Eintrag 92

Es lebe die Vielfalt!

In der US-amerikanischen Kult-Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert¹ erfindet in Staffel 6 Folge 9 („Datas Hypothese“) ein Wissenschaftler für heikle Tätigkeiten in herausfordernder Umgebung eine Gruppe Arbeitsroboter, die über die Fähigkeit verfügen – je nach analysierter Problemstellung – das für das weitere Vorgehen jeweils bestmöglich passende Werkzeug aus sich selbst hervorzubringen (für die Nerds unter uns: zu replizieren). Die Zuschauer können während der Folge jedoch darüber hinaus auch noch erleben, wie sich die Roboter zur allseitigen Optimierung über bestimmte Herangehensweise austauschen (was als Zeichen für Vernetzungsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikation und Intelligenz angesehen wird), sich weigern, einander unnötiger Gefahr auszusetzen (was für gesunde Selbsteinschätzung und -erhaltung spricht) – und als es zum Äußersten in einer extrem risikoreichen Situation kommt, opfert sich eines der Maschinchen gewissermaßen für den Rest der Gruppe, die auf diese Weise der Vernichtungsgefahr in brisanter Lage dann auch entgeht.

Ein bekanntes Sprichwort, welches auf einen meiner hier vielzitierten Lieblingspsychologen – nämlich Abraham Maslow – zurückgeht, besagt, daß „wer über mehr Werkzeug als einen Hammer verfügt, nicht alles andere als einen Nagel ansehen würde.“

Mr. Maslow ist für mich im Universum der Mehrfachbeziehungen ein enorm wichtiger Impulsgeber, da er als Vertreter der sg. „Humanistischen Psychologie“ sowohl maßgebliche Beiträge zur Erforschung und Kenntnisnahme menschlicher Bedürfnisse (erstmals hier Eintrag 11) leistete, als auch direkt über seine Idee der ethisch-hinterfragenden „Selbst-VerwirklichungMorning Glory Zell-Ravenheart beeinflusste, jene Frau, die die Idee der Polyamory 1990 erstmals in druckreifem Format formulierte (siehe vor allem Eintrag 49).

Für Mehrfachbeziehungen enthält Maslows „Hammermetapher“ ja dann auch mehrere grundlegende Botschaften:
Zum einen – und am auffälligsten – daß ein Hammer, wiewohl praktisch, doch eher ein grobes Instrument ist, welches jedoch sicherlich kaum für „Feinarbeiten“ geeignet ist. Was zugleich Sinnbild dafür ist, daß es nicht immer klug ist, jede Unternehmung, die einem begegnet, mit eher stumpfer Kraft anzugehen und dabei möglichst im Grund zu versenken (was – wenn man’s auf zwischenmenschliche Zusammenhänge bezieht, allein schon bedenklich klingt…).
Zum anderen, daß das Potential einer Reichhaltigkeit von Optionen (also Werkzeugen) uns Flexibilität im Umgang mit Problemstellungen verleiht – selbst sogar, wenn diese unvorhergesehen daherkommen.
Und noch etwas verrät uns Maslows Bild: Nämlich, daß allein das Wissen um unsere (potentielle) Flexibilität unsere Perspektive – unsere Grundeinstellung – verändert, sowohl was das Zutrauen in unsere Fähigkeit, Lösungen zu entwickeln betrifft, als auch dahingehend, daß wir eventuell an uns herangetragene Schwierigkeiten graduell als gar nicht mehr so gravierend ansehen, daß wir ihnen mit „Generalmobilmachung“ all unserer Ressourcen begegnen müssten.

In Mehrfachbeziehungen, die sich, wie eben Oligo- oder Polyamory, mit dem charakterisierenden Zusatz „ethisch“ hervorheben, ist insbesondere letztere erwähnte Haltung und Einstellung von großer Wichtigkeit.
Denn sie enthält den Auftrag an uns alle, die sich in Mehrfachbeziehungswelten bewegen wollen, uns ausdauernd mit der Pflege und Erweiterung unseres höchsteigenen „Werkzeugsortiments“ zu beschäftigen.
Was ja nicht einfach ist, da wir, wenn wir gewohnt sind bislang überwiegend in monogamen Bahnen zu denken, es uns eher geläufig ist, überwiegend von der „Hammer-Seite“ aus zu agieren: Eifersucht? Bäng! – es darf schlicht keine weiteren Liebsten außer dem Kernpaar geben! Verlustängste? Bäng! – soll die*der andere mal sofort ihr*sein bei uns angstverursachendes Verhalten abstellen! Kommunikationsprobleme oder Reibungsverluste durch Mißverständnisse? Bäng! – am besten Einbahnstraßenkommunikation (auch bekannt als „klare Ansage“…) von unten nach oben oder von oben nach unten mit festgelegter Binnenhierarchie – dann kommt so etwas nicht vor!
Womit ich nicht sagen will, daß dies in einem monogamen Modell eine gute Vorgehensweise ist – aber die Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern hat doch tragisch oft bewiesen, wie weit Mensch mit lediglich einem Hammer im Zweifel kommen kann…

Abraham Maslow gab dementsprechend der von Morning Glory Zell-Ravenheart so bewunderten „Selbst-Verwirklichung“ genau darum so einen wesentlichen Stellenwert, weil wir mit unserer „Werkzeugpflege und -erweiterung“ darin direkt in der grundsätzlichen und elementarsten Beziehung von allen gleich damit loslegen können: der zu uns selbst.
Abraham Maslow, wäre nicht DER Abraham Maslow der mittlerweile vielbeschworenen „Maslowschen Bedürfnispyramide“ (die inzwischen wissenschaftlich nicht mehr als gar so fix angesehen wird wie in ihren Anfangstagen) gewesen, wenn ihm nicht schon aus seinem Wissen um die menschlichen Psychologie bereits klar gewesen wäre, daß unsere (Problem)Reaktionsfähigkeit (also die Vielfältigkeit unserer Werkzeuge) stark mit der Kenntnis der Zusammensetzung unserer Bedürfnislage in Verbindung steht.
In den letzten fünf bLogeinträgen dieses Jahres habe ich mich – auch selbstkritisch – immer wieder genau mit dieser Kenntnis bzw. Unkenntnis um die eigene Bedürfnislage auseinandergesetzt. Und der daraus resultierenden Bedürftigkeit… Vor allem, weil bedürftig zu sein bedeutet, beim Blick in den Werkzeugkasten stets immer wieder nur als erstes bloß den Hammer zu finden: Problem? Beseitige es! – BÄNG!
Denn das ledigliche, überwiegend unbewußte, Wissen, daß der Hammer Probleme lösen kann, macht ihn schon aus schierer Gewohnheit leider verführerisch. Und auch das ist für zwischenmenschliche Zusammenhänge bedenklich…

Womit Selbst-Verwirklichung eben einen so großen Teil Bewußtwerdung benötigt, gemäß den Zielen der humanistischen Psychologie, wie ich sie in Eintrag 51 darlege – und hier noch einmal ganz kurz skizziere:

  1. Menschen sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie können nicht auf einzelne Merkmale reduziert werden.
  2. Menschen existieren sowohl in einzigartigen menschlichen Kontexten als auch in einer weltumspannenden Ökologie.
  3. Menschen sind bewusste Wesen und sie sind sich bewusst, bewusst zu sein. Zum menschlichen Bewusstsein gehört immer ein Bewusstsein von sich selbst im Kontext anderer Menschen.
  4. Menschen haben die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und tragen daher Verantwortung.
  5. Menschen sind absichtlich, streben Ziele an, sind sich bewusst, dass sie zukünftige Ereignisse verursachen, und suchen nach Sinn, Wert und Kreativität.

Psychologisches Blabla, zu kompliziert?
Die Fallstricke werden meist dann sichtbar, wenn wir Bewußtwerdung und Kenntnisnahme (was ja auch ein Stück Selbstanerkennung ist) weglassen.
Die Natur hat es nämlich leider etwas unglücklich eingerichtet, daß wir uns schneller in andere verlieben können, als daß wir anderen vertrauen.
In Eintrag 15 weise ich zwar auf die menschliche Fähigkeit zu raschem (Vor-)Vertrauen („Swift Trust Theory) hin, erkläre aber zugleich, daß dieses nicht durchtragen kann, speziell in genau den Fällen, in denen unsere eigenes defizitäre Bedürfnisfundament unter vermeintlichen Beschuß gerät. Scheinbar bedrohliches oder gar angstverursachendes Gebahren im Außen wird also einen ohnehin knapp bemessenen Inhalt unseres Werkzeugkastens sofort zurück auf Hammerformat schrumpfen lassen – und damit, wie oben erwähnt, auch die Perspektive unserer Bewältigungsstrategien: „Oh nein, ein NAGEL!!!“

Die eingangs erwähnte Star Trek-Folge nutzt die Parabel rund um die putzigen Arbeitsroboter, um die Zuschauer mit der Frage zu konfrontieren, was Leben ist.
Star Trek ist anerkannterweise Science Fiction – und damit sind uns die Maschinchen also fast ein wenig voraus. Denn sie führen uns vor, warum sie höchst lebendig sind – und humanistische Psychologie ist ein wichtiger Teil der Antwort:

  1. Indem sie gewissermaßen über einen „unendlich vielfältigen inneren Werkzeugkasten“ verfügen, sind sie ganz eindeutig „mehr als die Summe ihrer Teile“. Sie sind gestaltgewordene Pluralität, lassen sich nicht auf ein Merkmal reduzieren – und das ist, auf unser jetziges Zeitalter übertragen, in dem wir z.B. über Fluidität von Geschlecht, Gender und Beziehungsformen reden, geradezu so divers wie non-normativ.
  2. Indem die Geräte sich austauschen, stellen sie ein Netzwerk an Erfahrung her, welches eine neue, einzigartige Kombination darstellt. Gleichzeitig kann dieses Netzwerk nur durch alle Beitragenden genau diese Güte erhalten, wodurch ein sowohl individueller als auch insgesamter Zusammenhang entsteht. Dies ist für mich eine essentielle Kompetenz von verbindlich-nachhaltigen „Mehrfach“-Beziehung.
  3. Die Roboter zeigen Bewußtsein speziell in dem Moment, als sie in einer Gefahrenzone arbeiten sollen, in der sie vernichtet werden könnten. Sie beweisen darin gesunde Selbstfürsorge, die natürlich in erster Linie jedem Individuum zu Gute kommt (weil es überlebt) – aber berücksichtigen und schützen mit ihrer Handlung zugleich das „größere Ganze“ (das „gemeinsame Wir“ der Oligoamory, könnte man sagen) zu dem sie alle beitragen.
  4. Indem die Roboter Entscheidungen treffen, beweisen sie auch über die rein praktische Ebene hinaus, daß sie „über mehr als nur einen Hammer verfügen“. Sie übernehmen auf diese Weise Eigenverantwortung um individuell Probleme zu lösen, übernehmen Gesamtverantwortung, um ihre Gruppe zu schützen – und im Zweifel schließen sie sich zusammen, um von Erfahrungen anderer zu profitieren.
  5. Die Szene, in der sich schließlich doch ein Roboter in einer zunächst ausweglosen Situation für die anderen opfert, berührt für mich das, was ich in Eintrag 34 als Kerngehalt von Romantik bezeichne: Das uneingeforderte Selbstopfer. Denn ganz offensichtlich haben die Roboter eine Anerkenntnis ihres Eigen-Sinns und ihres Eigen-Werts entwickelt. Womit ihre Absichten und Ziele eben ganz und gar nicht mehr roboterhaft sind, denn über Pluralität, Bewußtheit und Verantwortlichkeit ist ihnen etwas zutiefst Menschliches klar geworden: Ihre Begrenztheit – und damit ihre Kostbarkeit.
    Das „Selbstopfer“ (auch ohne dabei das Leben zu lassen) ist für mich daher ein Beweis für „Liebe pur“ (und nur wirkliche Lebewesen sind dazu fähig): Unser Beitrag, unser Geschenk für unsere Gruppe, unser Beziehungsnetzwerk (und so gar nicht selbst-los, wenn es dann von anderer Seite zu uns zurückkommt).

Für mich ist es in der Star Trek-Serie natürlich eine hübsche Vorgabe, daß die Roboter schon von Beginn an „zu mehreren“ sind. Ein einzelnes Exemplar alleine hätte trotz seiner fortschrittlichen Werkzeugfähigkeit sonst nie sein volles innewohnende Potential erkannt (und dann vermutlich weder Bewußsein noch Leben entwickelt).
Denn Mehrfachbeziehungen berühren folglich wohl stets den Grad unserer Selbst-Verwirklichung. Sie „zupfen“ gewissermaßen an unserer Bewußtwerdung und konfrontieren uns mit unserem Maß an vorhandener innerer Lebendigkeit.
Gelingende Mehrfachbeziehungen benötigen dadurch exakt die zunehmende Befähigung zum Perspektivwechsel, die wir zwar auch im Zusammenspiel mit anderen steigern können, für die wir die Grundlagen aber in uns selbst suchen – und auffinden – müssen.
Das Gleiche gilt damit für den in uns wohnenden, unveräußerlichen individuellen Wert und unsere lebenslange Sinnsuche, die uns (hoffentlich) immer mehr und mehr vervollständigt und zu dem Menschen macht, der wir sind: Kontakte zu den verschiedensten Menschen und Umgebungen wird uns Kenntnis darüber verschaffen, welche schier unglaubliche Menge es an Werkzeugen für die unterschiedlichsten Herausforderungen gibt.
Jedoch nur unsere Übung damit in wirklichen Nah-Beziehungen, die unsere berechenbare Gruppe sind, genau weil wir darin um unsere wechselseitige Begrenztheit und Kostbarkeit wissen, wird uns zu Meister*innen darin machen, unsere Werkzeugkoffer nach und nach in wahre Schatzkisten zu verwandeln.



¹ auch bekannt als Star Trek: The Next Generation

Danke an Adam Sherez auf Unsplash für das Foto!