Dreh- und Angelpunkt [Scharniere und Flügel – Teil 2]
In meinem Eintrag letzten Monat habe ich über die wechselhafte Dynamik der vermeintlichen „Mittelposition“ in einer Mehrfachbeziehung geschrieben.
Es ist daher für mich als bLogger interessant zu verfolgen, daß manche Gedankengänge zu Themenschwerpunkten, welche unsere Lebensweise betreffen, dann oftmals überraschenderweise an verschiedenen Orten nahezu zur gleichen Zeit an den Tag treten.
Vielleicht sollte es mich indessen auch nicht zu sehr überraschen, denn manche Fragen drängen bei dem Versuch, eine Lösung für sie zu finden, in ähnliche Bereiche – wenn die Zeit dafür gekommen ist.
So macht seit kurzer Zeit der aus dem US-Amerikanischen Raum übernommene Begriff „Hinge-Blindness“ in den Reihen progressiver Mehrfachbeziehungs-Führer*innen die Runde. „Hinge-Blindness“ oder „Hinge-Blindheit“ bezeichnet konsequent übersetzt die „Blindheit der Angel“ – mithin also eine Blindheit, welche die Person betreffen soll, die sich in einer Mehrfach-Beziehung auf einer Scharnier- bzw. Angelposition befindet (siehe letzter Eintrag: häufig also z.B. die „Mitte“ einer aus drei Personen bestehenden V-Konstellation).
Eingedenk meines letzten Eintrags habe ich zu diesem schönen neuen Symptom selbstverständlich Einiges zu sagen.
Zuvorderst beispielsweise, daß es sich bei so einem Begriff genau eben um die Spezifizierung eines neuen „Symptoms“ handelt. Und Symptome werden normalerweise zugeordnet, um Verursacher*innen herauszustellen. Und da in unserer Kultur „Verursacher*in“ quasi mit „Ursache“/„Auslöser“ synonymisiert wird, ist von dort der Schritt winzig, solche eine Begriffszuschreibung zum verorten von „Schuld“ zu benutzen.
Für Menschen, die unter den vermeintlichen Auswirkungen von „Hinge-Blindheit“ zu leiden haben ist dies ein verständlicher wie auch naheliegender Reflex: Ich leide – und in Folge möchte ich Verantwortlichkeit für dieses Leid benennen (UND diese Verantwortlichkeit liegt ja wohl NICHT BEI MIR! ).
Womit ich schon bei meinem zweiten Kritikpunkt bin: Der Teflonreflex „Jemand anders hat Schuld!“ führt normalerweise selten zur Lösung des Problems, sondern ganz überwiegend tiefer in einen Konflikt – insbesondere in Gruppen, in denen der Personenkreis übersichtlich ist und sich alle Beteiligten kennen (wie z.B. in einer Beziehung…).
Schauen wir uns die sg. „Hinge-Blindheit“ bzw. die ihr nachgesagten Effekte einmal an:
Da ist also eine Person, die sich auf der „Scharnier“-(Mittel-)Position“ zwischen zwei oder mehr Partner*innen befindet. Hauptkriterium der „Hinge-Blindheit“ soll sein, daß die Scharnier-Person aufgrund ihrer eigenen intensiven Gefühle zu den jeweiligen Seiten-(Flügel-)Partner*innen nicht realisiert, daß wiederum diese Seiten/Flügel-Partner*innen zu-, mit- oder untereinander durchaus nicht mit der selben Intensität fühlen bzw. verbunden sind wie es ihrer jeweiligen Bindung an die „Scharnier-Person“ entspricht. Als Folge würde dieser „blinde Fleck“ zu einer Quelle für Mißverständnisse, konflikthafte Reibung, Beschämung, ja sogar mißbräuchlichem Verhalten durch die Scharnier-Person geraten…
Hm.
Das klingt für mich immer noch irgendwie nach „Wenn zwei sich streiten, zeige man auf eine*n Dritte*n“…
Oder es hat für mich stark den Anschein von „Von der Mitte geht Schaden aus – die Mitte soll es daher richten…“. Und beides hat für mich eher einen Geschmack davon, daß „die Mitte“ entweder ein ewig undankbarer „heißer Stuhl“ ist, bei dem die*derjenige zu bemitleiden wäre, die*der sich dort zu halten hätte – oder von einer schon fast untertänig-passiven Bevollmächtigung jener „Mitte“, weil durch deren Führungstalent (oder Mangel davon) jedes Wohl und Wehe der Gesamtbeziehung bedingt wäre.
Insgesamt empfinde ich persönlich diese Interpretation von Stress in einer Mehrfachbeziehung als Versagen der Mitte aufgrund deren zugeschriebener, subjektiven Voreingenommenheit als extrem Oligoamory-fernes Gedankengut. Ja, ich empfinde es auch weitgehend als recht Polyamory-befremdlich.
Warum lassen wir nur immer wieder monogame Einflussgrößen durch die Hintertür in unsere Mehrfachbeziehungen hinein?
Wie jetzt? Hinge-Blindheit ist doch quasi daselbst ein polyamores Superphänomen, welches schon qua Begriff ausschließlich in Mehrfachbeziehungen vorkommen kann – wie soll es da eine „monogame Einflußgröße“ sein?
Schlicht, weil es – wenn wir uns so einer Art zu denken hingeben – es nach wie vor um eine rein dualistische Trennungsrealität¹ von „Richtig“ oder „Falsch“, „Recht haben“ und „im Unrecht sein“ geht. Statt eine Mehrfachbeziehung als das multifacettierte Gebilde – und die große Chance die damit einhergeht – aufzufassen, spielen wir das alte Spiel der Zweiseitigkeit weiter, bei dem es am Ende nur eine Gewinnerposition und eine Verliererposition geben darf.
So richtig vorwurfsvoll kann ich an dieser Stelle gar nicht sein. Wir alle existieren noch immer in einer weitgehend von der Monogamie geprägten Welt – und auch fast alles, was uns vorgelebt wurde und wird, orientiert sich ganz überwiegend an deren Anschauungen. Schon in Eintrag 8 („Beziehungsschach mit dem Zen-Meister“) weise ich darauf hin, daß es durchaus einer Menge Anstrengung bedarf, um vom „Einzelspielermodus“ zu einem „Gruppen-Status“ überzugehen – und das nicht zuletzt unsere Mentalität, innere Haltung und Denkweise dabei recht tüchtig die Kurve nehmen müssten, um vom „einsamen Wolf“ zum Teamplayer zu werden.
Besonders verstörend erscheint mir jedoch an dem Grundprinzip, welches hinter dem Symptom „Hinge-Blindheit“ steckt, daß darin Mehrfachbeziehungen immer noch als eine Art Collage paralleler Einzelbeziehungen der vorgeblichen „Mitte“ („Hinge“) gedacht werden. Und solange wir uns mit diese Art Energie unseren intimen Nahbeziehungen zuwenden, wird niemals zusammenwachsen, was wir uns eigentlich „zusammen“ wünschen.
Hoppla! Habe ich da jetzt so unreflektiert wie das arme blinde Scharnier gedacht?
Nein, ich glaube nicht – und ich glaube auch nicht, daß die meisten oder wenigstens viele Scharniere „blind“ sind.
Ich glaube vielmehr, daß das, was mit „Hinge-Blindheit“ benannt wird, bei den „Scharnieren“ lediglich ein gewisses Maß an sehr menschlichem, blauäugigen Wunschdenken kennzeichnet. Und zwar in einer nahezu altmodisch nostalgischen Form à la „Ich möchte, daß meine Freund*innen am besten auch alle untereinander gute Freund*innen sind…“. Ein harmonieheischender Wunsch, den viele von uns schon aus Kindheit und Schulzeit kennen – ein Wunsch nach Eintracht, Gleichgesinntheit und weitgehender Übereinstimmung – und damit natürlich auch nach Zugehörigkeit und Eingebettetsein.
Das hat aber „damals“ schon nicht wirklich funktioniert – und auch heute können wir es nicht „machen“ – da mögen wir noch so sehr bevollmächtigtes Scharnier sein, vernarrt in unsere Flügelleute („Wings“) und von diesen verehrt.
Genau genommen hat sich nämlich auch nichts verändert: Wenn damals Alex und Ulli sich nicht gegenseitig ausstehen konnten, dann konnte man es ebenso vergessen, sie zusammen zu unserem 13. Geburtstag einzuladen, wie heute Robin und Toni zu unserem 38., wenn die sich nicht grün sind. Damals hätten Versprechungen und Bestechungen nichts gebracht und heute…
…Ach ja: Heute wären doch Robin und Toni beide unsere Wing-Partner*innen mit uns in einer Mehrfachbeziehung!
Und wenn wir da jetzt blind in der Mitte wären, dann möge mir die delikate Frage gestattet sein, wie es gelungen wäre, mit diesen zwei Menschen, die sich ganz offensichtlich so stark ablehnen, daß sie es nicht einmal zusammen ein paar Stunden auf einer Feierlichkeit aushalten, in Liebe und Leidenschaft verpartnert zu sein…?
Haben wir vielleicht doch Pokémon-Poly² gespielt und mehr auf ein diversifiziertes Liebsten-Portfolio zu unserer individuellen Bedürfnisbefriedigung abgezielt – und dadurch eher ein Parallelbeziehungkonstrukt anstatt einer Gesamtbeziehung errichtet?
Dann wird es jetzt schwer, denn dafür, daß sich Robin und Toni nun bei aller Parallelität doch noch „gut finden“ mögen, können wir genau genommen von der Mitte aus rein gar nichts tun. Will heißen: Das blinde Scharnier kann da nichts machen, denn deren wechselseitige Sym- oder Antipathie ist in allererster Linie eine Sache zwischen Robin und Toni.
„Blind“ würde ich, Oligotropos, das Scharnier übrigens in dem Fall nicht wegen seinen zweckoptimistischen Harmonieerwartungen nennen.
Sehr wohl aber „blind“ hinsichtlich der Wahl des Beziehungs-Grundmodells, welches sich nun bestenfalls als „offene-Beziehungen-Netzwerk“ denn als Polyamory darstellt.
Denn selbst Polyamory – so sagt der erste Satz der deutschen Wikipedia im entsprechenden Artikel – „…bezeichnet eine Form des Liebeslebens, bei der eine Person mehrere Partner liebt und zu jedem einzelnen eine Liebesbeziehung pflegt, wobei diese Tatsache allen Beteiligten bekannt ist und einvernehmlich gelebt wird.“.
Oho: Einvernehmlich! „Einvernehmlich“ – da wiederum hilft uns Wiktionary aus – heißt übertragen soviel wie „Einigkeit“ oder auch „Übereinstimmung“ und bedeutet „die gleiche Einstellung von Personen zu etwas“. In unserem Fall also auf die gemeinschaftliche Beziehung bezogen, in der ja allen Beteiligten diese Tatsache (also Anteil an einer Mehrfachbeziehung zu haben) bekannt wäre (siehe oben!).
Dies zugrunde gelegt, stellt sich für mich die Frage danach, wer oder was „blind“ ist, in neuem Licht. Zu fragen wäre für mich nämlich, wie es denn um den Status jener „Einvernehmlichkeit“ bestellt ist.
Liegt es eventuell tatsächlich an der „Mitte“, die jedoch durch intransparentes Agieren im eigenen Sinne ihre „Flügelleute“ mit einem hohen Grad an Intransparenz ihrerseits geblendet hat? So daß diese Flügelleute gar nicht in der Lage waren ein informiertes Einverständnis bei vollständiger Kenntnis der Gesamtbeziehungslage zu geben? Leider ist das gar nicht so selten, daß andere existierende oder aufblühende Beziehungen als „ziemlich beste Freunde“, „sehr gute Bekannte“ oder „Ach, das ist so’n on/off-Ding…“ deklariert werden; eitle Nebelkerzen, die nur zu leicht vermitteln, daß es „eigentlich“ gar keine anderen, vollwertigen Flügelpartnerschaften (außer der, wo man gerade jetzt Zeit verbringt) gibt […und nochmals herzlich willkommen im mononormativen Denken!].
Oder war die Mitte doch blind – aber durchaus anders, als es die „Hinge-Blindheit“ klassifizieren will. Nämlich indem genau auf das so wichtige „Einvernehmen“ der Polyamorie nicht sorgfältig geachtet wurde. Die berühmteste (Nicht-)Einvernehmens-Formulierung der Welt ist ja bekanntermaßen „Mach doch was Du willst…!“ (Variante: „Ist Deine Entscheidung…“). Ein eh schon blauäugig zweckoptimistisches Scharnier könnte diese etwas vage gehaltene Ach-rutsch-mir-doch-den-Buckel-runter-Ausdrucksweise womöglich mit etwas überschießender Selbstüberzeugtheit zu tatsächlich erteiltem Einverständnis ummünzen. Und von da an im eigenen Kopf beruhigt sein: „Reinen Tisch? Klar! Hab‘ ich gemacht!“.
In beiden Varianten kommen übrigens sowohl „Angel/Scharnier/Mitte“ als auch „Flügel/Seite“ nicht besonders gut weg. Und das liegt leider an unserer menschlichen Schwäche, in unserem eigenen Sinne Aussagen anderer Personen derart zu interpretieren, daß sich doch (hoffentlich) weitere Nachfragen erübrigen und wir darob den „Stand der Dinge“ für zufriedenstellend geregelt halten.
Was uns allen immer exakt in den Situationen um die Ohren fliegt, in denen uns dann plötzlich der Boden mit Sätzen wie „Ich habe nie gesagt, daß…“ unter den Füßen weggezogen wird… Jaja. Aber wie es WIRKLICH GEMEINT war im ursprünglichen Moment, DAS ist leider auch nie gesagt worden, sondern wurde immer bloß mit viel Ungefähr, einem minimalen Hauch schlechten Gewissen und viel „Wird-schon-schiefgehen-Mentalität“ hochgradig interpretationsfähig insinuiert.
Womit für mich nun auch der letzte Glanz vom Symptom „Hinge-Blindheit“ abgeblättert ist, indem es nun so gar kein Mehrfachbeziehungs-Schlagwort mehr ist, sondern im Kern lediglich ein etwas schales, wohlbekanntes Alltagsphänomen zu Tage tritt, worin wir Menschen uns, wenn es um Verbindlichkeit geht, doch sehr oft nur zu gerne um die anhängige Konkretheit herumdrücken wollen.
Fazit:
Charakteristische „Hinge-Blindheit“ gibt es meines Erachtens nicht. Es gibt nur jene weitverbreitete menschliche Blindheit, durch die, wenn einem bestimmte Konsequenzen eigenen Handelns zu schwer auszuhalten dünken, man zu einer scheinbar leichter zu ertragende Variante der Wirklichkeit übergeht, welche man erst sich selbst und kurze Zeit später allen, die davon betroffen sein könnten, als Tatsache einzureden versucht.
Dazu braucht es weder Mehrfachbeziehungen noch gar Polyamorie als Setting – es handelt sich dabei ganz und gar um ein Phänomen des eigenen Selbstverständnisses.
In meinem vorhergegangenen Eintrag habe ich darüber hinaus dargelegt, warum die Zuordnung der Positionen von „Mitte“ („Hinge“) und „Seite“ („Wing“) keineswegs so klar sind, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen können. Auch daraus geht für mich bereits hervor, daß bei dem Verdacht auf „Blindheit“ in einem Mehrfachbeziehungs-Netzwerk sehr genau ergründet werden müsste, a) worin dieser blinde Fleck bestünde und b) wer bzw. wie viele Personen eigentlich davon betroffen wären.
Als „Schuldzuschiebung“ empfinde ich den gesamten Begriffskomplex so überflüssig wie fehl am Platz, da ja bekanntlich, wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, vier Finger unversehens zurück auf einen selbst verweisen…
Ungeachtet dessen habe ich in diesem Eintrag heute drei der grundlegendsten Werte der Polyamorie wie auch der Oligoamory erwähnt. Diese sind: Einvernehmlichkeit, Transparenz und Verbindlichkeit.
Meinen Eintrag 44, in dem ich davon spreche, warum es zum Gelingen von Mehrfachbeziehungen wirklich wichtig ist, seine Freunde bzw. Partner*innen als ganze Menschen und Persönlichkeiten zu lieben, habe ich quasi auf diesen drei Werten aufgebaut, da sie die unabdingbaren Zutaten für das wichtigste Gut in allen unseren intimen Nahbeziehungen sind: Vertrauen.
Warum es „ohne“ nicht geht, erkennen wir sofort, wenn wir die drei Begriffe in ihre Antonyme (=gegensätzliche Bedeutung) drehen: Unstimmigkeit, Verschleierung (Intransparenz) und Unverbindlichkeit. Haben diese drei apokalytischen Reiter erst begonnen in unseren Beziehungen herumzustrolchen, wird sich darin niemand mehr richtig wohl fühlen. Noch mehr: Auf diese Weise wird sich niemals ein „gemeinsames Wir“ einfinden, welches genau den Unterschied zwischen dem oben erwähnten „ Parallelbeziehungkonstrukt“ und einer echten Gesamtbeziehung ausmacht.
Poly- und Oligoamory wird es immer (erst) dann, wenn wirklich alle Beteiligten komplett an Bord sind, mit ganzem Wissen, vollem Willen und ganzem Herzen.
Das ist keine Versicherung gegen angelegentliche Blindheit, wie sie uns alle mal überkommt. Aber eine der besten Absicherungen für einen solchen Fall, daß dadurch nicht gleich alle anhängig Beteiligten mit in den Abgrund gerissen werden und genug freundliche Augen und Hände da sind, ein schwieriges Stück Wegstrecke gemeinschaftlich zu meistern.
¹ Die Beschreibung „Trennungsrealität“ für unsere vorwiegend alltäglich-unbewußte Art unser Leben zu führen stammt von dem Autor Daniel Hess, dessen Gedankengänge (und Gegenvorstellung) dazu in Eintrag 26 ausführlich zu Wort kommen.
² „Pokémon-Poly“ – und was es bedeutet – wird von mir in Eintrag 2 beschrieben.
Danke an Kiraan p auf Unsplash für das Foto!