Eintrag 68

Grandissimo!

Just im letzten Monat veröffentlichte die Österreichische Zeitung Der Standard, die regelmäßig ausführlich und aufgeschlossen zu zahlreichen Themen rund um allerlei Formen der Non-Monogamie berichtet, erneut einen Online-Artikel, in dem noch einmal verschiedene Beziehungsmodelle in diesem Bereich dargestellt wurden.
Neben vielem mir wohlbekannten, ließ mich allerdings diesmal folgende Passage aufhorchen:
»In der psychotherapeutischen Praxis zeigt sich, dass die meisten Menschen sich für sich selbst vorstellen können, Beziehungen welcher Art auch immer mit verschiedenen Menschen parallel zu führen. Nur würden sie dies für ihre Beziehungsperson nicht wollen. Wenn „meine“ Beziehungsperson auch andere begehrt, ist dies eine narzisstische Kränkung. Mit dieser umzugehen benötigt den Willen, Hinsehen zu wollen, und viel Selbstreflexion. Mono ist einfacher, da wissen wir ja, wie das geht.«

„Narzisstische Kränkung?“ Hat das etwas mit echtem Narzissmus zu tun und gibt es demgemäß vielleicht sogar eine Art pathologische Selbstsabotage in den meisten von uns, so daß wirklich funktionierende polyamore Beziehungen eigentlich von unserer „Grundausstattung“ her bereits zum Scheitern verurteilt sind?
Diese Frage wollte ich auch für mich selbst klären und dabei bin ich auf einige interessante Zusammenhänge gestoßen, die ich Euch als meinen Leser*innen nicht vorenthalten wollte.

Die deutschsprachige Wikipedia erklärt zunächst schlicht und direkt: »Narzisstische Kränkung bezeichnet sowohl ein spezifisches Verhalten, mit dem eine Kränkung zugefügt, als auch ein Erleben mit dem sie empfunden wird. […] Insofern kommt der narzisstischen Kränkung eine kommunikative Funktion zu. Spezifisch meint dies, dass narzisstische Kränkungen Angriffe auf den Narzissmus und die Identität des Gegenübers sind. Sie sollen dessen Selbstgefühle angreifen, Selbstsicherheit und Selbstvertrauen erschüttern und Selbstachtung sowie Selbstwert infrage stellen und dadurch schwächen. Als Mittel zur Kränkung werden beispielsweise Demütigung, Bloßstellung, Herabwürdigung, Entwertung, Erniedrigung und Spott eingesetzt, erlebt werden unter anderem Angst, Schmerz und Scham, aber auch Frustration, Wut und ggf. der Wunsch nach Rache.«

„Auweiah!“, möchte ein Teil von mir ausrufen. Das klingt ja nun so überhaupt nicht nach liebevollen (Mehrfach)Beziehungen, wie ich sie mit der Oligoamory anpreisen möchte:
Also wenn weitere Partner*innen möglicherweise zu einer vorhandenen Beziehung dazukommen, dann erleben die übrigen Bestandspartner*innen eventuell einen Angriff auf ihre Identität, eine Infragestellung ihres Selbstwertes und empfinden die neue Situation als Herabwürdigung, wobei sie Angst Schmerz, Scham, Frustration, Wut und gegebenenfalls den Wunsch nach Rache empfinden???

So sehr die ein oder der andere von uns nun die obigen Formulierungen als drastisch oder gar überzogen empfinden mag, so traurig nahe kommen sie doch der Realität. Denn es braucht nur eine kurze Stippvisite in einem beliebigen Mehrfachbeziehungs-/Polyamorie-/Non-Monogamie-Online-Forum, um zahlreiche Beiträge und Hilferufe verzweifelter Bestandspartner*innen aufzutun, – und in allen ist der Inhalt sehr ähnlich:
„Mein Mann hat die Beziehung geöffnet und nun ist da eine neue Partnerin, mit der ich gar nicht klarkomme…“ oder „Zu unserem Polykül ist ein weiterer Mann dazugekommen, für den meine Partnerin sich nun sehr interessiert und ich weiß gar nicht mehr wohin in meiner Eifersucht, von der ich nie dachte, daß ich sie je so extrem empfinden würde…“

Was ist da los? Bloß ein Aufwallen alter Krusten der Mononormativität? Überkommenes Besitzanspruchsdenken, Mißgunst und kleinliche Eifersucht?

Das eigentlich dahinterliegende Geschehen hat die Psychologin Bärbel Wardetzki¹ in einem Beitrag für den Deutschlandfunk 2020 höchst spannend erklärt:
Eigentlich sei die Basisreaktion erst einmal ein gutes Zeichen: „Eine Kränkung ist eine völlig normale menschliche Reaktion. Gottseidank. Weil sie zeigt, dass wir empfindsam sind, dass wir durch bestimmte Dinge verletzbar sind. Vor allem in Liebesbeziehungen. Dort ist fast jede*r irgendwann mit Kränkung konfrontiert, dort verorten wir Kränkung in der Regel zuerst. Dort schlägt sie am härtesten ein, verwundet am meisten.“

Aber was ist das genau, was eigentlich „verletzt“ wird – und „machen“ das die anderen handelnden Personen?
Dazu klärt Frau Wardetzki auf: „Bei Kränkungen sind es sehr häufig unsere narzisstischen Bedürfnisse. Und die sind in der Regel Bedürfnisse, die, wenn sie erfüllt werden, unser Selbstwertgefühl stärken. Narzisstisch heißt ja erst mal nichts weiter als ‚den Selbstwert betreffend‘ .“

Im Gegensatz zu meinem Eintrag 32, indem es tatsächlich um krankhaften Narzissmus geht, stellt Frau Wardetzki also klar, daß jede*r von uns grundsätzlich über einen natürlichen „gesunden Narzissmus“ verfügt, der eng mit unserem Selbst und unserem Identitätsgefühl verknüpft ist.
Und dieser „gesunde Narzissmus“ kann also verletzt werden.
Dazu erklärt der Neurobiologe und Neuroimmunologe Joachim Bauer² im oben erwähnten Deutschlandfunk-Beitrag:
Wenn ich zum Beispiel eine Testperson hören lasse, dass jemand anderes schlecht über sie gesprochen hat, dann reagieren die Selbstsysteme. Wenn ich jemanden dadurch kränke, dass ich ihn unfair behandle bei der Verteilung von Ressourcen, dann reagieren die Ekelsysteme. Oder wenn jemand dadurch gekränkt wird, dass die Gruppe ihn oder sie ausschließt und der Eindruck entsteht: ‚Du gehörst nicht mehr zu uns‘, dann reagieren die Schmerzsysteme. Die Schmerzsysteme des menschlichen Gehirns reagieren nicht nur auf zugefügten körperlichen Schmerz, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung.“

Um noch besser zu verstehen, warum solche Ereignisse die Macht haben, uns dermaßen beuteln zu können, ist es günstig, an dieser Stelle noch ein weiteres psychologisches Ich-Konzepte zu kennen, nämlich unser sogenanntes „Grandioses Selbst“ ³.
Unser „Grandioses Selbst“ bildet sich seiner gesunden Form im günstigen Falle während unseres Aufwachsens ab dem Zeitpunkt unserer Geburt. Als Menschenkind, welches zunehmend die Welt entdeckt, macht unsere Umgebung uns (hoffentlich) kompetent und so gewinnen wir zunehmend die Erwartung, daß im Leben das meiste einigermaßen glatt läuft und – falls einmal nicht – daß wir die Fähigkeiten besitzen, alle anstehenden Lebenssituationen bewältigen zu können.
Sehr bald aber (z.B. wenn wir Teil einer größeren Familie sind – oder spätestens ab dem Kindergarten), müssen wir allerdings beginnen, Korrekturen an diesem Selbstkonzept vorzunehmen: Denn wir werden auf andere Menschen treffen, die, was wiederum ihr grandioses Selbst angeht, sich lauter, aggressiver, oder bloß strategisch geschickter als wir der Welt um uns herum anpreisen können – unsere ersten „Kränkungen“ stellen sich demgemäß ein.
Dazu ergänzt der Neurowissenschaftler Bauer: „Wir können als Menschen nur überleben, wenn wir eine gewisse Resilienz gegenüber kleinen Kränkungen haben. Und diese Resilienz, diese Widerstandskraft erwerben wir dadurch, dass wir ein starkes inneres Selbst in uns haben. Und dieses starke innere Selbst erwerben Menschen als Kinder, nämlich in der Zeit, wo sie aufwachsen. Wenn da Menschen um sie herum sind, die das Kind spüren lassen: Du bist willkommen auf dieser Welt, wenn du mal einen Fehler machst, geht die Welt nicht unter, wir mögen dich so, wie du bist.“

Sind aber darum Kränkungen allein das Problem der Gekränkten? Müssen wir einfach einsehen, dass Erwartungen, die wir ans Leben haben, überzogen sein können? Müssen wir schlicht lernen, es auszuhalten, wenn sie sich nicht erfüllen?
Die Psychologin Bärbel Wardetzki antwortet hier eher vorsichtig: „An sich können wir keinen anderen Menschen kränken, weil wir nicht wissen, wo seine wunden Punkte sind. Jede Kränkung setzt an einem wunden Punkt an, an einer Selbstwert-Verletzung, die vielleicht schon sehr lange vorbei ist. In der Regel werden Menschen von uns gekränkt, obwohl wir es gar nicht merken.“ Und sie fügt hinzu: „Kränkungen sind auch deshalb schwer zu vermeiden, weil jede Seite von sich annimmt, im Guten zu handeln. Nur in seltenen Fällen wird bewusst gekränkt, in der Regel liegt keine Absicht vor.“
Letztere Aussage stimmt übrigens prima mit meinem Eintrag 11 überein, in welchem vom „Schwarzen Fledermausmann“ berichtet wird, der im Alltag stets Heldentaten vollbringen will – aber doch regelmäßig damit nicht gänzlich Erfolg hat.

Psychologie und Neurobiologie weisen selbstverständlich auf einen wichtigen Punkt hin: Je unvollständiger unsere Kompetenzstärkung in unserem Heranwachsen und in unserer Persönlichkeitsbildung geraten ist, umso verunsicherter werden wir in Kränkungssituationen wahrscheinlich reagieren (und also auch unsere Partner*innen so erleben).
Eine Person mit einem schlecht aufgebauten Selbstwertgefühl wird z.B. bei einem einseitigen Bruch einer Absprache eher die Beiträge von Fremd und Selbst vermischen, könnte eventuell schneller in Schuldzuschreibung oder Selbstverdammnis denken wie: „Klar, mir mir kann man das ja machen…“ und wird überhaupt hilfloser agieren, wenn es darum geht, tatsächlich aufzuzeigen, was genau nicht gut gelaufen ist.

Auf der anderen Seite sind auch diejenigen menschlichen Beziehungen, die wir in unserem erwachsenen Leben eingehen, weiterhin Lern- und (Selbst)Erfahrungsort für unsere Eigenwahrnehmung. Und das insbesondere in Hinsicht auf so wichtige Bereiche wie Verläßlichkeit und Verantwortung einerseits – aber auch Wertschätzung und anerkannte Mündigkeit andererseits.

Ich versuche, dies am Extrem zu verdeutlichen: Die Psychoanalysten Richard B. Ulman und Doris Brothers wiesen 2013 in einer Studie* an Vergewaltigungsopfern nach, warum deren entsetzliches Erleben letztendlich quasi zu einer völligen Auslöschung des persönlichen „Grandiosen Selbst“ und einer dadurch hervorgerufenen Traumatisierung führte: Denn nicht nur das übergriffige Geschehen und der völlige Kontrollverlust trugen zu diesem massiven psychischen Schaden bei, sondern genau die damit einhergehende Zerstörung des eigenen Selbstkonstruktes von einem sicheren und selbstbestimmten Individuum.

„Schaden“ in unseren Beziehungen entsteht also vor allem dann, wenn Beteiligte in Situationen geraten, in denen sie sich in ihrer Wirkmächtigkeit (Einflußnahme auf ein Geschehen) und in der Widerspiegelung ihres unveräußerlichen Eigenwertes beschnitten sehen.

Dies geschieht in der Art sehr häufig dann, wenn insbesondere der der Beziehung zugrunde liegende Emotionalvertrag (ich erinnere: „Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“) vor allem einseitig und/oder sehr schnell verändert wird.

Denn schon aus gesundem Eigeninteresse reagieren wir Menschen normalerweise nicht sehr gut darauf, wenn heute etwas anders gelten soll als noch gestern vereinbart – insbesondere dann, wenn wir die dahinterliegenden Motive weder kennen noch gut einschätzen können.

Eine monogame Person muß folglich normalerweise in der Tat nicht damit rechnen, daß morgen eine weitere Partnerin mit nach Hause gebracht wird; und selbst ein Partner in einer etablierten Mehrfachbeziehung sollte darauf zählen können, daß das Hinzukommen eines weiteren Lieblingsmenschen nicht zu einseitiger bzw. willkürlicher Verschiebung bisher ausgehandelter Verbindlichkeiten führt.
Dennoch können diese Dinge geschehen – oder sie können sich aus der Sicht der gekränkten Person auf jeden Fall so darstellen. Und die handelnde Person wiederum braucht dazu in keiner Weise schuldhaft, absichtsvoll oder gar bewußt verletzend vorgegangen sein.

Ist das dann also das (Mehrfach)Beziehungs-Todesurteil, weil wir ja doch befürchten müßten, das ein Großteil von uns mit einem irgendwie nicht ganz vollständigen Selbstwert aus dem individuellen Aufwachsen hervorgegangen ist? Einem lädierten Selbstwert also, der sich daher nie wirklich sicher sein kann – und damit eine allzeit tickende, höchst empfindliche Kränkungsbombe für unsere Nähemenschen bereithält?

In meinem 63. Eintrag zum Thema „Bedeutsame Beziehungen“ schrieb ich, daß „in menschlichen Beziehungen Freiheit und Sicherheit ein Gegensatzpaar, bilden in dem das eine nicht um des anderen Willen zu haben ist.“ Und ich zitiere dort eine bLogger-Kollegin die ausdrückte: „Lass den Versuch los, die Handlungen anderer Menschen zu kontrollieren; lass diese Art von Angst und Anhänglichkeit los. Indem du das tust, wirst du vielleicht einige Menschen entlang des Weges verlieren, aber es werden höchstwahrscheinlich die wackeligsten Kandidaten sein – du weißt schon: diejenigen, die dir von vornherein das Gefühl gegeben haben, dass du mit ihnen keine wirkliche, keine bedeutsame Beziehung geführt hattest.“

Solche „Wackelkandidaten“ werden uns nämlich kaum unsere ureigene Grandiosität jemals wirklich zugestanden noch bestätigt haben.
Noch werden sie jemals belastbare Emotionalverträge mit uns eingegangen sein, indem sie sonst Bereitschaft dafür hätten signalisieren müssen, regelmäßig Rechenschaft für ihre eigenen Anteile darin abzulegen – uns zwar um unserer informierten Wahl willen!

„Bedeutsame Beziehungen“ (wie ich sie in der Oligoamory in den Einträgen 62, 63 und 64 beschrieben habe) enthalten das Bewußtsein um das unvermeidliche menschliche Risiko von möglichen Kränkungen und zwar genau um den kostbaren Preis von Empfindsamkeit und Verletzbarkeit an- und miteinander, mit dem ich die Psychologin Wardetzki zu Beginn dieses Eintrags zitierte.
Beziehungen, die nicht die Menge an Vertrauen und Güte enthalten, sich voreinander erklären zu können, sich als fehlbar und auch zur Revision des eigenen Standpunktes und des eigenen Handelns als fähig zu erzeigen, können daher niemals wirklich „bedeutsame Beziehungen“ sein.

„Grandios“ zu sein heißt darum auch in unseren Liebesbeziehungen, immer wieder wie ein Narr im Märchen hinauszuziehen; eben nicht so sehr im Glauben an unsere eigene Unverwundbarkeit – aber doch wenigsten in dem Vertrauen darauf, daß uns dort niemals ein vollständig schlimmes Schicksal ereilen kann.
Wir werden vermutlich gekränkt werden, ja, und wir werden unserseits höchstwahrscheinlich mehr als nur einmal unsere Liebsten kränken.
Da wir aber alle um unsere Narrheit wissen und sie darum auch nicht voreinander verbergen müssen, wird uns Loyalität, Aufrichtigkeit und Beharrlichkeit immer wieder zueinander führen.
Um also das Zitat aus „Der Standard“ abzuwandeln würde ich abschließend sagen:
Oligo ist vielleicht nicht einfacher – aber hoffentlich berechenbarer, da wissen wir ja jetzt, wie das geht.



¹ Bärbel Wardetzki, diverse Publikationen zum Thema, u.a.:
Mich kränkt so schnell keiner! Wie wir lernen, nicht alles persönlich zu nehmen. dtv, München 2005
Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung. Kösel Verlag 1991; 19. überarbeitete Auflage 2007
Nimm´s bitte nicht persönlich. Der gelassene Umgang mit Kränkungen. Kösel Verlag, München 2012
Und das soll Liebe sein? Wie es gelingt, sich aus einer narzisstischen Beziehung zu befreien. dtv premium, 2018

² Joachim Bauer, diverse Publikationen zum Thema, u.a.:
Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens. Blessing, München 2015
Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing, München 2019
Fühlen, was die Welt fühlt – Die Bedeutung der Empathie für das Überleben von Menschheit und Natur. Blessing, München 2020

³ Das „Grandiose Selbst“ wird im klinisch-psychologischen Zusammenhang auch gelegentlich als „Größen-Selbst“ oder „Grandioses Selbst-Objekt“ bezeichnet.

* Ulman, Richard B.; Brothers, Doris (2013). The Shattered Self: A Psychoanalytic Study of Trauma. Taylor & Francis. p. 114. (lediglich in englischer Sprache)

Danke an Austin Neill auf Unsplash für das grandiose Foto!