Eintrag 96

Gut behütet

#katzemithut, 🌐 Standort: Stackeln an der Kruke – Backpflaumenallee 17

Das Führen ethischer Mehrfachbeziehungen mit wenigen Beteiligten, wie ich sie mit der Oligoamory beschreibe, hat – ich weise in vielen meiner Einträge darauf hin – eine Menge mit Gemeinschaftsbildungsprozessen zu tun.

Und in meinem heutigen Beispiel ist es eine wahrlich erstaunliche Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hat.
Ich möchte sie Euch kurz vorstellen – zuerst die Erwachsenen:
Da ist natürlich die allzeit umtriebige Katze, die stets vor Ideen sprüht und sich mit all ihren Kräften für das Miteinander einsetzt. Ein fleißig hauswirtschaftendes Huhn namens Marianne, welches gerne für einen kleinen Schwatz zu haben ist, steht ihr mit Rat und Tat zur Seite. Ebenso unterstützt sie ein etwas betagterer Hund, Kapitän Knaak, der einst zur See gefahren ist und dort allerhand praktische Fertigkeiten erlernt hat. Zu der Gruppe gehören außerdem ein lichtscheuer Gliederfüßer, welcher als „der Hundertfuß“ bekannt ist (ein eifriger Sammler ausgebrannter Glühbirnen), sowie die Zwillingsbrüder Erbsenstein, zwei Bastler und Erfinder, die sich so ähnlich sind, daß nicht einmal ihre Vornamen eine Rolle spielen. Der Senior im Haus ist ein storchenähnliches Tier, welches liebevoll als „Stolpervogel“ bezeichnet wird, da seine langen Beine mittlerweile in die Jahre gekommen sind und manchmal den Dienst versagen.
Zu der Gemeinschaft zählen aber auch Jugendliche: So gibt es eine verträumte Lama-Teenagerin, die viel Zeit am Tag mit schlafen verbringt und ein talentiertes Wildschwein-Kid, „Baby Hübner“, welches furios seinen Wunsch nach einer Musiker-Karriere an der Oper vorantreibt.
Selbstverständlich gibt es auch kleinere Kinder: Ein echsenartiges Geschöpf, welches „Zappergeck“ genannt wird und das mit seiner Impulsivität und seinem Vorwitz möglicherweise eine Hyperaktivitätsstörung ausdrückt. Und – nicht zuletzt – ein sanftes Hummel(klein)kind, die „Puddingbrummsel“, die sich ihrerseits mit der Welt der Sprache noch ein wenig schwer tut, sich aber trotzdem zu äußern vermag.

Zusammengestellt haben diese Gemeinschaft übrigens die beiden Schriftsteller*innen Desi und Simon Ruge in ihrem Buch Katze mit Hut (zuerst: Beltz & Gelberg 1980¹) sowie dem Nachfolgeband „Neues von der Katze mit Hut“ (Beltz & Gelberg 1984).
Die beiden Bücher bieten einen wunderbaren, kindgerechten Rundblick durch einen Gemeinschaftsbildungsprozeß, so wie dieser sieben Jahre später vom „Vater des Community-Buildings“, Scott Peck, für ein erwachsenes Publikum mit seinem Buch „The Different Drum – Community Making and Peace“ (Simon & Schuster, New York 1987²) niedergelegt wurde.

Auch in der „Katze mit Hut“ müssen die Gemeinschaftsmitglieder regelmäßig alle Phasen des Zusammenlebens durchlaufen, die Scott Peck in seinen Ausführungen als „Pseudogemeinschaft“ (ein erstes, eher noch oberflächliches Beisammensein), „Chaos“ (Streit, gegenseitige Belehrungen und Rechthabenwollen), „Leere“ (eine Phase der Einkehr, Neuordnung und Entspannung) und „echte Gemeinschaft“ (wahres Zusammenkommen und füreinander Einstehen) benannte.
Bei so unterschiedlichen Charakteren sollte das schließlich niemanden wundern!

Über Scott Pecks Gemeinschaftsbildungsprozeß habe ich bereits in Eintrag 8 ein wenig geschrieben, darum möchte ich hier gar nicht mehr so tief darauf eingehen.
Heute möchte ich etwas über einen Aspekt des Zusammenlebens berichten, der in der „Katze mit Hut“ in einer kleineren Randszene vorkommt, der mir aber von großer Bedeutung zu sein scheint (und ich halte es für keinen Zufall, daß Desi und Simon Ruge die Begebenheit in ihr Werk eingefügt haben):

An dem Tag, an dem die Katze den neuen Mitbewohner „Hundertfuß“ entdeckt, hören zunächst sie selbst, der Hund Kapitän Knaak und Marianne das Huhn seltsame nächtliche Geräusche über der obersten Etage. Die Katze steigt mit dem Hund zusammen bis ins Dachgeschoss (Marianne bleibt über die Küche wachend zurück), dort werden sie von einem versteckten Lebewesen angesprochen, sobald sie das Licht einschalten. Die Katze läßt den Hund das Licht wieder ausschalten, woraufhin beide den Gliederfüßer „Hundertfuß“ kennenlernen, welcher gerade dabei ist, seine Sammlung ausgebrannter Glühbirnen einzusortieren – und der sie dringlichst bittet, doch möglichst niemals das Licht einzuschalten, weil es seinen empfindlichen Augen Schmerzen bereiten würde (weshalb er überdies die Nacht für seine Aktivitäten bevorzuge). Es entsteht ein freundschaftlicher Dialog, an dessen Ende die Katze den Hundertfuß in der häuslichen Gemeinschaft willkommen heißt und ihm seinen Platz auf dem Dachboden bestätigt – und zusichert, daß er tagsüber von der übrigen Gruppe nicht gestört werden solle.
Katze und Hund begeben sich wieder zurück nach unten, weil aber Kapitän Knaak zugleich so etwas wie den Hausmeisterposten in der Gemeinschaft innehat, bittet die Katze ihn noch auf der Treppe: „Und achten sie darauf, daß ab jetzt die Fensterläden im obersten Geschoß auch tagsüber geschlossen bleiben.“ Woraufhin Kapitän Knaak so ernsthaft wie verbindlich antwortet: „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“ [Danach kehren die beiden zu Marianne zurück und alle begeben sich zu Bett]

Erst einige Jahrzehnte, nachdem mir die „Katze mit Hut“ in meinem eigenen Leben als literarische Gestalt und auf der Puppenbühne begegnet war, spürte ich nach und nach, daß die schlichten Worte »Ich verstehe nicht – aber ich achte.« für mich einen der innigsten Ausdrücke für wahrhaftige Verbundenheit und Loyalität darstellte, der mir je begegnet war.

Für Kapitän Knaak ging das Kennenlernen des Hundertfußes nämlich fast zu schnell, auch sein Intellekt arbeitet nicht so rasch wie die flinke Auffassungsgabe der blitzgescheiten Katze: Ein neuer, etwas eigentümlicher Mitbewohner, der dunkle Dachboden, die seltsame Glühbirnensammlung…, sehr viel Information auf einmal.
Abgesehen von einem einigermaßen stabilen Vertrauen – sowohl in die Situation als auch hinsichtlich der Urteilsfähigkeit seiner Mitbewohnerin Katze – wendet Kapitän Knaak noch eine weitere wichtige Ressource auf, die über reines Verständnis hinausgeht. „Verständnis“ enthält ja bereits gewissermaßen das Wort „Verstand“ – und bedeutet damit normalerweise, daß wir eine Situation mit unserem Denken, unserer Ratio und mit Intelligenz eingeschätzt haben.
Wenn wir dies tun, schalten wir aber zugleich unsere Urteilsfähigkeit und auch stets einen gewissen Grad an Bewertung mit dazu, was – je nach unseren Vorerfahrungen oder unserer persönlichen Tagesform – nicht immer günstig ist.

Indem Kapitän Knaak zugibt „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“, drückt er auf einer viel instinktiveren Ebene eine Anerkennung der Situation, vorbehaltlose Rücksicht, Respekt – und vor allem Einfühlung und Empathie aus (→ da ist ein Lebewesen mit einem Bedarf, den ich selbst vielleicht noch nicht ganz verstehe – aber weil ich selbst Bedürfnisse habe, bei denen ich mich freue, wenn sie geachtet werden, kann ich auch ohne exaktes intellektuelles Durchdringen der Lage fürsorgen).
Ohne groß nachzudenken und zusätzliches Kontextwissen gelingt Kapitän Knaak also in dieser kurzen Szene sogar der berühmte Perspektivwechsel, bei dem man sich gemäß Indianersprichwort „in die Mokassin der anderen stellt“.

Für einen Dezembereintrag kurz vor dem christlichen Weihnachtsfest ist das eine anrührende Botschaft – übrigens ganz ohne spirituelles Monopol – denn auch die allermeisten anderen Religionen und Glaubensrichtungen sowie zahlreiche philosophischen Strömungen der Welt möchten die Menschen überall genau zu dieser Form von Herzensgüte, Toleranz und Großmut – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – einladen.

Auch der Diplom-Psychologe und Paartherapeut Ulrich Wilken³, der unter anderem die BeziehungsberatungsApp „myndpaar“ entwickelt hat, nennt als die wichtigsten fünf Säulen jeder stabilen und starken Beziehung: 1. Vertrauen in die Beziehung (womit er vor allem das Grundvertrauen in die Beständigkeit der darin fließenden Liebe meint), 2. alte Muster aufspüren und überwinden (insbesondere die Selbstsabotage durch verinnerlichte Glaubenssätze wie z.B. „Ich bin nicht genug“ o. „Ich bin nicht liebenswert“), 3. das Anderssein der Partner*innen akzeptieren (vor allem Respekt und Neugierde erhalten für die Herangehensweisen und den Blick auf die Welt der Partner*innen), 4. achtsam kommunizieren (Goldene Regel: bei sich bleiben, in Ich-Form sprechen, keine „Diagnosen“ austeilen) und 5. wertschätzen, was ist (immer wieder bewußt und ohne Perfektionsanspruch die vielen kleinen Schatzmomente einer Beziehung erkennen und würdigen). [Quelle: 7mind-Magazin]

Enge menschliche Gemeinschaften, egal ob bei uns zuhause oder in der WG-artigen Tier-Kommune der Katze aus der Backpflaumenallee, sind in diesem besten Sinne stets Liebesbeziehungen.
Und diese Liebensbeziehungen sind als solche dann wahrhaftig, wenn sich dort die beiden ersten Punkte des Herrn Wilken quasi gegenseitig bedingen: „Vertrauen in die Beständigkeit der Liebe innerhalb einer Beziehung“ habe ich dann, wenn ich mich selbst dort sicher und angenommen fühle; wenn ich mich – sogar im besten Fall unbewußt – als gesehen empfinde, weil ich in vielen kleinen Dingen erlebe, daß ich berücksichtigt und respektiert werde.
Wenn wiederum dieses Erleben gegeben ist, ist mein Liebesort auch ein Vertrauensort – ein Ort, an dem ich selbst aus diesem Vertrauen schöpfen kann, ohne täglich intellektuell überprüfen zu müssen, ob ich (noch) einen Platz darin habe.
Für Mehrfachbeziehungen – wie im Fall der „Beziehungserweiterung“ durch den Hundertfuß im obigen Beispiel – bedeutet dies, daß ich dann auch gelassener in der Lage bin, mich auf die Dynamik mehrere Partner*innen (auch hinzukommender) einzulassen, weil ich ein belastbares Zutrauen in mich selbst, meine Position und zu meinen übrigen Partner*innen habe.

Ach ja – Kapitän Knaak führt uns auch die Punkte 3 und 4 liebevoll vor Augen:
Obwohl das alles für ihn doch sehr schnell ging, ist er wohl ebenfalls – wie ja auch die Katze – neugierig auf den neuen Mitbewohner. Als Hund kann er die Leidenschaft des Hundertfußes für Dunkelheit und ausgebrannte Glühbirnen nicht so recht nachvollziehen – aber da er eh schon mit einer Katze und einem Huhn in einem Haushalt zusammenlebt, hat er längst damit begonnen zu akzeptieren, daß es so viele verschiedene Sichtweisen auf die Welt gibt, wie es Menschen – Verzeihung – Mitbewohner*innen gibt. Was für ihn daher bedeutet, daß also auch der Hundertfuß mit seinen individuellen Merkmalen sicherlich zu einer Bereicherung beitragen wird.
Kapitän Knaak gelingt es in diesem Moment, kommunikativ eine Restunsicherheit mitzuteilen und dabei bei sich zu bleiben: „Ich verstehe nicht.“ Er verschiebt in dieser Weise die Verantwortung jedoch nicht auf den Hundertfuß („Der ist ja gruselig…“) oder auf die Katze („Du mit deinen vorschnellen Einladungen…!“) – sondern aufgrund seines Vertrauens in die bereits bestehende Gesamtbeziehung gelingt es ihm, optimistisch zu bleiben, wodurch er selbst seinen großen Trumpf Verbindlichkeit und Verlässlichkeit einbringen kann („Ich achte.“).

Punkt 5 (wertschätzen, was ist) ist in allen Beziehungen, die bereits eine bestimmte Lebensdauer aufweisen, sehr oft ein etwas heikler Teil (…daß es bei der „Katze mit Hut“ wohl gutgeht, können wir daran erkennen, daß es sogar zwei ganze Bücher über ihre WG gibt…):
Die „kleinen Beziehungsschätze“ aufzufinden ist nämlich ein wenig so, als ob wir Weihnachten und Ostern miteinander vermischen würden (oder den Inhalt eines Adventskalenders überall in der Wohnung versteckten). „Wertschätzung“ kann uns nämlich in vielerlei Gestalt, in Form von Worten oder Taten, sogar Gegenständen oder Dienstleistungen begegnen.
Und egal, ob es sich dabei um unsere Lieblingsschokolade oder den Extraumweg im strömenden Regen handelt: Es ist vor allem wichtig, daß wir selbst unseren Blick dafür geschärft erhalten, diese kleinen „Schätze“ als das, was sie sind, zu begrüßen – und sie nicht einer grauen Registratur aus Selbstverständlichkeit und Routine anheim fallen zu lassen.
Um Letzteres zu verhindern ist auch das Innehalten wichtig, sich (und die anderen) aktiv zu fragen, wie sie die Beziehung in letzter Zeit erlebt haben (selbst so ein Gespräch kann schon wiederum in sich ein Zeichen der Wertschätzung sein!) – und z.B. auch gemeinsam zu überlegen, wie die Beziehung für zukünftige Herausforderungen noch gestärkt werden könnte.

Wer in dieser Weise immer mal wieder in seinem Alltag – manchmal an ganz unwahrscheinlichem Ort oder in unvorhergesehener Situation – irgendwo solch einen dieser kleinen „Wertschätze“ findet bzw. erfährt, wird sich sofort in Punkt 1 (Vertrauen in das Fließen der Liebe) bestätigt fühlen.
Was zu jeder Jahreszeit die beste Autoimmunkur für unsere Beziehungen ist…

Mein Jahresendwunsch ist daher heute ein ganz einfacher. Wenn wir uns mit uns selbst und mit unseren Liebsten auf einen solchen Weg begeben, hoffe ich, daß wir alle genauso wie die Katze – und was auch immer das nächste Jahr bringen wird – aus tiefstem Herzen zusammen rufen werden:

„Aber mir gefällt es hier. Oh, es gefällt mir sehr!“




¹ Aktuell: Simon und Desi Ruge – „Katze mit Hut“, Atrium Verlag 2019 und „Neues von der Katze mit Hut“, Beltz & Gelberg 1996 (noch keine Neuauflage verfügbar)
▪ Beachtet auch die sehr anrührende Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste von 1982 (Regie: Sepp Strubel) auf DVD oder bei YouTube.

² Aktuelle Version: Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ The Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag

³ Dipl.-Psych. Ulrich Wilken ist psychologischer Psychotherapeut und hat vor über 30 Jahren das Institut für Systemische Studien in Hamburg gegründet. Er arbeitet seitdem als Dozent, Einzel- und Paartherapeut. 2021 hat er mit seiner Tochter Leonie myndpaar – eine KI-basierte Psychotherapie-App – gegründet.
[Die App kann im „Einzelpersonenmodus“ von jedem gut genutzt werden, im „Beziehungsmodus“ gibt es leider nur eine Variante für maximal zwei Teilnehmende.]

Danke an Moi Lolita auf Pixabay für sein AI-generiertes Bild, bei dem keine echte Katze einen Hut tragen musste!