Eine*r für alle – alle für eine*n!¹
Als Autor eines bLogs steht man seinen eigenen Texten selbstverständlich auch kritisch gegenüber. Immer wieder schaue ich mir darum Monate – oder mittlerweile sogar Jahre – später von mir verfaßte Einträge regelmäßig noch einmal an, und auch in meinen Augen gibt es da für mich ganz starke aber auch eventuell weniger tiefgreifende Artikel.
Da ist z.B. mein Eintrag 16, bei dem ich immer wieder überlegte, ob ich ihn für den inhaltlich schwächsten in meinem Reigen halten sollte – sogar eine Partnerin von mir meinte damals, beim Abfassen sei ich zu hart mit mir ins Gericht gegangen, denn gelingende Kommunikation würde doch stets von den Beiträgen aller Beteiligten abhängen.
Wenn ich heute indessen Eintrag 16 erneut aufrufe, dann empfinde ich seine Schlußfolgerung jedoch als höchst aktuell und allgegenwärtig – selbst wenn ich den kontextuellen Ansatz seinerzeit ein wenig „über Eck“ gespielt hatte.
Um zu verdeutlichen was ich meine, möchte ich den Ball heute erneut aufnehmen, da mir in meinen eigenen Beziehungen und auch denen in meinem Bekanntenkreis regelmäßig aufgefallen ist, wie schnell wir im „Normalbetriebsmodus“ dazu bereit sind, die Auffassung unseres Teils der Welt nur allzu selbstverständlich schon für das vermutlich „Ganze“ zu halten.
Warum ist es mir für die Oligoamory so wichtig, genau diesen Komplex (mit einem genau genommen altbekannten und recht nachvollziehbaren Mechanismus) noch einmal sehr gründlich zu beleuchten?
Weil ich ganz entschieden ein vermeintliches Hintertürchen in der oligoamoren „Firewall“ schließen möchte, welches sich einem womöglich wohlmeinenden, im Eifer des Gefechts vielleicht etwas allzu selbstüberzeugten Geist darbieten könnte – und zwar in Bezug auf das, was ich in meinen letzten Einträgen als oligoamore Grundphilosophie verankert habe:
Schon auf meiner Startseite lade ich mit der Oligoamory dazu ein, (Mehrfach)Beziehungsgeflechte aufzubauen, in welchen sich alle Beteiligte durch das Vernetzen und Zusammentragen von Fähigkeiten sowie Ressourcen hoffentlich als „mehr als die Summe ihrer Teile“ erleben könnten. In Eintrag 64, welcher der letzte Artikel eines Dreiteilers zu „Bedeutsamen Beziehungen“ war, unterstreiche ich diesen zentralen Punkt der Oligoamory mit den ganzheitlichen Gedanken des frühneuzeitlichen Philosophen Shaftesbury, die man folgendermaßen verkürzt wiedergeben könnte: Was gut für dich ist, wirkt sich förderlich für (d)eine größere Gesamtheit aus – und wenn etwas für die größere Gesamtheit förderlich ist, kommt dieses wiederum dir zugute.
Letzteres übrigens hatte sogar der von mir schon in den Einträgen 11 und 59 erwähnte Primatenforscher Frans de Waal von unseren biologisch nächsten Verwandten abgeleitet: Evolutionär konnte sich Kooperation entwickeln, weil durch erwiesene Gefallen in einer Gruppe für ein solidarisches Individuum die Wahrscheinlichkeit anstieg, selbst einmal zu den durch Fremdsolidarität „Begünstigten“ zu zählen.
So weit, so schön.
Wir Menschen – insbesondere in Liebesbeziehungen – sind aber nicht bloß ein ganzheitlich funktionierendes Ökosystem und wir sind auch keine Affenhorde. Denn „was gut (für uns) ist“, das „Förderliche (für uns)“, darüber müssen – und wollen! – wir selbst entscheiden. Ich würde sogar sagen: Darüber müssen und sollen wir selbst entscheiden.
Um beim Beispiel der Primatengruppe zu bleiben: Für uns wäre es doch wohl einerseits etwas zu beliebig, dem ausgeliefert zu sein, ob heute vielleicht bei der Verteilung einige Bananen für uns übrig blieben oder aber nicht. Und andererseits können nur wir selbst wirklich wissen, ob wir heute überhaupt eine Banane haben wollten – oder eine Kokosnuß oder sonst etwas – und auch darüber wollen wir für uns autonom entscheiden.
Warum ich das sage? Weil ich überzeugt bin, daß ein gewaltiges Konfliktpotential in engen menschlichen Beziehungen in der Bevormundung liegt: „Ich weiß schon, was gut für Dich ist…!“.
Und das kann in Liebesbeziehungen die seltsamsten Blüten treiben, denen ich unter dem Vorwand eines oligoamoren Gruppennutzen von „mehr als die Summe der Teile“ keinen Vorschuß geben möchte.
In der Monoamorie (also z.B. der klassischen Ehe…) haben wir da allein schon aus historischen Gründen ein Problem: Über mehrere Jahrhunderte entwickelte sich die Rolle des Mannes hin zum Versorger, was die Lebensgrundlage anging – die Rolle der Frau hin zur angewiesenen, abhängigen Empfängerin. Schon diese Rollenverteilung trug dazu bei, daß bis heute eine gewisse „Bestimmer-Haltung“ immer noch unser Denken prägt, wenn es sich z.B. um Fragen von Berufstätigkeit, (mehr) Geldverdienen und Brötchenerwerb allgemein dreht. Auf diese Weise reproduziert sich quasi auch ein Eltern-Kind-Verhältnis in der Konstellation einer späteren Liebesbeziehung: Wer fürsorgt, darf entscheiden, hat die (höchste/letztendliche) „Verfügungsgewalt“.
Richtig kompliziert wird es leider, weil diese „Fürsorgermentalität“ in uns Menschen auf eine mehr oder weniger große „Versorgtheitsmentalität“ treffen kann – eine bequeme Haltung, die nur zu gerne abgibt, und froh ist, daß da schon jemand anders ist, der sich „kümmert“.
Und damit ist ganz und gar nicht nur das leibliche oder materielle Wohl gemeint. Die Titelzeile des schmachtenden Jazz-Songs „Someone to watch over me“ von George und Ira Gershwin aus dem Jahr 1926 ist für mich dahingehend das perfekte Beispiel, da dieser Satz mit viermal kindlichem Kussmündchen ausgesprochen werden möchte (probiert’s selbst mal vor dem Spiegel…), dabei sehnsüchtig den Wunsch nach dem quasi allumfassenden Rundum-Fürsorger proklamierend ² .
Auch wir, die sich vermeintlich aus solch einer Welt paternaler „Zweierkisten“ (oder zumindest deren moralisierend verbrämten Überbau) befreit glauben, sind von solch einem Denken noch längst nicht völlig frei.
Für mich zeigt sich das daran, daß Mehrfachbeziehungskontexte (von polyamoren Datingseiten und Foren bis hin zu konkreten Beziehungen) u.a. regelmäßig mit echtem Narzissmus zu kämpfen haben. Was ich wiederum nicht so verwunderlich finde, denn Narzissmus wird entweder davon angezogen, sehr lange unerkannt Macher*in, Bestimmer*in und Objekt der Verehrung sein zu können, was durch eine höhere Anzahl möglicher Bezugspartner schlicht leichter verschleiert werden kann (denn aus Sicht eines Narzissten sind schließlich immer „die anderen“ ursächlich…). Oder Narzissmus wird geradezu eingeladen von Menschen, die Verantwortung an „die Gemeinschaft“ abgeben wollen so daß eine narzisstische Persönlichkeit rasch spürt: Hier kann ich führen und/oder glänzen.
Nicht, daß es Narzissmus nicht auch in üblichen Zweierbeziehungen gibt – aber ein ungeklärt agierendes Mehrfachbeziehungsmodell ist deutlich anfälliger, solche Strukturen gewähren zu lassen.
Es muß aber gar nicht Narzissmus sein, der hinter dem Drang steckt, das, was man selbst für sich als gut erachtet, auch allen anderen als vermeintlich heilsbringend einigermaßen unverblümt überzustülpen.
In den allermeisten Fällen agiert schlicht unsere Überzeugtheit vom „eigenen Film“ wie ich sie bereits in Eintrag 11 beschreibe. Diese Überzeugung kann sogar soweit gehen, daß wir uns selbst in der Rolle des romantischen Selbstopfers sehen, welches das alles, wirklich alles, für die Gemeinschaft zum Zwecke einer höheren Gesamtperformance gibt.
Am Ende des Tages habe ich dafür aber immer noch keinerlei echte Kommunikation aufbringen müssen und es ist genau wie ich in Eintrag 16 sagte, daß ich lediglich „damit meine eigenen Beweggründe an die allerhöchste Stelle für die gesamte Gemeinschaft setze“.
Viele „Held*innen im eigenen Film“ (Eintrag 11) sind oft über so eine Zuschreibung empört, da sie – ganz im Gegenteil – durchaus der Meinung sind, sie würden doch die ganze Zeit und sogar sehr VIEL kommunizieren. Nur würden sie sich leider den Mund fusselig reden, könnten gar mit Engelszungen sprechen, jedoch die unwilligen Objekte solcher aufgewandten Menge an Kommunikation wären schlicht und leider nicht in der Lage die wegweisende Botschaft aufzunehmen. Oder einfach stur.
Schon in Eintrag 4 bezeichne ich „Kommunikation“ nicht als absoluten Wert in Beziehungen, sondern nenne sie einen „Regler“ (wie einen Lautstärkeschieber an einem Mischpult z.B.). Daß dieser „Regler“ also generell vorhanden ist, sagt noch nichts über die hergestellte Qualität aus. Denn gerade in der heutigen Zeit nehmen wir – was unser Verhältnis zu dem „Regler“ angeht – oft eine wenig hilfreiche Haltung ein, die in den Sprachwissenschaften „Metakommunikation“ genannt wird.
„Metakommunikation“ ist aber eine Form der Unterhaltung, die sich eine Ebene hinter – oder vielmehr über – der wirklichen Kommunikation befindet. Im wahrsten Sinne: Wir reden „über“ etwas oder jemanden – aber nicht „mit“ ihr oder ihm. Unsere modernen Kommunikationsmittel machen uns das auf eine wenig nützliche Weise sogar noch einfacher (und gewohnter), indem wir z.B. mittels allzeit zugänglicher Kommunikationsgeräte und Anwendungen wie aus dem Nichts noch weitere (Meta)Gesprächspartner*innen dazubeschwören können. Damit öffnen wir aber höchstwahrscheinlich nur eine weitere Echokammer, die uns in unserer eigenen Meinung bestätigen wird – oder wir erfahren Frustration in dem Erleben einer scheinbar weiteren unverständigen Instanz (außerdem fehlt solchen „Metapartnern“ zusätzlich häufig auch noch situative Gestik, Mimik oder Stimmfarbe). Dem eigentlichen Anlaß ist aber immer noch nicht weitergeholfen – es wäre so, als hätten wir die ganze Zeit nur über den „Regler“ bzw. das Mischpult gesprochen – es allerdings nicht in Betrieb genommen.
Dem gelegentlich unerfreulichen Verlauf von (Streit)Gesprächen können wir nur mit echter Kommunikation, im mit-einander Sprechen begegnen, wenn wir uns darum bemühen offenzulegen, daß verschiedene Seiten vielleicht von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen, daß Fehlinterpretationen vorliegen können, Mißverständnisse ausgeräumt werden wollen. Mehrdeutigkeit, Ironie und Sarkasmus sind dabei nicht lustig – sondern hinderlich. Wir müssen vielmehr nachfragen, wie unsere Gesprächspartner*innen bestimmte Begriffe benutzen, wir müssen uns darüber verständigen, wie die beteiligten Parteien die gegenwärtige Situation einschätzen – und es ist ganz wichtig, daß alle wirklich über das selbe Thema sprechen (wollen). Nur so können wir Gemeinsamkeiten entdecken und genauer erkennen, welche Punkte unterschiedlich gesehen werden und warum.
Lieber also die Optionen offen halten? Oder wie mir einmal ein Bekannter sagte „Manche Differenzen zwischen Freunden schlicht bestehen lassen und gar nicht so genau ansprechen…“?
In der Oligoamory aus meiner Sicht schlechterdings unmöglich.
Denn der hinter jeder Beziehung befindliche Emotionalvertrag (Eintrag 9) ist kein Werkzeug, kein „Tool“, keine Beschreibung oder eine Option – sondere eine sich sofort mit der Etablierung einer Beziehung manifestierende Tatsache. Der Emotionalvertrag ist immer da, wird „im Hintergrund ausgeführt“ – ob wir wollen oder nicht.
Klar, manchmal kann man sich davon so ein Stückchen weit persönliche Gedankenfreiheit gönnen. Ich mache dazu mal ein eigenes Beispiel auf:
In Eintrag 31 erwähnte ich ja, daß eine meiner Partner*innen ein Pferd besitzt. „Pferd besitzt“ ist da genau genommen schon zu oberflächlich beschrieben – manchmal sage ich: „Du kannst die K. vom Pferd nehmen aber nicht das Pferd aus der K.“ . Womit ich ausdrücken will, daß diese Partner*in vom ganzen Sein mit diesem Pferdethema verknüpft ist.
Ich hingegen mache mir nicht besonders viel aus Pferden. Gut, über die Jahre mit der Partner*in weiß ich mittlerweile etwas mehr, als wo nur vorne und hinten beim Pferd sind – aber ich würde mir so ein Tier allein vermutlich nicht halten, aus vielerlei Gründen (Pferdeäppel z.B.).
Da die Partner*in nun einen zeitaufwendigen Beruf hat, ergibt es sich, daß ich mich angelegentlich einmal um das Tier kümmere, Stallpflege, Füttern, ja und auch das wenig geliebte Abäppeln.
Als Motivationshilfe im Kopf stehe ich dann manchmal auf der Koppel und sage mir, daß es sich ja bei meiner Handlung um eine jederzeit widerufbare Bonusleistung handelt, die ich nicht gezwangsweist erbringen müsste. Und das ist dann ein beruhigender Gedanke und pfeifend leere ich die Schubkarre.
Aber würde ich diese Karte im Ernstfall wirklich ziehen? Es ist nämlich tatsächlich so, daß ich von der entsprechenden Partner*in gar nicht um diese Dienstleistung gebeten wurde. Ein bißchen war es schlicht die rein praktische Notwendigkeit, die sich ergab, sich an manchen Tagen um das Haustier als Lebewesen zu kümmern, welches ja nun trotzdem zu unserer Gemeinschaft gehört. Aber das Resultat daraus war und ist weitestgehend eine von mir komplett eigenständig initiierte Selbstverpflichtung (!).
Eine Selbstverpflichtung geht aber aus der von mir schon in mehreren Einträgen zitierten persönlichen „Lust auf die Übernahme von Verantwortung“ hervor (sonst hätte ich das besser gleich ganz lassen sollen). Und in diesem Sinne hinsichtlich eines Umstandes, bei dem ich (ungefragt) eine Beitragensoption zu unserem Gesamthaushalt ergriffen habe. Und als Erwachsener muß ich doch klar bekennen: Nicht, weil ich nichts besseres zu tun hatte, sondern, weil ich das bewußt so wollte.
Diese Selbstverpflichtung ist damit gleichzeitig sofort als „zu genießende freiwillig erbrachte Leistung“ (siehe Definition) Teil des Emotionalvertrags geworden. Dieser „Genuß“ für meine Partner*in ging wiederum aus meiner Investition in Verbindlichkeit und Integrität hervor. Eine Investition in ein Gebilde, in dem ich mich also offenbar sicher und beteiligt genug gefühlt habe, als ich die Investition getätigt habe.
Genau hier ist meine Investition aber in unser gemeinsames „Mehr als die Summe der Teile“ eingegangen, bei dem sich einzelne „beigetragene und potentiell zu genießende freiwillig erbrachte Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“ nicht mehr ohne weiteres auseinanderrechnen lassen. Exakt in dieser Eigenschaft ist die Oligoamory „ganzheitlich“, weswegen ich in Eintrag 57 das von mir geliebte Bild der Babyrassel benutzte: Selbstverständlich wäre es möglich, einzelne Teile wieder aus dem Emotionalvertrag herauszulösen: Ich äpple nicht mehr ab – Du gehst nicht mehr einkaufen – Ich führe nicht mehr Haushaltsbuch – Du meldest dich nicht mehr, wenn es auf der Arbeit später wird… etc. Am Ende wäre es jedoch genau wie bei der Rassel: Man würde das Gebilde Komponente für Komponente auseinandernehmen und am Ende bliebe… nichts! Vermutlich sind Trennungen wegen diesem Effekt so ernüchternd: Nach Abzug aller eingebrachten Teile bleibt lediglich eine irgendwie unbehagliche Leere, aber was – wie bei der Rassel – eigentlich das Betriebsgeräusch war – also die Sache mit Leben erfüllt hatte – das ist dabei ebenfalls entwichen und niemand hätte es greifen können…
Als „Held*in in meinem eigenen Film“ kann ich mich also um meine Bedürfnisbefriedigung kümmern und versuchen herauszufinden, was gut für mich ist.
Wenn ich mit diesem Ziel eines gelingenden Lebens mich als freies Individuum mitwirkend in (m)eine Gemeinschaft einbringen möchte, dann kann ich so möglicherweise zum Gesamtwohl und zum Guten für alle darin beitragen.
Was ich aber niemals wissen oder gar entscheiden kann, ist, was gut für DICH oder irgendwelche anderen konkreten Menschen ist.
Dies bildet die Grenze, die Firewall, die wir als Individuum realistischerweise nicht überschreiten können und darum auch nicht aus Selbstüberschätzung überschreiten sollten. Was für ein hübsches Paradoxon der Oligoamory. Es läuft nur über die geheimnisvolle gemeinschaftliche Mitte:
Eine*r für alle und alle für eine*n!
¹ Wunderbare Phrase, die mit Alexandre Dumas‚ Roman als »Un pour tous, tous pour un!« Ewigkeitswert erhielt.
² Sogar wiederaufgelegt in Star Trek Voyager Staffel 5 Episode 22 (28. April 1999 „Liebe inmitten der Sterne“)
Einige Formulierungen sind dem Arbeitsheft „Debattieren lernen“ von Tim Wagner und Ansgar Kemmann entnommen, Klett-Kallmeyer Verlag 2019
Danke an FOTORC auf Pixabay für das Foto!