Eintrag 97 #Verbundenheit

Sicher verbunden?

Ein neues Jahr – ein neuer Jahresrückblick: Meine Einträge im zurückliegenden Jahr 2023 hatte ich ganz überwiegend unseren Lieblingsmenschen und Liebsten gewidmet:
Dazu startete der Januar-Eintrag zunächst einmal mit der Frage, aus welchen Gründen wir es uns denn wünschen würden, andere Personen überhaupt als romantische Partner*innen in unseren Leben haben zu wollen.
Im Februar fokussierte ich mich auf die in Beziehungen so häufig gestellte Frage „Liebst Du mich (noch)?“ – und wie sehr die Antwort mit dem wertschätzenden Fundament der darauf aufbauenden Verbindung zusammenhängen würde.
Demzufolge beschrieb ich im März-Eintrag unserer tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit einerseits und unseren Wunsch nach Autonomie andererseits; ein Zwiespalt, der es uns manchmal schwer macht, uns in unseren Beziehungen als berechenbar und verbindlich zu erweisen.
Darauf aufbauend beleuchtete ich im April das Thema „Exklusivität“, welche gerade im Hinblick auf Mehrfachbeziehungen immer wieder diskutiert wird – und die doch durchaus darin eine Berechtigung hat, wenn dabei das Ziel der Gemeinschaftlichkeit nicht aus den Augen verloren wird.
Darum rief ich im Mai-Eintrag dazu auf, keinesfalls als „unwiderstehliche Dating-Götter“ in die Welt hinaus zu ziehen, sondern weiterhin auf die viel bedeutsameren, wegweisenden inneren Signale zu achten, wenn wirkliche Verliebtheit und Liebe in unser Leben tritt.
Sonst würde nämlich das drohen, was ich im Juni-Eintrag persiflierte: Mangelnde Kommunikation und Selbstüberschätzung würden alsbald zu Mißverständnissen führen – sowie dazu, stets von allen anderen Beteiligten die schlimmst mögliche Motivation für ihr Handeln anzunehmen.
Im Juli ergänzte ich dies mit dem Appell, darum gut die eigene Bedürfnislage zu erforschen, um nicht mit einer zu festen Vorstellung im Kopf eine Mehrfachbeziehung als Rettungsplan für sich selbst zusammenzuzimmern.
Der August-Eintrag hob daher noch einmal hervor, wie wichtig es für die Führung von Mehrfachbeziehungen ist, unsere „Teamplayer-Eigenschaften“ mit Fähigkeiten wie Perspektivwechsel, Toleranz und Nachsicht beständig zu pflegen und zu erweitern.
Was ich im September damit konkretisierte, daß Beziehungsarbeit immer ein „Gemeinschaftsprojekt“ ist, welche nicht unter dem Druck von Pflichterfüllung, Geschäftsdenken oder gar Verlustangst immer von den gleichen Personen erledigt werden darf.
Im Oktober erläuterte ich an einem persönlichen Beispiel, wie sehr in diesen Dingen unsere Transparenz und Aufrichtigkeit für unsere Liebsten von größter Bedeutung sind, selbst wenn es für uns selbst nicht immer angenehm ist.
Der November-Eintrag behandelte noch einmal das Thema „Coming-Out“ in Mehrfachbeziehungen – und wie die Entscheidung dafür auch unser Selbstbild beeinflussen würde.
2023 endete schließlich mit dem Dezember-Artikel, der – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – zu Herzensgüte, Empathie und Großmut gegenüber unseren Liebsten einlud.

Herzensgüte, Empathie und Großmut wünsche ich mir auch für 2024, wenn es möglich wäre ganz besonders als Heilmittel für die zahlreichen Konflikte, die unsere Welt derzeit offensichtlich auszustehen hat.
Als bLogger Oligotropos werde ich mich daher weiter dafür einsetzen, daß Menschen in kleinen, von Liebe getragenen Gemeinschaften zueinander finden und damit eine Vision von einem harmonischeren und einverständlicheren Zusammenleben erschaffen.

Um dies zu bewerkstelligen, benötigen Mehrfachbeziehungen (die ja Thema dieses bLogs sind) nichtsdestoweniger ein hohes Maß an Verbundenheit.
Verbundenheit ist sicherlich ein Wert, der ab einem bestimmten Punkt in einer Beziehung eine gewisse „Eigendynamik“ entfaltet – speziell wenn die Beteiligten sich tief als einander zugehörig empfinden. Aber „selbsterhaltend“ oder gar „von selbst entstehend“ wird dieser niemals sein.
Denn dazu brauchen Beziehungen ebenso die tiefe Investition und Gewidmetheit ihrer Mitwirkenden.

In diesem Aspekt haben Mehrfachbeziehungen immer mit einem Schatten zu tun, im Hinblick darauf, wie sehr wir es denn wagen, uns selbst wirklich ganz darin einzubringen.
Das „mehrfach“ in „Mehrfach-Beziehung kann nämlich dazu führen, daß wir auf diese Weise glauben, ein „mehr“ an Liebe, an Verbindung, Geborgenheit, Nähe, Respekt, Wertschätzung, Intimität, Sexualität, Freundschaft, Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz oder Freude für uns herbeiführen zu können.
Folglich beginnen wir eventuell – wenn wir das Potential dafür in uns finden – gezielt mehrere Beziehungen anzustreben.
Manchmal ist dies aber der Anfang davon, daß wir vor allem beginnen – um ein Bild zu benutzen – „unsere Butter immer dünner zu verstreichen“.
Dabei denke ich dann z.B. an das StückViel Lärm um nichts von William Shakespeare, in dem es im 2. Aufzug in der 1.Szene heißt:

Don Pedro: „Seht Ihr wohl, Fräulein, Ihr habt Signor Benedikts Herz verloren…!“

Worauf die sehr emanzipierte Beatrice antwortet:
„Es ist wahr, gnädiger Herr, er hat es mir eine Zeitlang versetzt, und ich gab ihm seinen Zins dafür, ein doppeltes Herz für sein einfaches.“

Wobei „doppelt“ hier ja in feiner Ironie nun gerade erst recht nicht für „mehrfach“ steht, sondern eigentlich für „unecht / vorgetäuscht“… (und somit noch weniger ist als „einfach“).
Ich glaube allerdings nicht, daß es für uns Betroffene hier dabei – im Gegensatz zum Shakespeare-Stück – um eine bewußte (Vor)Täuschung geht.
Gleichzeitig fürchte ich regelmäßig bei dieser Auslegung der „Viel-Liebe“ (was ja auch eine der direkten Übersetzungen von „Poly“-„Amory“ ist), daß das beste, was diese Beziehungsphilosophie eigentlich zu bieten hätte, mit solcherlei Vorgehen auf der Strecke zu bleiben droht.

Oben habe ich die Begriffe „Investition“ und „Gewidmetheit“ benutzt. Beide sind sich von der Bedeutung her sehr ähnlich, obwohl das eine von den Römern, das andere von den Germanen in unsere heutige Sprache eingewandert ist. „Investition“ stammt aus dem Lateinischen „investitio“ = Einkleidung (so wie das Wort „vest“ im Englischen übrigens heute noch ein Trägerhemd und im Amerikanischen eine Weste bezeichnet). Das Wort „Widmung“ wiederum bedeutete einst „mit einer Schenkung ausgestattet“ („Widimo“).
Wenn wir uns daher „investieren“ oder „widmen“, legen wir uns also in gewisser Weise ein neues Kleid an und verschenken uns.
Was für ein schönes Bild!
Dieses Bild beinhaltet aber vor allem, daß ich mich a) selbst bereit mache und b) die Kontrolle loslasse. Und damit sind es zwei Vorgänge, die zuvorderst erst einmal bloß ganz mit mir selber zu tun haben.
Bei meinem Wunsch nach Beziehung – und auch später IN einer Beziehung – schaue ich folglich nicht so sehr darauf, was die anderen zu meiner Vervollständigung und der Erhöhung meines Zustands beitragen könnten, sondern ich bringe mich ein – und gebe mich hin.

Gewissermaßen ist das ein ziemlicher Brocken, hübsch leicht hingeschrieben – aber wahrlich herausfordernd, es umzusetzen. Denn unsere Welt beruht weitgehend auf Kontrolle – bei gleichzeitiger Hervorhebung größtmöglicher individueller Autonomie zur Aufrechterhaltung derselben.
Zugleich führt dies aber eher parallel dazu, daß wir uns im Angesicht mancher Ereignisse meist noch machtloser und unsicherer erleben – eben weil wir immer wieder feststellen müssen, wie wenig wir eigentlich letzten Endes beeinflussen können.
U.a. der Buddhismus – aber auch ähnlich gelagerte sonstige philosophische Strömungen – haben daher „Kontrolle“ längst als Illusion entlarvt.
So schreiben z.B. die Beziehungstherapeuten Christine und Hendrik Weiß im Vorwort der deutschen Übersetzung des Buchs „Wir beide“ ¹ von Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald, daß sichere Bindungen genau dann entstehen würden, wenn es den Beteiligten gelänge, sich einander zuzuwenden, sie die eigenen Verletzlichkeiten zeigen könnten und sie emotional für einander da sein möchten. Nur so würden Beziehungsbeteiligte sich sicher genug fühlen, Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen miteinander zu teilen, um damit neue emotionale Erfahrungen zu machen, in denen sie sich nicht mehr als allein, isoliert oder „nicht richtig“ erleben würden – sondern als gesehen und wertgeschätzt.

Der Hauptcharakter in der Dramedy-Serie Undone, Alma Winograd-Diaz [dargestellt durch die Schauspielerin Rosa Salazar] (Staffel 2, Folge 8 „Wir haben uns alle lieb“) macht es für mich noch eindrücklicher klar:

»Vielleicht es das im Grunde die Herausforderung des Lebens: Uns uns selbst zu stellen, um unserer Beziehungen willen. Für die Menschen, die wir lieben. Vielleicht kommt es nur darauf an: Auf diese unsichtbaren Fäden, die zwischen uns und durch uns hindurch verlaufen – über all die Zeiten hinweg. Diese unsichtbaren Bänder die uns verbinden und zugleich frei sein lassen.«
Und um die Beschaffenheit und Intensität dieser Verbundenheit zu betonen, ergänzt sie bezüglich ihres verstorbenen Vaters sogar: »Ich kann kaum glauben, daß er tot ist, denn ich kann den Zug dieser Verbindung immer noch fühlen. Aber jemand sehr Cooles hat mir erklärt, dass ein Teil des Lebens darin besteht, zu akzeptieren, dass nun mal auch unerfreuliche Dinge passieren. Und dass wir Wege finden werden, sie gemeinsam zu überwinden.«

Um solcherlei Verbundenheit auskosten zu können, müssen wir uns in unseren Beziehungen also buchstäblich „selbst (wieder)finden“. Und zunehmend hat auch die Wissenschaft immer stärker herausgearbeitet, wie maßgeblich unsere (bisherigen) Bindungserfahrungen dabei eine gewichtige Rolle spielen². Noch einmal das Therapeutenpaar Weiß:
„Höchstens die Hälfte der Menschen ist ‚von Haus aus‘ sicher gebunden groß geworden. […] Diese Erfahrungen nehmen wir Menschen in unsere Bindungsbeziehungen im Erwachsenenleben mit – bis wir sie uns bewusst machen und verändern.“

Schon in meinem Eintrag 7 auf diesem bLog lege ich dar, daß Verbundenheit und Freiheit in der Welt der Mehrfachbeziehungen kein Gegensatzpaar sind.
Wir müssten darum den „Verlust unserer persönlichen Freiheit“ in dieser übrigen Welt, die dagegen so laut das Hohelied der Autonomie hervorhebt, darin durchaus nicht fürchten.
Aber es ist wichtig, um uns auch selbst darin wirklich als „verbunden und zugleich frei“ empfinden zu können, erst einmal wieder in ein eigenes Grundvertrauen zurückzufinden.

Vor einem Jahr schrieb ich, mit den persönlichen Bedürfnissen sei es oftmals wie bei einem Blick in die Speisekammer, wenn man in sich so ein ungeklärtes inneres Bestreben oder Sehnen verspüren würde – meist mit der Erkenntnis beim Blick über die Regale: „Das, was ich eigentlich brauche, ist hier gar nicht drin.“ Statt also als Lösung nun die Einkaufstour zu wählen „…dann wird bestimmt, das, was ich brauche, irgendwo da draußen sein…“, wünsche ich uns, daß wir innehalte und zu allererst bei uns selbst Einkehr halten, damit wir uns danach neu kleiden und verschenken können – dann im Vertrauen darauf, daß uns Gutes geschehen wird.



¹ Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald: „Wir beide: Das Arbeitsbuch zur Emotionsfokussierten Paartherapie“, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage Oktober 2023, Junfermann Verlag

² Über den Einfluß von biographisch erlerntem Bindungsverhalten in polyamoren Beziehungen schrieb z.B. aktuell die Autorin Jessica Fern in ihrem jetzt auf Deutsch vorliegendem Buch „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“, divana Verlag 2023

Danke an Anne Nygård auf Unsplash für das Foto!