Eintrag 44

Liebe Freunde

Vor über zweitausend Jahren stieg ein Mann aus Nazareth auf einen Hügel, um einer atemberaubten Menge nahezubringen, wie vorteilhaft es für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde man seine Feinde lieben.¹
Über zweitausend Jahre später überlege ich, ob es damals nicht eine gute Idee gewesen wäre, diesem bemerkenswerten Gedanken die Vorüberlegung vorauszuschicken, daß es mindestens ebenso vorteilhaft für die gesamte Menschheit und ihre Beziehungen untereinander wäre, würde es uns grundsätzlich schon einmal gelingen, wenigstens unsere Freunde zu lieben…

Wie kommt Euer Reiseführer Oligotropos auf solch eine weitgespannte Idee?
Durch Kontakt mit der in Teilen überraschend knackig-kompakten Realität der Gegenwart, welche Zeugnis davon ablegt, daß auch im Jahre 2020 wirkliche „Freundesliebe“ keine allgemein verbreitete Größe ist. Ja, daß sie für viele – vielleicht sogar die allermeisten – Menschen nicht einmal besonders erstrebenswert erscheint.
Eine steile These? Nun, dann hinein in das gelebte Leben:

In diesem noch frischen Jahr hatte ich in kurzer Folge zwei Gespräche mit geradezu Déjà-vu-artigem Verlauf.
Um dieser (kleinen) Stichprobe gerecht zu werden müßte ich allerdings zugeben, daß der Déjà-vu-Charakter vermutlich darin begründet war, daß jedes mal ich der Gesprächspartner war – und daß es in beiden Gesprächen um die Kernkonzeption der Oligoamory ging.
Dazu stellte ich dar, daß es mir diesbezüglich wichtig sei, daß in allen oligoamoren Beziehungen immer „der ganze Mensch“ gemeint sein sollte. Große Bedeutung hätte darum, daß ich einen anderen Menschen nicht im Kopf „kompartmentalisieren“ würde. Denn jeder Mensch wäre doch immer ein „Gesamtkunstwerk“ mit verschiedenen Facetten – z.B. Arbeitnehmer*in, evtl. Elternteil, Angehörige*r eines (schon bestehenden) Freundes- und Familienkreises, engagiertes Mitglied bei einem Hobby oder Ehrenamt, etc. Sollte ich also mit jemandem Freundschaft schließen, fände ich es integer, wenn ich dann die „vollständige Person“ mit all ihren Aspekten und mit all den bei ihr bereits existierenden Verbindlichkeiten meinen würde – und eben nicht nur ihr „Schönwettergesicht“.
So weit, so gut.
Allerdings erweitere ich dieses Bild auch noch zusätzlich um den Faktor „originärer Kategorienfreiheit“, den ich für die Oligoamory aus der Beziehungsanarchie entlehnt habe. Damit meine ich, daß ich, was die Quelle meiner Gefühle und den Ausdruck meiner Emotionen angeht, nicht (mehr) zwischen „nur Freunden“, „bloßen Bekannten“, „Familie“, „bester Kumpel“ usw. trennen möchte. Denn ich möchte bei all diesen Menschen gleichermaßen authentisch „ich“ sein können und meine ganzen Empfindungen ausdrücken dürfen.
Ergo wäre meine Immersion, meine Liebe und mein Vertrauen, die ich in all meine Beziehungen hineingäbe, für mich energetisch dieselbe. Was im Idealfall bedeuten sollte, daß ich z.B. zu meinen Kindern genauso ehrlich wie zu meinem Handballtrainer wäre, gegenüber der Postbotin genauso verbindlich wie gegenüber meiner Lebenspartnerin. Was zur Folge hätte, daß ich mich darum bemühen würde, in all diesen Bereichen meines Lebens authentisch die gleiche Person zu sein.
[Was für mich übrigens DIE Herausforderungen ethischer Non-Monogamie und der Oligoamory schlechthin ist. Die mich nach einer besseren Vision meiner selbst streben läßt, möchte ich hinzufügen…].

Die Reaktionen waren in kurzer Folge jedoch so, als ob meine Gesprächspartner*innen einen elektrisch geladenen Draht berührt hätten – oder als ob ich ihnen eine Büchse voller exotischer Würmer anbot:

Dialogpartner*in 1: „Oligotropos, ich trage die Verantwortung für alle Menschen mit denen ich in Beziehung stehe; praktisch meine ich damit aber, dass ich nur die Verantwortung für uns beide, dich und mich, tragen will. Was du mit Dritten vereinbart hast, wie sehr du sie teilhaben lässt, was sie evtl. wissen – das macht bitte nur untereinander aus wie es für euch gut ist.
Für mich bedeutet eine Beziehung, so wie du sie dir vorstellst, zu viel Verantwortung, das kann ich nicht tragen und dem würde ich nie gerecht werden können.“

Dialogpartner*in 2: „Oligotropos, ich merke, dass ich mit dem Ganzen überfordert bin und mir das ein bisschen viel ist. Ich bin etwas verunsichert.“
Und etwas später, da diese*r Dialogpartner*in tatsächlich Elternteil war: „Ich wüsste auch gar nicht, wie ich so ein Beisammensein kindgerecht verkaufen sollte.“

Da stand ich also mit meiner Oligoamory, als hätte ich an der Haustür Knöpfe verkauft².
Dabei hatte ich doch gerade dafür geworben, wie großartig es vielleicht sein könnte, wenn in einer Beziehung die beteiligten Personen sich gegenseitig komplett und umfassend wertschätzen würden…
Ist dies in der Realität oftmals also gar nicht erwünscht? Noch mehr: Ist dieser gesamte Gedankengang so absurd und abwegig, daß er nicht einmal Kindern vorgelebt werden dürfte?

Ich bin erschüttert: Wir schenken unseren Freunden personalisierte Kissen, manchmal sogar personalisierte Wellness-Urlaube, wagen es aber zugleich nicht, eine personalisierte, d.h. „exakt auf diesen besonderen Menschen zugeschnittene“ Beziehung mit ihnen zu führen.
Weil es „zu viel Verantwortung“ bedeuten könnte, weil es einen „überfordert“ und „verunsichert“

In meinem vorherigen Eintrag 43 gehe ich auf einige der angsteinflößenden Gründe ein, die unserem Denken in dieser Richtung wohl vor allem zugrunde liegen. Und in Eintrag 26 beschreibe ich das Resultat einer solchen Haltung, nämlich das fortgesetzte Verbleiben und Erleben einer „aufgespaltenen Realität“ – sowohl an uns selbst als auch hinsichtlich anderer Menschen.

Ein Großteil von uns Menschen scheint sich aber mit dieser fortwährend aufrechterhaltenen „Trennungsrealität“ gut arrangiert zu haben. Na klar, ganz sicher auch, weil wir damit aufgewachsen sind – und weil es eben dem normal-alltäglichen Modus entspricht, mit dem die meisten von uns in ihren Beziehungen interagieren. „Das Vertraute“ wirkt dann immer leicht wie „das Richtige“; Menschen sind „Gewohnheitstiere“, die Komfortzone wird bekanntermaßen von einem formidablen Schweinehund bewacht.

Allerdings scheint mir der Preis für diese Art von Beziehungen und Freundschaften, die rein situativen „Inselcharakter“ haben (und behalten sollen!), sehr hoch zu sein.
Wir Menschen sind nämlich offensichtlich schrecklicherweise durchaus in der Lage, ohne vernünftigen oder ersichtlichen Anlass abzulehnen und sogar zu hassen – aber die Fähigkeit zu unbegründeter Liebe, bzw. zu der für Liebe noch wichtigeren Einstiegsvoraussetzung „Vertrauen“, gestehen wir uns scheinbar nicht ohne weiteres zu.

Wir erschaffen uns dadurch als Folge eine sehr harte Wirklichkeit, die wir unbewußt selbst regelmäßig noch verstärken.
Würden wir einen Menschen „ganz und gar“ akzeptieren, dann hieße das, sie*ihn auch mit ihren*seinen Ideen und Träumen, Talenten und Schwächen, Sorgen und Nöten und mit anhängigem Alltag wahrzunehmen. Denn wenn wir keine reine „Aspektbeziehung“ oder „Schönwetterfreundschaft“ anstrebten, die immer nur punktuell gelebt würde, dann wären ja doch auch die nicht immer angenehmen Potentiale Teil der jeweils anderen Person.
Wie sollen wir uns aber wechselseitig wirklich wertschätzen, wenn wir uns gegenseitig aus weiten Teilen unseres Lebens heraushalten? Und jetzt spreche ich nicht mehr von Handballtrainern und Postboten, sondern von unseren selbstgewählten Freunden!
Wenn ich versuchen würde, eine enge Beziehung, der ich den Namen „Freundschaft“ gebe, auf lediglichen Teilaspekten aufzubauen, dann käme ich mir beim Blick in den Spiegel sehr unredlich und unehrlich vor, denn – Hand auf’s Herz – ich könnte mir dann überhaupt keine Meinung zu dem entsprechenden Gegenüber erlauben, wüßte ich doch genau genommen viel zu wenig über ihn*sie.
Und ich glaube, genau dieses unausgesprochene Empfinden liegt zahllosen Freundschaften – und anderen intimen Beziehungen – zugrunde. Und weil wir eben nicht dumm sind und weil wir immer noch einen Rest gesunder, gut funktionierender zwischenmenschlicher Instinkte besitzen, werden wir alleweil in solchen Beziehungen Inkohärenz (mangelnden Zusammenhalt, siehe auch Eintrag 25) verspüren und als Resultat selbst unseren engsten Freunden NICHT VERTRAUEN.
Wie sollten wir sie also jemals lieben können…

Wenn dies der letzte Ratschluß unserer derzeitigen Beziehungsfähigkeit ist, dann wird der alte Goethe weiterhin mit seinem über 200-jährigen Stoßseufzer Recht behalten (Eintrag 39): „Gemeinschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Mitglieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.“ Und wir werden Teil einer mißtrauischen und unfriedlichen Welt bleiben, die wir so auch an unsere Kinder übergeben werden, wenn wir nicht wissen, wie wir ihnen eine andere Form von „Beisammensein kindgerecht verkaufen“ könnten.
Wollen wir wirklich unser Leben inmitten solcherart un-verbindlicher Beziehungen verbringen?

An dieser Stelle möchte ich noch einmal an die unerschrockene Aufforderung des Schauspielers Anthony Hopkins erinnern, die ich in meinem Dating-Eintrag 30 zitiere: Wir müssen dringend damit aufhören, uns wechselseitig als „Andenken“ zu behandeln – oder wie ich es dort präzisierte – als willkürliche „Lebensdreingaben“.
Wir müssen einen Weg zu einer erhöhten Selbstehrlichkeit zurückfinden – was nun mal bedeutet, daß wir dazu die manchmal etwas schmerzhafte Mühe auf uns nehmen sollten, uns selbst erst einmal gut kennenzulernen.
Und zwar nicht, damit wir dann den kleinen Perfektionisten oder Kontroletti, der in den meisten von uns steckt, von der Leine lassen, damit er fürderhin möglichst jeden Fehler und jede Unvollkommenheit, die wir in und an uns gefunden haben, strengstens überwacht und im Zaum hält. Sondern um uns hinsichtlich unserer Selbstwirksamkeit zu ermächtigen und zu ermutigen. Um den Mut, der – wie im letzten Eintrag erwähnt – in der „Zu-Mutung“ steckt, aufzubringen, mit den anderen Menschen in wahrhaftige Interaktion zu treten.
Und ohne daß wir diesen Mut eine Weile aushalten, ohne daß wir seine Folgen eine Weile aushalten können – indem wir nämlich unserer eigenen Unvollkommenheit und der der anderen Menschen eine Weile Spielraum geben – nehmen wir uns die Möglichkeit herauszufinden, ob eventuell die Chance zu einer echten, tiefen, vertrauten, ja intimen, Verbindung möglich ist.

Übrigens: In der US-amerikanischen Sitkom „The Big Bang Theory“ ist über 279 kurze Episoden zu sehen, wie sieben Menschen eine überraschend oligoamore Beziehung miteinander eingehen. Dem liegt durchaus kein idealisierter Kennen- und Liebenlernprozess zugrunde. Selbst am Ende der letzten Staffel kann sich der Zuschauer vorstellen, wie die Protagonisten vermutlich noch in ihrer Senioren-WG zusammensitzen würden, sich gelegentlich etwas kindische Streiche spielen oder gelegentlich flapsige Einlassungen bezüglich der Charaktermerkmale der anderen vom Stapel lassen. Trotzdem habe ich noch nie eine Fernsehserie verfolgt, in deren Verlauf die Beteiligten stärker über Geschlechter-, Rassen-, Bildungs- und Stereotypengrenzen hinweg nach und nach zusammenwachsen und schließlich offen ihre wortwörtliche Liebe füreinander bekennen.
Soll es das Vorrecht cineastischer Fantasien bleiben, daß so etwas nur als idyllische Utopie etwas nerdiger Bildschirmfiguren existieren darf?

Vom entlegenen Eiland der Oligoamory rufe ich Euch heute deswegen noch einmal zu:
Versucht weiterhin, den „Weg des größtmöglichen Mutes“ zu gehen.
Bemüht Euch, „Vertrauen zu wagen“.
Gestattet Euch, Eure eigene Verunsicherung diesbezüglich zu bekennen und trotzdem – oder vielmehr deswegen – ein klein bißchen mehr anzustreben als Eure bisherige Komfortzone bietet.
Und vor allem: Behandelt Euch selbst und andere Menschen „vollwertig“ – das wäre, um mit Bertolt Brecht³ zu schließen, „die Hoffnung der Welt“.




¹ Matthäus-Evangelium Kapitel 5, Vers 44 und Lukas-Evangelium Kapitel 6, Vers 27

² Der Zauberer Gandalf der Graue wirft dem abweisenden Bilbo Beutlin in J.R.R. Tolkiens Buch „Der Hobbit“ vor, er würde ihn behandeln „als ob er Knöpfe an der Tür verkaufen würde“

³ Letzter Absatz aus dem Text „Die Hoffnung der Welt“„Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in acht Bänden“ , Suhrkamp Verlag, 1967:
„Je mehr es sind, die leiden, desto natürlicher erscheinen ihre Leiden also. Wer will verhindern, daß die Fische naß werden?
Und die Leidenden selber teilen diese Härte gegen sich und lassen es an Güte fehlen sich selber gegenüber.
Es ist furchtbar, daß der Mensch sich mit dem Bestehenden so leicht abfindet, nicht nur mit fremden Leiden, sondern auch mit seinen eigenen.
Alle, die über die Mißstände nachgedacht haben, lehnen es ab, an das Mitleid der einen mit den anderen zu appellieren. Aber das Mitleid ist unentbehrlich. Es ist die Hoffnung der Welt.“


Danke an Kelsey Chance auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 43 #Verbindlichkeit #Vertrauen

Lieber verbindlich als verstrickt

Der Philosoph und ehemalige Kulturreferent Julian Nida-Rümelin schrieb letztes Jahr¹ : „In der Sprachphilosophie ist man sich einig, dass eine erfolgreiche kommunikative Praxis nur dann zustande kommt, wenn sich die an der Kommunikation Beteiligten an bestimmte konstitutive Regeln halten. Dazu gehört die Regel der Wahrhaftigkeit [Synonyme: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Loyalität, Rechtschaffenheit, Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit]. Diese verlangt, dass ich, wenn ich etwas behaupte, auch selbst davon überzeugt bin, dass das zutrifft.
Ebenso können wir von unseren Kommunikationspartnern erwarten, dass sie uns vertrauen; das heißt, dass sie davon ausgehen, dass das, was ich sage, meinen eigenen Überzeugungen entspricht.
Diese Regeln sind nur vermeintlich trivial. Sie erlegen nämlich den Kommunikationspartnern die Verpflichtung auf, sich in ihrem Äußerungsverhalten an den von ihnen eingesehenen guten Gründen zu orientieren und nicht an ihrem Eigeninteresse. Denn in vielen Fällen würde das bloße Eigeninteresse gegen die Einhaltung der Regeln der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens sprechen. Wenn wir immer dann unwahrhaftig
[= unaufrichtig, unehrlich, illoyal, korrupt, unverbindlich, unzuverlässig!] wären, wenn dies in unserem Interesse läge, würde der kommunikative Akt schlagartig an Wert verlieren.“

Aus oligoamorer Sicht finde ich diesen Text klasse, da Kommunikationspartner darin quasi wie Beteiligte an einer Beziehung behandelt werden – und so ist es sicher auch: Wenn Menschen kommunizieren, und sei es auch nur kurz oder über ein belangloses (Sach)Thema, dann stehen sie in diesem Moment in wechselseitiger Beziehung zueinander und ein (Informations)Austausch findet statt. Oligoamor bemerkenswert finde ich selbstverständlich, daß genau in diesem Kontext von Nida-Rümelin ebenfalls wichtige Beziehungswerte genannt werden: „Wahrhaftigkeit“, „Vertrauen“ und „Gesamtinteresse“.
Was die angesprochenen „Guten Gründe“ angeht, muß ich allerdings zugeben, daß ich diesbezüglich etwas zurückhaltender optimistisch bin als der Autor der obigen Zeilen. In Eintrag 11 dieses bLogs setze ich mich ausführlich mit den „individuellen guten Gründen“ auseinander und versuche zu zeigen, daß, wiewohl wir Menschen auf der Bedürfnisebene tatsächlich dieses „allseitig Gute“ schätzen und auch meist herbeizuführen wünschen, wir auf dem Weg dorthin aber dennoch oftmals von der Wahl unserer dazu eingesetzten Strategien selbstsabotiert werden. Wenn wir trotz Wahrnehmung unserer „guten Gründe“ z.B. eine Erfüllungsstrategie wählen, bei der Fremdbedürfnisse ignoriert oder gar beschnitten werden – gerade dort geraten wir ganz schnell wieder in das tückische Fahrwasser unseres nicht immer gar so selbstlosen Eigeninteresses.

Auch das zitierte „Vertrauen“ ist uns buchstäblich nicht gerade „in die Wiege gelegt“. Im Gegenteil. Sowohl der Glücksforscher Stefan Klein² als auch der Philosoph R.D. Precht³ weisen in ihren Arbeiten darauf hin, daß ein Evolutionserfolg der Gattung Mensch u.a. auf einem genetisch verankerten Vorsichtsverhalten beruht:
Wenn ein früher Homo sapiens beispielsweise auf einer Wanderung einen Busch mit blauen Beeren entdeckt hätte, wäre seinem Gehirn NICHT zuerst die Idee gekommen: „Großartig – die nächste Mahlzeit ist gesichert!“ – sondern vielmehr der Gedanke: „Sei besser vorsichtig, die Beeren könnten vielleicht giftig sein…“. D.h.: In einer unvertrauten Entscheidungssituation hätte unser Gehirn in deutlich mehr als 50% der Fälle zu Vorsicht und Vermeidung geraten. In der Frühzeit der Menschheit war so ein „Wachsamkeitsprogramm“ auf jeden Fall ja auch sinnvoll: Nicht jede Beere war essbar, nicht jede Katze war zum Streicheln geeignet, nicht jede Höhle war unbewohnt – und wenn plötzlich ein paar langhaarige Nachbarn mit krummen Ästen vor der Tür standen, wollten sie einen selten zum Hockeyspiel einladen.
Eines unser heutigen menschlichen Probleme besteht darin, daß dieses Wachsamkeitsprogramm – was ja genau genommen ein „Überlebens-Sicherungsprogramm“ war – auch heute noch in uns in Form von einem überwiegenden, initialen (einleitenden/anfänglichen) Mißtrauen aktiv ist. Also auch jedes mal, wenn wir mit neuen Menschen konfrontiert werden. Unser Urprogramm versucht uns alarmiert zu halten und sagt statt „Hey, ein neuer Mensch – das könnte eine bereichernde Gelegenheit sein…!“ viel lieber: „Holzauge sei wachsam, dem Typen solltest Du lieber erst mal auf den Zahn fühlen…“. Und da wir ein leistungsfähiges Gehirn haben, was in der Lage ist in kürzester Zeit seine Datenbanken vergangener potentiell schlechter Erfahrungen zu durchforsten, ist ein Film aus (Vor)Beurteilung und Annahmen schnell gestrickt. Die Resultate sind dann auch im 21. Jahrhundert Mißtrauen, Vermeidung und am Ende Ablehnung und Ausschließeritis.

Aus der Kombination nicht immer astreiner Bedürfniserfüllstrategien aufgrund von nur mittelmäßig abgeklärten persönlichen „guten Gründen“ plus tendenziellem Anfangsmißtrauen als reflexhafte Standardreaktion entsteht leicht das, was gewissermaßen der antagonistische Nemesis der Oligoamoy ist: UNVERBINDLICHKEIT.
Und als getreulicher Autor und Chronist der Oligoamory, als Idealist, als Romantiker und insbesondere als leidenschaftlicher Anwalt eines bewußten und freien menschlichen Willens liegt für mich genau darin das Hauptproblem gelingender – oder oftmals vielmehr mißlingender – ethischer Non-Monogamie.

Unverbindlichkeit – das fängt manchmal schon zu einem ganz frühen Zeitpunkt an, wenn es heißt: „Joa, die Katrin und ich, wir haben da jetzt miteinander so ’ne Kiste, das will ich gar nicht irgendwie labeln…“. Schon in Eintrag 7 versuche ich zu beschreiben, daß dies nicht unbedingt ein reifer Ausdruck persönlicher Freiheit ist, sondern eher ein Eingeständnis von wenig reflektiertem Ungefähr.
Oder es betrifft das Drama klarer Nomenklatur insgesamt, überall dort, wo sg. „polyamore“ Menschen mit dieser Selbstbezeichnung zusammenkommen. Denn stellen wir uns schlicht z.B. eine*n Sozialwissenschaftler*in vor, die*der bei irgendeinem Poly-Stammtisch, -Workshop, -Seminar oder -Treffen die Anwesenden fragen würde, was das verbindende Merkmal aller Teilnehmer*innen hinsichtlich der Lebensweise und Philosophie der Polyamory wäre. Vermutlich stünde man erst einmal einer verlegen schweigenden Runde gegenüber, die dann etwas schelmisch gucken würde, bevor ein paar Leute sich grinsend in die Rippen stoßen um schließlich zu antworten: „…Daß wir alle Sex miteinander haben könnten!“. Oh weh, denke ich da, das wäre eine Antwort gewesen, wenn nach Promiskuität gefragt worden wäre oder nach Sexpositivität. Aber wenn das alles ist, was den kleinsten gemeinsamen Nenner polyamorer Mehrfach“beziehungen“ bildet, dann ist es kein Wunder, daß diese Lebensform immer um ihren Ruf und ihre Anerkennung fürchten und kämpfen muß. Und darum erkläre ich in Eintrag 2 auch ausführlich, warum ich mich genau nicht mehr zu solchen Polyamoren zählen möchte.
Denn am Ende wird diese Unverbindlichkeit dann erst recht eher früher als später ebenfalls die Auffassung hinsichtlich etwaiger Metamours (also den potentiellen weiteren Liebsten unserer Liebsten) prägen: Das sind Menschen, die ja der Partner im Schlepptau hat – man selbst möchte damit möglichst wenig zu tun haben. Weder im Sinne einer gemeinschaftlichen Verbundenheit (obwohl man den gleichen Lieblingsmenschen hat!), noch gar im Sinne irgendeiner Gesamtverantwortung für das gemeinsame Ganze. Das würde einem doch viel zu nahe rücken, wäre irgendwie beinahe schon unangenehm „real“, nee, das ginge gar nicht…

Zur Unverbindlichkeit nehmen wir Menschen Zuflucht, wie oben gesehen, wenn wir unser Eigeninteresse als das höchstwertige Gut in einer Beziehung ansehen. Eigeninteresse, welches uns den Rücken frei hält, um im Zweifelsfall nicht ganz aufrichtig zu sein, nicht ganz der Wahrheit verpflichtet sein zu müssen, was die eigene Loyalität daher flexibel hält, immer Spielraum für ein klein wenig Verführbarkeit läßt, uns nicht festlegt und moralische Bewegungsfreiheit einräumt.
Um alles in der Welt – warum wollen wir bloß in unseren intimsten Beziehungen so sein?

Weil wir Menschen sehr oft Angst vor Verpflichtung, Anforderung und Erwartung haben.
Wir haben Angst davor, verlässlich „jemand zu sein“.
Das scheint ein schreckliches Zeugnis zu werden, was ich uns da allen (mir eingeschlossen) ausstelle. Bleibt uns also doch nur als Ausweg die Monogamie – weil wir es gerade mal höchstens halbwegs schaffen maximal einem Partner, vielleicht ein bis drei Kindern und einem Haustier gegenüber eine einigermaßen authentische Vorstellung von uns zu bieten? Und wenn der schöne Schein bröckelt – raus mit einer Scheidung und hinein in die nächste Serialität?

In mehreren Einträgen auf diesem bLog habe ich geschrieben, daß ein Merkmal von „Erwachsensein“ eine gewisse Lust auf die Übernahme von Verantwortung sei. Echte Verantwortung, die ich im vorherigen Artikel noch einmal als „Verantwortlichkeit“ hervorhebe, geht nun aber unweigerlich mit (Selbst)Verpflichtung, mit Anforderungen und Erwartungen daran einher.
Warum haben wir trotzdem so große Not, verbindlich auf Beziehungsebene dafür einzustehen?

Ich glaube, daß hier der „blinde Fleck“ von Julian Nida-Rümeling dahintersteckt, daß nämlich unsere „guten Gründe“ oft eng mit unseren „Eigeninteressen“ verflochten sind.
In Eintrag 11 erzähle ich die Geschichte des „Schwarzen Fledermausmannes“, der ein guter Beziehungsmensch sein möchte. Er gerät allerdings in Turbulenzen, weil er sowohl bemüht ist, größtmögliche allseitige Bedürfniserfüllung anzustreben als auch seinem Eigeninteresse gerecht zu werden. Zu diesem Zweck wählt er verschiedene Strategien, die ihn schließlich aber nicht zum „großen Helden“ für alle machen, sondern am Ende muß er sich mit emotionalen Entladungen und in Folge sogar mit Selbstzweifeln herumschlagen.

Ihr lieben Leser*innen: Der „Schwarze Fledermausmann“, der sind wir alle!
Und wir leben heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Zeit, in der die meisten von uns es nicht gelernt haben, sich mit allen (!) eigenen Gefühlen anderen Menschen zuzumuten – denn wir haben Angst, dann statt Applaus Ablehnung zu erfahren.

Bitte laßt diesen Gedanken einmal auf der Zunge zergehen.

Was sollten unsere intimsten Beziehungen im Idealfall sein? Ein Ort an dem wir uns authentisch ganz als wir selbst zeigen dürfen, an dem wir alle Masken fallen lassen können – ein Ort an dem wir darauf vertrauen dürfen, daß wir dort (trotzdem) immer als die Person, die wir sind, angenommen werden.
Wir sind aber eben auch Menschen. Darum können wir nicht immer nur das sozial erwünschte Spektrum positiver und angenehmer Gefühle zeigen. Sondern wir sind auch mal traurig, zornig, bedrückt, verwirrt. Wir sind auch nicht immer perfekt. Wir werden es nicht schaffen allzeit aufrichtig, ehrlich, loyal, rechtschaffen, verbindlich und zuverlässig zu sein. Wir sind menschlich fehlbar – und wir werden darum Fehler machen.

Viele von uns versuchen in der heutigen Zeit (immer noch?), ihre Beziehungen als „letzte Bastion der Seligkeit“ zu halten. Beziehungen, in denen stets Harmonie herrscht, in denen alles freudig und leicht ist, aus denen man allzeit energetisiert hervorgeht und in denen nur Wertschätzung und Anerkennung ausgedrückt werden…
So verständlich diese Sehnsucht auch zu Beginn dieses verrückten 21. Jahrhunderts und seiner aus den Fugen geratenen Work/Life-Balance sein mag – so vollkommen unrealistisch ist sie aber auch. Und sie erlegt allen Beteiligten ungeheuren Druck auf: Zum einen, ein Ideal zu verfolgen, bei dem jede*r sich im Keller zu verstecken hat, die*der dagegen verstößt, zum anderen, dieses unerfüllbare Bild jeder neuen Beziehung überzustülpen, in der Hoffnung, es doch vielleicht dort erfüllt zu bekommen…
Folglich bleibt uns in der Wirklichkeit nur, unzusammenhängende Inseln kurzen Glücks zu erschaffen, die wortwörtlich „un-verbindlich“ bleiben müssen. Denn würden wir sie doch verbinden, wäre ja wieder das unvollkommene Gesamtbild unserer Persönlichkeit sogleich sichtbar – mit unserer zeitweisen Traurigkeit, mit unserem situativen Zorn, mit eventueller Bedrückt- oder Verwirrtheit und vor allem mit unserer Fehlerhaftigkeit. Also führen wir lieber kompartmentalisierte (aufgespaltene) und unverbindliche Beziehungen. Denn wir möchten den Anderen unsere Defizite nicht zeigen, weil wir Schwierigkeiten haben, wirklich zu vertrauen: Nicht den Anderen und ihrer möglichen Reaktion – und auch nicht uns selbst und ob wir wiederum deren Reaktion aushalten würden…

Ihr Leute, wenn wir Mehrfachbeziehungen in dieser Art angehen, dann wird jeglicher Beziehungsaufbau, jegliche Beziehungsführung, jeglicher Versuch „(mehrere) Menschen (zugleich) zu lieben“ reine Makulatur bleiben.
Ich betone das „gemeinsame Ganze“ und das „allseitige Vertrauen“ in der Oligoamory so sehr, weil es ganz auf dem Grund der Dreh- und Angelpunkt ist, mit dem (genau genommen) jede Beziehungsführung steht oder fällt.
Beziehungen können keine Orte der Perfektion sein. Keine Orte, wo immer Frohsinn und Leichtigkeit sind. Wo immer nur die gute Laune und die guten Gefühle vorherrschen. Wo es keine Differenzen gibt und wo niemals jemand verletzt wird.
Darum müssen Beziehungen zuallererst Orte des Vertrauens sein. Bzw. alle Beteiligten müssen zuerst die Mühe und den Willen aufbringen, sie gemeinsam dazu zu machen. Um den oben erwähnten Druck gar nicht erst zuzulassen, sich dort nicht in ganzer (fehlbarer) menschlicher Natur zeigen zu dürfen. Um einen Ort zu erschaffen, an dem auch Trauer, Zorn, Bedrücktheit, Verwirrung und Fehler den gleichen Raum haben können wie die vermeintlich einfacheren „schönen Gefühle“. Letztendlich ist ja auch „schön“ diesbezüglich eine (Außen)Bewertung: Ich bin ein Mensch – und manchmal lache ich und manchmal weine ich – warum sollte ich mir für eines von beiden eine Tüte aufsetzen? Darüber hinaus: Wirklich authentisch, wirklich aufrichtig und damit glaubhaft verbindlich kann ich doch auch nur sein, wenn ich mich in meiner Gesamtheit zumuten darf.
Folglich sind auch nur Beziehungen authentisch, aufrichtig und verbindlich, in denen alle Beteiligten so vollständig „Sein“ dürfen.

Und was ist, wenn die Anderen das nicht aushalten?
Wenn wir Menschen es wollen, dann halten wir scheinbar Unglaubliches aus. Wir gebären Babys, wir durchqueren nachts Schneestürme, retten Menschen aus brennenden Gebäuden oder halten Sterbenden die Hand. Meistens haben wir dabei eine Wahl: Nichts von dem müssten wir tun. Alle vier soeben aufgezählten Beispiele fallen vermutlich definitiv in die Kategorie „unangenehm“ – und schwer. Trotzdem werden sie getan.
Wenn es um Menschen geht, die wir lieben und denen wir vertrauen, dann können wir enorme Fähigkeiten aktivieren.
Diese Fähigkeiten zu haben bedeutet jedoch nicht, daß wir durch sie unverwundbar werden. Daß wir deswegen alles tolerieren, akzeptieren oder mitmachen. Und das wäre ja auch wieder über-menschlich un-menschlich.
Aber unsere (Mit)Menschlichkeit zeigt, daß wir, wenn wir es wirklich wollen und uns eine Sache bzw. Lebewesen wirklich wichtig sind, wir weit über unsere urzeitliche „Vermeidungsstrategie“ hinauswachsen können.
Möglicherweise ist es diesbezüglich wie mit dem ersten Menschen, der einen brennenden Ast in die Hand nahm: Dieser Mensch wagte Vertrauen. In erster Linie in sich selbst, daß er da etwas schaffen wollte, wogegen all seine tierischen Instinkte und Ängste heftig widersprachen. Aber vielleicht auch Vertrauen in eine Gruppe, die hinter ihm stand, daß die ihm bei einem Fehlversuch anschließend schon helfen und „aushalten“ würde, müßte sie sein Wehklagen ertragen und seine Brandblasen pflegen.
Ohne die „Zumutung“ die wir für unsere vertraute Gruppe auf diese Weise vermutlich gelegentlich sind, könnten wir jedoch beim nächsten oder übernächsten Mal auch nicht ihr Held und ihre Quelle allseitigen Wohlergehens werden. Mensch zu sein, miteinander zu sein, bedeutet, beides regelmäßig zu akzeptieren – an uns, wie auch an den Anderen.

Ich wünsche uns allen, darum immer wieder den Mut zu (Zumutung!) einem bewußten Sprung in ein Vertrauen zu finden, für das es manchmal scheinbar keine plausible Begründung gibt.
Und daß wir bei Menschen landen können, die uns (aus)halten wollen.



¹ Julian Nida-Rümelin „Digitaler Humanismus“, Artikel in der Max Planck Forschung 2/2019

² Stefan Klein, „Die Glücksformel – oder: Wie die guten Gefühle entstehen“, Fischer 2014

³ Richard David Precht „Die Kunst, kein Egoist zu sein – Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält“, Goldmann 2012

Danke an meine steten Musen Kerstin, Svenja und Tobias und an congerdesign auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 42

…sieh, das Gute liegt so nah.*

Der derzeit amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist jemand, der regelmäßig betont, daß Freiheit und Verantwortung Hand in Hand gehen. In seiner Rede im Futurium Berlin¹ sagte er letztes Jahr sogar, daß zur Freiheit eine „Erwartung an die Verantwortung“ gehöre, die aus der Freiheit erwächst.
Ich, als Autor dieses bLogs, glaube, daß er damit Recht hat, insbesondere weil „Verantwortung“ aus meiner Sicht direkt etwas mit „Nachhaltigkeit“ zu tun hat, die ja als Untertitel auch der Oligoamory zugrunde liegt.
In der von mir schon oft zitierten Buchszene, in der der „Kleine Prinz“ des Autors Antoine de Saint-Exupéry auf den Fuchs trifft, erklärt der Fuchs: „Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ ²
Demgemäß bedingen sich also ebenfalls Vertrauen und Verantwortung…

Freiheit, Vertrauen, Nachhaltigkeit, Verantwortung – ich möchte versuchen, ein wenig zu ordnen, warum ich denke, daß diese Werte für oligoamores Denken und Handeln wichtig sind – und wie sie zusammenhängen.

In meinem 3. Eintrag führe ich die Nachhaltigkeit als bedeutenden oligoamoren Wert ein, indem ich erläutere, daß „Nachhaltigkeit“ drei wichtige Kernkriterien umfasst³, nämlich Konsistenz, Effizienz und Suffizienz. Dazu schrieb ich, daß in der Oligoamory Beziehungen „konsistent, also sowohl dauerhaft als auch (werte- und personen-)beständig“ seien sollten.
„Zugleich sollten oligoamore Beziehungen aber auch für die daran Beteiligten effizient sein. Damit sei nicht weniger gemeint, als daß die Beziehungen den Menschen darin dienlich sein sollten, geeignet für alle Beteiligte, und förderlich, sich nach ihren jeweils individuellen Potentialen entfalten und ergänzen zu können.
Und suffizient sollten sie sein, […] weil die Beziehungen zufriedenstellend und (selbst)genügsam sein sollten, also eben gerade nicht unendlich oder beliebig, sondern menschlichen Maßen von Überschaubarkeit und Vertrautheit angemessen.“

Auch wenn ich diese Zeilen heute noch einmal lese, fällt mir auf, daß dies auf jeden Fall einigermaßen ambitionierte Wünsche für jede Beziehung sind. Gleichzeitig nicke ich aber auch beinahe unwillkürlich mit dem Kopf, weil ich denke: „Ja, solche Beziehungen würden von ihrer Berechenbarkeit, von ihrem Spielraum meiner Freiheitsgestaltung und von ihrer Wahrnehmungsmöglichkeit meines Angenommenseins/Einbezogenseins definitiv stark zu meinem persönlichen Wohlbefinden beitragen!“
An dieser Stelle kommt für mich dann in mehrfacher Hinsicht wieder Saint-Exupéry mit seinem Fuchs ins Spiel. Der Fuchs zeigt dem „Kleinen Prinzen“ nämlich, daß ein solcher ersehnter Zustand nicht schnell herbeiführbar ist. Als Bedingung nennt er ein „sich vertraut Machen“, also einen allmählichen Aufbau von Vertrauen, der nur wechselseitig und über einen längeren Zeitraum zum gemeinsamen Ziel führen kann. Und dieser Prozess würde dahinein münden, daß mit der wachsenden „Vertrautheit miteinander“ die zunehmende „Verantwortung füreinander“ einherginge.

Daß dies in der Tat ein wegweisend nachhaltiger Gedankengang ist, fällt vor allem dann auf, wenn wir die Verantwortung, die ja am Ende der Kette steht, einmal weglassen:
Ohne Verantwortung, bzw. genauer „Verantwortlichkeit“ würde es mit dem Vertrauen vermutlich sehr schwer werden. Wer könnte Vertrauen in eine Person oder Institution haben, die Verantwortlichkeit für ihr Sprechen und Handeln ablehnen würde – oder in dieser Eigenschaft recht wetterwendisch oder beliebig wäre? Auch jedwede gemeinsam verbrachte Zeit wäre dann keine hilfreiche Verbündete mehr, denn die für unsere Gehirne so wichtige „Kohärenz“ (Folgerichtigkeit/Sinnzusamenhang) könnte sich nicht einpendeln: Der verläßliche, vorhersagbare Fundus an ähnlichen Erfahrungen bliebe aus.
Und dadurch wären wir seelisch/mental ständig „auf dem Sprung“, in einem halbalarmierten Zustand vorsichtiger Wachsamkeit, weil möglicherweise im nächsten Moment eine gänzlich neue oder andere (Beziehungs)Erfahrung gemacht werden müsste, als beim Mal davor – oder dem davor…
Diese Lage, wenn der Alarmschalter des Gehirns längere Zeit auf einer mittleren Position feststeckt, nennt die Wissenschaft „Stress“. Und wer möchte mittel- oder langfristig in einer Beziehung sein, in der Stress die Normalsituation wäre?
Auf diese Weise wird sich ein „Zufriedenheitszustand“ der Nachhaltigkeit nie ergeben, denn wir könnten niemals sicher sein, ob unsere Beziehungen beständig (konsistent), geeignet (effizient) und ausreichend (suffizient) wären.

Ohne so erlebte Nachhaltigkeit wiederum würden wir höchstwahrscheinlich früher oder später in einen unerfüllten und bedürftigen Zustand geraten, der uns alsbald zu Konsum und einer gewissen Maßlosigkeit ( = Mangel an Maß) treiben würde.
Und da „Zu-friedenheit“ ja genau genommen eine „In-Friedenheit“, ein „In-Frieden-Sein“ bedeutet, würden wir mit dem Verlust unserer Zufriedenheit zugleich auch aggressiver und kompromißloser werden.
Hoppla!
Haben wir da gerade etwas wiedererkannt? Aus unserem Alltag oder sogar bezüglich des Zustands der Welt?

Wenn mir das gelungen ist, dann bin ich meinem heutigen bLog-Ziel sehr nahe.
Denn mit der Oligoamory möchte ich ja auch „Lust auf das Vertraute“ machen.
Und dies kann beizeiten bedeuten, daß ich mich darum bemühen muß, aus einer situativen „Unzufriedenheit“ eben nicht in Konsum und Maßlosigkeit zu flüchten.
Oder es kann bedeuten, daß ich aufgefordert bin zu schauen, ob ich mit dem „Vorhandenen“, dem Vertrauten, nicht doch „in Frieden“ sein kann.

Diesbezüglich leben wir zugegeben in einer etwas zwiespältigen Zeit. Denn wiewohl es zunehmend Initiativen gibt, die, wie ich hier, der Nachhaltigkeit mehr Bedeutung verleihen wollen, so gibt es immer noch genug Stimmen, die das „Vertraute“ als rückständig, altbacken oder langweilig stempeln wollen, um uns aus unserem Frieden zu locken (und ohne Unzufriedenheit gäbe es sicherlich deutlich weniger Konsum…).
Wenn wir diese Dynamik auf die Ebene der Beziehungsführung übertragen, dann sehen wir schnell, wie wir in eine Haltung von „höher-schneller-weiter“ katapultiert werden könnten, die non-monogamer Lebensführung z.T. einen so schlechten Ruf eingebracht hat. Denn wenn der innere Frieden erst einmal verloren ist, dann besteht die Gefahr, daß die unerfüllte Bedürftigkeit stets die Hoffnung nährt, daß „da draußen“ immer noch etwas (also: jemand!) passenderes, tolleres, besseres sein könnte – und das „Wisch-und-weg“ moderner Datingportale ist geboren. Und irgendwann geht es dann nicht einmal mehr um das Ziel der Erfüllung eigener Bedürfnisse (und sei es in irgendeinem unerreichbaren Superlativ), sondern nur noch um das nächste Neue, Aufregende, Aufreizende, weil nur noch dieser Kick stark genug ist, das Leeregefühl kurzfristig wirklich zu unterdrücken.

Wenn wir nicht in solch ein Hamsterrad geraten wollen, dann bleibt uns – auch und gerade in Beziehungsdingen – vor allem, eine etwas in Vergessenheit geratene Tugend (wieder) zu mobilisieren: Zufrieden zu sein mit dem, was wir (schon) haben. Oder was mir in der Oligoamory besonders lieb ist: Das, was wir haben, sorgfältig zu erwägen.
Das scheint mir heute in einer Zeit, in der immer noch so häufig Konsumlaune künstlich erzeugt wird, sehr wichtig zu sein: Was brauche ich denn (noch), um zu-frieden, in Frieden, zu sein? Oder wenigstens: zufriedener. Und: Gibt es das (nur?) „da draußen“?

Mit dem, was ich (schon) habe, kann ich aber mein „In-Frieden-Sein“ vermutlich viel besser überprüfen. Und dabei kann ich ganz bei mir bleiben – und muß nicht auf ein „Außen“ oder etwaige Partner*innen zeigen.
Z.B., wie sieht es mit meiner Verantwortlichkeit aus? Zur Verantwortlichkeit gehören wichtige Eckpfeiler jeder (Mehrfach)Beziehungsführung: Meine Aufrichtigkeit, meine Loyalität, das Maß meiner Transparenz. Wie viel solcher Kapazitäten bin ich bereit aufzuwenden, um mich beständig, integer und, ja, berechenbar, als jemand zu bewähren, der vertrauenswürdig ist? Und habe ich den Willen und die Zeit dazu?
Letztere Frage ist gar nicht so unwichtig. Neulich las ich auf einem Datingportal in einem Profil den Satz: „Bitte schreibe mich nur an, wenn Du in Deinem Leben wirklich Raum für eine weitere Beziehung hast.“
Manche Menschen scheinen es also auch mit Flirts wie mit Milchtüten zu halten: Sie kommen mit einer neuen Packung nach Hause, nur um festzustellen, daß der Kühlschrank schon voll ist – Folge: Neue Packungen haben keinen Platz, vorhandene Packungen werden sauer…

Nachhaltige Beziehungsführung, wie ich sie mir in der Oligoamory wünsche, will also mit Sorgfalt ausgeübt sein. Meine persönliche Freiheit geht nämlich tatsächlich mit einer „Erwartung an (meine) Verantwortung“ einher:
Einerseits, daß ich mich selbst gut genug kenne, um zu wissen wo meine Stärken und meine Grenzen bzw. meine noch ausbaufähigen Potentiale liegen. Andererseits, daß ein Beziehungsprozess, auf den sich zwei (oder mehr!) Lebewesen freiwillig einlassen, immer gleichzeitig ein Hineinwachsen in eine Gesamtverantwortung füreinander bedeutet.

Und das ist doch genau genommen sehr gut so. Denn Nachhaltigkeit, mit ihren Aspekten von Konsistenz, Effizienz und Suffizienz bedeutet doch, daß eine bestimmte Sache für uns einen Wert gewonnen hat. Soviel an Wert, daß sie eben normalerweise nicht beliebig oder austauschbar ist. Und dieser Wert ist aus einem Zugewinn an Vertrauen zu einem Gegenstand, einer Person oder einer Beziehung heraus entstanden.
Und jede*r weißes von sich selbst: Wen oder was man in dieser Weise „lieb gewonnen“ hat, mit dem ist man im Umkehrschluß wiederum besonders bemüht oder sorgfältig, zeigt sich „verantwortlich“.

In dieser Hinsicht kann die Parole aus der Umweltbewegung „Nachhaltigkeit beginnt vor der eigenen Haustür!“ direkt auf unsere intimen Beziehungen übertragen werden: Wir müssen den Blick dazu nicht in die Ferne schweifen lassen oder auf das ewig grünere Gras der Nachbar*in. Als der beste Beziehungsmensch können wir uns hier und heute gegenüber uns selbst und in unseren Bestandsbeziehungen erproben, verantwortlich und frei.
Was enorm sexy ist, übrigens, richtig gehend attraktiv…
Welch‘ schöneres Argument könnte es für (potentielle) Teilnehmer*innen ethischer Mehrfachbeziehungen geben?



* 2. Zeile aus Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Erinnerung“.

¹ Rede am 26. September 2019 im Futurium in Berlin zur Kampagne „Freiheit ist unser System“.

² „Der Kleine Prinz“; 21. Kapitel; „Freundschaft mit dem Fuchs“

³ Danke diesbezüglich nochmals für Input durch Dr. Bernd Siebenhüner.

Danke an pine watt auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 41

tl;dr

„Ach ja, Oligotropos… – dein bLog“, so seufzte neulich eine Bekanntschaft aus den sozialen Netzwerken. „Aber du schreibst immer so viel… …und so lang…!“
Liebe Leser*innen: Ich bekenne mich in all diesen Punkten schuldig. Und wenn ich „schuldig“ sage, dann meine ich im Sinne radikaler Aufrichtigkeit damit „ursächlich“.
Als ich in verschiedenen sozialen Netzwerken noch sehr aktiv war, habe ich mir darum gelegentlich auch schon einmal von Rezipient*innen den recht eigenwilligen Kommentar „tl;dr“ eingefangen. Dieses Akronym aus dem Netzjargon steht für die englischen Wörter „too long; didn’t read“ – und sollen als Antwort auf einen als überlang empfundenen Beitrag bedeuten: „[Der Text war] zu lang; [deswegen habe ich ihn] nicht gelesen“.*
Solch eine Anmerkung ist dann in ihrer Einfältigkeit nur noch mit der unverfrorenen Einleitung zu toppen: „Ich hab‘ den Text nicht ganz gelesen, aber…“ und dann wird unverdrossen drauflos kommentiert.
Ihr lieben Menschen, die Ihr Euch mit mir in das wortreiche Innere des entlegenen Eilands der Oligoamory begebt: In einer Zeit, in der Simplifikation und Mundgerecht-Machung oftmals publikumswirksam als das Gebot der Stunde angepriesen werden, werde ich Euch diesen Bärendienst nicht erweisen.
Denn es wäre nicht redlich von mir, Euch zu suggerieren, daß es in Beziehungsdingen auf schwierige Fragen einfache bzw. schnelle oder gar universelle Antworten gäbe.

Von hier gehen die Einträge vom entlegenen Eiland der Oligoamory jeden Monat hinaus in die Welt…

Den Wunsch nach Einfachheit und Leichtigkeit kann ich selbstverständlich gut nachvollziehen. Und unser Gehirn ist diesbezüglich ja auch oft ein allzu williger Erfüllungsgehilfe: Wenn wir z.B. verliebt sind, flutet es unsere Existenz mit körpereigenen Wohlfühlstoffen, die uns in der Kennenlernzeit erst einmal mögliche Diskrepanzen und Konfliktherde übersehen lassen. Oder es schaltet in langjährigen Beziehungen auf „Autopilot“ und ist darum bemüht, etwaige Abweichungen von der kohärenten Routine so weit wie möglich in den Hintergrund zu verschieben, so daß die partnerschaftliche „Funktionsharmonie“ den eindeutigen Vorzug bekommt.

Ethische (Mehrfach)Beziehungsführung – auf jeden Fall nach oligoamoren Ideen – wird sich allerdings nicht mit der idyllischen Oberfläche begnügen. Wer sich auf die abenteuerlichen Gewässer der Non-Monogamie begibt, muß darauf gefaßt sein: Das geht unter die Haut. Denn ethische Non-Monogamie, die das Präfix „ethisch“ verdient, verlangt von uns, daß wir Lust daran haben uns „im Miteinander unter unseresgleichen zu bewegen, [und] Aufschluß darüber zu geben, wer wir sind“ ¹.
Darum wünsche ich mir auch, daß das Oligoamory-Projekt nicht so sehr als tagesaktueller bLog aufgefasst wird – bei dem der oberste Eintrag stets eine situative Befindlichkeit des Autors oder eine weltbewegende neuste Erkenntnis enthält – sondern mehr als ein Kompendium miteinander vernetzter Knotenpunkte.
In dem Sinne finde ich es natürlich schön, wenn jemand einen meiner Einträge für sich als gut gelungen ansieht und diesen Artikel besonders herausstellt, teilt etc. Aber als ledigliche „Fundgrube“ würden die ethische Non-Monogamie und die Oligoamory schwer nachvollziehbares Stückwerk bleiben, dem ohne Bezug zu den anderen „Knotenpunkten“ das stützende Rückgrat fehlen würde.
Denn noch einmal: Oligoamory ist keine „Methode“, die man, wie z.B. Büroyoga, getrennt vom ursprünglichen Kontext rein situativ erfolgversprechend anwenden kann. Oligoamory ist eine Philosophie und eine Lebensweise, die zur (Selbst)Berechtigung und (Selbst)Ermächtigung bzw. dem reflektiven Selbsterleben aller daran Beteiligten einladen möchte.

Und dafür kann ich keinen „einfachen“ Schlüssel vorgaukeln.
Noch mehr: Da ich als Grundansatz für meine Ideale und Ziele „Beziehungsführung“ gewählt habe, wünsche ich mir als Schauplatz unseres oben erwähnten „Selbsterlebens“ unsere engen Begegnungen mit anderen Menschen in überschaubaren, auf Vertrauen basierenden Gemeinschaften. Ich möchte also nicht, daß wir als meditierende Einsiedler*innen irgendwann erleuchtet auf unserem einsamen Berg mit einem letzten „Heureka!“ auf den Lippen erwachen, sondern, daß wir quasi ein Selbst-Entwicklungsprojekt auf einer lebendigen Leinwand sind – „Mobilis in Mobili“ (lat.: Bewegt im Beweglichen)² sozusagen.
Speziell mit Letzterem ist ganz offensichtlich, daß wir bei so viel buchstäblich „unvorhersehbaren“ Faktoren und Einflußgrößen wirklich den größtmöglichen Mut haben müssen, auf jeglichen Autopiloten und auf alle fremdgenerierten Rezeptbücher zu verzichten. Und daß wir stattdessen „Vertrauen wagen“³ und neugierige Offenheit wie einen bisher eher wenig ausgebildeten Muskel trainieren sollten.

Deshalb ist ein großes Thema der Oligoamory die Einheit von sowohl freiem wie auch gleichzeitig verbindlichem Handeln. In Eintrag 7 stelle ich dar, daß diese Einheit bewußt und widerspruchsfrei gelebt werden kann – und daß dies in der Tat gar nicht mal so schwierig ist (Ich glaube sogar, daß viele Menschen, die sich im Umwelt- oder Tierschutz engagieren, grundsätzlich schon eine solche Philosophie umsetzen, insbesondere was ihre Ernährungs- und Konsumgewohnheiten angeht). Denn im Zentrum steht dabei unsere individuelle Integrität, unsere „fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln“ (Zitat Wikipedia). Dabei kann es sich demgemäß nicht um ein für die Ewigkeit in Stein gemeißeltes Regularium handeln: Denn wir sind so lebendig wie unser Umfeld, mit dem wir interagieren. Stete Beobachtung, Neubewertung, Dazulernen und Anpassung sind also ein unveräußerlicher Teil davon.

In Eintrag 9 betone ich darum beim Thema „Emotionalvertrag“, der – unausgesprochen oder nicht – hinter jeder tieferen Beziehung steht, daß es diesbezüglich wichtig ist, sich selbst gut kennenzulernen. Denn um mich gut vertreten zu können, um für mich einstehen und verhandeln zu können, muß ich zuerst wissen, was ich brauche und muß daher die Mühe auf mich nehmen, meine eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse kennenzulernen. Und dabei wird mir nicht helfen, wer ich nach Ansicht meiner Eltern oder Lehrer oder Chefs sein sollte, sondern nur, wer ich jetzt gerade bin – mit meinen aktuellen Stärken und Schwächen – und natürlich, was ich denn von der anhängigen Beziehung erhoffe.

Weil wir aber doch oft aufgrund eines „vorgegebenen“ Selbstbildes operieren, versuche ich z.B. in Eintrag 14 die Komplexität dessen zu beleuchten, was diese „Vorgaben“ ausmacht. Und ich versuche zu skizzieren, daß wir nicht alle die gleichen guten Chancen haben, aufgrund unserer Aufgestelltheit und unserer individuellen Resilienz mit unseren möglichen Vorerfahrungen in Sachen „Beziehung“ umzugehen. Trotzdem bestätigt auch die Wissenschaft, daß die Anerkennung unseres Kernselbst die zentrale Aufgabe unserer Eigenwahrnehmung ist, bei der allen Nähemenschen unserer Wahl eine ganz besondere unterstützende Rolle zukommt.

Demgemäß wende ich in Eintrag 18 allerdings ein, daß es für diese besonderen Nähemenschen manchmal schwer werden kann, wenn sie während unserer nicht immer einfachen Anstrengungen die gesamte Bandbreite unserer Potentialentfaltung miterleben. Denn auch darin wäre ich ein unredlicher Autor, würde ich verschweigen, daß eine Selbsterforschungsreise stets immer nur schöne oder angenehme Ergebnisse zu Tage fördern würde.
Daß es in einer Beziehung auf Augenhöhe dann schlechterdings jedoch auch unmöglich ist, diese Potentiale unter dem Teppich zu halten, beschreibe ich in Einträgen rund um persönliche Doppelbödigkeit (Eintrag 21) oder (mangelnde) Transparenz (Eintrag 37). In diesen Zusammenhängen weise ich immer wieder auf eine Haltung von hoher Aufrichtigkeit hin, die nach meinem Verständnis noch über bloße Ehrlichkeit hinausgeht, insbesondere in dem Aspekt, genau auch unangenehmen Erkenntnissen bzw. Gefühlen ihren benötigten Raum und die erforderliche Aufmerksamkeit zu geben (was für alle Beteiligten eben auch mal schwer „auszuhalten“ sein kann).

Aus der Anerkenntnis dieser „dunklen Aspekte“ lade ich dazu ein, sich sogar Phänomenen wie Depression (Eintrag 22) oder Abspaltung (Eintrag 26) nicht zu verweigern, da es sich dabei meistens um Facetten unseres Seins handelt, die über lange Zeit in uns gewachsen sind – und die sich durch ledigliches Verleugnen nicht nur nicht bessern, sondern sich oftmals geradewegs selbst bestätigen und stärken – und dadurch in der Jetztzeit erneut wieder Schwierigkeiten in unserer Beziehungsfähigkeit aufwerfen werden.

Unsere „dunklen Aspekte“ können uns aber ebenso wertvolle Hinweise darauf geben, wie es um die Sehnsucht nach unserer (verlorenen) Intimität beschaffen ist – und welche Erfüllungsstrategien wir dafür in der Gegenwart heranziehen. Und damit sind wir der Dynamik „Wir – und die Anderen“ und wie wir uns darin verorten (wollen), ein großes Stück näher gekommen. Also auch unseren Beweggründen dafür, warum wir uns eventuell mit non-monogamen Ideen beschäftigen – und wo diesbezüglich unsere Talente und unsere Defizite liegen könnten (Einträge 27 + 28).

Deshalb liegt hinter der Philosophie der Oligoamory die beinahe beziehungsanarchistische Betrachtung all unserer Nähemenschen als Gesamtgemeinschaft (von der auch wir Teil sind), frei von künstlicher Reihenfolge oder Hierarchie. Bezüglich dieser selbstgewählten Zugehörigen ist also bedeutsam, welche Konzessionen und faulen Kompromisse wir eingehen würden, um ein anerkanntes Gemeinschaftswesen zu sein, bzw. wie wir genug Vertrauen und Einschließlichkeit aufbringen können, um klassische Autoritäts- und Angststrukturen zu verhindern (Eintrag 29 + 33).

Und damit schließt sich mein Bogen zum Anfang, indem ich mit der Oligoamory zu einer Berechtigung und Ermächtigung aller an einer Beziehung Beteiligten hinführen möchte, wie ich es speziell in meinen jüngeren Artikeln 37 + 39 auch noch einmal deutlich betone.

Als Erforscher oligoamorer Lande danke ich allen Leser*innen, die sich immer wieder die Mühe machen, meine vielen und langen Einträge zu lesen, über sie nachzudenken und über sie zu sprechen. Wenn ich mir etwas wünschen darf, so hoffe ich, daß wir alle auf diese Weise zu einer friedlicheren, bewußteren und integrativeren Welt beitragen. Auf ein Neues!



* Quelle Wikipedia und Urban Dictionary

¹ Zitat von Hannah Arendt, in voller Länge in Eintrag 39 nachzulesen.

² Motto der Romanfigur Kapitän Nemo des Autors Jules Verne – Kapitän Nemo ist seinerseits aber sicher kein günstiges Beispiel für ein „Gemeinschaftswesen“…

³ klingt fast wie das bekannte Willy Brandt-Zitat („Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“), ist aber nur so ähnlich. Sinngemäß stimme ich dem Altkanzler selbstverständlich in diesem Aspekt zu.