genau jene Befindlichkeiten näher, die uns aus unserer biographischen Vergangenheit heraus manchmal sehr verführen, bestimmte Wahlen immer wieder in einer ähnlich ungünstigen Weise zu treffen, solange es uns nicht gelingt uns diesen mit Mut und Wohlwollen zuzuwenden. Wie man es hingegen mit Schwung falsch macht, dafür lieferte ich eine nicht nur ironisch gemeinte Achterbahnfahrt der Gefühle im Mai. Folgerichtig widmete ich den Juni-Eintrag dem „Nicht-Gelingen“, einhergehend mit der Ermutigung, darob nicht seinem inneren Hauptamtsleiter für Zweckpessimismus zum Opfer zu fallen. Dafür griff ich auch in meinem Lieblingsartikel des Jahres 2022 im Juli noch einmal die sieben wichtigsten Hauptaspekte der Oligoamory auf, betonend, daß „in-Beziehung-Sein“ immer eine ganz besondere Hingabe von eigentlich schon spiritueller Natur in sich trägt. Wie dieses „untereinander-Verbundensein“ in der Praxis aussehen würde, dem widmete ich die Einträge von August und September, nochmals unsere wechselnden Rollen in einem Gesamtbeziehungsgeflecht darstellend. Im Oktoberartikel schlug ich anschließend den Bogen zu Spiritualität und Queerness zurück; im November insbesondere auf die Herausforderungen eines polyamoren „Coming-Outs“ hinweisend – und warum wir leider manchmal „zurück in den Besenschrank“ streben. Daher ging ich im gerade zurückliegenden Dezember-Eintrag speziell auf die besondere Sorgfaltspflege hinsichtlich der „kleinsten Beziehungseinheit“ ein – nämlich dem Du und Ich.

Nachdem hiermit der traditionelle, oligoamore Jahresrückblick erfolgt ist, möchte ich statt einer zusätzlichen Neujahrsansprache lieber die britische Dichterin Sean R.J. Wilmot mit ihrer „Sanften Erinnerung für 2023“ zu Wort kommen lassen, in der sie sagt:

»Es erfordert Mut, alte Gewohnheiten zu durchbrechen, sich der Stimme in seinem Kopf zuzuwenden und zu sagen: „Ich werde nicht zulassen, dass du so mit mir sprichst.“
Denn es erfordert Courage, sich hinzusetzen und ein Gespräch mit seinen Irrtümern zu führen.
Wachstum ist unangenehm; es ist langsam und selten stetig, aber ich verspreche dir, dass nichts, was in voller Blüte steht, dir jemals sagen wird, dass es die Mühe nicht wert war.
Nimm dir einen Augenblick, um wahrzunehmen, wie weit du schon gekommen bist. Schau dir all die Brücken an, die du überquert hast, alles, was du bereits getan hast. Da gab es Zeiten, in denen du dachtest, die Welt würde untergehen, und dennoch hast du durchgehalten, um es zu überstehen.
Und ich weiß, dass du dir oft für die kleinen Dinge keine Anerkennung schenkst, aber auch in diesen Dingen liegt Stärke. Versuche dich daran zu erinnern, dass „für immer“ lediglich eine Summe aus vielen „gerade jetzt“ ist.
Du wirst niemals alles herausgefunden haben. Deinem Leben ist es also erlaubt, wie ein Kunstwerk aus der Renaissancezeit und zugleich wie ein Projekt in Bearbeitung auszusehen. Warte daher nicht erst bis der Tag perfekt ist, um aufzublicken und den Sonnenaufgang anzuschauen.«

Alte Gewohnheit läßt uns also nicht nur an unserem Stromtarif festhalten…
Unsere „Gewohnheit“ (Wiktionary: »Handlung, die zur Routine wurde und immer wieder, oft unbewusst, wiederholt wird.«) müssen wir folglich immer wieder herausfordern – und sie dafür zunächst einmal einigermaßen identifizieren. Der evangelische Theologe und Autor Klaus Nagorni hat in seiner „Kleinen Selbsterforschung“ – was auch der Titel des Gedichts ist, mit dem ich diesen Eintrag begonnen habe – dazu Fragen genutzt. Und es ist gut, wenn wir uns selbst Fragen stellen, denn diese haben die Chance, uns an den Rand unserer Komfortzone heranzuführen – und gewähren uns von dort eventuell einen (halbwegs) ungefährlichen Blick auf das, was jenseits liegt…

Für mich lautet eine der wichtigsten Fragen im Mehrfachbeziehungsuniversum immer wieder: „Warum möchte ich Mehrfachbeziehungen führen?“
Und die Frage die dahintersteckt lautet ja genau genommen: „Was für Bedürfnisse gibt es denn, bei denen ich glaube, daß ich sie mir durch das Führen mehrfacher (und paralleler) romantischer Liebesbeziehungen besser erfüllen könnte?
Für jemanden wie mich sind das höchst wichtige und spannende Fragen. Denn der Aufwand logistischer wie persönlicher Natur wird mit „mehr Beziehung“ in jedem Fall steigen – bzw. wie der US-amerikanische Psychater Scott Peck es freundlicher formulierte: „…es wird dadurch nicht weniger Probleme geben – aber dafür mehr Leben!“.
Ein genauer Blick auf unsere Bedürfnislage lohnt demgemäß auf jeden Fall.
Die „Fremdbedürfniserfüllung“ – die innerhalb polyamorer Kreise so häufig benannt wird [→„Ich bin polyamor, weil ich ja nicht mehr nur einem Menschen den Druck auferlegen will, für alle meine Bedürfnisse da zu sein, so wie in der Monogamie. Bloß ein Mensch allein könnte die auch niiiiiie erfüllen…“] – habe ich auf diesem bLog bereits mehrfach abgelehnt (vor allem Eintrag 58). Ob wir nämlich mit Charlie kitesurfen, mit Juri zum Tantrawochenende fahren oder mit Lou eine Vernissage besuchen: Niemals erfüllt eine*r dieser Partner*innen eines unserer Bedürfnisse – weder das nach dem Adrenalinkick, nicht das nach Erotik, noch das nach Ästhetik. Denn regelmäßig wird Marshall Rosenberg, der Vater der „Gewaltfreien Kommunikation“, der sich selbst in die Nachfolge des Bedürfnisforschers Abraham Maslow stellte, diesbezüglich falsch zitiert. Er verwendete nämlich zu keinem Zeitpunkt das Wort „erfüllen“ – sondern sagte stets „beitragen“. Was Charlie, Juri und Lou also maximal können ist „beitragen“. Und das bedeutet im Rückschluss: „erfüllen“ müssen wir Menschen, jede*r für sich, uns unsere Bedürfnisse schon selbst (!).

Das ist der Grund, warum ich der Selbsterkenntnis in der Oligoamory so einen hohen Stellenwert einräume (siehe Eintrag 46). Und damit ist es auch in unseren Beziehungen von größter Wichtigkeit, sehr sorgsam diese Verantwortlichkeit für unsere Bedürfnisse zu verstehen und zu übernehmen. Denn wie der erwähnte Marshall Rosenberg es einmal ausdrückte: »Wir verfügen nicht über einen magischen Gedankenlese-Rubin in unserer Stirn; niemand von uns kann vorausahnen, was der andere genau braucht; dies muss darum jedes Mal kommuniziert werden.«
Natürlich entzaubern diese Worte in einer gewissen unromantischen Weise die Hoffnung darauf, daß unsere Gegenüber schon erkennen, was uns fehlt (und also beschaffen), noch bevor wir es selbst richtig erfasst oder gar ausgesprochen hätten. Und auch darauf, daß es „Seelengefährten“ gibt, die uns so gut – oder noch besser – „lesen“ können, als wir es selbst vermögen. Gleichzeitig – und für ein gesundes Beziehungsleben ist diese Botschaft wesentlich bedeutsamer – erlaubt diese Erkenntnis auch, daß jedes vorauseilende Agieren in der vermeintlichen Bedürfnissphäre der anderen Beziehungsteilnehmer aufhören darf; und oftmals hat dies ja auch eine übereifrige, ja fast schon übergriffige und manchmal gar kontrollierende Wurzel in sich: „Bleib sitzen, Schatz, ich weiß schon, was Du brauchst…!“.

Uns also selbst zu fragen, was wir wollen, warum wir es wollen – und ob es gut für uns ist – sind wichtige Fragen.
Mittlerweile tief im Januar-Eintrag 2023 wird es darum an dieser Stelle höchste Zeit für ein persönliches Beispiel:

Von meinen eigenen Erfahrungen auf dem Dating-Planeten habe ich in den letzten vier Jahren verschiedentlich auf diesem bLog geschrieben. Im letzten Jahr ist durch eines meiner Dating-Abenteuer eine Verbindung entstanden, jedoch zeigte sich beim ersten Treffen keinerlei romantische Komponente. Da weder die andere Person noch ich wirklich als „Vieldater“ gelten können, haben wir uns beide ein bißchen darüber geärgert; „geärgert“ im Sinne von „etwas enttäuscht“.
Indessen: Es zeigte sich bei diesem ersten Treffen trotzdem, daß wir einander als Menschen sehr interessant, anregend und auch bereichernd fanden. Und wir beschlossen, wiewohl wir ja „eigentlich“ ein „klassisches Date“ mit der Hoffnung auf Stiftung eines romantischen Kontextes angegangen waren, daß wir uns auf den Versuch einer alternativ daraus hervorgehenden „Erwachsenenfreundschaft“ einlassen wollten. Liebe Leser*innen – soweit gute Neuigkeiten: Mittlerweile haben wir uns schon mehrfach wiedergesehen, schreiben uns Nachrichten, telefonieren ab und an.
Nun zu meinen Bedürfnissen.
Bedürfnisse, die sind eine heikle Sache, sie wirklich ganz genau zu (er)kennen. Mit ihnen ist es ein wenig wie mit dem Blick in die Speisekammer vor dem allabendlichen Fernseh-Tagesausklang auf dem Sofa. Da hat man so ein diffus unbefriedigtes Gefühl, daß noch irgendetwas fehlt, man noch irgendetwas zur (Er)Füllung braucht…, man schweift über die Regale und tief im eigenen Inneren erkennt man eigentlich: Das, was ich wirklich brauche, ist hier gar nicht drin. Tja. Darum wird man dann an dieser Stelle auch oft von seinem schwächeren Selbst gekapert, greift sich trotzdem eine Tüte Chips (oder Ähnliches) und zieht sich in die Fernsehsasse auf dem erwähnten Sofa zurück. Übersprungshandlung. Ersatzhandlung. Ein temporäres, nicht ganz passendes Pflästerchen für ein in Wirklichkeit ganz anders geformtes Loch.
Was hat das jetzt mit meiner neuen Freundschaft zu tun? Will ich mit diesem Beispiel sagen, daß die also (nur) ein Pflaster für mein Polyamory-Defizit ist? Nein, die Lage ist komplexer.
Tatsächlich spürte ich in mir – einige Wochen nach dem Auftakt unserer Freundschaft – eine merkwürdige Regung. Nämlich, daß in mir ein Bedenken umging, daß ich die Freundschaft als „nicht genug“ empfand. In der Tat war es in vier Jahren Dating das erste Mal, daß aus einem Date bei mir eine Freundschaft hervorgegangen war. Auch in der Vergangenheit hatte ich mich mit einigen anderen Datingpartner*innen bei vorherigen Erst-Treffen durchaus gut verstanden. Doch ohne aufkommende romantische Komponente war es damals eben immer dann dabei geblieben.
Und nun ertappte ich mich bei Gedanken, in denen ich meiner neuen Freundschaft einen „geringeren Stellenwert“ beiordnete als eben so einer „richtigen“ oligoamoren Liebesbeziehung. Und spannenderweise traten dabei auch meine beiden altbekannten „inneren Rollen“ auf den Plan, von denen ich bereits in Eintrag 21 berichtet hatte: So bemerkte ich, daß mein „Weißer Ritter“ zu überlegen begann, welche „Gefallen“ er meiner neuen Freund*in erweisen könnte und wie er in ihrem Leben „helfen“ wollte (glücklicherweise war meine neue Freundschaft eine sehr patente Person, die für derlei Ansinnen nur wenig Ansatzpunkte bot). Mein „Vampirlord“ hingegen rasselte laut mit seinen Ketten und forderte mich gierig dazu auf, dringlich der Natur der Beziehung eine romantische oder wenigstens erotische Komponente hinzuzufügen, auf daß auch er Nahrung finden würde.
Die heftige Aufwallung dieser beiden inneren Gestalten, die beide in meiner Vergangenheit geeignet waren mich bei Beziehungsanbahnung gelegentlich zu „überfahren“, ließ mich aufhorchen. Beide Anteile drängten auf eine „vollständige“ weitere Beziehung polyamorer Natur – wenigstens in einer Weise, wie ich Mehrfachbeziehungen schon einige Male angegangen war.
Was hatten die beiden dahingehend an einer „bloßen Freundschaft“ auszusetzen?
Um ihre Motivation zu ergründen, musste ich nun wirklich auf meine Bedürfnisebene hinunter, wo eine faszinierende Erkenntnis auf mich wartete:
Ich stellte nämlich fest, daß es einen Teil in mir gab, der der Überzeugung war, daß nur der Rahmen einer romantischen (polyamoren) Liebesbeziehung ausreichend sei, um wirklich (!) sicherzustellen, daß ich als Mensch in einer Beziehung tatsächlich gemeint, geschätzt, geliebt und anerkannt wäre.
Sämtliche anderen Beziehungsformen würden dies hingegen nicht gewähren können.
Und warum polyamor? Nun, weil das „innere Loch“ in mir offensichtlich dergestalt war, daß ich nach mehr „echter/garantierter“ Zuwendung als von nur einer Person strebte. Und da ein monogames Standardmodell ja nur eine „echte“ Beziehung im Rahmen meines Anspruchsmodells bieten würde, sollte es also die Polyamory sein, mit deren Hilfe ich mir einige meiner tiefsten sozialen Bedürfnisse erfüllen wollte.
Soziale Bedürfnisse, die da (alphabetisch) u.a. Akzeptanz, Anerkennung, Annahme, Aufmerksamkeit, Bedeutsamkeit, Beständigkeit, Freundschaft, Fürsorge, Geborgenheit, Gegenseitigkeit, Gemeinschaft, Harmonie, Intimität, Kontakt, Loyalität, Nähe, Unterstützung, Verbindung, Verbundenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Vertrautheit, Wertschätzung und Zugehörigkeit heißen – und die bei mir wohl (auch biographisch bedingt) in einem Zustand immer wieder zu verspürender Unterdeckung sind.

Was das für mich, Oligotropos, heißt? Das werde ich Euch, meine werte Leserschaft, hoffentlich hier auf dem bLog immer weiter wissen lassen – dann dahingehend stehe ich ja damit gerade erst am Anfang eines Erkenntnisprozesses.
Was es aber auf alle Fälle jetzt schon bedeutet ist, daß ich in Kenntnis dieser Zusammenhänge noch mehr darauf achten werde, meinen Wunsch nach Mehrfachbeziehungen nicht zu instrumentieren.
Weder auf die eingangs erwähnte „bedürfnisverschiebende“ Art, indem ich vorhandene Partner*innen dafür einsetzen würde, möglichst viele „Flicken“ für die von mir identifizierten Bedürfnisdefizite abzugeben.
Noch aber vor allem in Bezug auf meine Grundherangehensweise an (Mehrfach)Beziehungen: In dem ich nun sorgfältiger berücksichtige, welche „Natur“, welchen dringlichen Inhalt einer Beziehung ich aus welchen inneren Ermangelungen herzustellen versucht bin.

Und ich finde durchaus nicht, daß dieser „Fund“ in mir gegen Mehrfachbeziehungen, Poly- oder Oligoamory spricht, weil ich vielleicht aus den „falschen Gründen“ auf dieses Modell verfallen bin.
Ohne meine Bewegung in Mehrfachbeziehungsräumen wäre ich in meiner Selbstanerkenntnis höchstwahrscheinlich niemals dazu gekommen, mich von dieser Seite so gründlich kennenzulernen.

Wichtig bleibt es vielmehr für alle von uns, wach zu bleiben und uns Fragen zu stellen, so wie Herr Nagorni es ganz am Anfang dieses Textes tut. Und uns beherzt der Antworten anzunehmen, denen wir bei unseren kleinen Selbsterforschungen begegnen werden – ganz unperfekt, und ohne dabei auf den Blick auf den Sonnenaufgang zu verzichten.
Ich wünsche uns dabei Geduld, Hingabe und Zuversicht: für unsere vielfältigen Beziehungen, unsere fantastischen Liebsten und für ein gutes neues Jahr.



* Danke an Klaus Nagorni für die freundliche und höchstpersönlich Erlaubnis der Wiedergabe seines Gedichts „Kleine Selbsterforschung“ auf diesem bLog (sämtliche Rechte beim Autor) und ebenfalls Dank an Marlon Trottmann auf Pexels.com für das Foto!

Eintrag 84

Dyadische Keimzellhypothese

In den weltweiten Schöpfungsmythen – insbesondere was die Schöpfung der Menschen angeht – kommt die Polyamorie irgendwie schlecht weg.
Das ist übrigens nicht nur bei dem nach eigenem Bekunden¹ „eifersüchtigen“ Gott der Israeliten der Fall – bei dem alle Religionsangehörigen vermutlich froh sein können, daß dieser überhaupt mehr als bloß ein Wesen und nur ein Geschlecht erschaffen hat, wo doch der vorderasiatische Jahwe/Jehova schon beinahe als Archetyp mono-theistischen und mono-normativen Schöpfens gilt…
Nein, von den Steppen Asiens bis zu den Küsten Papua-Neuguineas, von den Regenwäldern Südamerikas bis zu den eisigen Weiten der Nordpolaregion: Fast überall auf der Welt hat die Geschichte der Menschheit mythologisch mit zunächst einmal lediglich zwei Individuen begonnen, die da sex- und gendermäßig recht überwiegend als Frau und Mann benannt wurden.
Ok, manchmal war einer dieser beiden Partner*innen eine Göttin, die sich einen Mann „fertigte“, um dann nach dessen Beihilfe die Menschheit zu gebären oder ein müßiger Gott, der eine Frau erschuf um der Langeweile der Ewigkeit zu entgehen und mit ihr zum Stammvater der Menschheit avancierte.
Die wenigen Ausnahmen, in der es von Anfang an um „mehr als zwei“ ging – oder wo am Anfang gleich ein betriebsames Getümmel herrschte – muß man schon suchen, götterseidank gibt es aber auch diese:²

Richtig in die Vollen gingen beispielsweise die Götter der Maya, die wohl von vornherein gleich auf eine Vielzahl an Menschen zielten und nach desaströsen Versuchen unter der Verwendung von zunächst Lehm (vom Regen weggespült) und dann Holz (brüchig und illoyal) schließlich mit Maisbrei einen so gigantischen Erfolg erzielten, daß die Götter selbst alsbald vor dem schieren fruchtbaren Gewimmel ihrer Schöpfung Angst verspürten.

Deutlich differenzierter geht es da schon im hawaiianischen Schöpfungsgesang „Kumulipo“ zu. Dort führt die Göttin Laʻilaʻi eine Art proto-polyamore „offene Beziehung“ mit zwei Partnern, aus deren Verbindung drei (selbstverständlich göttliche) Nachkommen hervorgehen, die dann in bester Regenbogenmanier für sich beschließen, da sie geboren wurden, während ihre Mutter mit zwei Männern zusammen war, sich zu „Poʻolua“ (= „die, deren Ursprung im Dunkeln liegt“) zu erklären und die Abstammung von beiden Vätern zu beanspruchen

Wunderbar polyamor geradezu empfinde ich allerdings vor allem die Anfangsgeschichte der Kiowa-Apachen, die von ihrem Schöpfer Kuterastan erzählen, wie er erwachte und sich die Augen rieb. Als er über sich in die Dunkelheit blickte, füllte sich diese mit Licht und erhellte die Dunkelheit darunter. Als er nach Osten blickte, färbte sich das Licht mit dem Gelb der Morgendämmerung, und als er nach Westen blickte, wurde das Licht von den Bernsteintönen der Abenddämmerung durchdrungen. Als er um sich blickte, erschienen Wolken in verschiedenen Farben. Dann rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, und als er sich den Schweiß von den Händen wischte, erschien eine weitere Wolke, auf der ein kleines Mädchen namens Stenatliha saß. Stenatlihas Name bedeutet übersetzt die Frau ohne Eltern. Kuterastan und Stenatliha fragten sich, woher die andere Wolke kam und wo die Erde und der Himmel waren. Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatten, rieb sich Kuterastan erneut die Augen und das Gesicht, dann die Hände, und aus dem Schweiß, der beim Öffnen der Hände floss, erschien zuerst Chuganaai, die Sonne, und dann Hadintin Skhin, der Pollenjunge. Nachdem die vier lange Zeit schweigend auf einer einzigen Wolke saßen, brach Kuterastan schließlich das Schweigen und sagte: „Was sollen wir tun?“ – woraufhin überliefert ist: Und gemeinsam begannen alle miteinander mit der Schöpfung…

Angesichts der erdrückenden Übermacht ausschließlich dyadischer (dyadisch = „aus zwei Einheiten bestehend“ / „den Austausch von zweien betreffend“) Schöpfungsmythen hingegen, bleiben dies dennoch eher bunte Randerscheinungen in einer Beziehungswelt, die offensichtlich ganz überwiegend zu Anfang vor allem für ein Zusammentreffen von erst einmal (nur) zwei Wesen angelegt war.
Wenn wir dahingehend mal den rein reproduktiven Aspekt – der in frühen Kulturen sicher eine wesentliche Rolle spielte (und der in der Mythologie so meist eine „höhere“ Rechtfertigung erhielt) – weglassen, bleibt dann trotzdem noch Weisheit übrig, die nicht nur für uns in der heutigen Zeit noch aktuell ist, sondern auch ein Anrecht hat, gleichwohl auf einem bLog über Mehrfachbeziehungen zu erscheinen?

Klar – rhetorische Frage – ich meine nämlich durchaus, daß dem so ist.
Und tatsächlich wird dies auch innerhalb unserer polyamoren Lebensweise oftmals (an)erkannt.
In einem intensiven Austausch mit der bereits auf dieser Plattform hier zitierten bLoggerin Sacriba (die ihrerseits ebenfalls polyamor lebt) antwortete mir diese einmal auf meine eigene Aussage
»Ich stehe […] auf dem Standpunkt, daß „Verlieben“ bzw. „die erste Zeit“ durchaus Phasen von 1:1-Zeit benötigt. Für mich bildet da dieses 1:1 die „Minikeimzelle“ [einer Beziehung] – und in der „Kennenlernphase“ glaube ich, braucht’s das Aug-in-Aug-Miteinander auf diese Weise auch erst einmal…« Folgendes:

»Da stimme ich dir völlig zu, und möchte sogar noch ergänzen: Ich denke, dass immer wiederkehrende Zu-zweit-Zeiten / 1:1-Zeiten unerlässlich nicht nur für den Anfang, sondern auch für das Aufrechterhalten einer schönen, liebevollen Paarbeziehung sind. Als größtmögliche zwischenmenschliche Nähe ist die romantische Ebene sehr offen, und daher auch sehr verletzlich. Das gilt natürlich umso mehr für den Anfang. Je mehr Einflüsse von „Außen“ hinzu kommen, desto eher machen die betreffenden Menschen zu, und können sich auf dieser Ebene gar nicht mehr begegnen. Aus diesem Grund „erlöschen“ so viele monogame Paarbeziehungen, sobald Kinder hinzukommen: Neben der Erwerbsarbeit und Eltern-Sein mit den Kindern bleibt einfach nicht mehr genug Zeit und Energie für romantische Nähe, und nach einigen Jahren ist davon nichts mehr da.
Interessanterweise passiert bei vielen Menschen, die eine Mehrfachbeziehung tatsächlich ausprobieren, ein ähnliches Phänomen: Alle stecken erst mal ihre Zeit und Energie in den Aufbau des neuen gemeinsamen Systems. Und JA, das ist auch sinnvoll, denn das Zu-Dritt, Zu-Viert, wie auch immer, ist eine neue Struktur, welche Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, gerade in der „Mehrfachbeziehungsbildungsphase“. ABER: Die Paarbeziehungen verschwinden durch dieses neue System nicht. Im Gegenteil, ein Polykül ist sogar als ein „Netzwerk aus zusammenhängenden romantischen Verbindungen“ definiert. Die Paarbeziehungen bleiben als Subsysteme weiterhin bestehen, und damit auch die Voraussetzungen, damit diese überwiegend schön sind und energiegebend wirken, wie eben eine Zu-Zweit-Zeit / 1:1-Zeit.«


Auch in dem Facebook-Forum Polyamorie & Polyfidelity – Die Kunst, mehrfach zu lieben (deutschsprachig) ergab sich erst diesen Monat unter einer Interviewanfrage mit dem Thema „Alltag in polyamoren Beziehungen“ dieser kurze Dialog:
Gruppenmitglied A: »Finde es so wichtig das Außenstehende ein wenig Einblick bekommen um vielleicht zu verstehen das es gar nicht so anders ist als Monogamie.«
Gruppenmitglied B: »Zu dieser Aussage fällt mir ein Aspekt ein. Im Grunde ist ja schon einiges anders als in der Monogamie, aber natürlich nicht alles und eins fällt mir da direkt ein: Auch Poly-Beziehungen sind 2er Beziehungen. Man hat zu allen Partnern eine individuelle Bindung (wie zu seinem einen Partner in einer monogamen Beziehung) und man braucht auch mit jedem Partner Zweisamkeit. Das finde ich das Schöne an der Polyamorie. Dass die Liebe einfach fließen kann, man nichts unterdrücken muss UND dass es trotzdem separate Lieben sind.«

Gerade die Aussagen der beiden Forumsmitglieder, die spontan und geradlinig ihre Gedanken ausgedrückt haben, freuen mich, weil ich ja hier selbst auf meinem bLog bereits in Eintrag 29 und auch wiederholend in Eintrag 72 geschrieben hatte, daß eigentlich die ganze Essenz meines Schreibens hier in dem schlichten Satz »Führt gute Beziehungen!« zusammengefasst sein könnte.
Die Mitglieder A und B oben erläutern mit ihren Aussagen gewissermaßen dieses „Konzentrat“ zweifach: Zum einen, in dem ausgedrückt wird, daß polyamore Beziehungen vom Grundsatz her ganz und gar klassische, romantische menschliche Beziehungen sind, wie alle anderen romantischen menschlichen Beziehungen auch. Zum anderen, daß die Grundstruktur von Mehrfachbeziehungen – die für themenfremde Personen ja gerade in ihrer „verstrickten Gemengelage“ so verrucht wirken – auf einen Nenner gebracht aus individuellen Einzelbeziehungen bestehen.

Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, wenn sich z.B. nun eine Dreierbeziehung getroffen fühlen würde, die das Glück erlebt hätte, daß sich dort alle Personen mehr oder weniger zur gleichen Zeit ineinander verliebt haben. Ich würde tatsächlich auch zu solch einer Gruppe sagen, daß es lohnenswert ist, über die „Untereinanderbeziehungen“ der verschiedenen Mitglieder eines solchen „Dreiers“ einmal so nachzudenken, wie es oben die bLoggerin Sacriba getan hat.

Denn wenn ich „Führt gute Beziehungen!“ sage, dann meine ich das ein wenig wie der irische Autor, Kritiker und Aktivist George Bernard Shaw, der einmal schrieb »Liebe ist die Fähigkeit, den Menschen, die uns wichtig sind, die Freiheit zu lassen, die sie benötigen um so sein zu können, wie sie sein wollen. Unabhängig davon, ob wir uns damit identifizieren können oder nicht.«
Diese Fähigkeit, wenn wir mit dem entsprechenden Menschen eine romantische Liebesbeziehung teilen wollen, bezieht sich meiner Meinung nach nämlich immer auf ein Individuum. Ein Individuum von dem wir andersherum ja (hoffentlich) die selbe Fähigkeit zu unseren Gunsten entgegengebracht bekommen.
Mr. Shaw hat in prägnanter Kurzform formuliert, was längst auch wissenschaftlich erkannt wurde – und was ich bereits verschiedentlich auf diesem bLog zitiert habe; hier noch einmal, weil es so wichtig ist:
»Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.«³

Also ist dieser „Prozess“ kein Selbstläufer und er ist obendrein – wie die bLoggerin Sacriba ganz richtig beobachtet hat – „sehr verletzlich“. Denn wir Menschen wählen aus natürlichem Selbstschutz sehr viel eher eine 1:1-Situation, um zunächst einmal lediglich angesichts einer Person unsere Schilde zu senken und Teile unserer Alltagsrüstung auf Vorvertrauensbasis abzulegen. Solch einen Prozess würden die allermeisten von uns ganz sicher erst in einem zweiten Schritt vor einer Gruppe wagen. Diese „Subsysteme“ also – um einen Begriff von Sacriba aufzugreifen, sind dadurch gewissermaßen die Maschinenräume gelingender Mehrfachbeziehungsführung. Sind diese gesund, d.h. jeweils auf Augenhöhe, aufrichtig, engagiert, vertrauensvoll, und wertschätzend, kann jene Energie erzeugt werden, die dann in einem eventuellen „Gesamtsystem“ zu kreisen beginnen könnte.

Möglicherweise war dieser Zusammenhang den Erzähler*innen der menschlichen Schöpfungsmythen latent – oder auch ganz wissentlich – klar: Abgesehen von der berühmten „guten Beziehung zu uns selbst“ sind wir in unseren menschlichen Verbindungen eben nicht „multitaskingfähig“. Dadurch kommt der Begegnung mit unserem jeweiligen direkten Gegenüber jedes Mal besondere Bedeutung zu – unsere ganze Aufmerksamkeit ist gefragt, Bewußtheit und die oben erwähnte „Aufeinanderbezogenheit“. Egal, ob in den Mythen die Menschenwesen aus Staub, Blut, Kieseln oder Schweiß entstanden – sehr rasch steht jedesmal fest, daß ein „Ich“ vor allem erst einmal ein „Du“ braucht, um sich selbst begreifen aber auch spiegeln zu können.
Mit jedem unserer Lieblingsmenschen jeweils eine eigenständige, vollständige und ganz und gar individuelle Beziehung zu führen ist also von erheblicher Bedeutung für ein gelingendes Partnerschaftsnetzwerk, welches auch zu Mehreren gelingen soll.
Die allererste Grundlage dafür, die Keimzelle, beginnt zwischen zwei Leuten.
Vielleicht war es genau das, was uns die Götter schon zu Anbeginn der Menschheit mit auf den Weg geben wollten.


¹ Die Bibel, Altes Testament – 2. Mose 20, 5: „Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ / 2. Mose 34, 14: „Denn Jahwe trägt den Namen «der Eifersüchtige»; ein eifersüchtiger Gott ist er.“

² Alle Beispiele entstammen der leider nur auf der englischen Wikipedia verfügbaren Sammlung List of creation myths und ihren dortigen Weiterleitungen zur Maya-Schöpfung, dem Kumulipo und zu Kuterastan.

³ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“– A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000
Erstmals bei mir Eintrag 14, aber auch Eintrag 46 (zur Selbsterkenntnis), Eintrag 62 (über Beziehungsfähigkeit) und Eintrag 71 (über Polyamorie).

Danke an Morrisio Indra Hutama auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 83 #Coming-out

Auf…, zu…, auf…, zu…

© Kurt Löwenstein Education CenterBestimmte Rechte vorbehalten

Im letzten Monat schrieb die junge schweizerische PoC-Kolumnistin Noa Dibbasey über ihre Generation Z und deren Verhältnis zu polyamoren Ambitionen: »„Wir sind jetzt offen“, sagen sie und versuchen sich im Mehrgleisigfahren. Durchleben ein Wechselbad der Gefühle. Besprechen dieses mit ihrem Partner. Ganz oft. „Das grenzt fast an ein 40 Prozent Pensum.“ Und dann: „Ab heute wieder geschlossen!“ Nicht bei allen, aber bei vielen. Die meisten kehren nach dem Probiererli zum Status quo zurück.« ¹

Humorvoll und treffend beobachtet, würde ich sagen – zugleich aber ergänzen, daß sich dieses Vorgehen genau genommen in allen Altersstufen potentieller Mehrfachbeziehungsanwärter*innen wahrnehmen läßt. Manchen Menschen, die sich selbst als polyamor beschreiben, passiert dies unter Umständen sogar ein paarmal im Leben. Und so gnädig Noa Dibbasey am Ende ihrer Kolumne über ihre Leidensgefährt*innen urteilt, daß sich ungeachtet dessen auf jeden Fall in Beziehungskommunikation geübt wurde, eine Haltung von Offenheit und Transparenz bewiesen werden konnte… – …frage ich mich, warum unsere Lebensweise denn so einem regelmäßigen An/Aus-Faktor unterworfen ist.

Genuin „queer“ ist so ein „raus aus dem Besenschrank!“ und dann ein „…wieder hinein in den Besenschrank…“ ja nun gerade nicht. In meinem Eintrag 65 ordne ich poly- und oligoamore Lebensentwürfe dem queeren Spektrum zu. Kennzeichnend für die allermeisten Menschen des queeren LGBTQ+-Spektrums ist indessen, daß sie fast alle irgendwann im Leben einmal diesen unumkehrbaren Moment des „Coming-outs“ erlebt haben, einer Situation, die einerseits das erstmalige öffentliche Bekenntnis der eigenen queeren Identität darstellt – und damit andererseits zugleich eine Art „Point of no Return“ der eigenen Biographie und des Wahrgenommenwerdens durch die Außenwelt ausmacht.

Wir „Mehrfachbeziehungsfähigen“ (womit ich all diejenigen meine, die in sich ein Fühlen und Streben hin zu einem [Liebes]Leben in ethischen Mehrfachbeziehungen manifestiert haben) scheinen es dahingehend aber offensichtlich phasenweise etwas anders zu halten, etwas opportun möglicherweise – und darum vielleicht auch nicht immer so uneigennützig oder uns selbst treu, wie wir es vielleicht sein könnten.
Da ist z.B. genau die oben von Frau Dibbasey beschriebene, erstmalig aufwachsende Beziehungsexperimentierphase unserer Jugend. Und urplötzlich finden „wir Poly/Oligoamoren“ uns dort erstmalig in überraschenden Dreier- oder Viererkonstellationen wieder, weil es da irgendeinen Teil in uns gibt, der nicht den Vorgaben einer noch überwiegend monogam veranlagten Umwelt folgen will: Daß, wenn ein weiterer Mensch zu einer Beziehungskonstellation hinzukommt, ein anderer gehen muß, um die noch überwiegend gesellschaftlich gutgeheißene Grundzahl von „2“ nicht zu überschreiten.

Mit Noa Dibbaseys Worten, die „Rückkehr vom Probiererli zum Status quo“ erfolgt danach meist sehr häufig, wenn es aus der „wilden Jugend“ hinein in die „Gründerzeit“ hinsichtlich Job, Karriere und Familienplanung geht. Wie ein etwas peinliches Manga-Poster mit bislang verehrten Superheld*innen verschwinden auch die Gedanken an wirklich lebbare Mehrfachbeziehungen erst einmal wieder im Schrank – zu einer Zeit im Leben, in der wir sehr stark mit der mononormativen, „gläsernen Decke“ konfrontiert werden: Institutionen und Gegebenheiten der Normalgesellschaft, die sämtlich lediglich auf die „Zweierkiste“ zugeschnitten sind, vom Antrag auf eine Sozialwohnung über die Berechtigten beim Kindergeld hin zur Absicherungsform Ehe – mit jeweils anhängigen Anträgen und Formularen, die ausschließlich zwei Personen legitimieren.
Es ist ja nicht nur dieser faktische Mißstand, der eine alternative Lebensplanung zu mehreren Partner*innen erschwert – und der eventuell mit etwas Geschick und Wagemut organisatorisch anders anzupacken wäre. Es ist vielmehr der Druck, der so auf mögliche Mehrfachbeziehungen ausgeübt wird – und unweigerlich dort zu innerem Sprengstoff geraten muß – wer sich denn vor dem Gesetz nun mit der dritten oder vierten Geige zu bescheiden hätte – und wessen Verbindung als die „Hauptpartnerschaft“ geadelt werden solle…
Für die erwähnten „Dritten“ und „Vierten“ ist solch eine obrigkeitsverordnete „Nichteinbindung“ kaum attraktiv – und daher ist dies ein kritischer Moment, den viele Mehrfachbeziehungen auch nicht überleben. Die in einzelne Atome zerschlagenen Teile eines ehemaligen Polyküls schauen nun meist zu, wie sie sich allein oder bestenfalls zu zweit durchschlagen – und das ausgerechnet in dieser erwähnten „Gründerzeit“, wo weitere helfende Hände, zusätzliche Einkommen oder ideenreiche Köpfe für die eigenen soziale Gruppe von größtem Wert wären. Von dem legendären „ganzen Dorf“, daß es bräuchte, um Kinder zu erziehen, ganz zu schweigen – und so erleben und erlernen sogar unsere Nachkommen zunächst wieder, daß Liebe und Partnerschaft wohl etwas ist, was (nur) zwischen zwei Menschen existieren soll…

Ist der Berufsweg halbwegs eingetütet, sind erst die Kinder produziert, die eben heute zu oft auch noch als Nachweis einer glücklichen Beziehung gelten, springt irgendwann die Tür zum polyamoren Besenschrank doch wieder mit Macht auf: Vorbei die wackelige Gründerzeit, und nun gibt es endlich unter Mühen und Schweiß hartverdiente Ressourcen, die auch die Freiheit erlauben, das eigene Denken und Fühlen endlich wieder ein Stück weit aus dem alltäglichen Routinetrott herauszubekommen. Da muss doch wieder mehr drin sein als Haus, Auto, Kinder, Hund und der*dem Partnerschaftssexanbieter*in, mit der*dem man sich all dies aufgebaut hat…
Vielleicht planen wir es, oft „passiert es“ uns – und tatsächlich stellen wir eines Tages erneut fest, daß wir Gefühle für mehr als einen weiteren Menschen empfinden.
Bis zur Midlifecrisis versuchen wir ab da meist, sozusagen mit „halbgeöffneter“ Tür durchzukommen. Oftmals haben wir Eltern, die mit Mehrfachbeziehungsmodellen noch bestenfalls Rainer Langhans oder die Mormonen verbinden, Vereinskumpel und Shoppingfreund*innen, die uns einreden, daß, wenn ein neuer Mensch zur Beziehung hinzukommt, dies ganz sicher nur ein Brückenkopf für das alsbaldige Sichdavonmachen mit diesem Neuzugang ist – und Arbeitskollegen und Nachbarn, die die wechselnden Kennzeichen vor unserer Tür entweder als Beweis unserer regen Aktivität in Swingerkreisen und/oder als Offenbarungseid unserer bröselnden Ehe ansehen würden.
Zuviel „Offenheit“ kommt also nicht in Frage, unser „Ruf“ unsere „soziale Stellung“ unsere Karriere, ja unsere ganze Reputation stehen auf dem Spiel.

„Nicht ganz offen“, was unsere Beziehungen angeht, bedeutet allerdings auch, daß wir nicht ganz offen mit unseren Partner*innen sind – und daher auch genau genommen nicht zu uns selbst. Wen wundert es also, wenn diese Zeit, da wir unser Coming-Out-Status mit der Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons je nach sozialem Kontext wechseln, uns in ein Treibeisfeld aus hervorbrechenden Befindlichkeiten wie z.B. kleinen Narzissmen und situativen Schwindeleien einerseits sowie aus Zurückgesetztheit, Neid, Eifersucht, Verlassenheitsfurcht und anderen ungeklärten Ängsten andererseits geraten läßt.
Selten zuvor oder danach erleben wir uns jemals wieder auf so einem tückischen Spinnennetz in einem nervösen Balanceakt zwischen Selbst- und Fremderwartungen.

Der deutsche Facharzt für innere Medizin und Psychotherapeut Dr. Dietmar Hanisch schreibt dazu: »Die Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind in der Tat ambivalent: Sie können unsere wichtigsten Schutzspender sein, aber auch extreme Stressoren. Für uns Menschen ist soziales Eingebundensein absolut überlebensnotwendig. Unser Drang nach sozialer Anerkennung ist deshalb außerordentlich stark. Und dieser entfaltet sich in unseren Gehirnen, die ohnehin stark zur Reflexion neigen. […]
Hinzu kommt, dass unser Denken eine Tendenz zur Idealisierung, Übertreibung, und Verabsolutierung hat: Wir wollen von allen geliebt werden, wollen, dass alle unsere Erwartungen erfüllen. Ist das nicht so, macht uns das unweigerlich Stress.«
²

Wenn wir wenigstens, wie Noa Dibbasey in ihrem eingangs erwähnten Artikel folgert, konstruktive Mehrfachbeziehungserfahrungen aus unseren ersten Gehversuchen hätten mitnehmen können! Das ist aber meist nicht der Fall und so müssen wir in der „Zweiten Runde“ immer noch für uns viele Dinge ordnen, die unabgeschlossen geblieben sind.
Ein Dauerbrenner dabei ist sehr oft, wie wir ein gesundes Verhältnis zwischen Autonomie und empfundener Fremdbestimmung finden können, wo, wie ich schon in Eintrag 70 schrieb, wir aus unseren Konventionen heraus überwiegend gewohnt sind, hier in „Gewinnen“ und „Verlieren“ zu klassifizieren. Wer darf die Ansagen in einer Beziehung machen? Ich bin doch kein Kind mehr!
Autonomie und Selbstwirksamkeit entwickeln ist gut – darf sich dabei aber nicht zu einem selbstverzweckten Gegenpol zur Verbindlichkeit entwickeln.
Daher graut mir, Oligotropos, oft vor jenen, die „offen Lieben“ (Eintrag 67) im Sinne von „freier Liebe“, die sie so auffassen, daß sie diese Liebe jeweils nur nach persönlich bemessener Verfügbarkeit zuteilen, wenn es gerade paßt bzw. günstig erscheint.
Ich sag‘ es nur ungern – aber der wichtige polyamore Grundwert der „Verbindlichkeit“ und der Selbstverpflichtung beweist sich stets gerade in den berüchtigten „schlechten Zeiten“, wenn es wirklich darauf ankommt, auch einmal über die eigene Komfortzone hinaus eine Weile den sprichwörtlichen „extra Meter“ mehr mit seinen Lieblingsmenschen mitzugehen.

Die Redakteurin Janina Oehlbrecht identifiziert in ihrem Artikel für die Zeitschrift Brigitte zu Beginn diesen Monats Selbstvertrauen, Aufmerksamkeit für die Beteiligten, Kommunikation (wer hätt’s gedacht?) und das Entwickeln von vertrauten Routinen als grundlegend für gelingende, langfristige Beziehungen. Sie ergänzt Respekt, Reife und ein fortgeschrittenes Verständnis füreinander.³
Genau diese letzteren drei halte ich persönlich für kampfentscheidend, exakt weil sie nicht schnell oder über Abkürzungen zu bekommen sind.

Gelingende, langfristige (Mehrfach)Beziehungen sind in diesem Sinne zwar natürlich auch ein Geschenk (nämlich von unseren Lieblingsmenschen an uns) – aber unser Beitrag darin ist erheblich und wir können sie uns durchaus in gewisser Weise „erarbeiten“. Für viele freie Geister aus der Welt der freien Liebe ist diese „Beziehungs-Arbeit“ ein rotes Tuch, da dies so wenig leicht, so nach Bemühung und Inanspruchnahme klingen würde.
Wer mir durch bislang 83 Einträge zum Thema Oligoamory gefolgt ist, weiß, daß für mich diese „Arbeit“ vor allem in eine Entdeckungsreise unseres ureigenen Selbst besteht, die es allemal wert ist, erfahren zu werden.

Oben nenne ich als Meilenstein unseres „zweiten Coming-Outs“ die vielbeschriebene Midlife-Crisis. Der Begriffbegründer, der kanadischen Psychoanalytiker Elliott Jaques, identifizierte als Auslöser die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit. Ich würde vielleicht etwas sanfter mit einer Sportmetapher sagen: Die Erkenntnis, daß das Leben eindeutig in die „zweite Halbzeit“ geht.
Tja.
Die Kinder (weitestgehend) aus dem Haus? Karriereziele einigermaßen etabliert? Materiell halbwegs abgesichert?
Und wie steht es um unser Beziehungsleben? Drei, vier Beziehungskisten gebaut und doch allein? Um jeden Preis in einer mittelmäßigen Partnerschaft mit Mitteklassewagen ausgeharrt um den Mittelwert des gemeinsamen Vermögens nicht zu gefährden?
Und polyamor? Von den „befreundeten Paaren“ ist niemand übriggeblieben, die Versuche, zusätzliche Partner*innen mit ins Leben zu integrieren alle ohne Erfolg? Ausgetobt auf neotantrischen Wochenenden und sexpositiven Partys – und doch sind nach und nach auch die letzten Bedürfniserfüller*innen verschwunden, weil sie sich plötzlich um irgendein pflegebedürftiges Elternteil oder den eigenen onkologischen Befund kümmern mussten…
Manchmal hat sich unsere Tür schon wieder – scheinbar von selbst – geschlossen: Alles versucht, gerungen, gestritten, versöhnt, das Beste gegeben, und doch ist nichts Haltbares zustande gekommen (Eintrag 78).

Ab unseren 50er Jahren beginnen wir uns dann eventuell allmählich der Vorstellung einer Plus-WG näher zu fühlen als der Hippie-Kommune – und die Vorstellung „Allein im Alter“ greift recht real und mit kalter Hand nach uns.
Eventuell Zeit, den polyamoren Besenschrank wieder zu öffnen…

…oder ist es nicht vielmehr das oben erwähnte „ganze Dorf“, daß wir so nun doch noch zu erreichen suchen? Das mit den helfenden Händen und ideenreichen Köpfen?
Aber dann vielleicht doch eines, in dem wir uns endlich um unserer selbst willen geliebt, geschätzt und angenommen fühlen wollten.

Müssen wir wirklich darauf so lange warten, immer eine Hand an der Schranktür?
Zum Ende meines heutigen Eintrags darum schnell noch einmal etwas queere Ermutigung:

In dem von mir in meinem letzten Eintrag rezensierten Buch des queeren Autors Sah D’Simone vergleicht dieser sein Coming-Out mit dem Entdecken seiner „spirituellen Superkraft“, mit der er zu einer lebenswerten und diversen Welt nicht nur beiträgt, sondern wegen der er auch genau von dieser Welt gebraucht wird und deshalb unveräußerlich mit ihr verbunden ist.
Die Affirmation, mit der er seinen Schritt umgesetzt hat lautet „Weil ich es wert bin!“.
Er schreibt dazu:
»Ich verließ mein Versteck, und die Art, wie ich meine Individualität feiere, war nicht jedermanns Sache. Ich musste lernen, dass das in Ordnung ist. Ich bin nicht jedermanns Sache. Das Risiko hat sich mehr als gelohnt. Ich habe mich, meine Leute und meine Aufgabe im Leben gefunden. Vielleicht wirst auch Du, wenn Du Dein metaphorisches Versteck verlässt, nicht jedermanns Sache sein. Aber du musst darauf vertrauen, dass du deine Zugehörigkeit finden wirst, deine Bestimmung, deine Fülle und Heilung.«

Für uns in der Oligo- und Polyamory hat in meinen Augen der US-amerikanische Geistliche und Schriftsteller Thomas Merton 1959 in seinem Buch „Kein Mensch ist eine Insel“ diese Zugehörigkeit, Bestimmung, Fülle und Heilung mit folgenden Worten am besten ausgedrückt:

»Die Liebe ist unser wahres Schicksal.
Wir finden den Sinn des Lebens nicht allein, wir finden ihn miteinander.«


¹ Kolumne „Meine Generation“ über offene Beziehungen Der Dreier und s’Weggli vom 20.10.2022 auf Blick (online)

² im Interview in Geo Wissen Gesundheit Nr. 17: (Juni 2022) „Was die Seele stark macht“

³ Beitrag 4 Gewohnheiten von Menschen in glücklichen Langzeitbeziehungen auf brigitte.de (online)

Danke an das Kurt Löwenstein Education Center auf flickr.com für das Foto!

Eintrag 82

Der Regenbogen in Dir
(beinahe eine Art Rezension)

Manchmal geschieht es, daß das Universum außergewöhnliche Impulse gebiert, die von solcherart Natur sind, daß sich darin auf wunderbare und erstaunliche Weise Ideen und Inspiration zu einem sinnstiftenden Gesamtgebilde zusammenfinden, die bis kurz zuvor noch an unterschiedlichen Orten – zwar für sich klug und nichtsdestoweniger faszinierend – eher getrennt voneinander existierten.
Ein solches Kleinod war für mich die Lektüre des Buches „Sensationell Spirituell“ (Droemer Knauer 2022) des queerPoCbuddhistischen Autors Sah D’Simone, der durch sein facettenreiches Leben ähnlich wie die von mir in meiner „Geschichte der Polyamorie“ [Teile 1 | 2 | 3 | 4 ] exemplarisch genannten Persönlichkeiten Rudyard Kipling, Robert A. Heinlein und Morning Glory Zell-Ravenheart ebenfalls zu einer „menschlichen Brücke“ zwischen verschiedenen Erfahrungswelten geworden ist.
Insbesondere für meine Oligoamory habe ich in den Gedanken und Vorschlägen Sah D’Simones daher einige spannende „alte Bekannte“ wiederentdeckt, die für mich so erfrischend wie einmal mehr bedenkenswert aus der spirituellen Perspektive des Autors für mich in einen nachvollziehbaren Kontext gestellt wurden.
Speziell das Stichwort „spirituell“ habe ich selbst gerade erst wieder in Eintrag 79 betont, aber auch den Buddhismus (z.B. Eintrag 74), die Ganzheit (Eintrag 57), unser Queer-Sein (Eintrag 65), immer wieder die Abwägung zwischen Verbindlichkeit und Freiheit (u.a. Einträge 7+8), die Hindernisse in uns selbst (z.B. Einträge 21, 26 oder 35), daher auch das Scheitern und Wiederversuchen (Einträge 22 / 77 / 78), sowie die Bedeutung unseres Strebens nach Selbsterkenntnis (Eintrag 46).

Den Ansatz und die „Themenvereinigung“ durch Sah D’Simone gefällt mir daher gerade deshalb so sehr, weil es ihm auf eine gute Weise gelingt dazu aufzufordern, unsere menschlichen Schwächen zu verstehen und anzunehmen, er dadurch außerordentlich tröstlich den Weg unserer vielen kleinen (nicht immer zielführenden) Schritte als dennoch folgerichtig feiert – und er zugleich mit unglaublicher Lebensfreude Initiative und „Raus-aus-dem-Besenschrank“-Mentalität versprüht.

Hinsichtlich polyamorer (klar: und oligoamorer) Mehrfachbeziehungsführung ist mir das am stärksten aufgefallen, wenn ich die immer wieder auftauchende Frage „Warum gelingt es (mir) nicht?“ in das Regenbogenleuchten seines Buches halte. [Noch einmal zur Klarstellung: „Sensationell Spirituell“ ist gar KEIN Polyamorie-Buch sondern am ehesten spirituelle Selbsthilfe-Literatur; wer sich allerdings mit ethischer Mehrfachbeziehungsführung beschäftigt und dahingehend keine Vorbehalte gegen Weisheit aus queer-spiritueller Perspektive hat, entdeckt trotzdem eine Fundgrube.]

Im engsten Sinne würde ich die Aussage von Sah D’Simones folgendermaßen zusammenfassen:
Du kannst dann für Dich ein gelingendes Leben führen, wenn es Du es schaffst mit Dir selbst im Frieden zu leben.
Wenn ich das auf die Beziehungsebene hebe, könnte die Aussage also lauten:
Du kannst Dich dann in gelingenden Beziehungen erleben, wenn Du es schaffst mit Dir selbst im Frieden zu leben.
So Simpel, hm?
Oder so kompliziert.
In seinem Buch verdeutlicht Sah D’Simone noch einmal auf sehr berührende Weise, daß wir nämlich meistens mit uns selbst eher nur selten im Frieden sind – und wir folglich diesen Un-Frieden in allem was wir daraus tun und damit natürlich auch in unserem Umfeld wiedererleben.
Erfreulicherweise räumt er im nahezu gleichen Atemzug mit vielen der wohlbekannten „Heilungsrezepte“ auf – wie z.B. dem wohlbekannten Aufruf, dann doch am eigenen „Einssein“ zu arbeiten. Über sich beschreibt er dazu:
»So schön diese Wahrheit auch ist, sie lässt sich nicht besonders gut auf die moderne Welt übertragen. Tatsächlich gibt es jede Menge Unterschiede unter uns. Ich glaube, dass jede*r Eine*r ist. Trotz aller Lippenbekenntnisse, die über das ‚Einssein‘ abgegeben werden, behandelt die Gesellschaft viele ihrer Mitglieder nicht so, als ob wir alle eins wären. Vielen sagt sie tagtäglich: Du bist anders, du bist schlecht, du bist verkehrt, du bist unwürdig. In so einer ungerechten Welt zu leben und blind an das Einssein zu glauben, ist im besten Fall eine Lüge, und im schlimmsten Fall verleugnet es die alltägliche Wirklichkeit unserer Welt. Ja okay, eine einzige Liebe. Aber ich war depressiv wie sonst was, Bitch! Kriegt mich euer Einssein aus dem Bett raus? Einssein ist nicht auf meiner Seite, wenn ich als einziger nicht-weißer, queerer Körper einen Raum betrete, wenn mir, bevor ich überhaupt den Mund aufmache, nonverbale Vorstellungen und Vorurteile über mich – die eine echte Wirkung auf meine Realität haben – entgegenkommen.«

In Eintrag 65 beschreibe ich, Oligotropos, unsere Lebensweise ethischer Non-Monogamie als queer. Wenn wir „Mehrfachbeziehungsführer*innen“ also in irgendeinem Kontext interagieren, dann liegt die oben beschriebene Erfahrung also gar nicht so fern. Gerade auch dann nicht, wenn wir und um Beziehungsaufbau oder -pflege bemühen.
Denn was versuchen wir da? Wir versuchen mit anderen in Gemeinschaft zu gehen – vergessen aber dabei schnell, daß es sich bei unseren Gegenübern um ähnlich vielschichtige 20-, 30-, 40- oder 50-jährige handelt, wie wir es selbst sind – bereits angefüllt mit eigenen Lebenserfahrungen, einer spezifischen komplexen Geschichte (die wir ja für uns auch in Anspruch nehmen), um voll- und eigenständige Lebewesen also, die das gleiche Maß an sorgfältiger oder wenigstens respektvoller Herangehensweise an sich selbst erhoffen, wie wir das auch für uns wünschen.

Gemäß Sah D’Simone treffen wir aber eben überwiegend eher selten vollendet friedvoll (mit uns selbst wohlgemerkt!) aufeinander. Sorgsamkeit und Respekt zu erweisen wie auch selber zu erhalten ist also weit mehr Glückssache als etwas, was uns selbstverständlich am Herzen liegt. Hier möchte der Autor ansetzen und die Leser*innen zu Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln anregen. Nicht zu einer im Außen proklamierten Freiheit: „So frei bin ich, ich tue (nur), was gut für mich ist…“, sondern zu einer echten Befreiung in unserem Inneren:
»Der Schlüssel zur Freiheit? Gewahrsein. Besonders heute, wo wir kaum noch abschalten, leben wir ohne jedes Gewahrsein von unserem eigentlichen Selbst. Das führt dazu, dass wir völlig unverhältnismäßig aufs Leben reagieren, dass wir in verschiedenster Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten. Gefangen in einem pausenlosen Kreislauf aus Fühlen-Denken-Reagieren, haben wir überhaupt keinen Raum, irgendwie angemessen mit dem Leben (unseren Gefühlen, Beziehungen, uns selbst) umzugehen.«
Wenn ich diese Sätze lese und an meine Beziehungen, insbesondere aber auch an zurückliegende gescheiterte Beziehungsanbahnungsversuche denke, dann beschleicht mich der Eindruck, hier (er)kennt mich jemand recht genau.

Sah‘ D’Simone ist für sich zu der Einsicht gelangt, daß, wenn wir uns in so einem Zustand befinden, wir zu allermeist schon gar nicht mehr eigentlich „wir selbst“ sind.
„Selbsterkenntnis“ muß also her, wie ich es auch auf diesem bLog regelmäßig bewerbe. In Sah D’Simones Worten:
»Wenn dein Leben nicht genau mit dem zusammenpasst, was Du als dein Ich kennst und wovon du in deinem tiefsten Inneren weißt, dass es dein Potential ist, dann bist du damit nicht allein. Das Lebn ist hart! Mensch sein ist hart! Mit anderen Menschen zusammen sein ist hart! Manchmal ist es ein einziger Hindernislauf. Und ein emotionales Desaster – dieser ganze Herzschmerz und die verzweifelten Anläufe, mit unserer Innenwelt klarzukommen, während wir uns draußen in der Welt exponieren. Kein Wunder, dass wir uns verlieren oder vom Weg abkommen. Kein Wunder, dass wir uns beibringen, uns zu verstecken. Kein Wunder, dass wir echten Kontakt vermeiden. Die Welt da draußen kann ganz schön unheimlich sein!«

Das, was wir als unheimlich wahrnehmen, beschreibt Sah D’Simone anhand eines Bildes von unserem „inneren Garten“, in dem ständig von außen eingebrachte Samenkörner von Unsicherheit, Zweifel, Scham und Schuld zu keimen und aufzuwachsen versuchen. Während unser Herz unseren Garten erkennt, wie er gedacht ist, schaut unser Verstand lediglich auf das, was darin wächst – und das ist – solange wir noch keine guten „inneren Gärtner“ geworden sind – überwiegend besorgniserregend und führt zu immer mehr „Unkraut“, was wir so auch noch selbst vermehren.
Um zu verdeutlichen, was unser „Herz“ erkennt, der Verstand aber bloß „sieht“, erklärt der Autor, daß es einen Unterschied zwischen „Verlangen“ und „Bedürfnis“ gibt, den wir im Alltag meistens völlig unbewußt verwischen:
»Der Verstand ist vom Verlangen gesteuert. Er will permanent irgendetwas haben, will ständig konsumieren, um sich besser zu fühlen. Er kann die Veränderlichkeit der Dinge nicht akzeptieren. Er ist unsicher und sehnt sich nach Bestätigung, Aufmerksamkeit und Ablenkung. […] Das Herz andererseits hat Bedürfnisse, die dem Verlangen entgegenstehen. Während das Verlangen uns kurzfristige Vergnügungen oder Befriedigungen verschafft, sind Bedürfnisse Dinge, ohne die wir nicht leben können, vor allem, weil mit jedem gestillten Bedürfnis der Weg zu einem glücklicheren inneren Garten geebnet wird.«

Aus seiner eigenen Queerness hat der Autor dazu aber eine aktive Herangehensweise abgeleitet:
»Bei ‚Sensationell Spirituell‘ geht es genau darum, dass du deine Einzigartigkeit, dein authentisches Selbst würdigst. Spirituelle Lehrer werden dir sagen, dass wir alle eins sind. Betrittst du aber einen Raum und unterscheidest dich sichtbar von allen anderen dort, und die Welt draußen fühlt sich unsicher und abweisend an gegenüber deinem Anderssein, dann kann sich Einssein sehr real falsch anfühlen. Das war jedenfalls absolut meine Erfahrung. Gewöhnlich meinen wir mit ’sich unterscheiden‘ ‚anders sein‘, auch wenn wir es positiv ausdrücken. Du kannst nur dann ‚anders sein‘, wenn du aus dem Mainstream-Blickwinkel betrachtet wirst (weiß, cis, heteronomativ). Selbst wenn Einssein also eine nette Idee sein mag, ist die Welt, in der wir heute leben, noch nicht bereit dafür. Wenn du das Gefühl hast, du musst erst mal Wände einreißen, bevor du ein Mindestmaß an Sicherheit oder Zugehörigkeit spüren kannst, dann fühlt sich die Idee von EINS-sein falsch an. […] Ich rufe stattdessen dazu auf, ein Fest des Anderssein zu feiern: Feiere deine einzigartige Magie, denn du bist auf die Welt gekommen, um sie mit uns zu teilen. Deine Magie wird dich befreien.«

Für dieses buchstäbliche „Coming-out“ ermutigt Sah D’Simone dazu, sich noch einmal ausdrücklich mit der eigenen Ich-Geschichte auseinanderzusetzen, genau zu schauen, was vom Wesen her „zum eigenen Garten“ gehört – und was sich nach und nach von außen darin eingefunden hat, was mittlerweile vielleicht überwuchert, wozu wir eigentlich berufen sind.
Ähnlich dem von mir gelegentlich auf diesem bLog zitierten Neurowissenschaftler Gerald Hüther verweist er auf die anhaltende Plastizität unseres Geistes als Ansatzpunkt, stets Veränderung von Überzeugungen und Gewohnheiten herbeiführen zu können.
Da er aber auch die Kraft unseres inneren Kritikers kennt (der ja oftmals auch in der Verkleidung des „inneren Schweinehunds“ daherkommt), empfiehlt er, mit diesem Persönlichkeitsanteil in eine Art regelmäßigen Dialog zu treten.

Als Buddhist hat Sah D’Simone auch dem Prinzip der Vergebung gegenüber wenig Scheu – ich weiß aber daß dies für mich, Oligotropos, regelmäßig eine Hürde darstellt, wenn ich mich meiner Vergangenheit und zurückliegender Ich-Geschichte zuwende. D’Simone gelingt es für meine Begriffe hier sehr gut herauszuarbeiten, daß es ihm hier nicht um eine Geste gegenüber einstmaligen Täter*innen geht, sondern vielmehr um eine Haltung, die ganz und gar im Sinne unseres eigenen authentischen Selbst ist und der Wiederherstellung unseres ursprünglichen „Gartens“ dient:
»Die Auswirkungen von Traumata kennen wir alle und Vergebung ist das Gegengift. Ich weiß, das klingt einfach. Tatsächlich können wir eine tiefe Verbindung zu unserem Herzen und unserer Essenz erkennen, wenn wir denen zu vergeben lernen, die uns und die wir verletzt haben, und uns selber vergeben können, wie wir in Momenten der Verwirrtheit mit uns umgegangen sind. Wir sind biologisch darauf ausgerichtet, enge fortdauernde Beziehungen zu suchen. Wie können wir also diesem Grundbedürfnis nachgehen, wenn wir in unseren traumatischen Erinnerungen festhängen, die als Endlosschleife in unserem Verstand ablaufen?«
Spoiler: „Trigger“ betrachtet D’Simone übrigens ganz ähnlich – was ich für einen hübschen Gedanken halte, denn was mich triggert, hat ja auch irgendwo eine Wurzel in mir…

Seine größte Stunde hat das Buch meiner Meinung nach dann bei der Gestaltung und Freilegung der jeweiligen „wahrhaftigen“ Ich-Geschichte, die zu uns gehört – in Tateinheit mit der Entdeckung unserer jeweiligen spirituellen „Superpower“.
Wie bereits oben angedeutet, als der Autor von der „eigenen Magie“ spricht, dringt er in einen Bereich vor, den schon der gewaltfreie Kommunizierer Marshall Rosenberg vor einem Vierteljahrhundert aufgegriffen hatte. D’Simone will aber darauf hinaus, daß wir nicht nur „Held in unserem eigenen Film“ sind, sondern tatsächlich aufgrund unserer Einzigartigkeit über in uns gelegte Talente bzw. „Superkräfte“ verfügen, mit denen wir zu einer besseren Welt beitragen können. Hierbei betont er indirekt, daß auf diese Weise eine Beschäftigung mit dem eigenen Selbst durchaus kein bloßer „Selbstzweck“ ist, sondern in der Tat im Zusammenhang mit einem gedeihlichen Einwirken auf ein größeres Ganzes in Einklang steht [ganz ähnlich den Überlegungen des britischen Philosophen Anthony Ashley Cooper, den ich in „Bedeutsame Beziehungen – Teil 3“Eintrag 64 zitiere].

Seine eigene Komfortzone zu verlassen, den eigenen Besenschrank zu verlassen und auf die Suche nach der eigenen bunten Großartigkeit zu gehen, sind damit für den Autor Sah D’Simone keine bloßen queeren Prämissen, sondern überhaupt der Zugang zu gelingendem (Beziehungs)Leben insgesamt.
Indem wir uns darum bemühen, unsere Ängste und Ermangelungen nach und nach zu entlarven, zu verstehen wie sehr wir sie uns in unserem Denken selber zu eigen gemacht haben (sie also quasi in unserem persönlichen Herzensgarten mit dem Verstand gepflegt und gehätschelt haben), gibt es die Chance, diesen „Unkrautsamen“ nach und nach ihre Dominanz wieder zu entziehen. Auf diese Weise kann sich auch der Frieden wieder in unserem Herzensgarten ausbreiten.
Zum Ende seines Buches spricht D’Simone seinen Leser*innen darum zu:
»Egal, wo du bist, mein Schatz: Du bist zugehörig. Wenn der Ort, an dem du dich befindest, nicht dem entspricht, wo du gern sein würdest, dann frag dich, was es hier zu lernen gibt und mach einen Plan für die Zukunft, ohne dich in den Selbstzweifeln deines Verstandes zu verlieren. Wende dich an dein Herz und hör auf die Stimme, die an dich glaubt. […]
Wenn du lernst, dass dein Herz der Ort ist, an dem du schon immer zugehörig warst, und dass du dort ein echtes Zuhause findest, ändert sich alles. Wenn du verstehst, dass hier keine Gefahren lauern und du dich langsam in deinem Körper heimisch fühlst, dann erkennst du auch, dass du hier auf der Erde zugehörig bist; wir sind in dieser menschlichen Erfahrung zugehörig und tief miteinander verbunden.«


Um „Zugehörigkeit“ dreht es sich auch in der Oligoamory seit Eintrag 5. Am Ende von Eintrag 55 schrieb ich ergänzend:
»Eine der großen Herausforderungen von ethischen Mehrfachbeziehungen ist für mich persönlich, unterschiedliche Beziehungen zu führen ohne die anderen Beteiligten dabei zu kompartmentalisieren [in Einzelaspekte aufzuspalten].
Dafür benötigen alle Beteiligte genau diese Neugier und diesen Mut, sich mit ihrer „inneren Unterschiedlichkeit“, also ihren Kontrasten, ihrer Heterogenität, ihren Unregelmäßigkeiten, ihrem Anderssein und ihren Spannungsfeldern kennenlernen zu wollen und zu akzeptieren, so daß genau aus dieser Vielfalt ebenfalls die Zutaten hervorgehen, die aus solch einer Mehrfachbeziehung „mehr als die Summe ihrer Teile“ macht.
Womit eine Mehrfachbeziehung quasi irgendwann ein lebendiges Abbild dieses „Chores unserer eigenen vielfältigen inneren Stimmen“ werden könnte, die jede und jeden von uns zu „uns“ macht…
«

Sah D’Simone: Danke, daß Du mir noch einmal gezeigt hast, warum das so wichtig ist.



Danke an Jason Leung auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 81

Dreh- und Angelpunkt [Scharniere und Flügel – Teil 2]

…wenn man nun gar Scharnier zwischen vier Partner*innen wäre…

In meinem Eintrag letzten Monat habe ich über die wechselhafte Dynamik der vermeintlichen „Mittelposition“ in einer Mehrfachbeziehung geschrieben.
Es ist daher für mich als bLogger interessant zu verfolgen, daß manche Gedankengänge zu Themenschwerpunkten, welche unsere Lebensweise betreffen, dann oftmals überraschenderweise an verschiedenen Orten nahezu zur gleichen Zeit an den Tag treten.
Vielleicht sollte es mich indessen auch nicht zu sehr überraschen, denn manche Fragen drängen bei dem Versuch, eine Lösung für sie zu finden, in ähnliche Bereiche – wenn die Zeit dafür gekommen ist.
So macht seit kurzer Zeit der aus dem US-Amerikanischen Raum übernommene Begriff „Hinge-Blindness“ in den Reihen progressiver Mehrfachbeziehungs-Führer*innen die Runde. „Hinge-Blindness“ oder „Hinge-Blindheit“ bezeichnet konsequent übersetzt die „Blindheit der Angel“ – mithin also eine Blindheit, welche die Person betreffen soll, die sich in einer Mehrfach-Beziehung auf einer Scharnier- bzw. Angelposition befindet (siehe letzter Eintrag: häufig also z.B. die „Mitte“ einer aus drei Personen bestehenden V-Konstellation).

Eingedenk meines letzten Eintrags habe ich zu diesem schönen neuen Symptom selbstverständlich Einiges zu sagen.
Zuvorderst beispielsweise, daß es sich bei so einem Begriff genau eben um die Spezifizierung eines neuen „Symptoms“ handelt. Und Symptome werden normalerweise zugeordnet, um Verursacher*innen herauszustellen. Und da in unserer Kultur „Verursacher*in“ quasi mit „Ursache“/„Auslöser“ synonymisiert wird, ist von dort der Schritt winzig, solche eine Begriffszuschreibung zum verorten von „Schuld“ zu benutzen.
Für Menschen, die unter den vermeintlichen Auswirkungen von „Hinge-Blindheit“ zu leiden haben ist dies ein verständlicher wie auch naheliegender Reflex: Ich leide – und in Folge möchte ich Verantwortlichkeit für dieses Leid benennen (UND diese Verantwortlichkeit liegt ja wohl NICHT BEI MIR! ).
Womit ich schon bei meinem zweiten Kritikpunkt bin: Der Teflonreflex „Jemand anders hat Schuld!“ führt normalerweise selten zur Lösung des Problems, sondern ganz überwiegend tiefer in einen Konflikt – insbesondere in Gruppen, in denen der Personenkreis übersichtlich ist und sich alle Beteiligten kennen (wie z.B. in einer Beziehung…).

Schauen wir uns die sg. „Hinge-Blindheit“ bzw. die ihr nachgesagten Effekte einmal an:
Da ist also eine Person, die sich auf der „Scharnier“-(Mittel-)Position“ zwischen zwei oder mehr Partner*innen befindet. Hauptkriterium der „Hinge-Blindheit“ soll sein, daß die Scharnier-Person aufgrund ihrer eigenen intensiven Gefühle zu den jeweiligen Seiten-(Flügel-)Partner*innen nicht realisiert, daß wiederum diese Seiten/Flügel-Partner*innen zu-, mit- oder untereinander durchaus nicht mit der selben Intensität fühlen bzw. verbunden sind wie es ihrer jeweiligen Bindung an die „Scharnier-Person“ entspricht. Als Folge würde dieser „blinde Fleck“ zu einer Quelle für Mißverständnisse, konflikthafte Reibung, Beschämung, ja sogar mißbräuchlichem Verhalten durch die Scharnier-Person geraten…

Hm.
Das klingt für mich immer noch irgendwie nach „Wenn zwei sich streiten, zeige man auf eine*n Dritte*n“…
Oder es hat für mich stark den Anschein von „Von der Mitte geht Schaden aus – die Mitte soll es daher richten…“. Und beides hat für mich eher einen Geschmack davon, daß „die Mitte“ entweder ein ewig undankbarer „heißer Stuhl“ ist, bei dem die*derjenige zu bemitleiden wäre, die*der sich dort zu halten hätte – oder von einer schon fast untertänig-passiven Bevollmächtigung jener „Mitte“, weil durch deren Führungstalent (oder Mangel davon) jedes Wohl und Wehe der Gesamtbeziehung bedingt wäre.

Insgesamt empfinde ich persönlich diese Interpretation von Stress in einer Mehrfachbeziehung als Versagen der Mitte aufgrund deren zugeschriebener, subjektiven Voreingenommenheit als extrem Oligoamory-fernes Gedankengut. Ja, ich empfinde es auch weitgehend als recht Polyamory-befremdlich.
Warum lassen wir nur immer wieder monogame Einflussgrößen durch die Hintertür in unsere Mehrfachbeziehungen hinein?
Wie jetzt? Hinge-Blindheit ist doch quasi daselbst ein polyamores Superphänomen, welches schon qua Begriff ausschließlich in Mehrfachbeziehungen vorkommen kann – wie soll es da eine „monogame Einflußgröße“ sein?
Schlicht, weil es – wenn wir uns so einer Art zu denken hingeben – es nach wie vor um eine rein dualistische Trennungsrealität¹ von „Richtig“ oder „Falsch“, „Recht haben“ und „im Unrecht sein“ geht. Statt eine Mehrfachbeziehung als das multifacettierte Gebilde – und die große Chance die damit einhergeht – aufzufassen, spielen wir das alte Spiel der Zweiseitigkeit weiter, bei dem es am Ende nur eine Gewinnerposition und eine Verliererposition geben darf.
So richtig vorwurfsvoll kann ich an dieser Stelle gar nicht sein. Wir alle existieren noch immer in einer weitgehend von der Monogamie geprägten Welt – und auch fast alles, was uns vorgelebt wurde und wird, orientiert sich ganz überwiegend an deren Anschauungen. Schon in Eintrag 8 („Beziehungsschach mit dem Zen-Meister“) weise ich darauf hin, daß es durchaus einer Menge Anstrengung bedarf, um vom „Einzelspielermodus“ zu einem „Gruppen-Status“ überzugehen – und das nicht zuletzt unsere Mentalität, innere Haltung und Denkweise dabei recht tüchtig die Kurve nehmen müssten, um vom „einsamen Wolf“ zum Teamplayer zu werden.

Besonders verstörend erscheint mir jedoch an dem Grundprinzip, welches hinter dem Symptom „Hinge-Blindheit“ steckt, daß darin Mehrfachbeziehungen immer noch als eine Art Collage paralleler Einzelbeziehungen der vorgeblichen „Mitte“ („Hinge“) gedacht werden. Und solange wir uns mit diese Art Energie unseren intimen Nahbeziehungen zuwenden, wird niemals zusammenwachsen, was wir uns eigentlich „zusammen“ wünschen.
Hoppla! Habe ich da jetzt so unreflektiert wie das arme blinde Scharnier gedacht?
Nein, ich glaube nicht – und ich glaube auch nicht, daß die meisten oder wenigstens viele Scharniere „blind“ sind.
Ich glaube vielmehr, daß das, was mit „Hinge-Blindheit“ benannt wird, bei den „Scharnieren“ lediglich ein gewisses Maß an sehr menschlichem, blauäugigen Wunschdenken kennzeichnet. Und zwar in einer nahezu altmodisch nostalgischen Form à la „Ich möchte, daß meine Freund*innen am besten auch alle untereinander gute Freund*innen sind…“. Ein harmonieheischender Wunsch, den viele von uns schon aus Kindheit und Schulzeit kennen – ein Wunsch nach Eintracht, Gleichgesinntheit und weitgehender Übereinstimmung – und damit natürlich auch nach Zugehörigkeit und Eingebettetsein.
Das hat aber „damals“ schon nicht wirklich funktioniert – und auch heute können wir es nicht „machen“ – da mögen wir noch so sehr bevollmächtigtes Scharnier sein, vernarrt in unsere Flügelleute („Wings“) und von diesen verehrt.
Genau genommen hat sich nämlich auch nichts verändert: Wenn damals Alex und Ulli sich nicht gegenseitig ausstehen konnten, dann konnte man es ebenso vergessen, sie zusammen zu unserem 13. Geburtstag einzuladen, wie heute Robin und Toni zu unserem 38., wenn die sich nicht grün sind. Damals hätten Versprechungen und Bestechungen nichts gebracht und heute…
…Ach ja: Heute wären doch Robin und Toni beide unsere Wing-Partner*innen mit uns in einer Mehrfachbeziehung!

Und wenn wir da jetzt blind in der Mitte wären, dann möge mir die delikate Frage gestattet sein, wie es gelungen wäre, mit diesen zwei Menschen, die sich ganz offensichtlich so stark ablehnen, daß sie es nicht einmal zusammen ein paar Stunden auf einer Feierlichkeit aushalten, in Liebe und Leidenschaft verpartnert zu sein…?
Haben wir vielleicht doch Pokémon-Poly² gespielt und mehr auf ein diversifiziertes Liebsten-Portfolio zu unserer individuellen Bedürfnisbefriedigung abgezielt – und dadurch eher ein Parallelbeziehungkonstrukt anstatt einer Gesamtbeziehung errichtet?
Dann wird es jetzt schwer, denn dafür, daß sich Robin und Toni nun bei aller Parallelität doch noch „gut finden“ mögen, können wir genau genommen von der Mitte aus rein gar nichts tun. Will heißen: Das blinde Scharnier kann da nichts machen, denn deren wechselseitige Sym- oder Antipathie ist in allererster Linie eine Sache zwischen Robin und Toni.

„Blind“ würde ich, Oligotropos, das Scharnier übrigens in dem Fall nicht wegen seinen zweckoptimistischen Harmonieerwartungen nennen.
Sehr wohl aber „blind“ hinsichtlich der Wahl des Beziehungs-Grundmodells, welches sich nun bestenfalls als „offene-Beziehungen-Netzwerk“ denn als Polyamory darstellt.
Denn selbst Polyamory – so sagt der erste Satz der deutschen Wikipedia im entsprechenden Artikel„…bezeichnet eine Form des Liebeslebens, bei der eine Person mehrere Partner liebt und zu jedem einzelnen eine Liebesbeziehung pflegt, wobei diese Tatsache allen Beteiligten bekannt ist und einvernehmlich gelebt wird.“.
Oho: Einvernehmlich! „Einvernehmlich“ – da wiederum hilft uns Wiktionary aus – heißt übertragen soviel wie „Einigkeit“ oder auch „Übereinstimmung“ und bedeutet „die gleiche Einstellung von Personen zu etwas“. In unserem Fall also auf die gemeinschaftliche Beziehung bezogen, in der ja allen Beteiligten diese Tatsache (also Anteil an einer Mehrfachbeziehung zu haben) bekannt wäre (siehe oben!).

Dies zugrunde gelegt, stellt sich für mich die Frage danach, wer oder was „blind“ ist, in neuem Licht. Zu fragen wäre für mich nämlich, wie es denn um den Status jener „Einvernehmlichkeit“ bestellt ist.
Liegt es eventuell tatsächlich an der „Mitte“, die jedoch durch intransparentes Agieren im eigenen Sinne ihre „Flügelleute“ mit einem hohen Grad an Intransparenz ihrerseits geblendet hat? So daß diese Flügelleute gar nicht in der Lage waren ein informiertes Einverständnis bei vollständiger Kenntnis der Gesamtbeziehungslage zu geben? Leider ist das gar nicht so selten, daß andere existierende oder aufblühende Beziehungen als „ziemlich beste Freunde“, „sehr gute Bekannte“ oder „Ach, das ist so’n on/off-Ding…“ deklariert werden; eitle Nebelkerzen, die nur zu leicht vermitteln, daß es „eigentlich“ gar keine anderen, vollwertigen Flügelpartnerschaften (außer der, wo man gerade jetzt Zeit verbringt) gibt […und nochmals herzlich willkommen im mononormativen Denken!].
Oder war die Mitte doch blind – aber durchaus anders, als es die „Hinge-Blindheit“ klassifizieren will. Nämlich indem genau auf das so wichtige „Einvernehmen“ der Polyamorie nicht sorgfältig geachtet wurde. Die berühmteste (Nicht-)Einvernehmens-Formulierung der Welt ist ja bekanntermaßen „Mach doch was Du willst…!“ (Variante: „Ist Deine Entscheidung…“). Ein eh schon blauäugig zweckoptimistisches Scharnier könnte diese etwas vage gehaltene Ach-rutsch-mir-doch-den-Buckel-runter-Ausdrucksweise womöglich mit etwas überschießender Selbstüberzeugtheit zu tatsächlich erteiltem Einverständnis ummünzen. Und von da an im eigenen Kopf beruhigt sein: „Reinen Tisch? Klar! Hab‘ ich gemacht!“.
In beiden Varianten kommen übrigens sowohl „Angel/Scharnier/Mitte“ als auch „Flügel/Seite“ nicht besonders gut weg. Und das liegt leider an unserer menschlichen Schwäche, in unserem eigenen Sinne Aussagen anderer Personen derart zu interpretieren, daß sich doch (hoffentlich) weitere Nachfragen erübrigen und wir darob den „Stand der Dinge“ für zufriedenstellend geregelt halten.
Was uns allen immer exakt in den Situationen um die Ohren fliegt, in denen uns dann plötzlich der Boden mit Sätzen wie „Ich habe nie gesagt, daß…“ unter den Füßen weggezogen wird… Jaja. Aber wie es WIRKLICH GEMEINT war im ursprünglichen Moment, DAS ist leider auch nie gesagt worden, sondern wurde immer bloß mit viel Ungefähr, einem minimalen Hauch schlechten Gewissen und viel „Wird-schon-schiefgehen-Mentalität“ hochgradig interpretationsfähig insinuiert.

Womit für mich nun auch der letzte Glanz vom Symptom „Hinge-Blindheit“ abgeblättert ist, indem es nun so gar kein Mehrfachbeziehungs-Schlagwort mehr ist, sondern im Kern lediglich ein etwas schales, wohlbekanntes Alltagsphänomen zu Tage tritt, worin wir Menschen uns, wenn es um Verbindlichkeit geht, doch sehr oft nur zu gerne um die anhängige Konkretheit herumdrücken wollen.

Fazit:
Charakteristische „Hinge-Blindheit“ gibt es meines Erachtens nicht. Es gibt nur jene weitverbreitete menschliche Blindheit, durch die, wenn einem bestimmte Konsequenzen eigenen Handelns zu schwer auszuhalten dünken, man zu einer scheinbar leichter zu ertragende Variante der Wirklichkeit übergeht, welche man erst sich selbst und kurze Zeit später allen, die davon betroffen sein könnten, als Tatsache einzureden versucht.
Dazu braucht es weder Mehrfachbeziehungen noch gar Polyamorie als Setting – es handelt sich dabei ganz und gar um ein Phänomen des eigenen Selbstverständnisses.
In meinem vorhergegangenen Eintrag habe ich darüber hinaus dargelegt, warum die Zuordnung der Positionen von „Mitte“ („Hinge“) und „Seite“ („Wing“) keineswegs so klar sind, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen können. Auch daraus geht für mich bereits hervor, daß bei dem Verdacht auf „Blindheit“ in einem Mehrfachbeziehungs-Netzwerk sehr genau ergründet werden müsste, a) worin dieser blinde Fleck bestünde und b) wer bzw. wie viele Personen eigentlich davon betroffen wären.
Als „Schuldzuschiebung“ empfinde ich den gesamten Begriffskomplex so überflüssig wie fehl am Platz, da ja bekanntlich, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, vier Finger unversehens zurück auf einen selbst verweisen…

Ungeachtet dessen habe ich in diesem Eintrag heute drei der grundlegendsten Werte der Polyamorie wie auch der Oligoamory erwähnt. Diese sind: Einvernehmlichkeit, Transparenz und Verbindlichkeit.
Meinen Eintrag 44, in dem ich davon spreche, warum es zum Gelingen von Mehrfachbeziehungen wirklich wichtig ist, seine Freunde bzw. Partner*innen als ganze Menschen und Persönlichkeiten zu lieben, habe ich quasi auf diesen drei Werten aufgebaut, da sie die unabdingbaren Zutaten für das wichtigste Gut in allen unseren intimen Nahbeziehungen sind: Vertrauen.
Warum es „ohne“ nicht geht, erkennen wir sofort, wenn wir die drei Begriffe in ihre Antonyme (=gegensätzliche Bedeutung) drehen: Unstimmigkeit, Verschleierung (Intransparenz) und Unverbindlichkeit. Haben diese drei apokalytischen Reiter erst begonnen in unseren Beziehungen herumzustrolchen, wird sich darin niemand mehr richtig wohl fühlen. Noch mehr: Auf diese Weise wird sich niemals ein „gemeinsames Wir“ einfinden, welches genau den Unterschied zwischen dem oben erwähnten „ Parallelbeziehungkonstrukt“ und einer echten Gesamtbeziehung ausmacht.
Poly- und Oligoamory wird es immer (erst) dann, wenn wirklich alle Beteiligten komplett an Bord sind, mit ganzem Wissen, vollem Willen und ganzem Herzen.
Das ist keine Versicherung gegen angelegentliche Blindheit, wie sie uns alle mal überkommt. Aber eine der besten Absicherungen für einen solchen Fall, daß dadurch nicht gleich alle anhängig Beteiligten mit in den Abgrund gerissen werden und genug freundliche Augen und Hände da sind, ein schwieriges Stück Wegstrecke gemeinschaftlich zu meistern.



¹ Die Beschreibung „Trennungsrealität“ für unsere vorwiegend alltäglich-unbewußte Art unser Leben zu führen stammt von dem Autor Daniel Hess, dessen Gedankengänge (und Gegenvorstellung) dazu in Eintrag 26 ausführlich zu Wort kommen.

² „Pokémon-Poly“ – und was es bedeutet – wird von mir in Eintrag 2 beschrieben.

Danke an Kiraan p auf Unsplash für das Foto!