Eintrag 53

„Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ (Volksmund)

Erst diesen Monat war es, daß ich in einem Gespräch mit einem lieben Menschen, der eine Weile aus meinem Leben weitestgehend verschwunden war, unversehens zu dem Thema gelangte: „Wann spüre ich »Wert« in einer Beziehung / Wann hat eine Beziehung (bzw. die Person*en, mit der*denen ich in dieser Beziehung bin) für mich »Wert«?“.

Zuvorderst ganz wichtig: „Wert“ ist hier nicht bewertend im Sinne von „gut“, „mäßig“ oder „schlecht“ aufzufassen, sondern als „Stellenwert“, „Relevanz“ oder „Geltung“.

Diese Fragestellung hat für mich in der Oligoamory nämlich ganz erhebliches Gewicht – und in manchen Einträgen kommt darum dieses Thema auch bereits an verschiedenen Stellen immer wieder zum Vorschein. Um meine Gedanken dazu aber noch einmal zu unterstreichen – und um die Verzweigungen in die unterschiedlichen Aspekte der Oligoamory aufzuzeigen – möchte ich dem Komplex allerdings hier sehr gerne einen eigenen Eintrag widmen:

Als ich über das Thema noch einmal nachdachte, konnte ich für mich hauptsächlich zwei Kategorien bilden.

Die erste Kategorie würde ich der Einfachheit halber „Extreme“ nennen – und über sie spreche ich sehr ausführlich in Eintrag 33, in welchem ich mich dem Thema von „Integrativität in unseren Liebesbeziehungen“ widme – oder genauer: Der Frage, ob Liebe es uns wirklich möglich macht, über sämtliche Ecken und Kanten einer von uns geschätzten Menschenperson hinwegzusehen.
Und damit meine ich nicht jene eventuell läßlichen Eigenheiten, die jeder von uns mehr oder weniger unbewußt im Alltag an den Tag legt, wie z.B. das Nicht-Zuschrauben des Marmeladenglases, das hartnäckige Herumliegenlassen von Socken oder das geräuschvolle Ausatmen nach dem Trinken (und sogar diese Umstände haben ja bekanntlich das Potential, sich langfristig zu tretminenartigen Beziehungskillern zu entwickeln…), sondern ich beziehe mich auf – genau – „extreme“ Merkmale, welche jedwede Beziehungskompatibilität höchstwahrscheinlich im Kern zerstören können, so sie offen zu Tage treten. Als (Negativ)Beispiele nenne ich in Eintrag 33 Eigenheiten wie Tierquälerei, Misogynie¹ oder auch eine rechtsradikale Gesinnung. Doch es ließen sich sicherlich auch scheinbar weniger dramatische Charakteristika finden; denn vermutlich würde ebenfalls die potentielle Liebe zwischen einem quasipaläolithischen Dauerfleischgriller und einer überzeugten Veganerin weltanschauungsmäßig schon alsbald auf eine harte Probe in puncto „Gemütsruhe und Einschließlichkeit“ gestellt werden.
Damit möchte ich sagen: Von einer „höheren Warte“ betrachtet – also z.B. vom Standpunkt eines Außerirdischen, der durch sein Fernglas die Menschheit betrachtet – hätten möglicherweise zahlreiche, auch radikale oder außergewöhnliche, Weltanschauungen eine vergleichbare, immanente Aussagekraft, die dann immer nur nach menschlichen Maßstäben als „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“, „abnorm“ oder „konform“ bewertet wird.
Auf der konkreten Beziehungsebene zwischen zwei oder mehr Menschen jedoch, wären die Widersprüche und Gewissenskonflikte, die sich aus gegenüberliegenden oder direkt gegensätzlichen Wertemodellen ergäben, aber nahezu stets buchstäblich zersetzend.
Ganz wichtig – und darum möchte ich es nochmals ganz deutlich betonen: Ich glaube im Sinne guter Einschließlichkeit und Integration fest daran, daß diese „Extreme“ höchstens 1 bis maximal 5% an Gegengründen ausmachen (sollten), warum – im Wortlaut von Scott Peck² – jemand nicht als Beziehungsperson in Frage kommt. Und daß wir in den 95 anderen Prozenten gemeinschaftlich immer an unserer Fähigkeit zu Wohlwollen, Rücksicht, Nachsicht und Einbeziehung arbeiten könn(t)en.
Nichtsdestoweniger enthält diese erste Kategorie „Extreme“ bereits höchst wichtige Merkmale, die sich für die jeweils Beteiligten auf den „Stellenwert“, die „Relevanz“ und die „Geltung“ einer (Liebes)Beziehung auf jeden Fall erheblich auswirken können – und die darum meiner Meinung nach immer sofort, direkt und aufrichtig „auf den Tisch“ gehören, wenn eine Beziehungsanbahnung im Raum steht.

Die zweite Kategorie, die ich hier mal als „Zusammen Sein“ bezeichnen möchte, hat allerdings eine weit relevantere Dimension für unser Beziehungsleben.
Zu diesem Zweck möchte ich gerne noch einmal auf meinen Eintrag 25 hinweisen, in dem ich den schönen Satz „Beziehungen hat man immer…“ zitiere und anschließe: Auch zu Personen, mit denen man im Alltag regelmäßig interagiert, also z.B. zu Kassiere*innen, Postbot*innen und Automechaniker*innen.
Schon in diesem Artikel führe ich aus, daß sich sogar solche „Alltagsbeziehungen“ mittels kleiner Gesten vertiefen können: Die Kassierer*in erkennt mich als Stammkunden wieder, die Postbot*in übergibt mir mein Lieblingsmagazin knickfrei direkt in die Hand und die Mechaniker*in nimmt sich besonders viel Zeit für meinen Oldtimer. In allen Fällen beginne ich für diese Fachkräfte „dank“ einiger weniger Eigenheiten bereits aus der Menge ansonsten eher uniformer Kunden herauszutreten, ich erhalte ein persönliches Profil. Noch mehr: Meine Gegenüber beginnen, meine „Charakteristika“ mit in ihre eigenen Handlungen und Entscheidungen mit „hineinzudenken“: Die Kassierer*in nimmt auf mich Rücksicht, weil sie weiß, daß ich nicht so schnell beim Einpacken bin; die Postbot*in klingelt an der Tür, statt mein Magazin in den Kasten zu stopfen; die Mechaniker*in hält Spezialteile vorrätig, weil sie weiß, daß ich stets ihre Werkstatt anfahre.
In wieviel stärkerem Maßstab gilt dieses „Hineindenken“ dann erst für Liebesbeziehungen? Oder vielmehr: Das Maß dieses „Hineindenkens“ ist aus oligoamorer Sicht ein ausgezeichneter Indikator für eben die anfangs genannte Frage nach dem „Stellenwert“, der „Relevanz“, der „Geltung“ einer solchen (und der darin befindlichen Personen).
Eintrag 14 beendete ich mit dem wunderbaren Wissenschaftszitat „Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.“
Wenn wir bei diesem Zitat den Teil auf die Goldwaage legen, daß wir „berücksichtigt“ werden, wegen „Tatsachen und Gefühlen“, bei denen unser Gegenüber weiß, daß sie für unser „Selbstverständnis von zentraler Bedeutung“ sind – dann bedeutet daß nichts weniger, als daß in einer (idealen) Liebesbeziehung die Beteiligten einander möglichst oft wechselseitig in das eigene Tun und Handeln „mit-hineindenken“ sollten.
Ich versuche zu verdeutlichen:
Was die Wissenschaftler*innen Cohen, Gottlieb und Underwood mit diesem Satz ausdrücken wollen, ist, daß ein Charakteristikum, welches Menschen zu wirklichen „Liebespartner*innen“ macht, bedeutet, aneinander Anteil zu nehmen und füreinander Bedeutung zu haben. Und zwar Anteil und Bedeutung in Bezug auf das eigene Sprechen und Handeln, sowie auf zu treffende Entscheidungen. Quasi, daß man die eigenen Liebsten z.B. bei (wichtigen) Entscheidungen mit in den eigenen inneren Abstimmungsprozeß „hineindenkt“, weil diese Liebsten einem entsprechend wichtig sind – und ergo darum auch die Auswirkungen, die sich aus dem eigenen Tun für diese Liebsten ergeben (könnten), infolgedessen nicht mehr nur egozentrisch abgehandelt werden.
Eine intime, vertraute, liebende Beziehung würde sich in unserem Kopf also durch Gedankengänge wie diese qualifizieren: „Hat diese/meine Handlung auch Auswirkung auf meine Beziehung zu X (und Y und Z…) ? Was würde meine Entscheidung für diese Personen bedeuten? Würde meine Entscheidung [z.B. für Möglichkeit a oder b] unser Verhältnis oder die Dynamik unserer Beziehung in irgendeiner Weise beeinflussen?“

Wie schon die Beispiele mit Kassierer*in, Postbot*in und Kfz-Mechaniker*in zeigen, ist das keinesfalls Theorie und in allen unseren menschlichen Beziehungen spielt das Maß, mit welchem wir „die Anderen“ in unser Leben „hineindenken“ – also: ihnen Bedeutung verleihen und an ihnen Anteil nehmen – eine erhebliche Rolle. Dieses Maß nämlich ist in einem anderen wissenschaftlichen Modell bereits gut erforscht, welches als die von mir in Eintrag 12 beschriebene Dunbar-Zahl (bzw. die „Dunbar-Kreise“) bekannt geworden ist.
Hinsichtlich der Dunbar-Kreise haben allerdings auch die Autoren des Polyamory-Bestsellers More than Two, F. Veaux und E. Rickert, befürchtet, daß das Modell allein möglicherweise nur sehr technisch Zeugnis über den eigenen Bekanntenkreis ablegen könnte. Sie schlagen darum vor, ein Gedankenexperiment hinsichtlich der eigenen Liebsten und Freunde durchzuführen und zwar mittels der Frage, welche Art Antwort man erhalten würde, wenn man allen Beziehungspersonen des eigenen Umfelds die Information „Ich ziehe nächsten Monat um!“ geben würde. Ich halte diese Frage für einen praxisnahen Geniestreich, da jede*r von uns aus seiner Lebenserfahrung relativ gut abschätzen könnte, was passieren wird:
Personen des 1. Dunbar-Kreises (also Liebste, die mit echter Vertrautheit und Intimität enger Teil unseres Lebens sind) würden dementsprechend also entweder sagen: „Das kannst Du nicht allein entscheiden…!“ oder sie würden sagen „Ok, ich fange an zu packen!“. Personen des 2. Kreises (die in die Kategorie „starke Verbindung und Freundschaft“ fallen) würden höchstwahrscheinlich verzweifelt sein, weil wir aus ihrer Nähe fortgehen; sie würden uns möglicherweise (trotzdem) Unterstützung beim Umzug anbieten und sie würden den gesamten Prozess in jedem Fall dicht begleiten, wobei ihnen ebenfalls wichtig wäre, ob und wie wir in unseren neuen Verhältnissen ankommen würden. Personen des 3. Kreises (die nach Dunbar als „Bekannte“ gelten) würden vermutlich so etwas rückmelden wie „Cool, meld‘ Dich mal, wenn Du angekommen bist!“ – und das wäre es auch schon.
Dieses Gedankenexperiment ist ebenfalls gut geeignet, wenn man die Positionen vertauscht, um so über die eigene Reaktion nachzudenken, wie man wiederum selbst auf die Umzugsankündigung von Personen X, Y oder Z reagieren würde…
Wie auch immer das Ergebnis dieses Experiments ausgeht, sein Resultat wird in jedem Fall eine Antwort auf die von mir bereits in Eintrag 37 zum Thema „Transparenz“ angesprochenen Fragen liefern: Wie sehr haben wir die betroffenen „Anderen“ als Teil unseres Lebens angenommen? Bzw.: Betrachten wir sie (überhaupt) als relevanten Teil unseres Lebens?

Auf dem wilden Kontinent (ethischer) Nicht-Monogamie stellen für mich aus oligoamorer Sicht insbesondere aus diesen gezeigten Gründen Langstrecken- oder Wochenendarrangements – bzw. jede Form von rein situativ organisierten Verhältnissen eine Herausforderung dar, da ich in solchen Fällen die Gefahr des von mir so oft kritisierten „Kompartmentalisierens“ (Aufspalten einer Person in Einzelaspekte) für sehr groß halte.
In Eintrag 45 spreche ich mich hinsichtlich der Oligoamory gerade für ein „Führen der Beziehung(en) im Alltag“ aus, weil wir gerade dort die beste Gelegenheit haben, einander als wirklich konstant wahrhaftig, authentisch und integer (ich erinnere: „Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem“ !) zu erleben.
Denn auf der anderen Seite: Ob ich an sechs Tagen in der Woche nur in der Jogginghose rausgehe, hinterm Haus meinen Hund unter Einsatz der Gerte verprügele und meinen Nachbarn mit Migrationshintergrund regelmäßig mit „Na, Saddam, was macht der Dschihad?“ begrüße – was sollte solches meine Liebsten tangieren, die nur am Samstag kommen, bei denen ich Anzug mit Weste trage, 24h Prince Charming gebe, wo der Schampus strömt und wir nur den ganzen Tag der Kultur und gehobenem Entertainment frönen? Und was sie ihrerseits an den anderen sechs Tagen so treiben – was interessiert es mich?
Eine solche Haltung ist jedenfalls nicht oligoamor und sie ist auch kaum ethisch. Sie ist allenfalls angenehm eigennützig, denn die derart arrangierten, minimalistischen Berührungspunkte miteinander lassen so wenig gemeinsamen Kontext zu, daß mir am ehesten noch dafür als Bezeichnung der schreckliche Neologismus „Nicht-Beziehung“ einfallen würde.

[Einen ähnlichen Fingerzeig in die „gute alte Welt“ der Monogamie habe ich diesbezüglich übrigens genauso schon in Eintrag 5 hinterlegt: Auch in „normativen“ Familien halte ich es für höchst fragwürdig, wenn Mitglieder untereinander vorderhand ein gespieltes Lächeln zeigen und künstliche Fügsamkeit am Kaffeetisch an den Tag gelegt wird, nur weil es vom Opa sonst nicht die 500 € zum Carport dazugibt.]

Das „Hineindenken“ der anderen Beziehungspartner*innen in unsere Entscheidungen ist also ein wichtiges Merkzeichen für das Maß unserer Anteilnahme am Leben der übrigen Beteiligten.
Wenn wir feststellen, daß uns die Haltung und die Werte unserer Partner*innen nicht egal sind, können wir erkennen, daß sie offensichtlich „Stellenwert“, „Relevanz“ und „Geltung“ in unserem Leben eingenommen haben.
Ein faszinierender Bonuseffekt einer solchen Haltung ist, daß es sich dabei um ein aktives Tun unserseits handelt und nicht um eine lediglich passive Rücksichtnahme (die genau wegen der Passivität auf viele von uns darum auch oftmals bedrückend oder gar klebrig vereinnahmend wirkt).
Wirklich „angenommen“ und „harmonisch“ empfinden wir uns daher auch insbesondere gerade in den Beziehungen, in denen wechselseitig ein sehr ähnliches Maß an „Mit-Hineindenken“ geübt wird. Genau dort erleben wir nämlich, daß erst, wenn jede*r an die anderen denkt, wirklich und wahrhaftig „an alle gedacht“ ist.

¹ Aus dem Altgriechischen wortwörtlich „Haß auf Frauen“, siehe Wikipedia.

² Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ A Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag

Und Danke an Carola für den Musenkuß, sowie an Jess Watters auf Pixabay für das Foto!