Eintrag 8

Beziehungsschach mit dem Zen-Meister

Manchmal gibt es auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory sogar Internet. Via Satellitenlink. An manchen Tagen funktioniert es nicht – heute klappt es. Schnell checke ich Nachrichtenportale, browse kurz durch den bunten Blätterwald.
Doch da – BÄM! – prangt plötzlich ein großes Zitat von Bhagwan Shree Rajneesh1 auf meinem Bildschirm; angetan mit irgendeinem hübschen Hintergrundbildchen:

Wir werden alleine geboren, wir sterben alleine. Zwischen diesen beiden Tatsachen erschaffen wir uns tausend und eine Illusion von Miteinander – alle möglichen Arten von Beziehungen, Freunde und Feinde, Geliebte und Verhaßte, Nationen, Rassen, Religionen. Wir schaffen Halluzinationen aller Art, nur um einen Umstand zu vermeiden: Daß wir allein sind. Aber was immer wir tun, die Wahrheit kann nicht geändert werden. Es ist so, und anstatt zu versuchen davor zu entkommen, ist die beste Möglichkeit, sich daran zu erfreuen.
Freude am eigenen Alleinsein ist das, worum es z.B. bei der Meditation geht. Der Meditierende ist jemand, der tief in das Alleinsein eintaucht und weiß, dass wir alleine geboren werden, wir alleine sterben werden und tief im Inneren auch alleine leben. Warum also nicht erleben, was dieses Alleinsein ist? Es ist unsere tiefste Natur, es ist unser innerstes Wesen.

(The Sound of One Hand Clapping, Rede Nr. 14)

Augenblicklich wühlt sich alles in mir auf: „Woah! Das ist ja sowas von anti-oligoamor! Und überhaupt: Wieder mal so ein Zitat, welches vermutlich vor allem die Jungen und Gesunden anspricht, solange die ihr Leben selbst in der Hand haben…!“
Natürlich versuche ich mich sogleich ein bißchen zu beruhigen. Weiß ich doch auch ein paar Autoritäten auf meiner Seite, die das ebenfalls so auf keinen Fall stehen lassen würden:
Der Kinderarzt Dr. William Sears fällt mir sofort ein, der achtsame Vertreter des „Attachment Parenting2“ (deutsch etwa: zuneigungsbetonte Elternschaft), der sich ja gerade für die Natürlichkeit und Wichtigkeit einsetzt, sofort mit unserer Geburt in eine enge menschliche Verbindung hineingeboren zu werden. Ebenso der dänische Familientherapeut Jesper Juul, der anhand von Kindern und Jugendlichen immer wieder bestätigt hat, wie wichtig es für uns Menschen ist, uns ein Leben lang in Gemeinschaft sowohl als verbunden als auch als frei zu erleben, um Sozialkompetenz und Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Und nicht zuletzt die große Verhaltens- und Primatenforscherin Jane Goodall, die sogar bei unseren nächsten tierischen Verwandten beobachtet und nachgewiesen hat, daß auch bei diesen Geboren-Werden und Sterben Prozesse hoher Gruppendynamik und Anteilnahme der Gemeinschaft sind – und somit offenbar sehr tief auch in unserer eigenen Soziologie und Biologie verankert sind.

Dennoch bin ich vor einigen Tagen bei einem Landausflug zum Archipel einem Polyamoren begegnet, der mir zu meinem letzten Eintrag über Freiheit und Verbindlichkeit wörtlich sagte:
„Nach meiner Erfahrung ist Liebe nicht personenbezogen. Ich kann mich entscheiden meine Liebe zu teilen mit wem oder wie vielen Menschen ich will. Aber wenn ich jemanden vermisse, vermisse ich entweder meine Vorstellung von ihm oder vermisse das, was er mir gibt. Als ich mich mal so nach Menschen verzehrt habe und sie vermisst habe, habe ich mich gefragt, was ich wirklich vermisse: Den anderen Menschen oder das Gefühl was er mir gibt? Und dann habe ich mich gefragt warum vermisse ich dieses oder jenes Gefühl. Die Antwort war ziemlich ernüchternd…: Weil ich selbst einen Mangel an gerade diesen Gefühlen: Nähe, Anerkennung, Liebe, Selbstbewusstsein, Bindung etc. in mir gefühlt habe. Und ich habe daraus gelernt, dass eine fehlende Bindung (Nähe, Anerkennung etc.) zu mir selbst nicht durch Verbindungen zu anderen kompensiert werden kann.“
Gerade wenn man Lehren wie die von Rajneesh oben so hinsichtlich der Liebe auf das „un-anhängige Selbst“ anwendet, wirkt das doch erst mal wie eine gründliche (Selbst)Erkenntnis, durchaus nachvollziehbar – und natürlich hört es sich auch wunderschön an.

Demgegenüber ist aber eben auch unser Grundbedürfnis nach anderen Menschen bzw. menschlicher Gemeinschaft eine unumstößliche Tatsache…
Woraus resultiert dieser Widerspruch – und ist es überhaupt ein solcher?

Als Bhagwan Shree Rajneesh vor allem in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in seinen Reden Menschen westlicher Industrienationen gemäß hinduistischem Sannyasa und buddhistischem Zen die Hingabe an die Leere nahebrachte, konfrontierte er damals direkt eine Lebensweise lärmender Massenbetriebsamkeit und die erste große Hochblüte populärer Unterhaltungskultur. U.a. dem von der Hippiebewegung wieder aufgegriffenen Ausdruck der „Gemeinschaftlichkeit“ (englisch: togetherness) setzte er gezielt das Konzept des Alleinseins, ja der „Alleinheit“ (englisch: aloneness), entgegen – und entschied sich sehr bewußt dafür, dies gerade nicht als „Einsamkeit“ (englisch: lonliness) zu definieren.
Die Form von „Gemeinschaftlichkeit (togetherness)“, die Rajneesh bei uns Westmenschen seinerzeit beobachtete, mußte ihm vermutlich oft oberflächlich, übertrieben und wie eine Flucht ins Außen erscheinen. Begriff und Lebensweise solcher Art „togetherness“ wurden von Rajneesh mehrfach in seinen Reden deutlich kritisiert3.

Das, was wir heute als gemeinschaftliches Konzept der Polyamory kennen, steckte damals buchstäblich noch in den Windeln. Morning Glory Zell-Ravenheart gab dem „Baby“ überhaupt erst in dem Jahr seinen Namen, in dem Rajneesh als „Osho“ starb (1990).
„Gemeinschaftlichkeit“ (togetherness), wie sie heute in der Polyamory und erst recht in der Oligoamory aufgefasst wird, bedeutet nämlich eigentlich etwas sehr Wichtiges; so definiert das Collins English Dictonary dies als:
eine Empfindung von Nähe oder Zuneigung durch die Verbindung mit anderen Menschen“ – und Webster’s New World College Dictionary schreibt in seiner 4. Edition sogar:
das miteinander Verbringen von viel Zeit, wie z.B. von Freizeit- oder sozialen Aktivitäten durch die Mitglieder einer Gruppe, insbesondere wenn davon auszugehen ist, daß dies zu einer stärker verbundenen, stabilen Beziehung führt“.
Also Verhaltensbeschreibungen, mit denen wohl auch Dr. Sears, Jesper Juul und Jane Goodall recht einverstanden wären.

Wie kann es demgegenüber trotzdem so scheinen, als ob Rajneesh in seiner Lehre den Menschen ein Dasein als „einsamer Wolf“ oder vielleicht besser in „Allein-heit“ empfiehlt?
Einsame Wölfe, die nichts in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen sollen, denen ihr Selbst genug sein muss und die die anderen Menschen bestenfalls als Luxus4, als „Lebensdreingabe“ um sich zulassen.

Kann es sein, daß „wir Westmenschen“ dann schon wieder in die nächste Falle gestolpert sind?
Eigentlich wollen das hinduistische Sannyasa und das buddhistische Zen doch vor allem Folgendes sagen:

„Lass die Vorstellung von Deinem ‚Ich‘ los. Dann kannst Du ‚Ich‘ wahrhaftig sein.“

Dieser Wunsch, dieses Ziel, ist wirklich weise: Denn im Alltag sind ja vor allem sowohl die Vorstellungen von uns selbst, wie auch auch unsere Vorstellungen, die wir uns hinsichtlich der Anderen machen, das, was uns das Leben schwer macht.
Marshall B. Rosenberg, der „Vater der gewaltfreien Kommunikation“ nannte eben diese Vorstellungen und Annahmen zutreffend „Diagnosen und Beurteilungen“.
Ebenso wie hinduistische Sannyasin oder buddhistische Zen-Meister erklärt aber auch Rosenberg, daß diese Diagnosen und Beurteilungen fast immer irrational sind, weil sie vor allem unseren eigenen angeeigneten Glaubenssätzen entsprängen, wie etwas/jemand sein „müsste“ – und nicht etwa echter konkreter (Sinnes)Wahrnehmung im Hier&Jetzt.
Genau darum ist gute Beziehungs- und Gemeinschaftsbildung auch so schwer.
Der US-amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Scott Peck, der sich wohl am intensivsten mit der Praxis von Gemeinschaftsbildung auseinandergesetzt hat, nannte die vier Phasen eines solchen Prozesses „Pseudogemeinschaft“, „Chaos“, „Leere“ und „Gemeinschaft“. Ich werde sie hier mal „Oberflächliches-gut-Verstehen“, „Krise“, „Klarheit“ und „echte Beziehung“ nennen. Und ohne jetzt tiefer auf diese verschiedenen Phasen einzugehen, möchte ich zeigen, was diese Phasen mit dem bisher Gesagten zu tun haben.

Bezüglich Scott Peck und seiner Gemeinschaftsbildung war ich lange irritiert, wenn er über Gruppen von 60 und mehr Personen schrieb. Ich hielt dies für kaum glaublich und nahm an, daß kleine Gruppen doch viel leichter in Beziehung zu bringen sein müssten, weil ich insbesondere für die „Chaosphase“ die Gleichung aufmachte: Mehr Beteiligte = Größeres Durcheinander.
Meine eigenen Nah- und Mehrfachbeziehungen bewiesen mir aber nahezu das Gegenteil. Wenige Beteiligte können es aufgrund des viel höheren Nähefaktors und genau wegen der wenigen Mitwirkenden tatsächlich sehr viel schwerer haben.

In die Chaos-/Krisenphase bringen wir nämlich genau die zuvor erwähnten Vorstellungen, Annahmen, Diagnosen und Beurteilungen über uns und die Anderen mit hinein – und fangen dort damit an uns aneinander „abzuarbeiten“.
Mit wenigen „Mitspieler*innen“ (zwei oder drei, z.B.) kann dies regelrecht zu einer Art „Beziehungsschach“ oder „-skat“ geraten (und auch als „Beziehungsdoppelkopf“ oder „-Poker“ wird es mit vier bis sechs Beteiligten nicht besser). Da werden dann buchstäblich Züge geplant und Trümpfe gegeneinander ausgespielt. Und alles in dem Bestreben, dieses „Spiel“ am Ende für sich zu entscheiden. Was bedeutet: Den anderen Beteiligten so zu zeigen, daß nur die eigene (Spiel)Weise die erwiesenermaßen vorteilhafteste und darum richtige sein muß (und die der Anderen damit natürlich nachweislich als nicht erfolgreich und daher falsch bloßgestellt wird).
Scott Peck beschreibt nun, daß diese Konkurrenz- und Krisenphase erst dann endet, wenn alle Beteiligten genau diese Strategie für sich als unsinnig und nicht zielführend entlarven.
Und hier befürchte ich eben, daß es die „Wenigen“ miteinander eventuell deutlich schwerer haben, bis sie sich aus gegenseitiger Umklammerung, Erniedrigungsversuchen oder Schuldzuweisungen entlassen können. Denn bei wenigen Beteiligten ist es allzu leicht, sich sehr lange einzureden, daß es doch noch eine Chance oder einen bislang unbekannten Winkelzug zum vermeintlichen „Sieg“ gibt – oder darauf zu hoffen,daß die Anderen vielleicht einfach von sich aus irgendwann aufgeben…
Bei 40, 60 oder mehr Teilnehmer*innen würde selbst sehr hartnäckigen Spieler*innen die letztendliche Vergeblichkeit oder Unsinnigkeit einer solchen Sisyphusaufgabe viel schneller einleuchten…

Erst also, wenn wir in unseren Liebesbeziehungen an diesen Punkt kommen, dann treffen all die hier beschriebenen Philosophien erst wirklich zusammen und die vermeintlich beharrlichen Widersprüche lösen sich auf.
Darum auch nannte Scott Peck die darauffolgende, dritte Phase nicht sogleich „Gemeinschaft“, sondern „Leere“: Weil diese Erkenntnis, dieses Loslassen der eigenen Voreingenommenheit und des eigenen Sendungsbewußtseins nichts anderes ist als das Zen der Buddhisten, das Sannyasa der Hindus und die Urteilsfreiheit der „Gewaltfreien Kommunikation“.
Diese „Leere“ ist der Moment den z.B. Sportler, Künstler oder Handwerker als „Flow“ kennen, der aus einer Einheit von purem Wahrnehmen sowie Tun und Sein in einem besteht – der Moment aus dem heraus viele Erkenntnisse und Errungenschaften entstehen können.
Auch deswegen folgt die „Gemeinschaft“ oder die „echte Beziehung“ nicht gleich nach der Krise, weil diese „Leere“ ja ebenfalls einen „Augenblick großer Klarheit“ ist, der uns unsere Wahl- und Handlungsfreiheit zurückgibt, um uns un-verstellt zu entscheiden.
Und dieser Augenblick großer Klarheit kann sich in Beziehung eben auch erst dann vollständig entfalten, wenn alle Beteiligten ihn gemeinsam erreichen.
Was zugleich bedeutet, daß dies auch ein Zustand großer selbstgewählt-zugelassener Verletzlichkeit ist. Auch und gerade vor sich selbst, wenn man sich just seiner liebgewonnen und oft auch lange Zeit sinnstiftenden Glaubenssätze entledigt hat…

Egal, was dann passiert: Es ist Raum entstanden für etwas Neues und Echtes.
Vielleicht wird es eine wirkliche Beziehung; vielleicht wird es echte Gemeinschaftlichkeit.

Aber ohne die vorhergehende wirkliche Krise, ohne die darauffolgende Auseinandersetzung, ohne die Reibung aneinander, können wir uns noch sehr lange für den alleinigen Mittelpunkt der Welt halten.
Denn auch dafür brauchen wir die anderen liebenden Menschen vom Geboren-Werden bis zum Sterben um uns:
Nicht nur, um zu erleben, daß es gar nicht darauf ankommt, ob wir dieser Mittelpunkt sind.
Sondern um die Chance zu haben, zu erfahren, daß in unseren liebevollen Beziehungen und in echter Gemeinschaft das Potential unserer Vielfältigkeit immer noch unendlich viel größer wird als das Potential unserer Einzigartigkeit alleine.

1 Erst in seinem letzten Lebensjahr gab Rajneesh die Weisung, alle seine Arbeiten und Publikationen fortan unter einem von ihm neu angenommenen Namen „Osho“ herauszubringen. Da mir der Autor für den Großteil meines eigenen Lebens unter seiner am längsten geführten Bezeichnung „Rajneesh“ bekannt war, werde ich diese weiterhin verwenden.

2 Dr. Sears Standpunkt wurde direkt von den Ergebnissen der Autorin und Anthropologin Jean Liedloff beeinflußt (Auf der Suche nach dem verlorenen Glück: Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit).

3Vom Trug der Gemeinschaftlichkeit (The Fallacy of Togetherness, 1968)

4Die Macht der Liebe, Kapitel 2: Er sagte / Sie sagte; Von Liebe in einer Beziehung

Dank geht an Jason Leung auf Unsplash.com für das schöne Schachbrettbild.

Noch mehr zu Thema #Vertrauen und Verbindlichkeit gibt es HIER in Eintrag 43

Eintrag 7

Der Tagtraum – Verbindliche Weite

Ich sitze am Ufer des entlegenen Eilands der Oligoamory. Kleine friedliche Wellen schlagen leise an den Strand – die Sonne scheint, aber hier am Strand geht meistens ein frischer Wind.
Irgendwo in den Wäldern des Inselinneren hinter mir glaube ich ganz fern eine Flöte zu hören – nur eine schlichte Folge von Tönen.
In mir hallt die Geschichte von Anday und Tavitih noch nach.
Hätten die Oligoamoren sie auch auf dem Festland oder dem vielgestaltigen Archipel der Polyamory so erzählen können?
Oder hätten sie damit Kritik und Unverständnis hervorgerufen?
Wären die Protagonist*innen als besetzend oder vereinnahmend angesehen worden? Wäre ihr Verhalten gar als besitzergreifend interpretiert worden, ihre enge, fast schon spirituelle Verflochtenheit und Feinfühligkeit als wechselseitige Abhängigkeit?
Hätte das dortige Publikum die Geschichte alsbald für sich abgehakt und Anday und Tavitih für künftige Begegnungen den Satz ins Stammbuch geschrieben „Wahre Liebe gibt frei!“ ?

Gedankenverloren blinzle ich durch mein Kelchglas mit halbdurchsichtigem Cuja-Cuja-Nektar hindurch in die Ferne, in der Himmel und Meer nun grün-gelblich erscheinen.
„Wahre Liebe“, denke ich – und dabei fallen mir all die zahlreichen Mären und Geschichten ein, die alleine ich schon kenne und die sich um dieses Thema ranken. Held*innen gibt es da und Schurk*innen, große Ideale und rabenschwarze Abgründe. Widersprüchliches also, in mannigfacher Gestalt.
„Wahre Liebe“, ich wiege die Worte nochmals auf meiner Zunge – und denke dann: „Wahre Liebe… – …macht erst einmal… …gar nichts!“
Sie ist – ja. Sie entsteht irgendwann zwischen Lebewesen – und die sind es dann eigentlich immer, die ihrerseits irgendetwas mit der Liebe oder wenigstens in ihrem Namen anstellen.
Wenn also Liebe erst einmal nur eine Verbindung, eine Art Energie zwischen Lebewesen ist… – haben dann die obigen Fürsprecher*innen nicht eventuell Recht, daß es wichtig wäre, sie darum frei und unbesetzt fließen zu lassen – wohin sie will?

Was würden die Oligoamoren wohl dazu sagen?
Den freien Fluß der Liebe würden sie wahrscheinlich gar nicht in Frage stellen. Aber wie ich das nachhaltige Völkchen kenne, hätten sie zu der Qualität vermutlich einiges zu sagen:
„Frei ja – aber nicht beliebig! Schau, Oligotropos, das paßt doch genau.“, würden sie dann verkünden. „Es ist buchstäblich wie mit Deiner Energie, die Du ‚Strom‘ nennst: Scheinbar neutral steht er Dir konstant in gleicher Stärke jeden Tag ab Deiner Steckdose zur Verfügung. Der Strom ist immer da – und ihm ist es egal, ob Du damit eine Schraube eindrehst oder ein Orchester erklingen läßt. Dir wird aber vermutlich nicht egal sein, ob seine Quelle nukleares Feuer oder Windkraft ist. Das ist es, wo Verbindlichkeit ins Spiel kommt – aber Verbindlichkeit und Freiheit müssen darum trotzdem kein Widerspruch sein!“
Tja. Manchmal überfordern diese kecken Oligoamoren sogar mich noch, wenn sie in dieser Weise von Nachhaltigkeit zur Verbindlichkeit springen… Oft suchen sie dann ein Beispiel, von welchem sie annehmen, daß ich es besser verstehen könnte: „Wie Knüpfteppiche…“
„Knüpfteppiche, also ehrlich…,“ will ich noch sagen, da sind sie schon mitten im Thema:

„Ja, stell‘ Dir vor, Du handeltest mit Knüpfteppichen. Würdest Du für Deine Kunden nicht die makelloseste Qualität zum besten Preis einkaufen wollen?“
„Durchaus…“
„Dann stell Dir vor, daß Du einen Hersteller finden würdest, der Dir das bietet: Feinste Beschaffenheit, filigranste Muster – und das zu einem Preis weit unter dem der Konkurrenten.“
„Verführerisch…!“
„Nicht wahr? – Nun würdest Du aber herausfinden, daß die Teppiche nur deshalb so fein geknüpft sind, weil sie von Kindern hergestellt werden, die eben sehr kleine Finger haben. Und weil es Kinder sind, bezahlt der Hersteller diese schlecht und gibt Dir das als niedrige Einkaufspreise weiter…“
„Ich verstehe.“
„Obwohl die Teppiche also faktisch exzellent und auch noch preisgünstig wären, wäre es für Dich vermutlich sofort nicht mehr beliebig, wie dieses Ergebnis zustande kommt.
Du würdest nun aber vielleicht im Interesse Deiner lieben Kunden und möglicherweise auch dem der ausgenutzten Kinder von Deiner Freiheit, nämlich Deiner Willens- und Wahlfreiheit Gebrauch machen – und nicht Teil dieses An- und Verkaufs werden.“
„Sehr wahrscheinlich!“
„Damit zeigst Du, daß Du Deine Freiheit sowohl nachhaltig wie auch verbindlich einsetzt.“
„Das mit der Nachhaltigkeit leuchtet mir ein, die Verbindlichkeit bleibt mir noch etwas nebulös…“
„Also Oligotropos: Den unlauteren Hersteller hast Du aussortiert…“ „Ja…“
„Nun möchtest Du aber, um ähnlichen, zweifelhaften Angeboten nicht länger ausgeliefert zu sein, nicht mehr nur passiver Teilnehmer im Teppichgeschäft bleiben. Du möchtest darum aktiv teilhaben und gestalten, einige Umstände selbst in die Hand nehmen.“
„Jetzt dämmert’s mir…!“
„Ja, z.B. gründest Du eine Qualitätsoffensive, die für bessere Bedingungen und fairen Handel wirbt. Du setzt Dich für die Handwerker*innen vor Ort ein und kämpfst mit ihnen für die Anerkennung kleiner Manufakturen…“
„Und dann bin ich verbindlich?“
„Wenn Du es ernst meinst und in Deinem Handeln konsequent bist, dann ja. Erinnerst Du Dich, daß auf dem Stein der Oligoamoren auch der Begriff ‚Integrität‘ verzeichnet war, was ja ‚Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem‘ bedeutet?“
„Habe ich nicht vergessen.“
„Das ist gut, denn es ist ja klar, daß so ein Prozess nicht immer ein Sonntagsspaziergang sein kann. Es wird Herausforderungen geben, Schwierigkeiten, auch Rückschläge…!“
„Ich ahne, worauf das hinausläuft…“
„Genau, damit sind wir nämlich schon auf der Beziehungsebene:
Wer es mit der eigenen Freiheit genau wie mit der Freiheit der anderen in Nachhaltigkeit und Verbindlichkeit ernst meint, der kann seine Beziehungen nicht wie einen Aktienfonds verwalten. Heißt: Die eigenen Anteile freigeben und ausklinken, wenn es mal kriselt oder der Kurs schwankt – und sich dann nach neuen grüneren Weiden umsehen.
Womit übrigens auch wieder die Berechenbarkeit mit an Bord ist, die wir schon mal beim Vertrauen erwähnten: Integrität und Berechenbarkeit gehen in Beziehungen Hand in Hand…“

„Ausgefuchstes System, ich hab‘ so was geahnt…“, so murmele ich zu mir selbst, denn ich sitze ja noch immer am Strand und keine Seele ist weit und breit zu sehen. Nur zu der Flöte im fernen Wald hat sich unterdessen das ab und an herüberschallende Tam-Tam einer Handtrommel gesellt.
„Das wird schon alles so sein…“, gähne ich – „…aber so’n bisschen abhängig ist man dann ja doch: Vom Kurs der eigenen Aktien, wie auch vom Wohl und Wehe seiner Lieblingsmenschen in den Beziehungen…“ Mit diesem Gedanken döse ich in der Nachmittagssonne ein.

Die Geräusche von Flöte und Trommel scheinen sich aber in meine Träume zu mischen und bald sehe ich die beiden Musiker*innen auf ihrer Waldlichtung im Geiste quasi vor mir:
Sie lachen und spielen sich die Töne zu, improvisieren und wechseln dabei immer wieder die Rollen…
Da begreife ich, daß die Oligoamoren mir mit ihrem seltsamen Teppichbeispiel noch mehr sagen wollten:
In dem, was ich selber wähle, dort wo ich gestalterisch eingreife und aktiv Teil habe, bin ich nicht abhängig. Insbesondere nicht bei Dingen, die mir am Herzen liegen, die ich mit Leidenschaft aufgenommen habe und betreibe.
Und das alles, obwohl es manchmal Mißtöne geben kann und eventuell sogar mal jemand anders gerade die Melodie führt… Verbunden und doch frei…

Ich wache schlagartig auf. Der Cuja-Cuja-Nektar ist umgekippt und längst im Sand versickert. Die Musik ist auch verklungen. Oligoamory, Du seltsames Eiland..

Ich klappe meinen Campingstuhl zusammen und kehre beschwingt zu unserer Habitatsphäre zurück, die bislang das Zentrum unseres kleinen Lagers bildet. Im Eingang davon steht meine Gefährtin – gerade spricht sie aufgebracht in ein Funkgerät. Vielleicht mit jemandem von der Presse, auf jeden Fall aber mit jemandem vom Festland. Sie gestikuliert dabei und sagt:
„Warum ist Verbindlichkeit vereinnahmend? Wo ist das Problem?
Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich mich mit jemanden unterhalte und über diesen Menschen etwas wissen möchte, wenn der anfängt: ‚Hmm ja…, irgendwie bin ich irgendwas, irgendwo zwischen naja und nicht ganz…‘
Was hat das ’sich-selbst-Kennen‘ und dann in Kommunikation ’sich-selbst-Erklären‘, damit das Gegenüber eine Chance hat zu wissen – anstatt zu spekulieren – wo ich stehe, mit Vereinnahmung zu tun?
Heißt ja nicht, daß Menschen sich dann nicht mehr entwickeln oder verändern dürfen.
Habt ihr Angst, die Leute könnten sich auf eure Aussagen verlassen und ihr könntet es dann im Fall der Fälle nicht mehr so hinbiegen, wie es Euch gerade paßt?“

Ich grinse und denke: „Deutlicher hätten es auch die Oligoamoren selber nicht sagen können…“



“Du bist frei darin, eine Wahl zu treffen – aber Du bist nicht darin frei, die Konsequenzen Deiner Wahl zu verändern.” ¹

Ein Paradoxon?

Nach meinem Verständnis nicht: Es ist die angemessene Selbstzuschreibung, daß unsere Handlungen (oder nicht-Handlungen) jedesmal Weichenstellungen sind, die darum immer Auswirkungen auf den gesamten so gewählten Kurs haben werden.



¹Dieses in verschiedenen Versionen im Internet kursierende Zitat stammt ursprünglich von dem ehemaligen US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson (1899-1994).

Dank geht an Toa Heftiba auf unsplash.com für das Bild, sowie an meine Nesting-Partnerin Kerstin für ihr wunderbares Forumszitat.

Eintrag 6

Die Geschichte von Anday und Tavitih

Zu den beliebtesten Legenden, die sich die Bewohner*innen des entlegenen Eilands der Oligoamory erzählen, gehören die Geschichten um Anday und Tavitih.
Eine der bekanntesten davon ist diese hier:

Anday und Tavitih waren zwei junge Oligoamore, die sich inniglich liebten und bereits eine Weile zusammenlebten.
[Manchmal wird diese Geschichte auch mit drei oder vier schon verbundenen Partner*innen erzählt – aber auch auf dem Eiland der Oligoamory fangen manche Gemeinschaften damit an, daß sich erst einmal zwei Personen zur kleinst möglichen Einheit zusammenfinden – und der Einfachheit halber erzähle ich heute diese Version]
Einmal, an einem Morgen, erwachte Anday und sprach zu Tavitih: „Ich hatte eine sehr unruhige Nacht, ich habe kaum geschlafen an Deiner Seite. Mitten in der Nacht habe ich mich sogar einmal im Dunkeln gefürchtet – denn ich bildete mir im Halbschlaf ein, irgendetwas sei fremd an Dir.“
Tavitih wurde darob sehr nachdenklich, setzte sich langsam zu Anday an den Tisch in der Mitte des Hauses und sprach: „Ich habe gestern Nabiku kennengelernt, als ich auf meiner Wanderung war. Es war ein guter Tag und wir haben auf dem Weg viel miteinander gesprochen. Heute morgen glaube ich, daß ich mich dabei in Nabiku verliebt habe – und Nabiku auch in mich. Ich wollte Dir gestern schon davon erzählen, doch ich war mir selber noch nicht sicher, was genau geschehen war. Ich erkenne, daß ich es Dir doch sofort hätte berichten sollen.“
„Ja“, sagte Anday, „jetzt kann ich das alles gleich viel besser verstehen. Weißt Du – heute Nacht – da war es, als ob eine unbekannte Art Kraft von Dir ausgegangen ist. Wie eine Energie oder eine Aura, die ich so noch nie zuvor bei Dir wahrgenommen hatte. Und in der Nacht war ich unsicher, denn weil mir dieser Einfluß unbekannt war und darum so fremd vorkam, habe ich mich geängstigt.“
„Du hast bestimmt schon die aufwachsende Verbindung, so gering sie auch noch sein mochte, von mir zu Nabiku gespürt“, sprach Tavitih, „so wie auch ich sie verspürte, obwohl selbst ich ihr noch keinen Namen geben konnte. Das zeigt mir, wie eng unsere Verbindung, zwischen Dir, Anday, und mir, Tavitih, ist. Unsere Ahnen würden lächeln – so heißt es doch – weil wir dann wohl bereits unser ‚gemeinsames Wir‘ begründet haben, wenn Du so schnell als ich verspürst, wenn dieses angerührt wird!“
„Es mag wohl so sein, wie Du sagst, Herzens-Tavitih“, sprach Anday. „Doch gestern Nacht wähnte es mir für einen Moment schon mehr als dies. Es war mir in einem Moment, als hättest Du mehr als nur Dich selbst wieder von Deiner Wanderung in unser Haus gebracht…“
„Oh, ja, eben diese neu ersprießende Verbindung…!“ rief Tavitih.
„Nein, mir schien es zu mitternächtlicher Stunde für einen Augenblick, als ob Du einen ganzen Gast mitgebracht hättest, der dann neben mir unser Lager teilte – aber der Moment wich – und weil ich noch nicht verstand, was ich heute morgen von Dir weiß, ängstigte ich mich.“
Auf diese Weise erkannte Tavitih, daß Nabiku bereits im Herzen mit in das gemeinsame Haus zu Anday gekommen war und daß der Seele von Anday dies nicht verborgen geblieben war.
Doch Anday sprach munter: „Laß uns gleich heute Nabiku besuchen und erzähle mir doch von Eurer Wanderung. Und ihr beide sollt auch Eure neue Verbindung erkunden und pflegen und sehen, wohin es Euch und uns führt. Das Fremde ist immer das Neue, das man noch nicht kennt. Und neu mag es wohl sein – doch fremd soll es nicht länger bleiben!“

So begab es sich, daß auch Anday und Nabiku voneinander erfuhren und sich sogleich begegneten. Und Anday erkannte, was Tavitih an Nabiku schätzte, denn Tavitih war Anday wahrlich gut vertraut.
Doch gab es auch Seiten an Nabiku, die Anday weniger verstand – und eine Spur Zweifel berührte Anday, ob Tavitihs Herz wirklich so klar war, wie gedacht…
In den folgenden Nächten schlief Anday dennoch nun wieder ruhiger an Tavitihs Seite, weil Anday jetzt um Nabiku und die neue Verbindung wußte.
Dennoch wich das Fremde nicht so, wie Anday gehofft hatte, denn das Fremde an Nabiku schien trotzdem zu einem Fremden in Tavitih zu geraten. So beobachtet Anday z.B., daß Tavitih nun viel mit Nabiku das Wasserwandern betrieb, etwas was Anday und Tavitih so zuvor noch nie getan hatten. Darum sprach Anday schließlich zu Tavitih:
„Du bist nun oft mit Nabiku wasserwandern. Das haben wir nie getan. Ich weiß natürlich wohl, daß Du gerne in der Natur bist. Wenn Dir der Sinn nach wasserwandern stand, dann hättest Du das doch mir offenbaren können – dann hättest Du mit mir ebenfalls längst wasserwandern können.“
Drauf erwiderte Tavitih: „Ich wußte doch aber, daß Du Dir aus wasserwandern fast gar nichts machst. Es wäre mir darum niemals eingefallen, Dich mit diesem Ansinnen zu bedrängen. Nabiku wasserwandert jedoch viel, so daß mir an der Seite von Nabiku wieder auffiel, daß ja auch ich es eigentlich gerne tue.“
Auf diese Weise erkannte Anday, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.

Und Anday erkannte ebenfalls, daß eine neue Welt auch zunächst stets viel Unbekanntes und daher Fremdes enthalten würde – so daß es Zeit erfordern würde, sich daran zu gewöhnen – oder es gar lieb zu gewinnen.
Als Anday dies Tavitih offenbarte, erkannte Tavitih wiederum, daß mit Nabiku nicht nur eine neue Verbindung, ja nicht nur eine neue Person, sondern eine ganze neue Welt in ihr Haus gekommen war.
Und Anday und Tavitih erkannten beide, warum die älteren Oligoamoren niemals leichtfertig von jenem „gemeinsamen Wir“ sprachen, bei dem aus „Meinem“, „Deinem“, „Seinem“ und „Ihrem“ ein „Unseres“ entstehen konnte.

Die Geschichte von Anday, Tavitih und Nabiku jedoch geriet glücklich, eben weil alle drei auf diese Weise miteinander lernten, was es bedeutete, verbunden zu sein trotz Unterschiedlichkeit.
Und daß, als die Unterschiede von Nabiku in die Verbindung von Anday und Tavitih eintraten, ein neues „gemeinsames Wir“ erwuchs, was anders war als jenes, was zuvor nur zwischen Anday und Tavitih bestanden hatte.

Nun – wie es in Legenden so kommt – begab es sich einige Zeit später, daß wiederum Anday sich leidenschaftlich in Mowin verliebte.
Gleich in der Woche darauf berührte dies nun Tavitih, zitternd auffahrend auf dem gemeinsamen Schlaflager mit Nabiku in dieser Nacht. Als Nabiku erschrocken fragte, was der Grund sei, sprach Tavitih:
„Ich schlief friedlich an Deiner Seite, als mich im Dunkeln ein Geräusch zu wecken schien. Ich wandte mich im Halbschlaf zu Dir um – doch da warst nicht mehr Du. Ganz deutlich lag Mowin direkt an meiner Seite und schaute mich mit weit offenen Augen an!“
Nabiku versuchte Tavitih zu beruhigen und erzählte darum, wie es doch einst Anday damals fast ebenso ergangen war. Im Inneren war Nabiku trotzdem etwas beunruhigt, da es für Nabiku noch keine tiefere Verbindung zu Mowin gab, wiewohl Mowin Teil des Dorfes war. Hatte also Anday Mowin schon so präsent in das gemeinsame Haus gebracht?
Tavitih fuhr fort, schlecht zu schlafen und schlechter Schlaf macht bekanntlich reizbar, so daß es nach ein paar Tagen wegen einer unwichtigen Kleinigkeit zu einem Streit zwischen Anday und Tavitih kam. Doch selbst das Streiten mit Anday, was sonst oft zu allseitiger Klarheit führte, schien Tavitih heute nicht recht zu beherrschen, so sehr machte „die neue Welt“ des Mowin zu schaffen. Darum brach es schließlich aus Tavitih hervor:
„Es kommt mir vor, Anday, als ob ich nicht mit Dir sondern mit Mowin streiten würde! Mowin ist stets so reizbar und empfindlich wie Du heute und obendrein dominant. Und wie Mowin verdrehst Du neuerdings alle meine Argumente und tust intellektuell!“
Weil aber Anday und Tavitih wahrhaftig miteinander lang vertraut waren, gelang es ihnen dennoch, diesen Streit am Ende beizulegen – doch für Tavitih wollte das Fremde einfach nicht weichen. Als Nabiku am nächsten Tag Tavitih die Haare bürstet, fuhr Tavitih irritiert herum und rief: „So habe ich Mowin Haare bürsten sehen: Selbstgefällig und ohne Gefühl. Wie kannst Du, Nabiku, es in solcher Art Mowin nachmachen?“

Nabiku und Anday waren ob dieser Ereignisse sehr erschrocken und wandten sich alsbald an einen weisen alten Oligoamoren, ob er nicht einmal mit Tavitih sprechen könne, insbesondere um des „gemeinsamen Wir“ halber, welches in Gefahr zu geraten schien.
Der oligoamore Älteste kam diesem Wunsch auch nach und lud am darauffolgenden Abend Tavitih an das Feuer der Geschichten in der Mitte des Dorfes ein – und fragte direkt nach Mowin.
Aus Tavitih brach es sofort hervor: „Allgegenwärtig scheint mir Mowin zu sein! Mowin ist stolz und selbstherrlich – und das scheint Anday auch noch anzuziehen… Ja, es wähnt mir, daß dies auch in Anday nun plötzlich ebenso eingepflanzt ist – und selbst in Nabiku scheint es schon zu keimen! Ich schätze dies alles nicht an Mowin und auch in Anday und Nabiku kann ich es nicht leiden!“
Da erinnerte der oligoamore Älteste Tavitih daran, daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.
Und er erinnerte daran, daß Tavitih nun in Anday und in Nabiku Dinge deutlicher sehen würde, die vielleicht schon immer in diesen beiden gewesen waren, nun aber durch die Gegenwart von Mowin deutlicher hervorscheinen würden. „Erinnerst Du Dich an Dein Wasserwandern?“ schloß der Alte.
Tavitih schwieg lange – und schien zu verstehen. Doch dann verdunkelte sich Tavitihs Gesicht wieder: „Mowin ist für mich ein Heuchler und ich kann mir mit Mowin kein „gemeinsames Wir“ vorstellen. Ich kann Mowin absolut nicht vertrauen!“
Der alte Oligoamore sah Tavitih an und sagte daraufhin: „Ich spreche zu Dir nicht von absolutem oder blindem Vertrauen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen absolutem Vertrauen und der Annahme, daß andere nicht vertrauenswürdig sind. Du mußt Mowin nicht lieben und vielleicht auch Mowin in Anday nicht unbedingt lieben. Aber überlege, ob Du Mowin dort nicht trotzdem zumindest erst einmal akzeptieren kannst.“

Die Geschichte von Anday und Tavitih, die dadurch ja nun auch die Geschichte von Nabiku und Mowin geworden ist, wird von den Oligoamoren von diesem Punkt an verschieden weitererzählt.
In manchen Versionen wird Mowin nicht Teil der Beziehung, in anderen Versionen trennen sich am Ende sogar Anday und Tavitih. Und in manchen Versionen leben alle zusammen glücklich bis an ihr Lebensende.

Dennoch enthalten alle Versionen die gleiche Moral: Nämlich, was für eine starke Kraft die Anderen in uns sind. Und wie bedeutend es für eine oligoamore Beziehung ist, die unabweisbare Präsenz der Beteiligten in den jeweils anderen Menschen anzuerkennen.
Daß es wichtig ist zu verstehen, daß man selber die anderen Beteiligten auch immer in sich selber trägt, sobald sich irgendeine liebende Beziehung zu entwickeln beginnt.
Und daß es es ein wunderbares Ziel wäre, die Anderen in den Anderen zu respektieren und dort mitzulieben.
Aber daß es zum gemeinsamen Gelingen zumindest wichtig ist, die anderen Lieben in den Anderen zu akzeptieren, um sie weiter als ganze Menschen wahrzunehmen und als solche wertzuschätzen.



Dank geht an Anaïs Nin für das Weltenzitat aus ihren Tagebüchern 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?“ ,
an Tanner Larson für sein Lagerfeuerbild auf unsplash.com,
und an Sandra Fels, ohne die diese Geschichte nur eine Idee geblieben wäre.


Eintrag 5

Von Angehörigen und Zugehörigen

Eine der interessantesten Überlieferungen über die geheimnisvollen Oligoamoren, die mich maßgeblich zu der Überfahrt auf das entlegene Eiland motiviert hatte, war, daß diese dort in ihrer Abgeschiedenheit nicht in klassischen Familien zusammenleben würden, sondern in Gruppen, welche sie „Zugehörigen-Gemeinschaften“ nannten.
Historisch ergab dies für mich auf jeden Fall einen Sinn, denn das Eiland der Oligoamory wurde erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts besiedelt, als die zunehmende Industrialisierung und die damit einhergehende Arbeitsmigration in die Städte die Funktionen, die einstmals die klassische ländliche Großfamilie für die Menschen übernommen hatte, aufzulösen begann.
Ich möchte dies hier aber nicht zu einem geschichtlichen Auszug gestalten, werde aber auf einige Auswirkungen des Prozesses, der zu der damaliger Zeit einsetzte, zurückkommen.

Ich selber, der ja bekennend aus der „Alten Welt der Mono-Amory“ stamme, wuchs dort nämlich mit Sinnsprüchen auf, die scheinbar das alte Ideal der Familie als allzeitiger Beistands-Gemeinschaft, begründet durch biologische Verwandtschaft, nach wie vor hochhielten. Am bekanntesten im deutschsprachigen Raum wird dabei die Maxime
„Blut ist dicker als Wasser“
sein, der auch durch ihre wiederkehrende mediale Präsenz in Radio, Fernsehen sowie Internet noch ein langes Leben beschert sein wird. In den bürgerlichen Kreisen, in denen ich mich bewegte, wurden die Betroffenen darüber hinaus – durchaus auch bei festlichen Gelegenheiten – auf die Sinnhaftigkeit des Angehörigen-Modells mit der stets leidenschaftlich vorgetragenen Formel
„Freundschaft ist ein schönes »Kann«, Familie ein schönes »Muß«!“
eingeschworen. In diesem Sinne wird vermutlich jedem von uns „Altweltlern“ noch irgendein Leitsatz einfallen, in welchem der Wert der leiblichen Familie betont oder gar über alles andere gestellt wurde…

Manche meiner Leser*innen werden nun eventuell unruhig und denken: „Jetzt zieht der Oligotropos gegen die Familie los… – da wird er wohl schlechte Erfahrungen gemacht haben. Das gilt aber nicht überall so!“
Und darauf möchte ich auch sogleich einlenken und sagen, daß ich großartige Familien kenne, in denen mehrere Generationen, in Liebe und gegenseitiger Unterstützung verbunden, sich gegenseitig fördern, umsorgen und gleichzeitig als Individuen wertschätzen.
Genau dies sind hingegen gleichzeitig auch fast immer jene Familien, die keinen der obigen Glaubenssätze hervorheben müssen, um ihre inneren Dynamiken festzuschreiben.
Ich pointiere dazu mal etwas überspitzt: Wenn Großvater beim Familiengrillfest dem Enkel und seiner Verlobten 500€ für deren geplanten Carport zusteckt, dann mag dem vielleicht ein nicht gänzlich gelungener Ausdruck von „Ich liebe Euch – und ich möchte Euch unterstützen…“ zugrunde liegen. Wenn aber Enkel und Verlobte zu dem Grillfest fahren, nur „… weil es da vermutlich 500€ von Opa gibt…“ – oder vorher gar der Enkel mit seiner Verlobten streiten, ob man denn nun unbedingt zu dem gräßlichen Grillfest fahren müßte – aber wenn man es nicht täte „…gäbe es ja von Opa nie wieder irgendeine Zuwendung…“ – dann brauchen in letzterem Beispiel längst kein Blut oder Wasser mehr zitiert zu werden: Denn die „verwandtschaftliche (Liebes)Beziehung“ ist längst einer „Geschäftsbeziehung“ gewichen. Und zum anhaltenden Funktionieren müssen „Geschäftsbeziehungen“ beschworen und eingefordert werden – Liebesbeziehungen, indessen, beruhen auf gänzlich anderen Banden.

Warum wird die leibliche Familie dennoch bis heute mit so überaus markanten Begriffen wie „Blut“ und einer Menge Superlativen anhaltend bekräftigt?
Weil es noch nicht so lange her ist, daß vor allem die Familie als Not- und Schutzgemeinschaft dienen mußte. Insbesondere von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dies in Deutschland der Fall, speziell in den Zeiten des postapokalyptischen Zusammenbruchs jedweder staatlichen Unterstützung und Ordnung nach den großen Weltkriegen. Damals wurden Familien und Verwandtschaften zu solchen Notgemeinschaften, zu denen sich Menschen immer unter Lebensbedrohung zusammenschließen. Darum gibt es solche Erscheinungen in allen Kriegs- und Krisengebieten, in Bunkern, Schützengräben, nach Terrorakten oder Naturkatastrophen. Dabei kommt auch die grandiose Seite der Menschheit zum Tragen wie z.B. spontane Solidarität oder sogar selbstlosem Verhalten bis hin zur Aufopferung.
Wie aber z.B. Scott Peck in seinem Buch zur Gemeinschaftsbildung „A Different Drum“ schreibt: Notgemeinschaften lösen sich allmählich wieder auf, sind nicht von Dauer, wenn die äußere Bedrohung als gemeinschaftsstiftender Auslöser irgendwann weicht.
Persönlich empfinde ich das übrigens als ein sehr hoffnungsvolles Zeichen für die Menschheit: Denn sonst müssten wir doch immer auf ein Gefühl von Bedrohung und Abgrenzung setzen, um zu Gemeinschaftlichkeit bzw. Beziehungsfähigkeit anzuregen. Aber das ist offenbar nicht der Kitt, der uns dauerhaft zueinander bringt.
Und darum wünsche ich mir, daß wir damit aufhören, unsere Geburtsfamilien als ebensolche Orte zu betrachten, an die wir aus buchstäblicher Not-Wendigkeit unumstößlich gebunden sind.

Die Realität des 21. Jahrhunderts hat unterdessen eh das Ihrige beigetragen, um rein biologische Bindungen zu relativieren: Nur äußerst selten leben die Generationen noch zusammen, oftmals trennen uns sogar viele Kilometer. Manchmal hat die Beteiligten Neigung zu der Wahl ihres (auseinanderliegenden) Wohnorts bewegt, doch häufiger ist es nach wie vor die monetäre Grundsicherung unseres Lebens durch Erwerbsarbeit, die uns dazu antreibt. Diese Erwerbsarbeit hat vor allem seit der Wende zum 21. Jahrhundert nochmals zusätzliche Anforderungen an unsere Flexibilität gestellt, so daß wir meist mehr Zeit außerhalb als innerhalb unserer eigenen vier Wände verbringen, daß wir den Einsatzort gelegentlich wechseln müssen und daß wir manchmal schon stärker in berufsständischen Netzwerken denken und interagieren als in unseren sozialen Umgebungen. Auch dies hat vielerlei Ursachen, die ich hier nicht näher beleuchten möchte, nicht alle sind zwangsläufig, doch haben diese Ursachen Wirkung auf einige unserer elementarsten menschlichen Bedürfnisse.

Mit deren Grundlagen haben sich parallel zu den Krisen des 20. Jahrhunderts vor allem die Psychologen Carl Rogers, Abraham Maslow und auch Marshall Rosenberg beschäftigt. Und dahingestellt, ob man ihren gefundenen Parametern nun eine Hierarchie zuordnet oder nicht, so identifizierten sie alle unser essentielles Bedürfniss nach Gemeinschaft, Verbundenheit und Nähe, insbesondere hinsichtlich Geborgenheit, Fürsorge, Wertschätzung und Interesse (an uns von den Anderen), Autonomieerleben und Mitbestimmung, Austausch und Anregung (durch Andere), dem Zeigendürfen von Gefühlen, sowie Vertrauen, Stabilität und einem emotionalen Zuhause.
Ihre Forschungen begannen abzuzeichnen, daß unsere unterdessen eingeschlagene Lebensweise von zunehmendem Individualismus und starker Vereinzelung diese Ziele kaum noch in einem ausreichenden Maß gewährleisten kann, so daß sogar unsere psychische wie körperliche Gesundheit in Gefahr gerät. Darüber hinaus mehrten sich die Belege dafür, daß das sich immer weiter etablierende Kleinfamilienmodell alleine genau genommen nicht mehr in der Lage ist, die Erfüllung dieses ganze Bedürfnisbündels für seine Beteiligten sicherzustellen.
Und bis in die Gegenwart bestätigt die Forschung, die auf den Ergebnissen dieser Wissenschaftler aufbaut, daß Menschen, um Gemeinschaft und Verbundenheit, die über reine Zielerreichung hinausgeht, zu erleben, der Wahrnehmung dieser verschiedenen Gefühlskomponenten zu ihrer seelischen Ausgeglichenheit und Zufriedenheit bedürfen.
Diese Bedürfnisse sind selbstverständlich speziell für die gesunde Entwicklung von Kindern grundlegend, doch betreffen sie unabhängig davon Jede und Jeden von uns – unabhängig vom Alter, unser ganzes Leben lang und zwar, wie oben gesagt, essentiell: wesentlich; zum unserem Wesen gehörig, lebensnotwendig

Dies dargestellt, erscheint mir nachvollziehbar, warum „Blutsverwandschaft“ bzw. bloßer Angehörigenstatus kein erklärendes Alleinstellungsmerkmal hinsichtlich dieser Bedürfniserfüllung sein kann. Wie sollen meine 300km entfernt wohnenden Eltern täglich dazu sinnvoll beitragen? Wie jemals eine Cousine, mit der ich seit 15 Jahren kein Wort mehr gewechselt habe und die nicht einmal genau weiß, wo ich wohne? Und wenn ich mich schon vor dem Zusammentreffen mit Großvater auf seinem Grillfest grusele, dann wird er wohl kaum in der Lage sein, zu meinem Wohlbefinden beizutragen. Dafür muß nicht einmal unbedingt Großvater ursächlich sein: Denn ich selbst entscheide und wähle doch letztendlich aus, wer zu dem Kreis der Menschen gehört, die wirklich Bedeutung für mich haben.

Wenn diese „Bedeutung“ nun nicht nur monetärer oder zweckdienlicher Natur ist (eine „Beziehung“ habe ich schließlich auch zu meinem persönlichen Versicherungsagenten…), sondern mit dieser berühmten metaphysischen Komponente „Liebe“ versehen ist, geschieht das, was ich in der Oligoamory mit der „Wahl meiner Zugehörigen“ beschreibe: Also jene Menschen, die aus meiner Sicht zu mir gehören. Und denen wiederum ich mich zugehörig fühle.
Es ist der Moment, in dem sich das ausbildet, was manchmal als „Wahlfamilie“, „Soultribe“ oder „Seelenverwandte“ bezeichnet wird. Diese „Zugehörigen“ sind also Menschen, die für einander wechselseitig Bedeutung haben, wichtige, besondere Rollen im Leben spielen, die aneinander Anteil nehmen. Und – das möchte ich für die Oligoamory betonen – dieser Anteil ist sehr hoch und versucht, den ganzen Menschen einzuschließen, mit all seinen Stärken, Schwächen, Begabungen und Macken.
Diese Anteile sind es am Ende auch, die zusammen das auf meiner Startseite und Eintrag 4 beschriebene wohlwollende „gemeinsame Wir“ ausmachen, wenn aus „Deines“, „Meines“, „Ihrem“ und „Seinem“ ein „Unseres“ entsteht.
Über die dafür erforderliche Zeit, günstige Nähe und Intensität habe ich ja bereits ein bisschen geschrieben – und werde das auch regelmäßig wieder tun

Genau wegen obiger „metaphysischer Komponente“ wünsche ich aber ebenso ganz besonders, daß all meine „Zugehörigen“ sich mit mir auch stets in einem oligoamoren Kontext befinden:
Denn wenn ich gut drauf und brillant bin, könnte es eventuell leicht sein, mit mir gut zu stehen und vermutlich bin ich auch zu diesen Zeiten überwiegend eine Bereicherung. Doch selbst in einer Durchschnittswoche treibe ich mich schon mit Taten und Gedankenspielen um (über Oligoamory z.B.), bei denen vielleicht nicht immer Jedermensch begeistert sein muß…
Wem aber kann ich mich erst an den Tagen anvertrauen oder gar zumuten, an denen selbst das nicht mal der Fall ist? Ich werde nicht immer attraktiv, eloquent und gesund sein. Vermutlich werden Zeiten kommen, an denen ich in vielerlei Hinsicht hilfebedürftig oder anderweitig unerquicklich bin.
Hoffentlich habe ich bis zu spätestens diesem Zeitpunkt die Menschen um mich versammelt, die mich auch in den vielzitierten „schlechten Zeiten“ er-tragen können, weil wir vorher verbindlich einen nachhaltigen Schatz zueinander bei-getragen haben, der uns auch noch nährt, wenn es mal nicht so gut läuft.

Ich als Autor wünsche mir, daß es mir bis hierher gelungen ist abzubilden, warum durchaus auch „biologische Familien“ die Kriterien für solche „Zugehörigen-Gemeinschaften“ erfüllen können. Bzw., daß selbstverständlich auch für einander in Liebe zugetane Familienmitglieder Platz im „Zugehörigen-Modell“ ist.
Aber eben auch für jede beliebige andere Form inniger, emotionaler Verbindung, die wechselseitig in Liebe begründet ist und Anteilname in Form von (intimer) Nähe und Alltag einschließt (Und dies ist für mich übrigens der beziehungsanarchistische Erbteil meiner Auffassung der Oligoamory).

Interessant finde ich für „Zugehörigen-Modelle“ folgende beiden eher nonkonformen „Börsen“ (die zeigen, daß dies nicht rein theoretische Überlegungen sind):

Wahlverwandtschaften e.V. mit der regelrecht oligoamoren Selbstbeschreibung:
Wahlfamilie ist…
– Interesse zeigen
– Zuhören
– Verbindlich
– Langfristig ausgelegt
– Der Wille, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen
– Menschenfreundlichkeit: Toleranz & Vertrauen
– Plural
– Solidarität: Geben & Nehmen

sowie

Bring-toghether.de mit Webpräsens, App und Newsletter

► Obwohl ich persönlich dem Konzept des Co-Housings aus oligoamorer Sicht nicht gänzlich zugetan bin: Einerseits mache ich mir Sorgen, ob bloßes „gemeinschaftliches Wohnen“ nicht doch mittelfristig zur einer möglichen Verzweckung statt zu einem liebevollen „den-ganzen-Menschen-Meinen“ führt.
Und mich erschreckt andererseits die darüber noch hinausgehende Konzeption von ganzen Tiny-House-Siedlungen, die in meinem Herzen den Gesamtsinn vollkommen verdrehen, weil dort eine regelrechte Kolonie von neuzeitlichen Klausnerinnen und Klausnern erzeugt wird, die ihre Mitmenschen bestenfalls für kurze Zeit oder in ausgewählten Dosen (z.B. im Gemeinschaftshaus) ertragen können, bevor sie wieder in ihre selbstgewählte Ego-Isolation zurückkehren.

Last but not least, Familien(an)sprüche reloaded – und solange es noch gesagt werden muß:

Der deutsche Kulturphilosoph, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Friedrich von Schlegel (1772 – 1829) schrieb:
„Nur um eine liebende Frau herum kann sich eine Familie bilden.“
Dieser – zu meinem Leidwesen von einem Romantiker verfaßte – Satz trug über mehrere hundert Jahre zu einem Mythos bei, der bis in die Gegenwart gelegentlich noch kolportiert wird.
Demnach scheint es in einem erwachsenen Menschen irgendeinen Schalter zu geben, der prädisponieren soll, zu welcher Art Aufgabe bezeichneter Mensch besonders „geeignet“ wäre.
Dieser Mythos hat über oben erwähnte Jahrhunderte bis in oben erwähnte Gegenwart dazu geführt, daß nicht nur der Bereich „Familie“ mit seinem Aufgabenkreis von Haushalt, Erziehung, Fürsorge sowie Kinder-, Kranken- und Altenpflege dem weiblichen Geschlecht angedichtet wurde, sondern auch, daß dieser Bereich mit der „metaphysischen Komponente Liebe“ solcherart verknüpft wurde, daß sämtliche diesem Handlungskreis untergeordneten Tätigkeiten fürderhin selbstverständlich aus „aufopferungsvoller Liebe“ zu leisten waren – mithin freiwillig und unentgeltlich, versteht sich.
Ich, Oligotropos, sage hier, daß dieser Mythos der Oligoamory mit ihrem Schwerpunkt auf Bedürfnisgerechtigkeit in jeder Hinsicht widerspricht. Nicht nur, daß es in keinem Menschen, egal welcher Rasse, welchen Geschlechts, welcher Identität oder welchen Genders irgendeinen „Schalter“ gibt, der sie, es oder ihn zu irgendetwas „prädisponiert“. Niemand kommt als formvollendetes Elternteil, Erzieher*in, Lehrer*in, Sozialarbeiter*in, Küchentischpsycholog*in, Krankenpfleger*in oder Altenpfleger*in zur Welt. Niemand reißt sich automatisch um solche Aufgaben, weil es angeblich ihrem oder seinem „Naturell entspricht“, noch nicht einmal, wenn so eine Aufgabe als unabwendbare Tatsache bereits im Raum steht.
Liebe mag eine Grundlage sein. Aber sie ist keine Qualifikation und erst recht keine implizite „Berufung“.
Wenn wir uns wünschen, daß solche Aufgaben wahrhaftig aus „Berufung“ ausgeführt werden, dann müssen wir die Wahl dafür vollständig freigeben, wer sich dazu berufen fühlt. Und diese Personen müssen angemessen anerkannt und belohnt werden. Nicht mit einer romantischen Widmung, nicht mit einer gesellschaftlichen Geste, sondern so konkret, wie jede andere Berufung auch.
Das wäre verbindlich, angemessen und liebevoll.



Danke an rawpixel auf unsplash.com für die Bilder,
Gabriele Hartmann von Wahlverwandschaften e.V.
und Christoph Wieseke von Bring-together.de