Eintrag 64

Bedeutsame Beziehungen (Teil 3)

»Die Natur unserer unsterblichen Existenz liegt in den Konsequenzen unserer Worte und Taten.
Unsere Leben gehören nicht uns. Von der Wiege bis zur Bahre sind wir verbunden mit anderen, in Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft.«

aus der „Offenbarung der Sonmi“; David Mitchell, Der Wolkenatlas (2004)

Mit dem dritten Teil dieser Reihe möchte ich einen weiteren zentralen Schlußstein in das Gewölbe oligoamorer Denkweise einfügen.
In den vorangegangenen Teilen 1 und 2 habe ich auf das mir sehr wichtige Thema der „Kategorienlosigkeit des Personenkreises in bedeutsamen Beziehungen“ hingearbeitet, mit dem ich darauf hinauswill, daß – insbesondere wenn unsere vertrauensvollsten und intimsten Beziehungen betroffen sind – wir uns keinen vorgegebenen Rahmen mehr unterwerfen sollten, was deren Ausprägung und deren Ausmaß an möglicher Interaktion angeht.
Auf diese Weise könnten wir für uns die Freiheit des Erlebens unserer Nahbeziehungen in all ihren Nuancen, Facetten und Schattierungen zurückgewinnen – und ebenso hätten wir dadurch die Chance, uns von den Grenzen eines Diktats sozialer Normierung zu lösen, die uns in unserer Gedankenfreiheit, Phantasie und Kreativität, sowohl des Liebens als auch in der konkreten Beziehungsgestaltung selbst, eventuell einschränken.

Wer diesen letzten Satz gelesen hat, könnte nun überrascht ob seines vermeintlich „radikalen“ Charakters sein und mich fragen, ob dies denn nicht am Ende doch genau der Aufruf zur „totalen Befreitheit“ in Liebes- und Beziehungsdingen sei, den ich selbst so oft als recht egoistisch-impulsive Proklamation uneingeschränkter persönlicher Freiheit in Mehrfachbeziehung seit Beginn meines bLogprojektes kritisiert habe…
Nein – ich glaube ganz und gar nicht.
Meine Antwort darauf lautet: Wenn die Kategorie (einer Beziehung) nicht mehr maßgeblich ist, so gewinnt die Qualität der jeweiligen Verbindung automatisch erheblich an Bedeutung.
Die Autoren des Polyamorie-Ratgebers „More Than Two¹“, Franklin Veaux und Eve Rickert, schrieben genau zu diesem Thema im Schlußwort ihres Buches:

»Es ist wichtig und sinnvoll, immer wieder auf die Wurzel der Polyamorie zurückzukommen: Liebe.
Wir haben Beziehungen, weil wir als menschliche Wesen dazu veranlagt sind zu lieben. Und ohne Liebe als Kern unserer Beziehungen und als das Prinzip, auf dem wir bei allem, was wir in diesen Beziehungen tun, zurückzukommen, werden uns die anderen Prinzipien – so unverzichtbar sie auch sind – nicht weiterbringen. Die Liebe ist die große Klärungsfinderin der Werte. Ohne sie wird jeder Rahmen, den wir schaffen, hohl und letztlich leblos bleiben.
«

Mit dieser in meinen Augen ganz hervorragenden Beschreibung bestärkt mich dieses Autorenpaar gleichsam in meiner oligoamoren Gewissheit, daß nämlich genau dadurch die Symbiose von Freiheit und Verbindlichkeit in menschlichen Beziehungen kein misslicher Gegensatz, sondern – im Gegenteil – zutiefster „Kernbestandteil“ ist (siehe auch bereits Eintrag 7).
Und wenn wir die Liebe als unsere „Klärungsfinderin der Werte“ akzeptieren, dann akzeptieren wir damit zugleich auch die (höchst oligoamoren) Qualitäten von Ganzheitlichkeit und Integrativität – und wir umarmen dadurch ebenfalls die „Goldene Regel“ – sowohl im gandhischen Sinne „Du und ich wir sind eins – ich kann Dir nicht wehtun ohne mich zu verletzen.“ wie auch als buchstäbliche Maxime „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.

Die Grundlagen dieses Zusammenhangs hat für mich zuallererst der englische Philosoph, Schriftsteller und Aufklärer Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury, (1671-1713) ausführlich dargestellt.
Shaftesbury schrieb, daß uns die Ordnung der Natur zwar nur bruchstückhaft bekannt sei [was jeder Quanten- oder Astrophysiker auch heute sicher noch gerne bestätigen wird], doch daß z.B. die körperliche Gestaltung und Funktion von Lebewesen stets einen gemeinsamen Zweck, ein Ziel, erkennen lassen würden. Jedes von ihnen verfüge über eine natürliche Ausstattung, die seinem individuellen Wohlergehen, dem „privaten Guten“ dienen solle. Dieses sei definiert als das, was mit der natürlichen Bestimmung des Lebewesens in Einklang stünde. Die Triebe, Leidenschaften und Gemütsbewegungen zielten darauf, einen für das Individuum optimalen Zustand zu erreichen und zu bewahren.²

Gut 200 Jahre später erhielt Shaftesburys scharfsinnige Überlegung übrigens faszinierende Unterstützung, ausgerechnet durch die aufblühende Wissenschaft der Psychologie.
Dort hatten nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die beiden Freud-Schüler Carl Gustav Jung mit seiner analytischen Psychologie und Alfred Adler mit seiner Individualpsychologie die allzu kausalen Ideen ihres Lehrvaters verworfen und waren ihrerseits vielmehr zu der Auffassung gelangt, daß ein Lebewesen immer als „Individuum“ betrachtet werden müßte, welches z.B. gemäß Adler zur Überwindung seiner Verletzlichkeit am Lebensanfang stets durch fortgesetzte Bemühung nach seinem „optimalen Zustand (Shaftesbury!)“ als Ziel streben würde. Jung und Adler stimmten weiterhin überein, daß jedes Lebewesen genau dadurch in-dividuus (aus dem Lateinischen: un-teilbar!) in seiner Entwicklung betrachtet werden müßte, ein lebenslanger Prozeß, den C.G. Jung sogar „Individuation“ (sinngemäß: „Unauftrennbarkeit“/„Ganzwerdung“) nannte.
Sehr gut ist hier zu erkennen, daß die Psychologie damit also einen holistischen, sprich ganzheitlichen (siehe Eintrag 57), Ansatz zugrunde legte, der ein Lebewesen und dessen Dasein als „mehr als bloß die Summe seiner (Erlebens)Teile“ beschreiben will.

Auch der Philosoph Shaftesbury hatte das zugrundeliegende Prinzip des Holismus bereits seinerzeit erkannt, denn er folgerte, daß doch jedes Lebewesen zugleich auch immer mit dem Wohl und Fortbestand der Gattung verknüpft sei. Daher sei das einzelne Wesen als „privates System“ stets ebenfalls in „umfassendere Systeme“ eingefügt [ein geradezu „ökologischer“ Gedanke!]: In das System seiner Art, in die Gesamtheit der Pflanzen- bzw. Tierwelt [also in die Gesamtbiodiversität!], in das System der Erde [Stichwort Gaiahypothese“], das Sonnensystem und schließlich das System des Universums. Alle Systeme würden schließlich zusammen den Aufbau des Kosmos bilden, und jedes von ihnen sei durch seinen Bezug zum Ganzen bestimmt. Die Systeme würden einander stützen, somit zueinander und zugleich zur Gesamtheit in einem Verhältnis des Zusammenwirkens stehen.
Für Shaftesbury erwies sich so, daß hierin die einzelnen Systeme immer dem Ganzen zugute kommen könnten, wie sich auch für ihn dadurch gleichzeitig zeigte, daß ein ausgeprägter Einklang des individuell Förderlichen mit dem allgemein Förderlichen bestand.

Shaftesbury Auffassung enthält auf diese Weise für mich exakt die Anregung zur Beherzigung der „Goldenen Regel“ in jeder Art von Beziehung, sowie die Aufforderung, alle unsere Beziehungen genau deswegen in-dividuell (also ganzheitlich und NICHT kompartmentalisiert-aufgespalten) anzugehen.
Die Herangehensweise Shaftesburys wollte und will zeigen, daß das Ziel jedes Menschen das Gelingen seines*ihres Lebens als freies Individuum, mitwirkend eingebettet in ihre*seine Gemeinschaft sein sollte [verbunden und zugleich frei!].
Zur Voraussetzung forderte schon Shaftesbury: Als Gemeinschaftswesen kann der Mensch die Autonomie, zu der er veranlagt ist, nur dann ungestört verwirklichen, wenn die (übergeordneten) Systeme, denen er angehört, ebenfalls frei sind und damit ein freier Austausch möglich ist.

Ich glaube, daß ich sogar bei dem großen Gemeinschaftsforscher Scott Peck selbst keine treffendere Befürwortung hinsichtlich dieser Art von Dynamik in selbstgewählten Beziehungen gelesen habe:
Ausgangspunkt ist stets das Individuum, welches dadurch, daß es (quasi „von Natur aus“ bzw. seiner kooperativ-zielgerichteten Veranlagung her) eine Vorstellung von dem, was förderlich ist, in sich trägt, darum um mehr als nur um das eigene Wohl besorgt ist – wodurch es wiederum in der Lage ist, das Wohlergehen (s)eines ganzen Systems ins Auge fassen zu können UND dabei sein eigenes Gedeihen als Teil davon zu erkennen.

In diesem letzten Satz vereinen sich für mich die Bedürfnisüberlegungen von Abraham Maslow, Carl Rogers und Marshall Rosenberg mit der wechselbezüglichen Intimitätsdefinition (siehe unten Fußnote³) durch S. Cohen, L. Underwood und B. Gottlieb.
Die „Kategorienlosigkeit“, wie ich sie mir wünsche, ist also durchaus kein egozentrischer „Totalbefreiungsschlag“ als Schnellschuß gegen lästig empfundene Einschränkungen durch unsere Mitmenschen.
Kategorienlosigkeit in unseren bedeutsamen Beziehungen benötigt aus meiner Sicht vielmehr ermächtigte Individuen, die zu bewußten Willensentscheidungen in der Lage sind und zugleich bereit sind, die Verantwortung, die sie damit für ihr schöpferisches Potential haben, auch anzunehmen.

Der Neurobiologe und Autor Gerald Hüther schrieb 2011 in seinem Buch „Wer wir sind und was wir sein könnten“, daß »…Erwachsensein eine gewisse Lust auf die Übernahme von Verantwortung bedeuten würde…«, ebenso wie folgendes Zitat (erstmals Eintrag 4):
»Es gibt keine Freiheit ohne Verbundenheit. Aber Verbundenheit ist nicht Abhängigkeit. Wir Menschen sind in der Lage, unsere Beziehungen so zu gestalten, dass wir uns verbunden fühlen, ohne abhängig zu sein. Aber dazu müssten wir uns um die anderen kümmern oder zumindest bereit sein, all das, was wir haben, mit ihnen zu teilen. Unsere Nahrung, unseren Lebensraum, unsere Aufmerksamkeit, unsere Kraft, unser Wissen, unser Können, unsere Erfahrung.«

Damit unser menschlicher Hang zu innerem Schweinehund und Schadensvermeidung in diesen Dingen aber nicht sehr schnell vor allem zu Lebensvermeidung führt, bleibt uns nicht anderes übrig, als weiterhin immer wieder unser Bestes zu geben, wenn es darum geht, unseren Befürchtungen mit Zuversicht zuvorzukommen, unserem Wunsch nach Kontrolle mit gelegentlich sehr beherztem Vertrauen zu begegnen und unseren Tendenzen zu Ab- und Aufspaltung im Kleinen wie im Großen die integrative „Warum-denn-nicht?-Frage“ (Eintrag 33) entgegenzustellen.

Am Ende möchte ich daher hier noch einmal F. Veaux und E. Rickert aus „More Than Two“ zu Wort kommen lassen, die das, was sie dort über Liebesverbindungen schrieben, im shaftesburyschen Sinne gleichermaßen über Selbsterkenntnis und fast alle zwischenmenschlichen Beziehungen, sowie unser Verhältnis zur Umwelt insgesamt bzw. unsere Verantwortung für uns selbst und für unsere Erde hätten sagen können:

»Während wir nachforschten und die Geschichten von Menschen sammelten, beeindruckte uns, wie oft es den Anschein hatte, dass die Menschen, die in der Lage waren, ihren Weg durch Situationen zu navigieren, die andere am Boden zerstört hätten, dies taten, indem sie schlicht beeindruckend waren: Sie verrichteten harte Arbeit, sie kümmerten sich um einander, sie gaben nicht auf, sie setzten sich mit ihren übermächtigen Emotionen auseinander. Sie respektierten die Handlungsfreiheit ihrer Liebsten, auch wenn sie Angst hatten, das zu verlieren, was sie am meisten schätzten. Sie stellten sich ihren eigenen tiefsten Ängsten um ihrer selbst und der Menschen willen, die ihnen wichtig waren.¹«



¹ Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

² zitiert nach Angelica Baum: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 167–181; Friedrich A. Uehlein: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury. Lehre. In: Helmut Holzhey, Vilem Mudroch (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 1, Basel 2004, S. 62–84, hier: 63; Stanley Grean: Self-Interest and Public Interest in Shaftesbury’s Philosophy. In: Journal of the History of Philosophy. Band 2, 1964, S. 37–45, hier: 41 f.

³ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb: „Social support measurement and intervention“ – A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000 (erstmals zitiert von mir in Eintrag 14):
»Intimität/Vertrautheit bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, dass man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich ihrerseits der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person die man ist annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, dass man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.
«

Danke an Dallas Reedy auf Unsplash für das Foto!