…doch der Segen kommt von oben.
Wenn die Oligoamory ein Baum wäre, dann hätte sie verschiedene „Wurzeln“.
Die Hauptwurzel ist ganz sicher die Polyamory, von der meine „Oligo-Amory“ ja gewissermaßen ein Ableger ist.
Die Polyamory, als eine Erscheinungsform der Non-Monogamie (Link leider nur Englisch! ) bietet ein Modell an, worin auf verbindliche Weise nicht-exklusive Liebesbeziehungen zu mehr als lediglich einer Person möglich sein können. Womit „Non-Monogamie“ quasi ebenfalls zu den Wurzeln der Oligoamory zählt, allein schon, weil diese überhaupt die gedankliche Freiheit einräumt, einem Streben nach mehr als einer intimen Beziehung im Leben nachzugeben.
Die Polyamory wiederum, die sich in der großen Gruppe nicht-monogamer Beziehungen mit dem Zusatz „ethische Mehrfachbeziehungen“ auszeichnet, möchte ihrerseits darauf hinwirken, daß solche Mehrfachbeziehungen verantwortlich, einvernehmlich und transparent – also mit größtmöglicher (Gleich)Berechtigung – und vor allem mit dem Wissen und der Zustimmung aller Beteiligten eingegangen werden.
Alle Werte, die in dieser Hinsicht in der Polyamory gelten, sind also in jedem Fall auch für die Oligoamory maßgeblich.
Eine weitere wichtige „Wurzel“ der Oligoamory ist der Gemeinschaftsbildungsprozess, wie er vor allem von dem US-amerikanischen Psychiater und Autor Scott Peck etabliert wurde¹ – und der für viele Zusammenlebensformen wie z.B. Ökodörfer, Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften grundlegend geworden ist. Kern der Gemeinschaftsbildung ist ein sehr integratives und inklusives Denken, welches maßgeblich auf ein „gemeinsames Ganzes“ mit einem „Wir-Gefühl“ im Zentrum zielt. Das Beschreiben als „Prozess“ ist hier der beabsichtigte Hinweis, daß es bei dieser Form des Miteinanders nie einen „endgültigen“ oder „fertigen“ Zustand geben wird, sondern daß es sich dabei um eine Herangehensweise handelt, die von den Beteiligten immer wieder aufgesucht und aktuellen Entwicklungen gemäß weiter angepaßt und gestaltet wird.
Die Oligoamory wäre allerdings auch nicht die „Oligo“-Amory (mit dem Präfix „oligo-“, welches ja von dem altgriechischen Wörtchen ὀλίγος olígos „wenig“ stammt), wenn sie nicht auch eine Lebens- und Liebensforms nahelegen würde, die eher auf einen überschaubaren Kreis von Beteiligten hinaus möchte. Und in dieser Eigenschaft sind Wurzeln in der Oligoamory enthalten, die u.a. aus Bedürfnissen der Hochsensibilität hervorgehen, wie sie von der US-amerikanischen Psychologin Elaine Aron formuliert wurden.
Da ich als Autor dieses bLogs mich selbst als hochsensibel beschreibe, habe ich für mich herausgefunden, daß eine hohe Fürsorge hinsichtlich der Qualität (vor Quantität!) meiner Sozialbeziehungen der Beschaffenheit und der Relevanz derselben außerordentlich zu Gute kommen, insbesondere was Kohärenz, Berechenbarkeit und Innigkeit angehen.
Da ich über die Hochsensibilität persönlich sehr stark mit den vielfältigen Übergängen hinsichtlich Nuancen, Facetten und Schattierungen der Welt und meines gesamten Daseins konfrontiert bin, die sich natürlicherseits eher selten reiner Einordnung von „entweder…oder“ unterwerfen, war ich – neben der Polyamory – ebenfalls von dem Ansatz der Beziehungsanarchie fasziniert, die so ebenfalls zu einer Wurzel der Oligoamory geworden ist.
Diese Beziehungsphilosophie, die erstmals von der schwedischen Journalistin Andie Nordgren formuliert wurde, lehnt künstliche bzw. ausschließlich sozial tradierte Kategorienbildung zur Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen ab.
Ob eine andere menschliche Person für mich beste*r Freund*in, Liebste*r, Gefährt*in, Bekannte*r, Lieblingsmensch, Partner*in oder was auch immer ist – dies alles ist gemäß der Anschauung der Beziehungsanarchie allein Vereinbarungssache der an der jeweiligen Beziehung Beteiligten. Ebenso ist es lediglich Vereinbarungssache jener Beteiligten „was“ – also quasi „welche Füllung“ – den Inhalt dieses individuellen Binnenverhältnisses dann ausmacht. Sei dies platonische Freundschaft, die Widmung zu einem verbindenden Hobby oder einem anderen Engagement, Seelenverwandtschaft, Bestreiten eines gemeinsamen Alltags, eine Wochenendbeziehung, Sexualität, alles davon zusammen oder welche Mischung noch ganz anderer Merkmale auch immer – all dies bildet einen Möglichkeitenspielraum ab, der schwerlich mit einem konkreten Begriff zu fassen ist, sondern vielmehr von den Teilhabenden beschrieben werden müsste, sollten sie gefragt werden, welcher Art Natur ihre Beziehung zueinander denn hätte.
Somit ist es ebenfalls Teil der Beziehungsanarchie (Stichwort „herrschaftsfrei Lieben“), daß aufgrund der freien Verhandelbarkeit, welche ausschließlich die Beteiligten der Beziehung angeht, keine äußeren Regeln oder Grenzen angelegt werden, was z.B. „nur“ zwischen Freunden, „lediglich“ zwischen Liebsten oder „ausschließlich“ zwischen Intimpartnern möglich und/oder sozial akzeptabel sein kann.
Exakt diese Kategorienlosigkeit und Freiheit der Vereinbarung sind ebenfalls Teil der Oligoamory, die sich in diesem Aspekt gut mit dem nonkonformen und queeren Erbe der Polyamory (siehe Eintrag 50) verbinden.
Wenn ich meine Oligoamory beschreibe, fallen mir meist noch zwei weitere wesentliche Wurzeln ein:
Zum einen ist dies Romantik. Dazu beschreibe ich bereits in Eintrag 34, daß ich das sogenannte (und als Topos der fiktionalen Erzählung geradezu schon fast archetypische) „Selbstopfer“ für ein Kernmotiv der Romantik halte. Was jedoch in Mythen, Romanen und Erzählungen manchmal so dramatisch daherkommt, hat für mich in der Oligoamory eine ganz handfeste, alltägliche Erscheinungsform: Den Willen, für die anderen Beteiligten in einer Beziehung über den eigenen „Dunstkreis“ hinaus den berühmten „extra Meter“ weiter zu gehen. Sicherlich erkennen wir an dieser Stelle darin auch den Gemeinschaftsbildungsprozeß von Scott Peck, worin ohne solches uneigennütziges Denken niemals ein „gemeinsames Wir“ erreichbar wäre.
Gleichzeitig steckt für mich darin aber auch ein Teil dessen, was die humanistischen Psychologen Carl Rogers und Abraham Maslow als Teil der „Selbst-Verwirklichung“ bezeichneten. Ich nenne diesen Teil manchmal etwas humorvoll „Komfortzonenstretching“.
Insbesondere in unseren allernächsten zwischenmenschlichen Beziehungen – solchen familiärer Natur, aber eben auch gerade den „selbstgewählten“ – werden wir doch am regelmäßigsten mit dem konfrontiert, was der kanadische Psychologe (und Vater der sozial-kognitiven Lerntheorie) Albert Bandura „Selbstwirksamkeitserwartung“ nannte. Und damit meine ich all jene Situationen, wo wir mit Umständen, Motivationen, Gefühlen und Handlungen konfrontiert werden, bei denen wir uns unwillkürlich fragen „Kann ich das schaffen?“ – und wo wir uns dem, was dann darauf folgt, stellen müssen. Der natürliche Reflex des „inneren Schweinehunds“ wäre natürlich, solcherlei Herausforderungen möglichst flott den Rücken zu kehren, aus einem „Nein, ich kann das (vielleicht) nicht.“ ein „Nein, ich will das gar nicht!“ zu machen und auf diese Weise innerhalb unserer Komfortzone zu bleiben. Womit wir uns aber prompt die Chance zu weiterer „Selbst-Verwirklichung“ selber genommen hätten…
Jedes mal jedoch, wenn unsere allernächsten Mitmenschen, Freund*innen, Liebste, Gefährt*innen, Bekannte, Lieblingsmenschen und Partner*innen es uns Wert waren, unsere Komfortzone mit der Überzeugung „Ich kann das (doch)!“ zu verlassen, sind wir selbst wieder ein Stück selbstwirksamer geworden – und damit zugleich ein kleines Stückchen mehr „eine noch bessere Version unserer selbst“.
Wenn es im romantischen Narrativ also heißt, daß da ein*e Held*in den „Weg des größtmöglichen Mutes“ beschreitet, dann ist es vor allem das, was damit gemeint ist: Um der anderen willen wachsen wir an uns selbst. Romantischer kann es in der Oligoamory nahezu nicht mehr werden…
Zum anderen bleibt mir noch Idealismus aufzuzählen, und Idealismus geht – ok, das war zu erahnen – ganz sicher auch mit Romantik Hand in Hand. Selbst die deutschsprachige Wikipedia meint, daß „im alltäglichen Sprachgebrauch Idealismus z.B. eine altruistische, selbstlose Haltung bezeichnet“. Die gleiche Wikipedia meint aber auch, daß Idealismus „hervorhebt, dass die Wirklichkeit in radikaler Weise durch Erkenntnis und Denken bestimmt ist“ (und wer wäre ich als Beziehungsphilosoph da zu widersprechen…!).
Wenn ich hinsichtlich der Oligoamory von Idealismus spreche, dann meine ich hier hauptsächlich den unübertrefflich durch den tschechischen Dramatiker, Essayisten, Menschenrechtler und Politiker Václav Havel ausgedrückten Aspekt in seinen Worten »Hoffnung ist nicht die Überzeugung dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« [erstmals zitiert in Eintrag 61]
Denn wenn der Psychiater Scott Peck Recht hat (und aller Wahrscheinlichkeit nach hat er das), daß unsere menschlichen Nahbeziehungen niemals abgeschlossene Gebilde sondern all die Dauer ihrer Existenz hindurch offene, sich organisch entwickelnde, stets erneut aufzusuchende Prozesse sind, dann entziehen sich diese schon aufgrund dieser Natur jeder Leistungsbewertung von „gut“ oder „schlecht“. Und sollten wir als Beteiligte versuchen, uns einem solchen Diktat von Leistungskriterien in unserer Beziehungsgestaltung zu unterwerfen, dann kämen wir in unserer guten Maslowschen Selbstverwirklichung und Selbstwirksamkeit wohl kaum auf einen grünen Zweig.
Idealismus aber stellt (wie Wikipedia besagt) die Frage nach möglichem Sinn und nach Erkenntnis. Und Václav Havel spricht uns zu, daß dies durchaus sehr gut auch innerhalb von Prozessen möglich ist, selbst, wenn diese gar kein „Ende“ im klassischen Leistungssinne aufweisen. Mit Albert Bandura ermutigt er uns vielmehr, unsere Motivationen, Gefühle und Handlungen immer wieder in der Weise an unseren Werten und Überzeugungen auszurichten, so daß diese uns als eine Art Leitstern aus unserer Komfortzone herauslocken: „Ich kann das!“.
Die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras verheißt uns also – insbesondere im Hinblick auf uns, die wir Mehrfachbeziehungen anstreben – daß unser Selbstwertgefühl wachsen wird, je mehr soziale Rollen wir uns zutrauen. Ja, noch mehr: Da „Selbstwertgefühl“ ja bedeutet „selbst etwas wert zu sein“, daß wir uns durch unsere sozialen Rollen in Beziehungen selbst regelmäßig „als wertvoll empfinden“.
Heute habe ich also noch einmal die wichtigsten Wurzeln der Oligoamory beschrieben. Und im Vorfeld dieses Artikels habe ich über diese nachgedacht und festgestellt, daß für mich doch eine weitere Komponente noch fehlt.
Ich könnte mir ja jetzt die perfekte oligoamore Beziehung vorstellen. Sie wäre im Kern polyamor, in einem fortwährenden Gemeinschaftsbildungsprozeß, sie hätte eine hohe Qualitäts- und Selbstfürsorge im Sinne der Hochsensibilität, sie wäre kategorienfrei und sowohl romantisch-altruistisch als auch selbstverwirklichend-idealistisch.
Wäre dies alles gegeben, würde auch ich sagen, daß dies durchaus eine gute (Mehrfach)Beziehung beschreiben würde – und doch…
So wie ich hier heute sitze wünsche ich Euch, daß Ihr zu diesen Zutaten noch über eine weitere verfügt, die ich heute schlicht und unspezifisch Spiritualität nennen möchte.
„Spiritualität“, sagt die deutsche Wikipedia, „ist die Suche, die Hinwendung, die unmittelbare Anschauung oder das subjektive Erleben einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit, die der materiellen Welt zugrunde liegt“. Wikipedia nennt als Bestandteile der Spiritualität ferner „Sinn- und Wertefragen des Daseins“, „Erfahrungen der Ganzheit der Welt“ sowie „Verbundenheit mit der eigenen Existenz“.
Und ich glaube ohne diese letzteren drei Impulse könnten wir eine nach oligoamoren Maßstäben durchaus recht vollkommene Beziehung haben – aber unser Herz würde darin doch eventuell etwas klamm bleiben.
Vielleicht liegt es bei mir daran, daß ich eine rein verstandesbasierte Ethik als alleinige Grundlage für mich nicht als ausreichend erachte.
Vielleicht liegt es daran, daß ich für mich konstatiere, daß ich zur Zeit immerhin noch in einer Welt existiere, in der die Wissenschaft noch lange nicht auf alle Fragen eine konkludente Antwort gefunden hat, sondern in der sogar die klügsten Köpfe mit Ehrfurcht im Blick bestätigen, daß jeder just zufriedenstellend beantwortete Zusammenhang augenblicklich ein fröhliches Völkchen weiterer und tiefergehenderer Fragen im Gepäck hat…
Wahrscheinlich ist es bei mir aber vor allem so, wie es Friedrich Schiller mit seinem „Lied von der Glocke“ erging, dessen eine Zeile mir meine Überschrift zu diesem Eintrag geliefert hat. Und dahingehend wird es vermutlich kein Wunder sein, daß die wesentlichsten Bestandteile der Oligoamory ausgerechnet von einer neopaganen Autorin (Eintrag 49) und einem christlichen Gemeinschaftscoach (u.a. Eintrag 8) stammten:
Jeden Tag beschreiten wir erneut unerschrocken den „Weg des größtmöglichen Mutes“, dehnen unverzagt das Maß unserer Selbstwirksamkeit; wir überschreiten dabei regelmäßig für die Menschen, die uns wichtig sind, die Grenzen unseres eigenen Komforts; wir fragen, wenn es darauf ankommt bzw. jemand nachts verweint an unserer Tür steht nicht, ob jemand Liebste*r, Freund*in oder „nur“ Nachbar*in ist; sensibel versuchen wir ungeachtet dessen die Qualität unserer Beziehungen zu verbessern; wir erweisen uns als Teil einer Gemeinschaft und wir wollen aufrichtig echte Liebesbeziehungen und darin nicht bloß auf eine Person beschränkt sein…
Der „Segen“ aber, gleichsam der „Sinn“ – und zwar „egal wie es ausgeht“ –, wird aber in all diesen Dingen etwas sein, was „größer ist als wir“, etwas, das „über uns hinausgeht“.
Und hier werden Mehrfachbeziehungen, ja, gelingende menschliche Beziehungen insgesamt, für mich zu etwas wirklich Wunderbarem.
Denn das, was „größer ist als wir“, „über und hinausgeht“ wird in der Spiritualität genau eben als „transzendent“ (von lateinisch transcendere „übersteigen/überschreiten“) bezeichnet. Es ist das, was ich von der ersten Stunde der Oligoamory als die Komponente beschrieben habe, die „mehr als die Summe der Teile“ erzeugt – also aus dem Zusammenwirken aller Beteiligten hervorgeht und den Mehrwert hervorruft, von dem (hoffentlich) alle profitieren.
Dazu DASS dieser Sinn, dieser Mehrwert entstehen kann, rufen wir aber etwas in einer*einem jeden von uns ab, was jede*n von uns einzigartig macht, genau jenen unveräußerlichen Selbstwert, der jede*n von uns zu „uns“ macht und ohne den die einzigartige Komposition von Zutaten in einer Beziehung nicht funktionieren würde. Exakt dieses in den Dingen und Lebewesen Enthaltene, das sich aus ihrer individuellen und objektiven Existenz ergibt, wird wiederum in der Spiritualität als „immanent“ (von lateinisch immanere, ,darin bleiben‘, ‚anhaften‘) bezeichnet.
Wie heißt es nochmal in Schillers „Lied von der Glocke“: »…soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben.«? Meinethalben hätte der große Dichter und Denker auch »…von innen« schreiben können. Denn wir brauchen demzufolge eh beides, Immanenz zur Transzendenz und Transzendenz in Immanenz; beide gehen auseinander hervor – und keine der beiden Erscheinungen kann ohne die andere bestehen (wenigstens in der Oligoamory).
Näher können wir dem, was in vielen Religionen als Göttlichkeit bezeichnet wird, in unserem Sehnen, Streben und Schaffen für uns und in unseren Beziehungen nicht kommen.
Jener Art Göttlichkeit, die schon in allen von uns wohnt und die nur darauf wartet, Schicht um Schicht immer mehr zu Tage treten zu dürfen.
Und das ergibt in jedem Fall einen Sinn.
Egal wie es ausgeht.
¹ Vor allem niedergelegt in: Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ A Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag
Danke an Ashwini Chaudhary auf Unsplash für das Foto!