Gewaltfrei und aufrichtig
Vorbemerkung: Dieser Text wurde von mir erstmals Ende Oktober 2018 für eine Facebook-Gruppe zum Thema polyamorer Mehrfachbeziehungen geschrieben.
Er entstand als persönliche Antwort auf die Frage nach der „Nützlichkeit“ der Anwendung von „Gewaltfreier Kommunikation (nach Marshall B. Rosenberg)“ [gfK] und „Radikaler Ehrlichkeit (nach Dr. Brad Blanton)“ [rE] im Hinblick auf die Führung von Mehrfachbeziehungen.
Da ich auf meinem bLog regelmäßig Bezug auf beide Kommunikationsformen nehme (zuletzt in den Einträgen 3, 4, 5, 8, 9 und 11 ) – woran abzulesen ist, daß ich diesen Herangehensweisen auf jeden Fall erhebliche Bedeutung zumesse – möchte ich meinen damaligen Artikel auch hier noch einmal in Bezug auf die Art der Anwendung in oligoamoren Zusammenhängen einstellen.
Kurzbeschreibungen:
Die „Gewaltfreie Kommunikation“
(gfK) wurde schriftlich erstmals 1972 von dem amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg formuliert.
GfK stellt ein Handlungskonzept dar, welches Menschen ermöglichen soll, so miteinander umzugehen, dass der Kommunikationsfluss zu mehr Vertrauen und Freude am Leben führt. Es heißt, daß gfK in diesem Sinne sowohl bei der Kommunikation im Alltag als auch bei der friedlichen Konfliktlösung im persönlichen, beruflichen oder politischen Bereich hilfreich sein kann. Im Vordergrund steht nicht, andere Menschen zu einem bestimmten Handeln zu bewegen, sondern eine wertschätzende Beziehung zu entwickeln, die mehr Kooperation und gemeinsame Kreativität im Zusammenleben ermöglichen möchte.
GfK betrachtet insbesondere Ursachen der Konfliktentstehung; hierbei steht u.a. unsere „lebensentfremdende“, in Teilen als gewaltvoll angesehene Alltagskommunikation im Mittelpunkt. Die gfK stellt zur Konfliktvermeidung und -auflösung vor allem auf das Erforschen der eigenen, persönlichen Bedürfnisse und deren Kenntnisnahme ab und ruft zu einer Schulung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit auf, sowohl was das Geschehen um einen herum als auch die eigenen Emotionen und Gefühle dazu angeht.
Schon vor Rosenbergs Tod im Jahr 2015 hat sich gfK durch engagierte Rosenberg-Schüler in vielfältige Richtungen und Wirkungsbereiche weiterentwickelt.
Da sich gfK historisch aus der klinischen Psychologie von u.a. Carl Rogers heraus entwickelt hat, steht diese Kommunikationsform gelegentlich in der Kritik, anfällig für Manipulation oder „unzulänglich-erscheinen-(lassen)“ des Gesprächsgegenübers zu sein.
Die „Radikale Ehrlichkeit“ ¹
(rE) [im Original „Radical Honesty“] wurde schriftlich erstmals 1990 von dem amerikanischen Psychotheraputen Dr. Brad Blanton formuliert.
RE ist als Selbstverbesserungsprogramm konzipiert, das von Dr. Blanton vor allem zur authentischen Gesprächsführung entwickelt wurde.
Seine Philosophie macht geltend, dass Lügen und Manipulation die Hauptquelle des modernen menschlichen Stresses seien, da aus Scham oder Selbstdarstellungsabsichten kaum noch offen kommuniziert würde. Daher wird bei ihm auf und direktes und unverblümtes Sprechen hingewirkt, sogar über schmerzhafte oder tabuisierte Themen. Auf diese Weise könne authentische Vertrautheit erzeugt werden, die die Kommunikationspartner zufriedener machen würde, was beim Zurückhalten bzw. Verbergen von eigener Befangenheit nicht möglich ist.
Demgemäß müsste Blantons „Radical Honesty“ im Deutschen korrekterweise mit „Radikaler Offenheit“ oder „Radikale Aufrichtigkeit“ übersetzt werden, weil dies das eigentliche Ziel des Selbstausdrucks sein soll.
Dr. Blanton vermarktet derzeit als Rechteinhaber seine Kommunikationsform selber durch verschiedene von ihm geschriebene Bücher zum Thema sowie vor allem in Form von selbstgeleiteten Workshops und Seminaren.
Da es bei rE erwünscht ist, sogar eine erst einmal subjektive „Wahrheit“ in extrem freimütiger und geradewegs schlichter Form zu äußern, steht rE in der Kritik – je nach Kontext – unempathisch bis absichtsvoll beleidigend auf die Gesprächspartner einzuwirken.
Sowohl die „gewaltfreie
Kommunikation (gfK)“ als auch die „radikale Ehrlichkeit (rE)“
werden wegen ihrer gesprächsunterstützenden Einsatzmöglichkeiten
regelmäßig auch für die Kommunikation in intimen Beziehungen
empfohlen – insbesondere bei herausfordernden Anliegen wie dem
Zusammentreffen sehr unterschiedlicher Stand- und
Ausgangspunkte.
Speziell an dieser Stelle kommen die
Mehrfachpartnerschaften ethischer Non-Monogamie (wie u.a. Offene
Beziehung und Polyamory) ins Spiel:
So wird z.B. sowohl auf den Seiten polyamorie.de (von Silvio Wirth, u.a. Integrales Tantra, Sexualtherapie), Christopher-Gottwald.de (ders., zu Polyamorie, Contact Improvisation und Sexological Bodywork), als auch im Artikel der deutschsprachigen Wikipedia zu »Polyamorie (9.3. Kommunikation und Verhandlung)« „Gewaltfreie Kommunikation“ als vorteilhaft für die Gesprächsführung in Polybeziehungen genannt (Ich zitiere insb. diese drei Webseiten, weil Informationssuchende im deutschsprachigen Raum bei der Suche im www mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell auf eine dieser Seiten stoßen werden).
Wenn in diesem Zusammenhang nun also jemand mich dahingehend nach meinen Erfahrungen damit befragen würde – etwa so: „Oligotropos, findest Du gfK und rE für Mehrfachbeziehungen nützlich? “ – dann würde meine Antwort lauten: „Nein.“ Allerdings mit dem wichtigen Zusatz: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß gfK und rE in der Hauptsache für mich ganz persönlich (meine Selbsterkenntnis, meine Arbeit an mir etc.) nützlich sind.“
Warum mein derartiges „Nein.“?:
1) Meinem Erleben nach besteht hinsichtlich gfK und insbesondere bei rE der Grundirrtum, daß diese Kommunikationsformen primär dafür angelegt sind, daß „Ich jetzt mal was sagen darf…! “. Und daß ich, um eine in mir aufgelaufene und drängende Irritation mittels einer Kommunikationsform, die auf einem friedlichen oder radikal ehrlichen Kontext aufgebaut ist, quasi nicht nur gleichsam die Berechtigung erwerbe, mich endlich ausdrücken zu dürfen, sondern auch, da ich das dann ja mittels einer der beiden höchstentwickelten Kommunikationsweisen auf diesem Planeten „gewaltfrei“ bzw. „radikal ehrlich“ getan habe, folglich die Berechtigung erwerbe, endlich auch ernst genommen, verstanden und gehört zu werden.
Ich möchte niemanden meiner Leser*innen, die sich bisher in ihrem Leben angelegentlich schon mit gfK oder rE beschäftigt haben, enttäuschen – aber meinem Verständnis nach ist dies (leider) nicht die Idee hinter der Sache, obwohl beide Kommunikationsweisen am häufigsten aus diesem Grund meist überhaupt erst hervorgeholt werden. Ich habe aus eigener Erfahrung auch sehr großes Verständnis für diesen Wunsch, denn meine Sehnsucht „endlich verstanden/gehört“ zu werden, ist selbstverständlich oft ebenfalls sehr groß.
Was ist stattdessen meiner Meinung nach der Kern von gfK und rE?
So ungern ich das manchmal selber realisieren will: Die Grundhaltung, sich (mit seinem evtl. Anliegen) dem/den Kommunikationspartner/n gegenüber vollkommen nackt und authentisch zu zeigen. Also völlig maskenlos und ungeschönt – aber dafür mit einem sehr hohen (Selbst)Vertrauen. Was demgemäß in diesem vollkommen friedvollen und selbstehrlichen Moment in gewisser Weise ein Risiko enthält, sich so „enthüllt“ den Gesprächspartnern auszuliefern bzw. anzuvertrauen.
Welchen Sinn haben die Schöpfer der gfK oder der rE dadurch anstreben wollen?
Hier unterscheiden sich gfK und rE etwas von einander:
►Bei der gfK wird dadurch ein Augenblick hergestellt, in dem ich mit meinem Gegenüber die Grundlage zu einem Dialog/Prozess eröffne, der als Ziel das wechselseitige Beitragen zu unserem jeweiligen Wohlbefinden (vulgo: „Win-Win-Situation“) hat.
►Bei der rE stellt sich für den „Nackten“ ein Moment außerordentlicher Klarheit ein, da der/die Dialogpartner*innen nun ihrerseits in authentischer Weise auf den manipulationsfreien Selbstausdruck reagieren können (oder eben nicht) – was zu einer unverbrämten Aufdeckung der allseitigen Beweggründe führen wird.
Jetzt könnte man mich fragen: „Aber ist das nicht das selbe – dieser authentische Selbstausdruck und das oben erwähnte ‚…jetzt darf ich mal was sagen…! ‚?“
Wiederum verneine ich, da das forsche und durch gfK oder rE vermeintlich geadelte „…jetzt sag‘ ich mal was…! “ nur den Teil beider Systeme anwendet, in dem es um das Aussprechen eines subjektiven Befindens (mit Anspruch auf Erhörtwerden) geht, nicht aber den anderen, meiner Erfahrung nach viel wichtigeren und schwierigeren, Teil des empathischen Hörens und der damit verbundenen gewaltfreien bzw. radikal-offenen Grundhaltung.
2) Konkret Mehrfachbeziehungen betreffend, noch konkreter bezogen auf eine real existierende Menschengemeinschaft, welche nun versucht, ein Problem, eine Irritation, einen Umstand, ein Hindernis mittels gfK oder rE zu bearbeiten, verneine ich die unmittelbare Nützlichkeit dieser Kommunikationssysteme, insbesondere, wenn sie (erst) im Krisenfall aktiviert werden (das klassische „Küchentischgespräch“). Es hört sich ja erst einmal gut an, wenn alle Beteiligten sich darauf einigen, eine aufgelaufene Angelegenheit im anstehenden Gespräch mittels gfK oder rE anzugehen.
Aber: Die Komplikation, die sich bei dieser Herangehensweise ergibt, ist, daß bei solcherlei Anwendung von gfK oder rE diese wie „Büroyoga“ lediglich als „Technik“ benutzt werden, um die individuellen Ziel- bzw. Wunschvorstellungen der Gesprächspartner*innen zu erreichen.
Weder gfK noch rE sind aber von ihren Gründern mit der Absicht eine „Technik“ – ein nützliches Werkzeug – zur Verfügung zu stellen, entwickelt worden.
Sowohl Marshall B. Rosenberg als auch Dr. Brad Blanton beabsichtigten vielmehr die Formulierung einer Grundhaltung, einer Lebenseinstellung und daraus resultierender Lebensweise. Beide Kommunikationsweisen stellen ein höchst authentisches Menschenbild in den Mittelpunkt, mit einer jeweils friedlich-wohlwollenden bzw. geklärt-aufrichtigen Einstellung gegenüber der Welt und dem Leben, mit all den dazugehörigen Umständen (im Vergleich mit unserem Büroyoga wäre hier also Yoga als spirituell-ganzheitlicher Pfad das passende Synonym).
Wenn sich nun die oben zitierte Gruppe zur Problemklärung an den Küchentisch setzt und gfK oder rE OHNE die dazugehörige Grundhaltung und nur als „Gesprächstechnik“ anwendet – obendrein noch auf ein Problem, welches sich außerhalb der vereinbarten Gesprächssituation im normal-unfriedlichen oder normal-verschlossenen Alltag ereignet hätte, dann haben die Beteiligten einen steinigen Weg vor sich, der mit hoher Wahrscheinlichkeit am Ende nicht zu allseitigem Wohlbefinden oder großer authentischer Offenheit führt – sondern viel eher in dem Erleben, daß man sich selbst oder die anderen sich mal wieder nicht recht verständlich machen konnten. Und das gfK und rE völlig überbewertet seien, weil sie hauptsächlich dazu dienen würden, unbequeme subjektive „Wahrheiten“ auf den oben erwähnten Küchentisch zu kotzen, womit vor allem das gemeinschaftliche Unbehagen erhöht wurde.
Die Anwendung von gfK und rE als reine Gesprächs“techniken“ beinhaltet darüber hinaus die Gefahr der „Welle unter dem Teppich“:
Wenn die Beteiligten einer Mehrfachbeziehung es nicht gewohnt sind, selbstreflektiert normal-menschlich anfallende Irritationen zeitnah im Alltag anzusprechen, dann hat sich meist bis zum schicksalhaften „Küchentischgespräch“ ein ganzer Berg von emotional belastenden Anliegen „unterm Teppich“ angestaut, was quasi schon wie eine „Welle“ unsichtbar über dem Tisch hängt. Wenn in so einem Moment dann auch noch versucht werden soll, beim „Küchentischgespräch“ technisch einwandfrei „friedlich“ oder „offen“ miteinander umzugehen, ist die emotionale Belastungsgrenze oft schon so hoch, daß das initiierte Gespräch bereits nach wenigen Sätzen in Gefahr gerät, dadurch erst recht hochemotional zu entgleisen und mit Streit und Tränen einherzugehen – was obendrein für die selbsternannten Anwender*innen gfK und rE erstmal sehr entzaubern dürfte…
PS: Eine lediglich „problemorientierte“ Anwendung von gfK und rE könnte übrigens ein Indiz dafür sein, daß diese Kommunikationsformen nur „technisch“ – nicht aber integrativ, verwendet werden. Schließlich eignen sich beide Grundhaltungen genauso ausgezeichnet dafür, echte Freude und tiefe Einmütigkeit auszudrücken…
3) Aus dem unter 2) Gesagten kann ich erfahrungsgemäß noch ableiten, daß gfK und rE darum auch nicht gut geeignet sind, um Probleme oder Verhaltensweisen einer miteinander erlebten Vergangenheit zu bearbeiten (damit meine ich eine Vergangenheit, in der die Mehrheit der Kommunikationspartner sich noch nicht im gfK oder rE -Kontext bewegt haben).
Da man damals ja (noch) nicht auf der Grundlage von gfK oder rE agiert hat, waren für einen selbst und die Anderen damals völlig anders gelagerte GUTE Gründe für das Handeln und Sprechen maßgeblich. Und ich betone hier das GUTE so sehr, weil ich uns allen wünsche, daß wir alle sozusagen Superhelden in unserem eigenen Film sind, die es erst einmal nicht darauf anlegen, bösartig absichtsvoll Schaden zu verbreiten – sondern ganz im Gegenteil, den eigenen, zu dem Zeitpunkt hehren, Motiven und Motivationen folgten (siehe Eintrag 11).
Wenn sich also unsere Mehrfachbeziehung heute wieder um den Küchentisch versammelt, um im Lichte der gfK oder der rE vergangene Irritationen der Marke „…ich weiß noch ganz genau, als Du damals XYZ…“ anzugehen, besteht eine große Gefahr der Selbst- und Fremdverurteilung.
Beispiel: Das wäre in etwa, als ob man heute bearbeiten wollte, daß man früher mal seinen Hund mit Kettenwürger zur Räson gebracht hat (Mensch, war ich damals fies und gewaltsam…) und Du, Du hast Deinen Hund sogar mit der Reitgerte zum Parieren gebracht (Mensch, Du warst noch viel fieser und gewaltsamer – und sooowas von unreflektiert…)… Damals aber hat man sich selbst in einem Kontext von Verantwortung für das Tier, sein Verhalten und die allgemeine Sicherheit gesehen und wußte es schlicht nicht besser, auch damals hatte man also nach Lage der Dinge SEHR GUTE Gründe.
Wenn nun also in unserem Küchentischgespräch heute gfK oder rE benutzt werden, um HEUTE (manipulativ) Ursächlichkeit bzw. Schuld zuzuschreiben oder aufgrund vergangener Verhaltensweisen Anklagen zu tätigen, dann wird der Zweck von gfK bzw. rE völlig verdreht. GfK und rE können heute möglicherweise dazu dienen, im Rückblick darüber zu reflektieren, anzuerkennen oder zu trauern, daß wir (alle!) es damals evtl. nicht besser wußten – aber genau an dieser Stelle tritt hervor, wie wichtig es wäre gfK oder rE eben nicht als situative Technik sondern als ins eigene Leben integriert anzuwenden:
Denn dann ist es nur noch wichtig, ob ich ganz allein vor mir friedfertig-wohlwollend oder offen-authentisch existieren und mir selbst ins Gesicht blicken kann. Und erst dann kann ich mich auch so vor den anderen zeigen und mich ihrem Wohlwollen und ihrer Aufrichtigkeit anvertrauen (egal, wie diese auf meine „Selbstoffenlegung“ reagieren).
Außerdem: Um die Art, wie man mit „Altfällen“ umgehen möchte, kann man sich in keiner Lage drücken. Schließlich wird es im Umfeld immer jemanden geben, der das eigene Kommunikationssystem nicht teilt – und wenn es nur die Schwiegermutter ist. Da ist es beizeiten günstig, nicht nur das authentische Sprechen, sondern auch das verständige Hören zu beherzigen…
Mein Fazit:
…ist natürlich ein persönliches. Ich selber beschäftige mich seit ca. 8 Jahren (Stand 2019) mit gfK – und bislang ist es mir weder gelungen eine konstant friedlich-wohlwollende noch vollständig offen-aufrichtige Gesprächskultur mit meinen Beziehungsmenschen zu erreichen. Wenn ich mir aber meine Kommunikation von vor 10 Jahren ansehe, kann ich im Vergleich zu heute bei mir eine durchaus beachtliche Entwicklung feststellen – in meinem Fall dank gfK und der darin geschulten Bedürfniserforschung.
Sowohl gfK als auch rE sind in der Lage, uns auf eine individuelle Reise zur Entdeckung und Anerkennung unserer höchsteigenen Bedürfnisse und Beweggründe mitzunehmen. Beide Systeme eignen sich dazu, uns mit unserer Befangenheit im Dialog auseinanderzusetzen, wie selten wir unseren Gesprächspartner*innen wirklich vertrauen und uns selber zutrauen, uns in unserer normal-unzulänglichen Menschlichkeit zu zeigen.
Beteiligten
an Mehrfachbeziehungen erst bei Problemstellungen gfK oder rE als
möglichen Lösungsweg aufzuzeigen, halte ich aus den oben genannten
Gründen für problematisch.
Die wenigsten von uns können aus dem
Stand ihre wirklichen Bedürfnisse von Bedürftigkeiten bzw. innere
Aufrichtigkeit von oberflächlicher Befindlichkeit trennen – oder
gar Emotionen von Gefühlen abgrenzen. Wir alle agieren im
„Normalbetrieb“ in einer in Teilen unfriedlichen Umwelt und
werden gelegentlich von dem verständlichen Wunsch beherrscht, unsere
Handlungsmotive in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Auch
wenn wir in unsere Familien oder Mehrfach- bzw. Paarbeziehungen
einkehren, streifen wir diese Haut fast nie automatisch ab.
Last but not least: Aus eigener Erfahrung ist sowohl in der gfK als auch in der rE das „gute Hören“ überproportional schwieriger zu meistern als das „gute Sprechen“. Denn erst beim „Hören“ (der anderen Dialogpartner*innen) zeigt sich erst wirklich, wie es tatsächlich um unser Vertrauen, Wohlwollen und unsere Aufrichtigkeit bestellt ist – und ob wir schon bereit sind, die anderen unverstellt in ihrer normal-unzulänglichen Menschlichkeit liebevoll zu akzeptieren. Ob und wie sich unsere (Selbst)Ehrlichkeit und Empathiefähigkeit also wirklich entwickeln, erfahren wir genau dort.
Diese Qualität für sich selber herzustellen erscheint mir als die wahre Herausforderung guter Kommunikation.
Marshall B. Rosenberg riet vermutlich darum zu einem Weniger – aber dafür mit mehr Gehalt, wenn es um Kommunikation in Beziehungen geht. Oder wie es sein fernöstlicher Geistesverwandter Thich Nhat Hanh ausdrückt: „Manchmal reicht es, nur beieinander zu sitzen und zu atmen… ² “
¹ Zu dem Konzept der „Radikalen Ehrlichkeit“ und zu Dr.Brad Blanton gibt es im deutschsprachigen Raum leider kaum Quellen. Ich verlinke daher in dieser Fußnote auf englischsprachige Ressourcen.
² Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh gilt als „Fernöstlicher Meister“ der gewaltfreien Kommunikation. Gedanken dazu hat er hauptsächlich in seinen Büchern „achtsam sprechen – achtsam zuhören“ (O.W. Barth 2014) und „Einfach lieben“ (O.W. Barth 2016) dargelegt.
Danke an Adi Goldstein auf Unsplash für das Foto.