Eintrag 24

Abhängigkeitserklärung

Schon seit dem ich mich mit diesem Projekt hier beschäftige, wollte ich im Kontext ethischer Mehrfachbeziehungen – wie sie ja auch die Oligoamory beschreibt – einen Artikel über das Thema „Co-Abhängigkeit“ schreiben.
Da ich mit der Oligoamory für einen hohen Nähefaktor, für Einlassungstiefe und Identifikation mit der Gesamtbeziehung werbe (siehe Eintrag 3 und Eintrag 4), halte ich eine Positionierung meinerseits dazu auch für wichtig.

Über dieses neuralgische Forschungsgebiet gibt es reichlich Literatur, sowohl in analoger als auch in digitaler Form, ferner ist dieses Phänomen Gegenstand sowohl des sozialmediznischen wie auch des psychologischen Gesundheitswesens, so daß für mich allein aufgrund meiner eingeschränkten Sachkompetenz nur eine persönliche Stellungnahme in Frage kommt.
Darum möchte ich hier meine Sicht als ein Mitwirkender in Mehrfachbeziehungen formulieren und auf diese Weise meine Betrachtung der Materie und meine Gedanken dazu teilen.

Grundsätzlich als verfänglich empfinde ich im deutschen Sprachbereich allerdings die gelegentlich unscharfe Begriffsbenutzung.
Das zugrunde liegende englische Wort „Codependency“ hatte sich im Laufe der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts vor allem in der Selbsthilfebewegung von Angehörigen suchterkrankter Personen entwickelt. Im Rahmen von Organisationen wie den „Anonymen Alkoholikern“ und insbesondere den Al-Anon-Familiengruppen, die sich ab 1970 auch in Deutschland zu bilden begannen, gelangte der Begriff, der linear als „Co-Abhängigkeit“ übersetzt wurde, auch hierzulande in den Sprachgebrauch. Die im Suchtkontext korrekte Verwendung des Begriffs bedeutet ja , daß „manche Bezugspersonen eines Suchtkranken dessen Sucht durch ihr Tun oder Unterlassen zusätzlich fördern oder selber darunter in besonderer Form leiden.“. Bereits früh wurde erkannt, daß auf diese Weise ein*e Angehörige*r einer/eines Suchtkranken quasi zum „Komplizen“ einer abhängigen Person werden konnte – wodurch sich eine Dynamik einwickelt, die im Englischen mit dem Wort „Interdependency“(!) abgedeckt ist, die im Deutsche allerdings korrekt mit „wechselseitiger Abhängigkeit“ übersetzt werden müsste.

Als in der ausufernden Selbsthilfewelle der Ratgeberliteratur und -kurse ab Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts dann aber der Sachverhalt „wechselseitige Abhängigkeit in Partnerbeziehungen“ als vermarktungsfähiges Thema entdeckt wurde, wurde von dem ursprüngliche Suchtkontext, der ja nur für einen begrenzten Konsumentenkreis zutreffend gewesen wäre, vielfach abgewichen.
Übrig blieb die „Co-Abhängigkeit“ – und zwar auch in Form der „wechselseitigen Abhängigkeit“, als Problematik von Personenbindungen in vielerlei sozialen Kontexten. Marketingtechnisch war dies ein grandioser Coup, da von nun an Ratgeber zum Thema „Co-Abhängigkeit“ für den gesamten großen Kundenkreis unglücklicher Beziehungen in Frage kamen – die wichtige Unterscheidung in der deutschen Sprache hinsichtlich wechselseitiger Abhängigkeit und echter „Co-Abhängigkeit“ (die als Voraussetzung einer diagnostizieren Sucht bedurfte) wurde allerdings sehr rasch immer mehr verwischt ¹.

Was durch den ehemaligen Zusammenhang jedoch haften blieb, war der Nimbus eines tragischen und im höchstem Maße behandlungsbedürftigen Verhängnisses, wenn von nun an ein Satz wie „Du/Ihr bist/seid ja co-abhängig…!“ in den Raum geworfen wurde.
Entsprechendes gilt übrigens für die in ähnlichen Zusammenhängen so beliebten Worte „toxisch“ und „pathologisch“, die – gerne auch in Kombination mit „Co-Abhängigkeit“– den Anschein diagnostischen Vokabulars vermitteln, jedoch keinerlei konkrete Beschreibung enthalten und vor allem sehr negative Gefühle und Ressentiments heraufbeschwören und damit oft reine Aburteilungen darstellen.

Auf der Beziehungsebene erzeugt das Fehlen eines konkreten Suchtzusammenhangs darum gelegentlich ein Verständnisproblem. Zunächst einmal könnte man ja dennoch versuchen, diesen Zusammenhang wiederherzustellen…
Wonach wären die Beteiligten dann eventuell süchtig? Nach einander? Nach der Beziehung? Nach dem gemeinsamen Glück?
Das klingt für den bunten Blätterwald der Ratgeberliteratur nicht besonders vielversprechend, nicht einmal, wenn wir die „Abhängigkeit“ jetzt wirklich im oligoamoren Sinne beim Schopfe packen wollten:
Denn meiner Meinung nach verzichten wir selbstverständlich in der Oligoamory auf einen Teil unserer (absoluten) persönlichen Freiheit, wenn wir Teil einer (Liebes)Beziehung werden. Dies tun wir, weil wir doch daran teilhaben wollen, daß aus den Elementen, die wir in eine Beziehung einbringen, zusammen mit den Potentialen der anderen Beteiligten ein Mehrwert für alle entsteht, der eben das berühmte „mehr als die Summe seiner Teile“ bietet (siehe dazu Einträge 7, 9 und 14). „In Beziehung gehen“ hat also auch immer direkt etwas mit einer gewissen Lust auf die Übernahme von Verantwortung (was übrigens ein Merkmal von Erwachsen-Sein ist!) und dem Willen zu berechenbarer Integrität (ich sag’s so gern nochmal: „Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem“) zu tun.
Das funktioniert, selbst wenn wir das Geschehen in irgendeiner Beziehung zunächst ganz unverbrämt mehr oder weniger als Tauschgeschäft betrachten, z.B.: Eine Person arbeitet, die andere kümmert sich um den Haushalt. Indem beide Beteiligten ihren Anteil des (Emotional)Vertrages erfüllen, halten sie sich gegenseitig die andere Hemisphäre an notwendigen Aufgaben frei, so daß ein gemeinsamer Zugewinn entsteht. Und selbstverständlich sind auch diese beiden (unromantischen) Beteiligten dadurch in gewissem Sinne sogleich voneinander „wechselseitig abhängig“. Denn wenn eine Seite eben nicht verbindlich oder integer oder verantwortlich für ihren Teil einstünde, würden die zuvor ausbalancierten Vereinbarungen sofort zu Ungunsten der anderen Partei verschoben und der Mehrwert an gemeinsamer freier Zeit oder zusätzlicher Energie würde für beide verpuffen.
Ich bitte in Beziehungen an dieser Stelle also dringend um genügend Ehrlichkeit, daß sich die Beteiligten dieses von-einander-Abhängens – freiwillig und auf abgesprochene oder konkludente Weise – bewußt sind und es auch eingestehen. Im Alltag sammeln sich in jeder Verbindung zwischen Menschen nämlich schnell ein ganzes Bündel wechselseitiger, gemeinsam eingegangener Verbindlichkeiten und Selbstverpflichtungen an, bei denen es eine etwas beschämende Selbsttäuschung wäre, wollten wir uns als Erwachsene einreden „wir wüßten nicht, wie diese zustande gekommen wären“.
Allerspätestens in auf Liebe begründeten Beziehungen wäre dabei ja im günstigen Fall gerade nicht – um ein Bild zu benutzen – ein Sträflingspaar (oder -trupp) gemeint, welcher zwanghaft aneinander gekettet ist, durch den Anderen eingeschränkt und so lieblos wie verbissen seine Pflichten erledigt, sondern vielmehr ein Gleichgewicht dynamischer Spannung, wie bei zwei Kindern auf einer Wippe: Wenn einer abspringt oder sich schwer macht, funktioniert es eben nicht mehr (für Mehrfachbeziehungen mögen sich die Leser*innen sich jetzt schlicht eine geniale Multi-Wippe vorstellen, die umso besser funktioniert, je mehr die Spieler*innen um das allseitig gleichgewichtige Auf und Ab wetteifern…).

Wechselseitige Abhängigkeit “ per se ist also nach oligoamoren Maßstäben erst einmal kein behandlungsbedürftiger Makel, den es zu tilgen gilt, und sie ist in ihrer bewußten Form weder toxisch noch pathologisch.
Solch eine gut eingestellte – noch besser gut eingespielte – wechselseitige Aufeinanderbezogenheit stellt vielmehr eine engagiertes, dynamisches und offenes Binnenverhältnis dar, welches von regelmäßigen, gemeinschaftlichen Verhandlungen und (Nach)Justierungen profitiert.

Weil wir aber nicht allenthalben in einem stets bewußten und planvollen Idealzustand existieren (können), habe auch ich mich in meinem Beziehungsleben regelmäßig in Zusammenhängen wiedergefunden, in denen Anzeichen existierten, daß ein Verhältnis erhoffter, förderlicher wechselseitiger Aufeinanderbezogenheit trotzdem Verflechtungen von co-abhängiger Natur aufwies. Denn in gewissem Sinne können wir natürlich tatsächlich „süchtig“ nach einem Menschen, nach Beziehung oder nach Glück und Zufriedenheit sein. Und das ist fast immer dann der Fall, wenn unsere (unerfüllte) Bedürftigkeit bezüglich einem oder allen dieser Punkte die Oberhand gewinnt. Und Bedürftigkeit kann ein extrem starker Motivator sein, der uns lange Zeit antreibt, ohne daß wir willentlich oder wissentlich Notiz davon nehmen – oder schlimmer: der uns lange Zeit sogar an der Illusion festhalten läßt, daß wir es ja selber genau so im Guten wie im Schlechten „verdienen“ würden.

Die Psychotherapeutin, klinische Psychologin und Feministin Anne Wilson Schaef benannte in ihrem Buch „Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht“ (seit 1995 deutsche Übersetzung, Heyne Verlag) hinsichtlich der Merkmale wechselseitiger Abhängigkeit u.a.:

  • Unausgewogene emotionale Situation und (Selbst-)Unehrlichkeit
  • Starke Orientierung nach außen und Selbstbezogenheit
  • Egozentrisches Verschmelzungsbedürfnis, Interpretations- und Kontrollsucht
  • Fehlende Flexibilität und Rechthaberei aus Angst

Da es für unseren Verstand sehr leicht ist, solche streng wirkenden Beschreibungen² als für einen selbst unzutreffend vom Tisch zu wischen, möchte ich uns einigermaßen sensible Menschen, die für sich ein Leben in harmonischen Mehrfachbeziehungen anstreben, anregen, hin und wieder innezuhalten und uns selbst hinsichtlich unserer Motivationen folgende nicht immer angenehme Fragen zu stellen (Ich selbst habe mich in jeder davon zu einem gewissen Grad wiedergefunden):

– Warum möchte ich Mehrfachbeziehungen führen?
– Soll Betriebsamkeit im Außen von einer Unausgefülltheit in meinem Inneren ablenken? Oder von meiner Unausgefülltheit, die ich in einer Bestandsbeziehung erlebe? Brauche ich darum die Aufmerksamkeit und Bespiegelung, die ich gerade durch mehrfache Verbindungen in unterschiedlicher Form erhalten kann?
– Möchte ich mir durch potentiell wiederkehrende Beziehungsaufnahmen meinen (Markt)Wert bestätigen? Brauche ich die Bestätigung vielleicht auch, um mir in meinen eigenen Wahrnehmungen sicher(er) zu sein?
– Bin ich verliebt in die Liebe, so daß ich mich vor allem dann spüren kann, wenn ich eine sehr starke Verliebtheitsaufwallung erzeuge (siehe auch Eintrag 23)?
– Wie sehr versuche ich meine Unzulänglichkeiten zu verbergen? Oder gehe ich mit einigen von ihnen eventuell „hausieren“ und instrumentiere sie, um Empathie zu erhalten?
– Kokettiere ich mit meiner Selbstzuschreibung als „unentbehrlicher Provider und Problemlöser“? Bin ich mir ziemlich sicher, daß ohne mich alles zusammenbrechen würde oder die Anderen „nichts auf die Reihe kriegen“ könnten?
– Schätze ich Anerkennung für meine alltäglichen Mühen als besonders hoch ein? Mache ich regelmäßig auf diese aufmerksam, weil ich glaube, in meiner Auslastung nicht genug gesehen und gewürdigt zu werden?
– Welcher Bindungsstil (sicher, ängstlich, besitzergreifend, abweisend [siehe auch Eintrag 14]) hat mein Aufwachsen maßgeblich begleitet? Tendiere ich dazu einen bestimmten persönlichen Stil dahingehend in meinem erwachsenen Beziehungsleben immer wieder herbeiführen zu wollen (siehe dazu auch Eintrag 21)? Wünsche ich mir mein Leben lang Prinz*essinnen, die ich dann hoffnungsvoll gegen die Wand werfe, nur um bisher festzustellen, daß ich mein Leben überwiegend mit lädierten Fröschen verbringe³?
– Neige ich dazu, manchmal in Kategorien wie „Wir gegen den Rest der Welt“ zu denken?
– Irritieren mich Routineveränderungen, da sie für mich unharmonisch wirken und den Einklang stören?
– Wünsche ich mir „Licht und Liebe“ und anhaltende Leichtigkeit, weil aggressive Potentiale oder Fragen,die ich nicht gleich beantworten kann, sich oft wie erschütternde, persönlichkeitsrelativierende Fundamentalkritik für mich anfühlen?
– Stelle ich mich „um des lieben Friedens willen“ hintan, weil sonst Anerkennung, Zuneigung und Achtung für mich auf der Kippe stehen?
– Habe ich meine Rolle des „um-alle(s)-Gedanken-Machers“ manchmal ganz gern? Bin ich manchmal versucht zu glauben, daß ich darum auf den/die Anderen „aufpassen“ müsste und sehe mich gelegentlich sogar in eine Art „Wächter-“ oder „Netzhalter“-Funktion? Aber kann ich genau genommen eigentlich sowieso nichts ändern?
– Glaube ich, daß meine Beziehung zu eine Person diese positiv beeinflussen kann?
– Korrespondiert meine Verantwortung, die ich für die Gesamtbeziehung übernehme, noch mit der Verantwortung, die ich für mich selbst aufzuwenden bereit bin?
– In wieweit habe ich mich „in meinem Leben eingerichtet“? Wie steht es mit meinem Eifer, der Art der Energie und dem Grad meiner Gefühlsaufwallung, wenn ich meinen Standpunkt oder eine meiner Eigenschaften vermitteln bzw. verdeutlichen will?
– Mit welcher Intensität erlebe ich die Emotionen meiner Gegenüber – verliere ich dabei gelegentlich die Übersicht, wer was spürt (Hallo Hochsensible!)?
– Wie ist die Bewertung in meinem Kopf, wenn ich „Unterschiede bedeuten Verschiedenheit, Verschiedenheit bedeutet Abweichung, Abweichungen bedeuten Differenzen“ lese (oder mir dazu ein konkretes Beispiel vorstelle…)?


¹ Das Problem mit der Begriffsabgrenzung bzw. der eher universellen Verwendung des Wortes „Codependency“ auch in Zusammenhängen, in denen richtigerweise „Interdependency“ hätte gebraucht werden müssen, existierte bereits auch schon im angloamerikanischen Sprachgebrauch. Siehe auch die folgende Fußnote zu A. Wilson Schaef.

² Als ich mich zur Halbzeit dieses Artikels mit dem Ansatz von Anne Wilson Schaef auseinandersetzte, geriet ich für kurze Zeit in eine Sackgasse, weil ich den Zusammenhang zum Abhängigkeitskontext nicht sofort mitvollziehen konnte.
Schließlich verstand ich, daß Wilson Schaef und ihre Mitdenker*innen auf eine globale und systemimmanente Problemstellung aufmerksam machen wollen:
Wir alle leben immer noch in „Abhängigkeits(er)haltung“, indem wir in politischen Systemen wie auch in sozialen Gruppen leben, die in ihren Strukturen und Mechanismen Abhängigkeit unterstützen und sogar z.T. belohnen. Z.B.: Qualifizierte Kritik oder Lob kann nur von „außen“ kommen; bestehende Verhältnisse sind nicht zu hinterfragen; Selbstaufopferung und Selbsthintanstellung gelten als gesellschaftliche Tugend; „Liebesdienste“ werden selbstverständlich, unentgeltlich und gerne erbracht; wer Mehrwert oder Wissen besitzt, soll darüber sparsam verfügen – Untergebene oder Schüler werden mit einem hinreichenden Mindestmaß bei der Stange gehalten, etc.
Im feministischen Diskurs wird vor allem kritisiert, daß weltweit vor allem immer noch Frauen unter dieser Abhängigkeits(er)haltung leiden (siehe auch letzter Absatz von Eintrag 5!).

³ Die Autorin Vicky Gabriel schrieb in ihrem Buch „Wege zu den alten Göttern“ (Arun-Verlag 2002) dazu: „Wer als Hilfeleistender […] meint, genau zu wissen, was für den Hilfesuchenden gut und richtig sei bzw. was dieser tun müsse, um aus seiner Misere herauszukommen, kann diesen offensichtlich nicht in seine eigene Freiheit und Reife entlassen, da er unfreie und unreife Individuen in seiner Umgebung braucht, um sich im Vergleich dazu aufwerten zu können. Oh, ich habe mich jahrelang darüber gewundert, warum in meiner Umgebung nicht endlich jemand auftaucht, der »so ist wie ich«! Warum? Weil ich diese Menschen nicht zugelassen habe – mangels Selbstbewußtsein versammelte ich »arme, hilfsbedürftige Seelen« um mich, die ich dann hingebungsvoll und aufopfernd »unterstützen« konnte und im Vergleich zu denen ich unglaublich gut dastand.“

Danke an Manfred Antranias Zimmer auf Pixabay für das Foto.


Hinweis: Menschen mit Borderline- (ICD 10, F60.31) oder narzisstischer Persönlichkeitsstörung (ICD 10, F60.8) und deren Angehörige, die aufgrund dieser Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko von Co-Abhängigkeit leben, ziehen im Zweifelsfall bitte weder diesen noch irgendeinen anderen Ratgeber-Artikel zu Hilfe, sondern suchen bitte unbedingt professionelle Unterstützung!

Eintrag 23

Sind Sie hochsensibel?

Es war diese Frage, unter der die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron im Jahr 2005 erstmals in Deutschland ausführlich über ein psychologisches und neurophysiologisches Phänomen informierte, welches etwa jeden 6. Menschen (irgendwo zwischen 15 und 20% der Bevölkerung) betrifft.
Ich möchte mich in diesem Eintrag hier mit den physiologischen Grundlagen der Hochsensibilität nicht zu sehr auseinandersetzen – und damit einen bislang andauernden Expert*innenstreit auslassen, ob Hochsensibilität (auch als Hochsensitivität oder Hypersensibilität bekannt) nun vorrangig ein Zustand aufgrund anders verschalteter neuronaler Reizübertragung im Gehirn, übermäßiger Ausschüttung von Botentransmitterstoffen an den Synapsen, einem Defizit in der relevant/irrelevant-Filterung von Sinneseindrücken oder gar eine rein psychologische Konditionierung aufgrund bestimmter Lebenserfahrungen (oder alles zusammen) ist.
Die Hochsensibilität ist seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ein vielbeachteter Forschungsgegenstand, der mittlerweile dank intensiver Bemühungen eine Vielzahl von Studien und Fachpublikationen hervorgebracht hat – und der durch das Engagement fleißiger Sachbuchautor*innen auch einem Laienpublikum gut verständlich und von verschiedenen Aspekten her verständlich aufbereitet wurde.

Oligoamory ist das Thema dieser Seite, ich bin der Autor dieses bLogs – und wenn mich jemand fragt „Hochsensibilität und Oligoamory – hat das etwas miteinander zu tun?“, dann antworte ich „Mit jedem Buchstaben – denn als hochsensible Person (HSP) betrachte ich mich selbst auch!“.
Warum also meine ich, daß Oligoamory eine Beziehungsphilosophie ist, die für hochsensible Menschen günstig im Sinne von „gemäß, förderlich und dienlich“ (der „Nachhaltigkeitsfaktor“ – siehe unten) ist? Oder vielmehr: Warum nähert sich ein hochsensibler Mensch wie ich sich dem Thema Mehrfachbeziehungen und ethischer Non-Monogamie mittels der Herangehensweise eines Projektes wie der Oligoamory?

Um ein wenig „Theorie“ werden wir zunächst bei der Beantwortung dieser Fragen allerdings doch nicht herumkommen. Selbstverständlich wünsche ich mir, daß etliche meiner Leser*innen, wenn sie diesen Eintrag hier lesen, bereits mit dem Phänomen der Hochsensibilität ein bißchen vertraut sind, welches in Deutschland zugleich aber immer noch oft mit Begriffen wie „sensibel“, „empfindsam“, „zart besaitet“ und „überempfindlich“ konnotiert wird.
Ein wenig Aufklärung scheint mir da als Betroffener in jedem Fall weiterhin nützlich zu sein.
Für die ganz Neugierigen, die sogleich wissen wollen, ob das Merkmal der „Hochsensibilität“ auch auf sie zutreffen könnte, bietet das Internet mittlerweile zahlreiche Schnelltests an.

Von Betroffenen für Betroffene:
http://www.zartbesaitet.net/survey/site.php?a=su_onepage&su_id=1

Einigermaßen wissenschaftlich nüchtern:
https://www.psychomeda.de/online-tests/test-fuer-hochsensibilitaet.html

Und hier eine ganze Online-Seite mit ganz vielen Links zu verschiedenen Hochsensibilitätstests – für alle, die es ganz genau wissen möchten:
https://einfach-hochsensibel.de/hochsensibel-test-liste

Meiner Erfahrung nach sollte man tatsächlich die Ausdauer aufbringen und mehrere Tests durchlaufen, obwohl viele Fragen insgesamt eine ähnliche Richtung haben. Es hat sich für mich aber erwiesen, daß ein „begründeter Verdacht auf eigene Hochsensibilität“ wirklich (erst) dann vorliegt, wenn man diese Schnelltests regelmäßig mit einer Wahrscheinlichkeit von 90+% abschließt – und dann ist die Zeit gekommen, diese faszinierende Materie weiter zu erkunden.

Dazu haben sich in meiner Bibliothek nach und nach einige Bücher angesammelt, die Besten davon möchte ich Euch hier kurz vorstellen:

Einsteigerlevel:
Georg Parlow, „Zart besaitet: Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen“, Festland Verlag, 5. Auflage 2015.
Trotz des Titels sehr gut erklärter „Rundumschlag“ zum Thema, alle Bereiche des eigenen Lebens, die mit der Hochsensibilität zu tun haben, werden kurz angesprochen.

Sylvia Harke, „Hochsensibel: Was tun? Der innere Kompass zu Wohlbefinden und Glück “, Via Nova Verlag, 7. Auflage 2014.
Noch ausführlicher als Parlow, sehr gründliches Einsteigerbuch, sehr mitfühlend formuliert, bereits mit konkreten Alltagstipps und Selbsthilfe.

Fortgeschrittene:
Elaine N. Aron, „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“, mvg Verlag, 10. Auflage 2015.
Der „Klassiker“ der „großen Dame der Hochsensibilität“. Selbsttest, vollumfängliches Material zum Thema, Stimmen von Betroffenen. Kleines Minus: Gelegentlich nüchterner Stil.

Susan Marletta-Hart, „Leben mit Hochsensibilität: Herausforderung und Gabe“, Aurum Verlag, 8. Auflage 2015.
Mein „Geheimtipp“, jedoch leicht esoterisch/fernöstlich vom Ansatz. Dadurch allerdings sehr persönlich und abseits vom HSP-Mainstream formuliert.

Profis:
Elaine N. Aron, „Sind Sie hochsensibel?: Ein praktisches Handbuch für hochsensible Menschen. Das Arbeitsbuch“, mvg Verlag, 1. Auflage 2014.
Schluß mit Theorie – runter vom Sofa! Mit diesem Arbeitsbuch kannst Du alle Aspekte Deiner Hochsensibilität selber erforschen – für Mutige und Anpacker*innen.

Andrea Brackmann, „Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel?: Die seelischen und sozialen Aspekte der Hochbegabung bei Kindern und Erwachsenen“, Klett-Cotta Verlag, 10. Auflage 2019.
Gründlich wissenschaftlich-psychologische Betrachtung des Themas aus medizinisch-therapeutischer Sicht.

Mit diesen Grundlagen im Gepäck können wir uns endlich der Frage nähern, warum Hochsensible in der Oligoamory gut aufgehoben sind – und warum die Oligoamory von den Hochsensiblen profitiert.

Ganz zuvorderst steht ja der Aspekt der Non-Monogamie. Ich persönlich glaube, daß Mehrfachbeziehungen für Hochsensible besonders geeignet sind, weil diese dort die vielfältigen Nuancen und Facetten ihres reichen inneren Seins, insbesondere in ihren sozialen Dimensionen, erkunden und erfahren können – und vor allem: dürfen.
Dieses Potential ist für die Hochsensiblen aufgrund des hohen sensoriellen Inputs und ihrer oft tiefgründigen inneren Reflektionsprozesse allerdings stets mit einem dicken „ABER“ versehen. Im gleichen Maße wie Hochsensible durch das Ausleben ihrer natürlichen Rolle als „soziales Schmieröl“ in partnerschaftlichen und gruppenbezogenen Zusammenhängen enorm an Lebensqualität gewinnen, so benötigen sie ebenso einen angemessen definierten Schutz- und Rückzugsraum für sich, um – bleiben wir beim „Schmierölbild“ – sich von allzu vielen verwirrenden Eindrücken und Fremdenergien beizeiten auch in Ruhe zu „klären“. Hier kann ein Modell wie die Oligoamory mit ihrem verbindlich-nachhaltigen Ansatz genau den Rahmen bieten, der für die Hochsensibilität die so wichtige Mischung aus Freiheit und Verbundenheit gewährleistet.

Viele HSP haben insgesamt in sehr vielen Situationen überhaupt Probleme mit ihrer eher instabilen, etwas „flirrenden“ Außenabgrenzung. Sich aufdrängende Reize über sämtliche Sinnesportale, seien sie optischer, akustischer, aromatischer, olfaktorischer oder haptischer Natur; eine gelegentliche, regelrechte Vernarrtheit in Details (und damit einhergehend häufig eine gewisse Strenge gegenüber sich selbst am Rande des Perfektionismus); Fremdemotionen- und -gefühle, die z.T. wie eigene Eindrücke empfunden werden (und damit eine etwas übermäßige Selbstzuschreibung von Verantwortung dafür) sind stets wiederkehrende Herausforderungen.
Da das neuronale „Kostüm“ von Hochsensiblen dadurch eher schnell auch bei geringfügigen Anlässen in einen Zustand übermäßiger Aktivität versetzt werden kann, ist eine Folge, die der Ehemann von Elaine N. Aron, nämlich Art Aron, in seinem namhaften (und von mir schon in Eintrag 15 erwähnten) „Brückenexperiment“ belegt hatte, daß diese dazu tendieren sich schneller zu verlieben. Und sich manchmal schon nach kurzer Zeit verkatert wundern, an wen sie da geraten sind… Für Hochsensible ist also eine „geöffnete“ Beziehungsform auch in dieser Hinsicht günstig, da sie regelmäßig mit der Tatsche konfrontiert werden, vermutlich für mehr als eine Person intensive Gefühle zu hegen. Da Hochsensible aber durch genau den selben Mechanismus buchstäblich rasch „den Boden unter den Füßen verlieren“ und (zu) schnell bereit sind, sich auf einen Steilflug zur rosaroten „Wolke 7“ einzulassen, benötigen sie gleichzeitig unbedingt Stabilität und die Möglichkeit zur Erdung als Gegengewicht.
Für Hochsensible drohen aufgrund des leicht zugänglichen „Hormonkicks“ hier tatsächlich zwei Gefahren: Einmal „verliebt in die Liebe“ zu sein und dadurch an Partnerschaften zu idealistisch heranzugehen, wodurch potentielle Partner, wenn diese es wagen irdisch-menschliche Schwächen zu zeigen, vorschnell „aussortiert“ werden – da dies dann nicht mehr in der romantischen Verklärung oder dem perfekten Bild des Hochsensiblen unterzubringen ist. Zum anderen das Phänomen des „NRE-Junkies“ [von NRE = New-Relationship-Energy, deutsch etwa „Neu-Beziehungsenergie – eben der anfängliche Verliebtheitsblitz]. Hier können Hochsensible irgendwann wie Süchtige (was sie dann tatsächlich auch sind!) von Beziehungsaufnahme zu Beziehungsaufnahme taumeln, schlicht weil sich der „Emotionsflash“ am Beginn einer neuen Beziehung so gut anfühlt, daß man nicht genug von diesen „Kicks“ bekommen kann.
Übersichtliche, kleine Beziehungsnetzwerke, wie die Oligoamory sie anstrebt, bieten Hochsensiblen hingegen die Gelegenheit, ihre wesentlich größere Trumpfkarte, nämlich die Chance auf intensive Tiefenerfahrung, auch ausspielen zu können, wodurch gerade die langfristig zufriedenstellenden und sättigenden Wahrnehmungen und Erkenntnisse erst ausgelöst werden, die im Leben einer hochsensiblen Person stille aber gewaltige Höhepunkte bilden.
Ich stimme an dieser Stelle zu, daß selbstverständlich auch kleine (Beziehungs)Netzwerke irgendwann einmal mit einer ersten Begegnung anfangen – gerade dort ist es für hochsensible Personen jedoch besonders wichtig, für sich sofort auf den „Nachhaltigkeitsfaktor“ (siehe auch Eintrag 3) zu achten, um sich mit Menschen zu verbinden, die dem Merkmal der Hochsensibilität wertschätzend gegenüberstehen, so daß eine tragfähige Basis geschaffen werden kann. Um ein Bild zu benutzen: Es hat ja z.B. wenig Sinn eine ausgeklügelte und vollumfängliche ökologische Ernährung zu etablieren, indessen aber die Speisen jedes Mal auf einem Einmalgrill oder Wegwerfkocher zuzubereiten…

Gerade in (Mehrfach)Beziehungen gibt es indessen einen weiteren Faktor, der für HSP sowohl Talent als auch Fluch sein kann. Die oben erwähnte Autorin Susan Marletta-Hart zitiert diesbezüglich die niederländische Dichterin Margaretha Vasalis, die dieses Geschehen „Tentakeln, die ins andere Sein hineintasten“ nannte. Sehr leicht ist auch in diesem Bild der Wunsch nach Zusammenfluß und intensiver Verbindung zu erkennen, was für Hochsensible quasi ihrer Natur entspricht.
Indem es aber tatsächlich so sehr „ihrer Natur entspricht“ stellt es auch einen Modus dar, den HSP sehr wenig bis gar nicht unter Kontrolle haben (es sei denn, sie beschäftigen sich im Rahmen der Erforschung ihrer eigenen Hochsensibilität sehr gründlich damit – und selbst dann wäre es noch so, als ob man sich freiwillig einen Arm auf den Rücken binden würde…). Buchstäblich also „können sie nicht anders“.
Dies kann sich in mehrfacher Hinsicht für die Beziehungsqualität problematisch auswirken. Zuvorderst steht für die HSP selbst der bereits angesprochene Aspekt der potentiellen Vermischung von Selbst- und Fremdgefühlen. Direkt an zweiter Stelle – und auch zu einem deutlichen Maß damit zusammenhängend – wirkt sich die unbewußte Komponente, das „nicht-anders-Können“ dieses Prozesses aus, indem die Menschen, in die sich die „Tentakeln“ der HSP „hineintasten“, auf gewisse Weise immer ein klein wenig bei diesem Vorgang entmündigt sind. Und, wie schon Marshall Rosenberg in der Gewaltfreien Kommunikation anmerkte: „Unfreiwiligkeit“ wird schnell als Zwang empfunden und kann Konflikte auslösen (oder tiefer in solche hineinführen).
Die Verantwortung, die HSP für ihre besondere Konstitution haben, ist an dieser Stelle sehr hoch – und auch hier kann eine Beziehungsform, die in einem berechenbaren und integeren oligoamoren Rahmen geführt wird, alle Beteiligten enorm unterstützen:
Hochsensible verfügen dank ihres insgesamt sehr reizempfindlichen Sinnessystems ohnehin bereits über eine sehr „hochauflösende“ Wahrnehmung. Für jede Gruppe stellen sie dadurch im Guten einen äußerst empfindungsfähigen Herzpol wie auch ein empfindliches Frühwarnsystem dar. Gleichzeitig ist diese Fähigkeit für die HSP selbst schnell Grenzgängerei, bei der die Gefahr besteht, daß sie andere ungefragt spiegeln oder ihnen sogar Ratschläge erteilen, insbesondere der Marke „Ich weiß doch, daß es bei Dir so und so ist…“. Aufgrund ihrer ausgeprägten Beobachtungsgabe und der Empathiefähigkeit, über die manche HSP (aber NICHT alle!) verfügen, treffen sie damit sehr oft sogar ins Schwarze. Wenn wir uns allerdings an das letzte Mal erinnern, an dem uns jemand einen schmerzlich richtigen Ratschlag erteilt hat, dann spüren wir recht genau, daß so eine Form von Treffsicherheit nicht immer angenehm sein kann. Sowohl für die Hochsensiblen als auch für ihre Umgebung ist es daher ebenfalls wichtig, wenn sie sich wirklich in einer liebevollen Beziehung miteinander befinden, sorgfältige Kommunikationsmodelle wie z.B. gewaltfreie Kommunikation oder radikale Ehrlichkeit (siehe zu beiden Eintrag 20) zu praktizieren, um dabei das allseitige Wohlbefinden zu erhalten.
Hochsensible, die unter Stress stehen, schlecht erholt sind oder von Sorgen/Ängsten geplagt werden, können nämlich, wenn ihre genauen Wahrnehmungen dann auf der emotionalen Ebene auf das Gemenge aus Selbst- und Fremdgefühlen treffen, regelrecht in „Empfindungen ertrinken“. Dann mischen sich auch in ihre Beobachtungen Interpretationen und Bewertungen, die durch eigene Filter wie etwa Verlassensängste, Neid oder Eifersucht beeinflusst sind und ihr Gefühlsreichtum führt sie alsbald in eine innere Schreckenskammer aus Annahmen und Befürchtungen. Dies tut eine HSP nicht aus Boshaftigkeit, sondern sie wird in so einem Fall buchstäblich Opfer ihrer eigenen, sonst oft so nützlichen, Potentiale.

An dieser Stelle ist gut zu erkennen, warum ich bereits einen Eintrag wie die Nummer 11 verfasst habe, in dem ich mich eingehend mit den „guten persönlichen Gründen“ beschäftigt habe, die bei nahezu jeder und jedem von uns hinter unserem tagtäglichen Handeln stehen.
Denn auch für uns Hochsensible bleibt es wichtig zu beherzigen, daß wir Menschen, die in einem Universum der Fülle und der Möglichkeiten existieren, unglaublich komplexe Wesen sind. Daher sollten gerade wir unseren Erfahrungshorizont so wenig wie möglich mit Interpretationen und Annahmen beschränken und stattdessen unsere immense Fertigkeit der Offenheit und faszinierten Neugierde pflegen.
Dazu ist es enorm förderlich, wir insbesondere unsere exzellente Wahrnehmung organisch und entwicklungsfähig erhalten: Erlebe ich heute wirklich das Gleiche „wie immer“? Oder ist es nur vermeintlich „gleich“? Für eine wirklich neutrale Kamera, für ein Kind oder für ein Wesen aus dem Weltraum, daß noch nie zuvor auf unserer Erde gewesen ist, geht z.B. unsere Sonne jeden Tag neu und einzigartig auf. Da tut es gut, sich wiederholt daran zu erinnern, auf daß man nicht vermeintliche Weisheit mit (gelangweilter) Erwartung verwechselt.

Auf diese Weise – und durch eine Mischung guter und weniger guter Erfahrungen damit – habe auch ich als Hochsensibler nach und nach gemerkt, daß es für mich günstig ist, eher ein „Weniger“, dieses dafür aber intensiv und in möglichst reichhaltig Bandbreite und Tiefe, auszukosten. Die allermeisten HSP sind ihr Leben lang mit einem ähnlichen „Feintuning“ aufgrund hoher Reizwahrnehmung und starkem innerem Erleben – und darum dem beständigen sortieren-Müssen zwischen „Weiter vertiefen?“ oder „Doch lieber auslassen…“ – beschäftigt.
Mit der Oligoamory möchte ich dazu einladen, sich mit seinen erwählten Liebsten ein Spielfeld zu erschaffen, auf dem aufgrund von wechselseitigem Respekt und Entdeckerfreude für alle Beteiligten überwiegend gute und sichere Erfahrungen gemacht werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der für HSP so wichtigen Selbst- und Fremderfahrungen, die auf diese Weise zu Selbst- und „Vertrauterfahrungen“ geraten können.

Ich danke heute den Leser*innen, die sich mit mir auf diese kurze Reise in das Reich der Hochsensibilität eingelassen haben, egal, ob sie selber zu dessen Bewohner*innen zählen oder ob sie einen (oder mehrere) liebe/n Menschen haben, auf die dieses Merkmal zutrifft. Von unserem gemeinsamen Verständnis füreinander profitieren wir alle.



Danke an MartisFuksu auf pixabay.com für das Foto.

Eintrag 22

Wüste(n)zeit

Es gibt ja so Momente im Leben, da scheint es einfach nicht vorwärts zu gehen. Stillstand. Das nervt – insbesondere, wenn es Seiten betrifft, die einem eigentlich wichtig sind. Aufbruchsstimmung, Kreativität, Progressivität, ergriffene Eigeninitiative, freudige Erwartung – und plötzlich ist es, als ob man ein Auto ohne Getriebe wäre: Der Motor läuft zwar noch mit hohen Touren, doch nichts bewegt sich irgendwie. Schlimmer: Der Motor macht auch Krach und verbraucht Energie – aber es geht trotzdem nicht vom Fleck.
Das ist frustrierend – und „Frustration“ bedeutet ja laut Brockhaus-Definition (19. Aufl. 1989) „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung, das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt. Frustration kann einerseits zu konstruktiver Verhaltensänderung führen, löst aber häufig regressive, aggressive oder depressive Verhaltensmuster aus.“

Bevor es jetzt sofort zu theoretisch wird, erst mal lieber ein persönliches Beispiel:
Vor drei Jahren in eine ländliche Gegend umgezogen und optimistisch gehofft, daß sich das mit dem Mehrfachbeziehungsleben doch schon weiter darstellen würde. Mit dem Internet ist Mensch ja überall mit der ganzen Welt verbunden…
2018 dann allerdings, nachdem die Nonmonogamie-freundliche Datingplattform OkCupid ihre Suchheuristik verändert hatte, mein dortiges Profil gelöscht. Trotzdem weiter das eigene Licht im Netz bei Facebook und JoyClub* leuchten lasse. Zu meinen Erfahrungen mit diesen beiden Angeboten könnte ich hier eine ausführliche Geschichte schreiben – aber ich belasse es mal bei letztem Monat. Da habe ich dann den Joy-Account auf den Tag genau nach zwei insgesamt glücklosen Jahren aufgelöst. Und vor drei Wochen bin ich auch noch aus dem letzten polyamoren Facebook-Forum ausgestiegen (Im wiederkehrenden Wochentakt Fragen – und vor allem die nachfolgenden antioligoamoren Debatten – der Kategorien „Und wiiiie macht ihr das mit euren Kiiiindern…?“ oder „Und waaaann muß man denn dem neuen Date erzählen, daß man noch eine andere Beziehung führt…?“ können über Jahre auch den härtesten Keks kleinkriegen…).
Der noch am ehesten in der Nähe befindliche Polystammtisch ist einmal im Monat in der nächsten größeren Metropole 50 Auto-km entfernt – und überhaupt: Das ist ja kein Kontakthof, wo ständig neue tolle Partnermenschen hereinströmen…
Also wieder Poly-Single. Ja. Nein, Blödsinn – gut, ich lebe ja in einer Beziehung… – aber auch als „Duo“ ist Mensch eben noch kein Polykül, auf jeden Fall keine Mehrfachbeziehung, ach, was weiß denn ich, ich hoffe einfach, Ihr versteht, was ich meine.
Und nun schweigt auch noch das Mobiltelefon, der Mail-Posteingang bleibt leer und der Datenstrom der täglichen Dutzende dieser „XYZ hat einen Beitrag gepostet“-Meldungen ist (endlich?!) versiegt…
So.

Und jetzt?
Jetzt kommt der Moment, sich mit der oben erwähnten gefühlsmäßigen Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung auseinanderzusetzen.
Und das ist bei mir nicht so großartig, da ich statt der ebenfalls oben erwähnten Chance zur „konstruktiven Verhaltensänderung“ dann eher zu den ebenfalls aufgeführten „regressiven und depressiven Verhaltensmustern“ neige.
Na toll.
Frustration, in Unterdeckung verbleibende Bedürfnisse (Austausch, Freundschaft, Gemeinschaftlichkeit, Intimität, Kontakt, Verbindung, Zugehörigkeit – um da mal nur ein paar zu nennen…) – und oben drauf dann auch noch Depression.
Farblos, freu(n)dlos, antriebslos, aussichtslos, leblos.

Depressionen – und mit Depressionen kenne ich mich ein bißchen aus, da sie mich auch außerhalb von Dimensionen potentieller Mehrfachbeziehungen bereits mein Leben lang mal mehr, mal weniger, verschiedentlich geplagt haben – haben aus meiner Sicht vor allem die mehr als lästige Eigenschaft, daß sie so „klebrig“ sind. Der Ostwestfale in mir würde spontan sagen „daß sie so an einem backen“ – und das empfinde ich als gerade das richtige Bild: Es ist von der Hartnäckigkeit, als hätte man einen Hefeteig auf einem nicht gefetteten Blech gemacht – und nun „klebt“ die Sache an einem wie ein sedimentartiges Konglormerat. Mit einer so zähen und porentiefen Anhaftung, daß Mensch an manchen Tagen schon nicht mehr auseinanderhalten kann „Wo höre ich noch auf und wo beginnt ‚Es‘ schon?“. Darum fühle ich sehr mit jenen Leuten mit, die sich an manchen Tagen geradezu mit ihrem „schwarzen Hund“ identifizieren, für die dann alles mit Dunkel übergossen scheint oder, wie nur Rainer Maria Rilke es noch besser ausdrücken konnte, denen ist „als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“¹.

Das besonders Scheußliche an so einer Lage ist, daß wir, die wir heute in einer derart leistungsorientierten Welt leben, dann schnell überzeugt sind, daß depressive Zustände und Menschen, die sich darin befinden, sowohl volkswirtschaftlich als auch sonst recht wert- und nutzlos sind. In westlichen Industrienationen ist diese Ansicht so weit verbreitet, daß sich sogar die Betroffenen selbst schon derart beurteilen – was ihren Zustand meist zusätzlich noch verschlimmert und sehr oft darum chronifiziert. „Volkskrankheit“ heißt es dann schnell. Da kann man wenig machen.

Ja, bei so einem fest eingefahrenen Glaubenssatz, bei so einer Be-Urteilung – da würde ich auch sagen: Da kann man wenig machen.

Was aber, wenn diese Be-Urteilung nicht zutreffend wäre?
Was, wenn Depression einen „Nutzen“ – oder meinethalben sanfter „eine wichtige Funktion“ hätte, die sogar für das Führen von verbindlich-nachhaltigen (Mehrfach)Beziehungen von grundsätzlicher Bedeutung sein könnte?
Der von mir schon häufiger zitierte amerikanische Psychiater und Psychotherapeut Scott Peck nennt den langen dunklen Fünfuhrtee der Seele² „Die Arbeit der Depression“.
Allein diese Beschreibung zeigt, daß er, ebenso wie ich eingangs, verdeutlichen möchte, daß Depression keineswegs unweigerlich mit „Stillstand“ gleichzusetzen ist. Denn der Motor läuft ja durchaus, auch wenn es gerade „nicht von der Stelle zu gehen“ scheint.
Trotzdem ist Scott Peck seinerseits ebenfalls völlig klar darin, daß „Depression“ auf jeden Fall zu den grenzwertigen Zuständen des menschlichen Lebens zählt. Und um dies zu verdeutlichen, greift er dahingehend auf die Erkenntnisse der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross zurück, die in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ (Original „On Death and Dying “ , 1969) die Depression als eine der fünf Phasen des Sterbeweges eines Menschen identifiziert hatte: 1) Leugnung, 2) Zorn, 3) Verhandeln, 4) Depression und schließlich eventuell 5) Akzeptanz.
Scott Peck selbst schreibt zur Veranschaulichung dazu:
»Sagen wir zum Beispiel, da ist ein Makel in meiner Persönlichkeit, und meine Freunde beginnen mich deswegen zu kritisieren.
Meine erste Reaktion ist, dass ich es abstreite: Sie ist diesen Morgen wohl mit dem linken Bein aufgestanden, denke ich, oder: Er ist gerade ärgerlich über seine Frau. So sage ich mir selbst, dass ihre Kritik wirklich nichts mit mir zu tun hat.
Aber wenn meine Freunde sie aufrecht erhalten, dann werde ich ärgerlich über sie. Was gibt ihnen das Recht, ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken? Sie wissen nicht, wie es ist, in meinen Schuhen zu stecken. „Warum lassen sie ihre Nase nicht in ihren eigenen Angelegenheiten?“, denke ich oder sage es ihnen sogar.
Wenn sie mich genügend lieben, um auf der Kritik zu bestehen, dann verhandle ich: Ich habe ihnen in letzter Zeit wirklich nicht genügend auf die Schulter geklopft und gesagt, wie gut sie alles machen. Und ich gehe herum, lächle meine Freunde an und bin guter Laune und hoffe, dass sie das zum Schweigen bringt.
Wenn das nicht klappt – wenn sie immer noch darauf bestehen, mich zu kritisieren – , beginne ich schließlich die Möglichkeit zu bedenken: Vielleicht ist wirklich etwas nicht in Ordnung. Und das ist deprimierend.
«³

Daß selbstverständlich niemand so einen Prozeß durch ein einfaches Zauberstabschwingen bewältigen kann, da stimmen sowohl Scott Peck als auch Elisabeth Kübler-Ross überein. Beide halten demzufolge fest, daß die meisten Menschen darum entweder verneinend oder zornig oder feilschend oder niedergeschlagen sterben – oder eben weiterleben.

Um das Stadium „Akzeptanz“ zu erreichen, sind nämlich die vorherigen Stadien unumgänglich, inklusive des vollständig in Kauf genommenen Stadiums „Depression“, über die Scott Peck auf sein Beispiel bezogen sagt:
»Wenn ich mich mit diesen deprimierenden Gedanken befasse, sie reflektiere, analysiere, mit ihnen umgehe, kann ich nicht nur den Makel in meiner Persönlichkeit erkennen, sondern ihn auch benennen, erklären und schließlich mich von ihm leer machen. Und sollte ich Erfolg haben mit dieser Anstrengung, einen Teil von mir sterben zu lassen, werde ich am Ende meiner Depression als ein neuer und in gewissem Sinne auferstandener Mensch auftauchen.«³

Gemäß Scott Peck ist die „Arbeit der Depression“ also das folgerichtige (und notwendige) „letzte Stadium“ eines inneren, psychischen Sterbeprozesses, der immer, wenn wir eine bedeutende Wandlung oder einen Schritt in unserem seelischen Wachstum vollziehen, genau dieselben Stadien in derselben Reihenfolge durchmacht.

Warum glauben Scott Peck und ich, als Autor dieses bLogs, daß diese „Innere Arbeit“ einen Beitrag zu unserer Beziehungsfähigkeit leisten kann?
Weil durch die „Arbeit der Depression“ die Chance zu der Bereitschaft sich aufzugeben bzw. sich zu überlassen entsteht.
Und dieses „sich-überlassen“ ist eine wichtige Voraussetzung für die von Scott Peck so geschätzte „Leere“ eines Gemeinschafts- oder Beziehungsbildungsprozesses (bereits kurz von mir in Eintrag 8 skizziert).
Er gibt allerdings auch zu, daß die meisten von uns heutzutage mit der „Leere“, also einem guten Maß an „Nicht-Gewissheit“ Schwierigkeiten haben, da heute „Wissen“ buchstäblich mit „Macht (über)“ gleichgesetzt wird – und selbst in spirituellen oder philosophischen Kreisen zumindest das Wissen über sich selbst als höchstes Ziel menschlicher Erfahrung gilt (bei Letzterem muß ich mir auch regelmäßig selbst an die eigene Nase fassen…).

Hinsichtlich der Oligoamory habe ich schon mehrfach geschrieben, daß ich das Potential einer idealen oligoamoren (Mehrfach)Beziehung darin sehe, daß sie „mehr als die Summe ihrer Teile“ sein kann. Dazu wäre es wichtig, daß sich die an einer solchen Beziehung beteiligten Menschen immer wieder bemühen – um die Beziehung lebendig zu halten – diese als eigenen Organismus jenseits ihrer jeweiligen Identitäten (d.h. der einzelnen Beteiligten) zu verstehen.
Genau dafür braucht es diese Leere, ich könnte auch schreiben „dafür braucht es Raum“.

Wenn wir noch einmal auf die Ebene der Beziehungsbildung zurückgehen, dann beschreibt Scott Peck, daß dem Stadium der „Leere“ regelmäßig die „Chaosphase“ vorgeschaltet ist: Die Phase, in der wir an den Anderen herumverbessern wollen, an denen wir gerne unsere eigenen Standpunkte durchsetzen würden. Exakt die Phase, in der geleugnet, gewütet und verhandelt wird. Auch hier paßt das Bild des Autos: Laut heult der Motor – doch die Insassen streiten sich noch alle um den Platz auf dem Fahrersitz und würden gerne die Richtung angeben; doch weil das Steuer mal in diese und mal in jene Richtung gezerrt wird, gibt es eigentlich keinerlei messbare Vorwärtsbewegung.

Wenn demgemäß die Phase der „Leere“ nun der „Arbeit der Depression“ entspricht, dann ist dies ja gewissermaßen die nicht immer angenehme Erkenntnis, daß wir etwas (von uns) aufgeben, „sterben lassen“, müssen, um etwas Besseres zu gewinnen, indem wir „Raum“ dafür schaffen. Mögliches Wachsen erfordert also offenbar, daß wir durch dieses „Tief“ hindurchgehen.

Wenn wir „Platz schaffen“ sollten in unserem bisher angesammelten Wissen, dann heißt das ja, daß wir „dank“ dieses Wissens uns gewissermaßen selber die Sicht nach und nach gleichzeitig auch mit „Besser-Wissen“, Annahmen, Vorurteilen und Diagnosen verstellt haben. So ein bisschen wie ein liebgewonnenes Zimmer, welches wir nach und nach immer mehr eingerichtet haben (oder wo auch Personen unserer Vergangenheit und Gegenwart Dinge darin abgestellt haben) – bis es geradewegs bis zur Unübersichtlichkeit „zugewachsen“ ist. Das Problem liegt auf der Hand: Irgendwann ist darin kein Platz mehr für etwas „Anderes“.
Was ist nun dieses „Andere “? Es ist das Außer-Gewöhnliche, das Un-Erwartete, das Neue.
Was für uns, die in Dimensionen von Mehrfachbeziehungen denken, direkt bedeutet: Das „Andere“, daß können eben auch Menschen sein. Und wenn wir unser Herz und unser Hirn nicht gelegentlich leer machen, dann haben wir Schwierigkeiten, Menschen an uns heranzulassen, ihnen wahrhaftig zuzuhören oder gar uns anzuvertrauen, uns zu überlassen.
Der „Nutzen“ der Leere ist für uns als Beziehungsmenschen also immer mindestens zweifach: Zum einen hinsichtlich neuer, bislang fremder Menschen und zum anderen für unsere Liebsten, die bereits an unserer Seite sind.

Was uns in Phasen von Depression und scheinbarem Stillstand noch zuversichtlicher machen kann, wenn wir es wagen, uns der „Leere“ wirklich hinzugeben, ist das auf unsere Psyche übertragene Phänomen, welches als „horror vacui“ bekannt ist. „Leere“ ist ja als „Nichtzustand“ gewissermaßen kein Selbstzweck, sogar wenn wir sie, z.B. mit Hilfe von Meditation, aktiv herbeiführen können.
Die Leere selber entfaltet nämlich in jedem Fall eine Anziehungskraft, die nicht unserer bisherigen Kontrolle unterworfen ist: Und damit besteht immer die Chance auf das Un-Vorhergesehene, das Un-Erwartete und das Neue.

Wenn wir uns also in unserer Frustration und Depression manchmal buchstäblich als „Opfer“ erleben, wenn wir Angst empfinden, weil wir den bekanntes Boden unter unseren Füßen verloren haben, wenn wir uns geradezu „verlassen“ vorkommen, sollten wir unsere Bereitschaft zur „Un-Gewissheit“ und „Ent-Fremdung“ nachspüren.
Jenseits von Garantien und Sicherheitsdenken könnte dann „das Neue“ einziehen – von dem wir noch nicht wissen, wer oder was es sein wird.

Und wenn die Aphoristikerin Sophie Manleitner Recht hat: „Jemanden zu lieben, der Depressionen hat, ist wie London – es ist die tollste Stadt der Welt, aber es regnet jeden Tag…“, dann mag ich meinen Regen ab heute jedenfalls ein bißchen mehr.



* JoyClub.de ist eine deutsche Kennenlernplattform – hauptsächlich für Erotikkontakte – die aber darum auch über ein großes nonmonogames Forum verfügt.

¹ Diese Zeile ist dem berühmten Rilke-Gedicht “Der Panther” entnommen.

² Ja, richtig: Dies ist der Titel des Kriminalromans von Douglas Adams (1988), in dem er auf die Depressionen unsterblicher Wesen angesichts der Ewigkeit anspielt.

³ Achtung: Dies ist ein beliebig gewähltes Beispiel! Scott Peck wollte nicht unterstellen, daß alle depressiven Personen Persönlichkeitsmakel hätten! Bitte setzt an dieser Stelle im Zweifel eure eigenen Problemstellungen ein.

Danke an Andy Dutton auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 21

Vielgestalte Innenwelt

Um manche Themen kann man sich in Mehrfachbeziehungen unmöglich herumdrücken.
Eines davon betrifft das eigene Selbstverständnis und die eigene(n) Rollenzuschreibung(en).
Fremdzuschreibungen – gut – die gibt es auch außerhalb von Mehrfachbeziehungen reichlich: Wir müssen nur das Fernsehprogramm, ein Magazin, das Internet oder unsere Familie befragen – da werden wir genügend Antworten erhalten, wie wir für unser Außen „sein sollten“.
Dennoch ist es in der Welt der Mono- bzw. Di-Amory¹ einfacher, das eigene Innere – und damit unsere verborgenen Auffassungen von uns selbst – als ein privates kleines Königreich zu verwalten und eventuell nicht einmal Lebenspartner dort hineinzulassen.
Warum glaube ich, daß dies in Mehrfachbeziehungen in dieser Weise schwer möglich ist?

Ich bin der Meinung, daß einige der Werte, die hinter allen Formen ethischer Nicht-Monogamie (wie eben z.B. Poly- und Oligoamory) stehen, dies, wenn ein Mensch sich erst einmal wirklich gedanklich mit den Konsequenzen echter Mehrfachbeziehung auseinandersetzt, quasi ausschließen.
Diese „Werte“ sind ja keine Einbahnstraßen: Wir wünschen ja nicht nur, daß unsere Partner*innen diese (hoffentlich) anerkennen, sondern wir wählen für uns freiwillig den gleichen Kanon an größtmöglicher Integrität, um das Ganze mit Leben zu erfüllen.
Insbesondere die von mir in Eintrag 3 erwähnten Werte Transparenz, Aufrichtigkeit und Identifikation werden auf diese Weise also eine gewisse „Wechselwirkung“ auf uns ausüben, der wir uns kaum entziehen können.
Und während wir in einer reinen Zweierbeziehung eventuell noch mehrere Jahrzehnte eine halbwegs brauchbare Bindung aufrechterhalten können, indem wir darauf hoffen, daß die oder der Andere schon auf mystisch romantische Art „errät“ was uns glücklich machen würde (und uns so mit einer ungefähren 50:50-Chance von Enttäuschungsmoment zu Erfüllungsmoment retten), wird dieser (Über)Lebensmodus für Mehrfachbeziehungen nicht mehr ausreichen. Genau darum wird „#Kommunikation“ so dermaßen in der Welt der Nicht-Monogamie betont, genau darum habe ich im letzten Eintrag 20 gleich zwei Kommunikationsphilosophien vorgestellt, die an ihrer Wurzel für uns alle als zentrale und wichtigste Erkenntnis enthalten: Um in Kommunikation zu gehen, um mich zu ver-binden, muß ich erst einmal ergründen, was es denn ist, was ich selber wünsche.
Und dieser Blick in den eigenen Spiegel wird uns mit unserem eingangs erwähnten Selbstverständnis und unseren Rollenzuschreibungen konfrontieren – ob wir es wollen oder nicht.
Ich schreibe „ob wir es wollen oder nicht“, weil dabei für uns jedesmal – und sei es auch nur für einen winzigen Augenblick – ein radikal-aufrichtiger „Moment großer Klarheit “ aufblitzt, der uns zu diesem kurzen Zeitpunkt die Kohärenz – oder die Doppelbödigkeit – unserer tiefsten zugrunde liegenden Motivation entgegenhält. Wie wir allerdings mit dieser Offenbarung umgehen, – ob wir schnell wegschauen, sie gar schleunigst wegsperren und vergraben, sie vor uns und den Anderen verschleiern, sie ignorieren, ob wir sie akzeptieren, umarmen oder sogar integrieren – das wird erhebliche Auswirkungen auf unser Leben, unsere Beziehungsfähigkeit und damit selbstverständlich auf (alle) unsere Beziehungen haben.
Dafür gibt es sogar eine wissenschaftliche Grundlage. In seinem Buch „Was wir sind – und was wir sein könnten“ (Verlag S. Fischer, 2011) beschreibt der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther, daß unsere auf effiziente Energieverwaltung getrimmten Gehirne nichts so sehr lieben wie „Kohärenz“ ( = Folgerichtigkeit / Sinnzusammenhang). Jedwede „Inkohärenz“ wird demgemäß als Stress in Form von (anstrengendem) Energieverbrauch gemeldet – und dabei ist es egal „wo“ wir diese „Inkohärenz“ wahrnehmen: Hinsichtlich dem Verhalten Anderer – oder in unserem eigenen Inneren…

Was möchte Euch der gute Oligotropos, Autor dieses bLogs damit sagen? Es wird Zeit für ein persönliches Beispiel.
Selbstgewählte „Rollen“ haben wir alle selbstverständlich einige. Wir tragen an einem Alltag viele verschiedene „Hüte“ und wir wechseln sie z.T. je nach Anforderung auch in rascher Folge. So sind wir regelmäßig wahrscheinlich Partner*innen, evtl. Elternteile, Arbeitnehmer*innen, Vorgesetzte, Untergebene, Freund*innen, (Küchentisch)Psychologinnen, Auftraggeber*innen, Einkäufer*innen, Kund*innen, Nachbarn, Vereinsmitglieder, Veranstaltungsbesucher*innen, kreative Geister, Problemlöser*innen, Organisator*innen, Geschwister, selber noch Tochter/Sohn, Lehrende oder Lernende, etc.
Und bei all diesen Rollen, die wir einnehmen, ist es wahrscheinlich, daß unser Auftreten in einem gewissen Ausmaß mehr oder weniger ein bißchen von unserem internen Selbstbild abweichen wird: Als Arbeitnehmer*in sind wir zu den Kunden am Telefon vielleicht ein klein wenig freundlicher, als wenn sich unsere Tochter zum dritten Mal mit der gleichen Nichtigkeit am Mobilteil meldet; wenn wir für unser Ehrenamt bei der Gemeinde vorstellen, um Förderung zu erhalten, geben wir uns vermutlich mutiger und kompetenter als wir uns in Wahrheit fühlen; wenn wir für eine*n Freund*in in die Bresche springen und ihr/ihm den Rücken stärken, könnte unser Rat möglicherweise kämpferischer ausfallen als wir ihn selbst beherzigen würden usw.
Auch hier bewirkt die oben erwähnte etwaige „In/Kohärenz“ bereits, daß wir uns entweder bei einigen dieser Dinge „nicht so ganz wohl in unserer Haut fühlen“, bei anderen hingegen wir „voll in unserem Element “ sind.

Genau genommen möchte ich aber eine Schicht tiefer vorstoßen als es diese „Alltagshüte“ darstellen, denn unser internes Selbstverständnis ist, wie oben schon kurz angedeutet, stets ein elementarer Bestandteil unserer persönlichen Motivation(en) – und damit direkt mit dem so beziehungswichtigen Kern „Was ist es denn, was ich selber (zutiefst/eigentlich) wünsche?“ verbunden. Darum nun endlich das versprochene Beispiel:

Ein oligoamorer Eingeborener ehrt den „Tag der Doppelgesichtigkeit“ im Gedenken an unsere innere Vielgestaltigkeit.

Ich selbst trage z.B. eine Rollenzuschreibung in mir, die ich hier mal den „Weißen Ritter“ nennen möchte. Diese „Weiße-Ritter-Rolle“ war (und ist vermutlich noch) bei mir regelmäßig bei vielen möglichen Beziehungsanbahnungen aktiv. Da ich mich selbst (siehe „Über mich“) als heterosexuell, cisgender und männlich beschreibe, galten die Avancen des „Weißen Ritters“ in meinem Fall dem heterosexuell-cisgender-weiblichen Geschlecht und bildeten bei mir oft die maßgebliche Grundlage für die berühmten „Ersten Schritte“.
Der „Weiße Ritter“ hielt dabei nämlich zunächst nach einer mutmaßlichen „Dame in Not“ Ausschau. Was diesbezüglich „Not“ bedeutete, da war der „Weiße Ritter“ nicht gar zu pingelig mit der Definition: Eine Bekannte mit einem nervtötenden (Ex)Freund, eine Freundin mit Schwierigkeiten beim Umzug, aber auch eine traurige Maid mit einer hoffnungslos dramatisch verfahrenen Biographie konnten meinen „Ritter“ auf den Plan rufen. Alsdann zog der Ritter aus, daß Leben dieser bedrohten Fräulein vor dem drohenden Unbill zu retten, dem heraufziehenden Chaos mit Ordnung zu begegnen und natürlich der Dame in größtmöglicher und getreulichster Weise zu Diensten zu sein.
Beleuchten wir nun kurz die Seite meines Selbstverständnisses (da ich ja schließlich auch ein „Held in meinem eigenen Film“ bin): Auf der einen Seite erkennen wir meine loyalen, zuverlässigen, vertrauenerweckenden und gewissenhaften Qualitäten – über die ich tatsächlich in gutem Maß verfüge.
Wenn ich mir dieser Qualitäten aber so bewußt bin – warum führe ich diese Stärken nicht bei Beziehungsaufnahme direkt ins Feld und werbe damit für mich – sondern wähle diese seltsam indirekte Annäherung über das Krisenmanagement des „Weißen Ritters“?
Weil die andere Seite meines Selbstverständnisses die einer auf den ersten Blick wenig liebenswerten Person ist, die nicht glaubt, eine Partnerin auf dem „freien Markt“ mit den eigenen Vorzügen aufmerksam machen zu können und statt dessen insgeheim hofft, bei den „Damen in Not“ dankbarere, anspruchslosere und damit vermeintlich „leichtere Beute“ zu finden.
Womit ich wieder direkt zu meiner „Weißen-Ritter-Rolle“ zurückkehre, die demgemäß nämlich auch eine „dunkle“ Seite, die selbstverständlich der entsprechenden „Dame“ nicht offen gezeigt wird, hat. Wenn allerdings die Beziehungsanbahnung – zu deren Zweck der „Weiße Ritter“ ja ursprünglich überhaupt aktiviert wurde – Fahrt aufnimmt, kann sich der „Herr Ritter“ dadurch jedoch zu einem in Teilen unangenehmen Partner und Beziehungsmenschen entwickeln, der in der Tat von der dann „erretteten Dame“ eine seltsame Form von Dauerdankbarkeit und fürderhin anhaltender Unaufdringlichkeit erwartet.
Puh. Das war jetzt so dermaßen selbstehrlich, daß sich vermutlich jede von mir jemals umworbene Frau darin wiederfinden wird…
Was ich aber damit zeigen möchte ist, wie auch in mir eine „Rollenzuschreibung“ in ein tiefes internes Selbstverständnis greift, welches aber in der Tat aus mehreren Komponenten besteht, die sich dann wiederum in der Rolle vereinen und dort mittelfristig für ein inkohärentes Auftreten sorgen. Wodurch in meinem Fall aus dem zunächst willkommenen loyalen Unterstützer beim in-Beziehung-Gehen nach und nach der Schatten eines selbstunsicheren Pantoffelhelden hervorscheinen kann.

Noch eine Schicht „tiefer“ als der mir mittlerweile einigermaßen vertraute „Weiße Ritter“ trage ich ebenfalls noch eine Rolle in mir, die ich für mich den „Vampirlord“ getauft habe. Daß diese Rollenzuschreibung über nur wenige positive Qualitäten verfügt, läßt schon ihre buchstäblich „untote“ Natur vermuten, denn sie „lechzt nach den Lebenden“. Der „Vampirlord“ ist dadurch eine Rolle, die ich weit weniger „im Griff“ habe (und auch erst in Teilen bewußt beleuchtet habe) als den „Ritter“.
Auch der „Vampirlord“ gründet bei mir in der biographische gewachsenen Überzeugung ein „unliebenswürdiges Wesen“ zu sein. Seine Bedürftigkeit nach menschlicher Liebe ist seit meiner Kindheit aber über vier Jahrzehnte in einem so großen Maß gestiegen, daß diese Rolle potentiell in der Lage ist, mich heute z.T. noch in haarsträubendste Beziehungsanbahnungssituationen zu bringen. Dabei kann es geschehen, daß ich mein tatsächliches Selbstverständnis komplett über Bord gehen lasse und mich aus Gier und Bedürftigkeit nach Verbindung für meine Verhältnisse bis an die Selbstschädigungsgrenze entäußere (Compliance, Selbstaufgabe, Katerstimmung inklusive) – und wer im „Über mich“ gelesen hat, daß ich mich als hochsensibel qualifiziere, mag wissen, wie dramatisch das für mich in Folge sein kann. „Gute Beziehungen“ – wie die, für die ich mit dem Oligoamory-Projekt“ werbe, bringen der „Weiße Ritter“ und erst Recht der „Vampirlord“ nicht zustande. Aber beide sind nicht unnütz, da sie mir hier als lebensechte Beispiele dienen können.

Der Oligotropos, der hat Probleme...“, mag nun manche*r denken. Je nun.
Ich empfehle zu dieser Materie und ihrer psychischen Dimension die Graphic Novel und den Film „I Kill Giants“², in welcher die Geschichte der Familie des 15jährigen Mädchens Barbara erzählt wird: Ihr Bruder hat sich geistig-moralisch in virtuelle Ego-Shooter-Welten verabschiedet, ihre ältere Schwester hat die Rolle der „Familienversorgerin“ angenommen. Die junge Barbara indessen hat die scheinbar merkwürdige Rolle der „Ortsschamanin“ gewählt, indem sie die Kleinstadt, in der sie alle wohnen, mittels Runen, magischer Waffen und Schutzzaubern vor der Bedrohung durch Riesen schützt. Die Rollenübernahme und die Identifikation von Barbara mit ihrer Aufgabe als „beschützender Schamanin“ wird in Buch und Film hervorragend dargestellt. Bis hinein in ihre Alltagssprache und in ihrem Umgang mit Schule und Geschwistern pflegt sie ihr „heldiges“ – und in Teilen etwas bärbeißiges – Image. Als Kleinstadtbewohnerin mit nur wenigen Freunden zur Auswahl, die im gleichen Alter sind, erfüllt die „Schamanenrolle“ für Barbara Bedürfnisse nach Kreativität, Abenteuerlust, einem starken Selbstwertgefühl und non-normativem (Protest)Verhalten. Doch dies ist eben auch bei ihr nur die eine Seite ihrer Motivation, die hinter ihrem internen Selbstverständnis und hinter ihrer „Rolle“ steckt. Denn – der Titel verrät es schon – auch sie muß sich in ihrem Inneren noch ganz anderen Ungeheuern stellen, als es auf den ersten Blick bei diesem etwas verwilderten Teenager zu vermuten ist.

Wie weit unser internes Selbstverständnis mit unseren tiefsten Motivationen von unserer selbstgewählten Rollenzuschreibung abweichen kann, davon haben in diesem Jahr (Stand 2019) die Schicksale der 28jährigen Anna Sorokin und der 31jährigen bLoggerin Marie Sophie Hingst Zeugnis abgelegt. Beide hatten eine komplett alternative Persönlichkeit erschaffen, da ihnen ihr eigentliches internes Selbstverständnis wohl zu farblos, zu alltäglich und damit wenig erfolgversprechend schien. Beide Biographien, die in einem Fall zu langen Jahren Gefängnis, im anderen zum Tod führten, beweisen, zu was für unglaublichen energetischen Anstrengungen wir Menschen uns antreiben können, um uns nicht mit unserer inneren Wahrheit zu konfrontieren, während die Selbst-Diskrepanz zwischen „Soll“ und „Ist“ im Außen immer weiter auseinanderklafft.
Ich halte die geringe Differenz in dem Lebensalter beider Frauen für keinen Zufall, da wir mittel-und langfristig vermutlich doch nur eine begrenzte Spanne haben, wie weit wir unsere inneren Realitäten leugnen können, bevor sie für uns oder unsere Umwelt unhaltbar werden.
Marie Sophie Hingst, die kurz vor ihrem Selbstmord ihrer Mutter hinsichtlich ihres dann von der Presse demontierten (falschen) Selbstbildes sagte, sie fühle sich „als ob sie gehäutet sei“, zeigte auf drastische Weise, warum in jeder Form von Beziehung (auch in der zu sich selbst) Transparenz, Aufrichtigkeit und Identifikation keine verhandelbaren Marginalien sind.

Um wirklich „gute“ Beziehungen zu erwirken ist unsere Selbstzurkenntnisnahme von absoluter Wichtigkeit. Das Erforschen und Beleuchten unserer innersten Motivationen, die direkt mit unserem Selbstverständnis zusammenhängen ist eine Aufgabe, der wir uns darum mit Ruhe und Sorgfalt regelmäßig widmen sollten. Und ja, insbesondere das Hervorholen jener Aspekte, die wir selber nicht gar so wundervoll finden, ist dabei grundlegend für unsere eigene Aufrichtigkeit gegenüber uns selbst wie auch hinsichtlich der Möglichkeit und so unseren Liebsten anzuvertrauen.

Denn egal, ob wir uns gelegentlich für den schwarzen Fledermausmann, den weißen Ritter, die Kaninchenschamanin oder eine Millionärstochter halten: In Beziehung gehen unsere Liebsten – bzw. die Menschen, bei denen wir wünschen, daß sie es werden könnten – instinktiv immer mit der Person, die wir in unserem tiefsten Inneren sind. Darum ist es Zeit – um Cindy Lauper zu zitieren – daß wir uns trauen, unsere wahren Farben erstrahlen zu lassen³.




¹ Ich nenne klasssische „Mono-Amory“ an dieser Stelle bewußt „Di-Amory“ mit der altgriechischen Vorsilbe „Di-“(zwei), weil ich mich auf ein Beziehungsmodell mit genau zwei Beteiligten beziehe.

² Da ich nicht „spoilern“ möchte, setze ich den Wikipedia-Link zu „I Kill Giants“ hier in die Fußnote. Nun mag jede*r mit der Graphic Novel und dem Filminhalt verfahren wie es das Beste ist…

³ Cindy Lauper, True Colours (Song, Lyrics)

Danke an Afrikit auf Pixabay für das Bild.