Eintrag 48

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 2

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Gött*innendämmerung

Die Umwälzungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert berührten auch das spirituelle Leben der Menschen, nachdem mehrere Jahrhunderte lang vorwiegend die christlichen Kirchen nahezu ausschließlich für die geistlichen Bedürfnisse der Bevölkerung von Europa wie auch Amerika zuständig gewesen waren. Durch nun immer größere gesellschaftliche Aufklärung, sich verbessernde Bildungschancen und zunehmende (Wahl)Freiheiten, begann sich ein Wunsch nach religiösen Modellen zu regen, die vermehrt aktive Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeiten boten, sowie eine Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens.
Dies führte neben einer zunehmenden Hinwendung zu z.B. hinduistischen und buddhistischen Lehren ebenfalls zu einem neu entfachten Interesse an vorchristlichen Traditionen der mediterranen Antike wie auch an den vor-christlichen, heidnisch-paganen Urreligionen Nordwesteuropas.

Die scheinbar plötzliche Aufmerksamkeit für antike und heidnische Mythen der Vorzeit kam allerdings durchaus nicht aus dem blauen Himmel: Archäologen wie Heinrich Schliemann oder auch Ägyptologen wie Sir Arthur Evans hatten z.B. mit neuen Techniken und konkreten Bodenfunden zu rekonstruieren begonnen, daß zahlreiche Legenden und Mythen der Vergangenheit in Teilen vermutlich einen belegbaren, wahren Kern enthielten. Die schiere Möglichkeit, daß Sagen wie die von Odysseus, Kleopatra, König Arthur, den Nibelungen und Attila, sogar Lugh mit der langen Hand oder den Gestalten der Edda sich so oder so ähnlich eventuell wirklich zugetragen haben könnten, inspirierte in Folge zahllose Künstler*innen in Bild, Wort, Skulptur und Musik, allerdings ebenso zahlreiche nationale Sammlungs- und Erhebungsbewegungen, die nun ein „wiederentdecktes Erbe“ der Kelten (z.B. Druidentum), Angel-Sachsen, Germanen, Slawen, etc. aus handfesten politischen Gründen beschworen und entsprechend instrumentalisierten.

Die wissenschaftliche Herangehensweise um die Jahrhundertwende besaß allerdings kaum irgendeinen kritischen Diskurs: Die meisten „Fach“leute auf ihrem Gebiet waren meist die allerersten Personen überhaupt, die sich mit einer bestimmten Materie auseinandersetzten, es gab nahezu keine Vergleichsmöglichkeiten und fachübergreifendes Arbeiten steckte noch in den Kinderschuhen. In Folge geriet die „graue vorchristliche Vorzeit“ regelmäßig zu einer schillernden Leinwand für freiheitliche Ideale, egalitäre Ideen und kulturelle Gegenentwürfe, die oftmals stärker dem Sehnen und dem Engagement der Forschenden selber als eindeutig belegbaren Feldbeweisen entsprachen. „Lücken“ wurden häufig zunächst wieder mit Poesie oder zweckdienlichem Wunschdenken gefüllt, eine kritische, wissenschaftliche Opposition gab es noch nicht.
Auf diese Weise begann sich die Vorstellung einer überraschend emanzipatorischen, versunkenen antik-heidnischen „Idealwelt“ zu etablieren, für die sich scheinbar europaweit immer mehr historisch-literarische und archäologische „Beweise“ fanden.
Federführend in dieser Hinsicht waren vor allem der Schweizer Altertumsforscher und Anthropologe Johann Jakob Bachofen („Das Mutterrecht“; 1861), der Ethnologe und Philologe James George Frazer („Der goldene Zweig“, 1890), der US-amerikanische Volkskundler und Philologe Charles Godfrey Leland („Aradia Die Lehren der Hexen; 1899), sowie – last but not least – die Anthropologin und Ägyptologin Margaret Alice Murray. Letztere formulierte schließlich in ihrem Buch „Der Hexen-Kult in Westeuropa“ (1921) eine volkskundliche Studie, die eine vollständige Theorie über eine paneuropäische, vorchristliche, paganistische Religion präsentierte.
Diese Religion sollte auf einem polaren (=gegensätzlich bei wesensgleicher Zusammengehörigkeit; Duden) Gottesbild beruht haben, welches aus einer lunaren, „ewigen Muttergöttin“ (z.B. Hekate, Kybele, Isis etc.) und ihrem Gefährten, einem solaren, „Vegetationsgott“ (z.B. Tamuz, Pan, Apollo etc.) bestand – und dadurch weiblich-matriarchisch betont war. Diese tief in die Zeit zurückreichende Verehrung wäre erst mit der mittelalterlichen Hexenverfolgung zu Ende gegangen, als die letzten Personen, die noch in Kleingruppen (sg. „Zirkeln“ oder „Coven“) diese Religion ausübten, ausgelöscht worden seien.
Der wissenschaftlichen Aufbereitung durch Murray (und ihren Vorschreiber*innen) folgte eine weitere Sehnsuchtswelle künstlerischer Annäherungen; beispielhaft seien hier Dion Fortune mit der „Seepriesterin“ (1938) oder Robert Graves mit seiner „Weißen Göttin“ (1948) genannt. Das Bedürfnis etlicher Menschen nach solch einer vermeintlich „unverfälschten Form ursprünglicher Spiritualität“ war groß – es galt nur noch, eine Form, einen Rahmen zu finden, um Lieder, Mythen und Götterbilder (wieder) zu einer praktizierbaren Religionsform zu machen.

Nun stammten die interessierten Rezipienten der „neuen alten Mythen“, die auch die Muße und den Horizont hatten, den erstaunlichen Entwicklungen in Forschung und Literatur zu folgen, vielfach aus einer bürgerlich gebildeten Mittelschicht. In dieser Mittelschicht war es seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unüblich, sich für gesellschaftlichen Austausch, Aufbau von Einfluß oder zu karitativen Zwecken „magischen“ bzw. „okkulten“ Vereinigungen, wie z.B. den Freimaurern oder den Rosenkreutzern anzuschließen (quasi als eine Art „sozialer Club“). Diese Vereinigungen besaßen häufig noch einen substantiellen Ritus an Zeremonien und Gebräuchen, die z.B. zum Zwecke von Neuaufnahmen oder bei festlichen Anlässen ausführlich praktiziert wurden.
Manche dieser Zeremonien waren tatsächlich sehr alt und gründeten in neoplatonistischen bzw. hermetischen Ritualen oder auch in Gebräuchen mittelalterlicher Handwerkszünfte. U.a. charismatische Personen wie Éliphas Lévi (Loge „Rose der vollkommenen Stille“ ; 1861), Samuel Liddell MacGregor Mathers (Hermetischer Orden der goldenen Dämmerung ; 1888) und der berühmt-berüchtigte Aleister Crowley (Orientalischer Templerorden [OTO]“ ; 1912) wurden auf diese Weise zu wegbereitenden „Formgebern“ einer aufblühenden magisch-heidnischen Neo-Spiritualität.
Es bedurfte nur noch weniger Federstriche, die verschiedenen Initiativen zu einem praktizierbaren Ganzen zu verbinden…

Diese Rolle war dem Briten Gerald Gardner beschieden, der 1949 aus den bisher skizzierten Ideen und Vorstellungen ein erstes Buch der Schatten kompilierte, mit dem er dann auch in der Praxis wagte, einen ersten tatsächlich praktizierenden heidnischen Zirkel der Neuzeit als spirituell arbeitende Gruppe mehr oder weniger öffentlich zu etablieren.
Gardner nannte das so entstandene Konzept „Wicca“ (nach der angelsächsischen Bezeichnung „Wicce“, »Hexe«) Er übernahm die erwähnte weiblich-matriarchische Betonung sowie auch die Covenstruktur (Hexenzirkel/Konvent), so daß stets eine „Hohepriesterin“ (oder auch „Magistra“) die rituelle Leitungsfunktion einer solcherart überschaubaren Kleingruppe übernahm.
Die zweite Hohepriesterin von Gardners eigener Start-Gruppe, Doreen Valiente, überarbeitete maßgeblich die in verschiedenen noch nicht völlig zusammenhängenden Teilen existierende Version des „Schattenbuches“, wodurch bis 1954 ein druckfähiges Exemplar für ein größeres Publikum geschaffen wurde.

Gardners und Valientes Konzeption von Wicca, als Herangehensweise für ein „praktizierfähiges Hexen- bzw. Heidentum“, traf einen nicht unerheblichen spirituellen Bedarf, der in Teilen von non-konformen, romantisierenden oder auch esoterischen Kreisen genau bezüglich des eingangs erwähnten Bedürfnisses nach „aktiver Selbstbeteiligung und Gestaltungsmöglichkeit, sowie der Wahrnehmung eines stärker individualisierten geistig-seelischen Erlebens in spirituellen Belangen“ bestand.
Die von Murray übernommene, zellenartige und minimal-hierarchische „Covenstuktur“ („Zirkel“) als Kleingruppe von maximal 13 Teilnehmer*innen kam dabei zusätzlich einer potentiell individualistischen Gestaltungs- und Erlebenskultur entgegen.
Bis zu Gardners Tod 1964 entstanden durch diese Zellenstruktur – also durch das Bilden von „Ablegern“ des Muttercovens – in Großbritannien ca. 8 weitere Zirkel; der „internationale Durchbruch“ sollte aber über die USA kommen, in denen „Wicca“ auf höchst fruchtbaren Boden gelangte.

Schon 1960 war nämlich Monique Wilson durch Gardners vierte Hohepriesterin, Lois Bourne (aus dem urspünglichen Start-Coven), in Wicca eingeführt („initiiert“) worden.
1961 hatte Monique Wilson bereits ihren eigenen Ableger-„Coven“ (Zirkel) in Perth (Schottland) gegründet, wo sie ihrerseits 1963 das Ehepaar Rosemary und Raymond Buckland zu Praktizierenden der Hexenkunst weihte (welche seit 1962 in den USA lebten und in regelmäßigem Briefkontakt zu Gerald Gardner standen).
Rosemary und Raymond gründeten in Folge den ersten „offiziellen“ Wicca-Coven der USA in New York; jedoch hatten unabhängig davon seit 1954 längst etliche Kopien von Gardners „Buch der Schatten“ die Staaten erreicht, wodurch sich bereits eine Vielzahl unterschiedlicher nicht-gardnerianischer „Wicca-Traditionen“ zu etablieren begonnen hatten.
In den USA traf „Wicca“ somit jedenfalls rechtzeitig auf die brodelnde Mixtur aus Bürgerrechtsbewegung, gesellschaftlichem Aufbruch, Freiheitsstreben (Womens/Gay Lib.) und „spirituellem New Age“ der Kennedy/Johnson-Ära (Stichworte: Raumfahrtprogramm, Abschaffung der Rassentrennung, Hippiekultur, Vietnamkrieg, Konsumanstieg, Gesundheitsverbesserung, Erhöhung der Frauenbeschäftigung) – Faktoren, die schließlich maßgeblich auf die Grundideen ethischer Non-Monogamie Einfluß nehmen sollten.
Bevor jedoch zum ersten Mal das Wort Polyamory wirklich ausgesprochen und geschrieben wurde, mußten sich zuvor noch zwei wirklich bemerkenswerte Persönlichkeiten – eine Hexe und ein Magier natürlich – begegnen.
Von diesem außerordentlichen Zusammenwirken berichte ich in Teil 3.


In meinem heutiges Fazit möchte ich mich vollkommen dem Religionsanthropologen Michael Strmiska anschließen, der sich in seiner Forschung intensiv mit der „Renaissance“ paganistischer und heidnischer Bewegungen auseinandersetzt; er schrieb dazu:

„Moderne Heiden lassen religiöse Traditionen der Vergangenheit wieder aufleben, rekonstruieren sie und erfinden sie neu; Traditionen, die lange Zeit unterdrückt wurden, sogar bis zu dem Punkt, dass sie fast völlig ausgelöscht wurden…
Daher können die heutigen Heiden, von einigen wenigen möglichen Ausnahmen abgesehen, nicht behaupten, dass sie religiöse Traditionen fortsetzen, die in einer ununterbrochenen Linie von der Antike bis zur Gegenwart überliefert wurden.
Sie sind moderne Menschen mit einer großen Ehrfurcht vor der Spiritualität der Vergangenheit, die aus den Überresten der Vergangenheit eine neue Religion – in modernes Heidentum – gestalten, die sie nach modernen Denkweisen interpretieren, anpassen und modifizieren“.

[…]
„Der Aufstieg eines modernen Heidentums (Neo-Paganismus) ist sowohl ein Ergebnis als auch ein Maß für die zunehmende Religionsfreiheit und die zunehmende Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt in modernen Gesellschaften, eine Freiheit und Toleranz, die durch die Eindämmung der manchmal unterdrückenden Macht möglich wurde, die in den vergangenen Jahrhunderten von christlichen Autoritäten ausgeübt wurde, um Gehorsam und Teilnahme zu erzwingen.
Um es anders auszudrücken: Das moderne Heidentum ist eines der glücklichen Stiefkinder des modernen Multikulturalismus und des sozialen Pluralismus.“
[siehe auch Teil 4]



Quellen:
Raven Grimassi, „The Wiccan Mysteries: Ancient Origins and Teachings“, Llewellyn 1997

Ronald Hutton, „The Triumph of the Moon – A History of Modern Pagan Witchcraft“, Oxford-Press 1999

Philip Heselton, „Wiccan Roots: Gerald Gardner and the Modern Witchcraft Revival“, Capall Bann 2000

Michael F. Strmiska; „Modern Paganism in World Cultures: Comparative Perspectives“; Santa Barbara, Dencer and Oxford (2005)

Danke an Simon Hattinga Verschure auf Unsplash für das Foto des Callanish-Steinkreises auf der Isle of Lewis (Äußere Hebriden).

Eintrag 47

Die Schultern, auf denen wir stehen – Teil 1

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Die besten Geschichten aber schreibt die Wirklichkeit selber – oder vielmehr: Es ist die Wirklichkeit, die ihren Ausdruck in Geschichten findet, wiederum Impulse aus diesen aufnimmt und schließlich zu einem unglaublich bunten Teppich verwebt.
Diese vierteilige Artikelserie möchte ich der Geschichte der Oligoamory widmen, insbesondere ihren faszinierenden Wurzeln und ihrem wichtigsten Wert, der Selbsterkenntnis.

Von Dschungeln und Monden

Im Jahre 1865 wurde Rudyard Kipling in Bombay als Sohn einer anglo-indischen Familie geboren. „Anglo-indische“ Familien, das waren genau genommen wohlhabende britische Familien, die aber – durch die Kolonialherrschaft bedingt – vollständig in Indien lebten und auch weitgehend vom dortigen Kulturraum beeinflußt waren. In seinen Lebenserinnerungen schrieb Kipling später, daß er in seinen ersten Lebensjahren hauptsächlich von einer indischen „Ayah“ (Kindermädchen) betreut wurde. „Am Nachmittag, bevor wir uns schlafen legten, erzählte sie oder einer der Meeta (männl. Hausangestellter) uns Geschichten und indische Kinderlieder, die alle unvergeßlich waren, und als wir später ins Esszimmer geschickt wurden, nachdem wir angezogen worden waren, erhielten wir die Ermahnung: ‚Sprich jetzt Englisch mit Papa und Mama‘.“ Englisch, so schrieb Kipling weiter, hätte er auf diese Weise schließlich quasi als Fremdsprache empfunden.
Schon 1870 wurde der kleine Rudyard aber bereits aus diesem Paradies verstoßen: Er wurde (zusammen mit seiner jüngeren Schwester) zur weiteren Erziehung und Ausbildung – wie es damals üblich war – zu Pflegeeltern nach England geschickt. Der Sprach- und Kulturschock waren groß, die Sitten streng – und auch darüber finden sich Eintragungen in seinen späteren Lebenserinnerungen.
Erst zwölf Jahre später, 1882, konnte Kipling wieder an die Orte seiner verlorenen Kindheit zurückkehren, abermals begleitet von einem Wechselbad starker Gefühle; er schrieb: „Ich befand ich mich in Bombay, wo ich geboren war, und bewegte mich zwischen Anblicken und Gerüchen, die mich Sätze in meiner angestammten Sprache [Kipling bezieht sich auf Marathi!] stammeln ließen, deren Bedeutung ich nicht mehr kannte…“.
Kipling gelang es jedoch mit familiärer Unterstützung, auch dank seiner reichen Phantasie und seines ausgeprägten Intellekts, aus diesen widerstreitenden Erfahrungen inspiriert hervorzugehen. In den nächsten zwölf Jahren lebte und arbeitete er journalistisch wie schriftstellerisch in England, Indien und in den USA, heiratete und gründete eine eigene Familie.
Im Winter 1892, in dem auch seine erste Tochter geboren wurde, begann sich Kipling mit der Idee zu einem Kinderbuch zu beschäftigen, in welches auf diese Weise verschiedene Motive aus seiner eigenen Kindheit Eingang fanden. Da waren zum einen die uralten indischen Legenden, die er von seiner Ayah kannte, Fabeln aus dem „Panchatantra“ (eine Sammlung alter indischer Tiermärchen) sowie die Jataka-Erzählungen (Mythen über den Buddha in seiner tierischen und menschlicher Gestalt). Aber vermutlich auch geflüsterte Dienstboten-Geschichten über die „Dschungelkinder von Husanpur und Sultanpur“ (Berichte über mehrere „Wilde Kinder“, die dem Hörensagen zufolge zwischen 1846 und 1848 in den indischen Provinzen Agra und Oudh ohne menschliche Obhut in der Wildnis überlebend aufgefunden wurden¹). Und natürlich Kiplings eigne Lebenserfahrung, als „Spross zweier Welten“ – der indischen und der europäischen, und seinem eigenen Aufwachsen unter stark gegensätzlichen Anschauungen.
Diese – teils sehr persönlichen – Eindrücke bewegten Kipling zu der Auseinandersetzung mit einer Frage, die auch die gerade erst aufblühende Wissenschaft der Psychologie seiner Zeit ebenfalls stark beschäftigte: Welche Umstände sind es, die einen Menschen zum Menschen machen und was sind die entscheidenden Faktoren, welche die Entwicklung eines Individuums beeinflussen?
Rudyard Kipling beantwortete diese Frage für sich mit dem ersten Teil seiner ab 1894 erschienen „Dschungelbücher“, mit der Geschichte des Findelkindes Mowgli, der im Dschungel von Wölfen aufgezogen und schließlich von diesen, sowie einem Panther, einem Bären und einem Python „sozialisiert“ wird.
Kipling entwarf eine faszinierende und exotische Welt, in der ein Menschenkind seinen Weg zu Überlebensfähigkeit und Ethik findet, einzig angeleitet von den mythischen Kräften seiner inneren und der allgegenwärtigen äußeren, (ungezähmten) Natur. Sein Buch wurde ein Welterfolg, sicher auch, weil in seiner Erzählung an vielen Stellen der Glaube an ein „immanent Gutes“ im Menschen und in der Gesamtschöpfung hervorschimmert – möglicherweise ein Abglanz der zukunftsfrohen Zuversicht des 19. Jahrhunderts, vielleicht aber auch der Zuversicht von Rudyard Kipling selber, der seinen Lebensweg ja eben auch „zwischen zwei Welten“ finden mußte – und fand.

Etwa 25 Jahre und einen Weltkrieg später, um das Jahr 1920 herum, begann ein weiterer Junge, diesmal in den USA, seinen Weg „zwischen den Welten“ zu suchen. Jugendliteratur war noch keinesfalls so vielfältig wie heute, für „Knaben“ gab es aber neben Klassikern wie E.A. Poe (z.B. „Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket“) oder J. Verne (z.B. „Von der Erde zum Mond“) zunehmend Autoren wie Jack London (u.a. „Der Rote“), H.G. Wells (z.B. „Die Zeitmaschine“) oder eben Rudyard Kipling (u.a. „Die Luftaufsichtsbehörde“), die sich an einem neuen Genre visionärer Fiktionen hinsichtlich Technik, Wissenschaft und Gesellschaft erprobten. Solcherart Geschichten begannen auch zunehmend in einem gänzlich neuen Format auf den Markt zu kommen, nämlich als wöchentliche oder monatliche Heftchenmagazine, in denen Erzählungen verschiedener Autoren für kleines Geld dem Lesepublikum dargeboten wurde.
In diese bunte Welt begab sich auch der junge Robert A. Heinlein, zunächst als Leser – aber nachdem er seine kurze Marinekarriere gesundheitsbedingt beenden mußte – schließlich als überaus eifriger wie begabter Schreiber.
Aus Heinleins Feder stammten fortan immer wieder Serien wie z.B. die zwiespältigen „Starship Troopers“ (bis 1959). Dieser Geschichtenzyklus war in seinem Militarismus und Totalitarismus stark von Heinleins eigenen Militärerfahrungen beeinflußt. Allerdings war Heinlein beim Militär ebenso aufgefallen, wie „gleichmachend“ – was z.B. Alters-, Standes- und sogar Geschlechtsunterschiede betreffend – militärische Strukturen sich außerdem auswirken konnten. Noch heute läßt sich sowohl in seinen Texten als auch in den späteren Verfilmungen ein Hauch von diesen überraschend egalitären Vorstellungen spüren, wenn vor martialischem Hintergrund Frauen wie Männer gleichermaßen berechtigt wie körperbewußt mit hoher Selbstverständlichkeit interagieren.
Als sich Heinlein ab Ende der 50er Jahren des 20. Jahrhunderts sich dem Zenit seines Schaffens näherte (er begann im Science Fiction Genre neben I. Asimov und A.C. Clarke zu den „Großen Drei“ gezählt zu werden), griff er eine Idee auf, die ihn schon seit gut zehn Jahren umtrieb: Eine moderne Konzeption von R. Kiplings „Dschungelbüchern“ zu entwerfen. Heinlein war, wie Kipling seinerzeit, ebenfalls regelmäßig in seinen Publikationen von der Frage fasziniert, „was den Menschen zum Menschen machen“ würde – und welche Kräfte dieses „Menschsein“ bestimmten. Heinlein wollte für seine literarische Projektion dieses Themas jedoch über Kiplings „Mowgli“ hinausgehen, dessen „Menschenjunges“ ja doch von eher nobel agierenden Tieren zu einer Art „edlem Wilden“ erzogen worden war. Heinlein erwog eine Konzeption, in der er nun ein menschliches Kind komplett nach den gesellschaftlichen Regeln, spirituellen Gebräuchen und Kulturvorstellungen einer völlig anders denkenden Spezies aufwachsen lassen wollte.
Das Produkt dieses Gedankenexperimentes wurde der Roman „Fremder in einer fremden Welt“ (1961) – in dem die Hauptperson, wie der Titel bereits andeutet, zurück unter „Ihresgleichen“, versuchen muß, ihren Weg zwischen zwei völlig unterschiedlichen Werteuniversen zu finden. Heinlein verleiht der „weltenwandernden“ Hauptperson Mike aber auch teilweise messianische Züge, die – durch ihre fremdartigen Erzieher mit teils übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet – wiederum der menschlichen Gesellschaft eine „neue Art zu Denken“ in Form eines spirituellen Vermächtnisses nahebringt. Die schließlich daraus entstehende „Kirche aller Welten“ (COW²) ist äußerst non-konformistisch egalitär und in Kleingruppen (sg. „Nestern“) organisiert, die sämtlich nach Selbstwirksamkeit und Potentialentfaltung streben.
Wiewohl es Heinlein in „Fremder in einer fremden Welt“ gelang, „anerzogene“ gesellschaftliche Strukturen wie Familie, Religion, Geschlechterrollen oder sogar Sexualmoral geschickt zu hinterfragen, blieb dieses Werk in manch anderen Teilen eher reaktionär (z.B. stereotypes Frauenbild).
Heinlein, der so erkannte, daß er als Autor ebenfalls immer „Teil eines Systems“ und damit auch Teil einer „Art zu Denken“ war, strebte daraufhin mit einem weiteren Buch an, sich literarisch von solchen Begrenzungen noch weiter zu befreien.
1966 erschien sein Roman „Revolte auf Luna“. Den Science Fiction-Hintergrund nutzte Heinlein diesmal dazu, eine herausfordernde (Mond-)Umwelt zu entwerfen, welche handfeste Auswirkungen auf Ressourcenverteilung, gemeinschaftlichen Nutzen und Optimierung des Vorhandenen für die menschlichen Luna-Pioniere hat. Der Autor legte nun besonderen Wert auf die Gesellschaftsstruktur einer Kolonistengemeinschaft, die auch nach mehreren Generationen noch mit einem Überhang an männlichem (Fach)Personal zurechtkommen muß. Heinlein wählte als Lösung dieser „Sozialen Frage“ das sich Ausbilden von Polyandrie, Gruppen- und Gemeinschaftsehen³, sowie eine unorthodoxe, hochintegrative Gesellschaftsform, in der Ethnien und Gesinnungsdenken keinen Platz (mehr) haben. Als im Laufe des Buches die Mondbewohner mit einer ökologischen Katastrophe konfrontiert werden (die sie durch die im deutschen Titel angedeutete „Revolte“ abwenden können), läßt Heinlein zum Ende des Buches die Frage offen, in wieweit die Freiheit eines Individuums durch demokratische Regeln der Gemeinschaft eingeschränkt werden darf.

Fazit:
Meiner Ansicht nach ist die visionäre Kraft der Fiktionen von sowohl Kipling als auch Heinlein dahingehend so sprichwörtlich „bahnbrechend“, weil beide Autoren es wagten, auf literarische Weise auszuloten, wie es um die konditionierten Grenzen „menschlicher Konventionen“ bestellt ist.
Eigene Lebenserfahrung veranlasste beide Schriftsteller, ihren Leser*innen einen Ausblick auf den fakultativ überraschend großen individuellen wie auch sozialen Gestaltungsspielraum zu ermöglichen, der sich bei Überschreitung des „Vorgegebenen“ (sei es aus Not oder aus Pioniergeist heraus) darzubieten beginnt.
Kipling und insbesondere Heinlein wollten dabei zeigen, daß im Hinblick auf die grundsätzlich anpassungsfähige Natur des Menschens unser mobilisierbares Potential vermutlich weitaus größer ist als unser Zutrauen angesichts vorgegebener, tradierter Muster, die wir als „feststehende Normalität (und Normativität! ) betrachten.
Und sie wagten es, anzudeuten, daß mögliche Veränderung aufgrund dieses Potentials quasi immer „nur eine Gedanken-Ecke weit weg“ läge, also innerhalb unserer Reichweite, mit Mut erreichbar – umsetzbar und folglich er-lebbar.

Teil 2
handelt von einer höchst bemerkenswerten Entwicklung, die nonkonformistisches Denken in Richtung ethischer nicht-Monogamie zusätzlich begünstigte.
Von Menschen, welche die Fackel aufnahmen und sich auf dieses Abenteuer tatsächlich einließen, handeln Teil 3 und Teil 4.



¹ Lucien Malson, „Die wilden Kinder“, Suhrkamp-Verlag 1964

² Die „Kirche aller Welten“ – im Original: „Church of all Worlds“ mit der Abkürzung COW; wird im dritten Teil dieser Artikelserie noch einmal sehr wichtig.

³ Ich als Autor bedauere sehr, bisher an dieser Stelle keine brauchbareren deutschen Wiki-Links setzen zu können. Eine günstigere, englischsprachige Parallele wäre hier definitiv Group marriage.

Danke an Marcus Dall Col auf Unsplash für das Foto

Eintrag 46

(Er)Kenne Dich selbst*

Neulich hörte ich in einem Gespräch zweier älterer Damen auf dem Wochenmarkt den Satz: „Na, wenn die beiden einander lieben, dann ist das doch schon mal ein guter Anfang…“
„Tja“, dachte ich so bei mir, „mit der Liebe ist das fast so eine Sache wie mit dem Huhn und dem Ei: Manchmal ist es schwer festzustellen, was Anfang, Mitte oder vielleicht schon Ende ist – und was wem vorhergeht oder zugrunde liegt…“
Da ich aber lieber auf meinem bLog philosophiere als auf dem Wochenmarkt, seid Ihr es, liebe Leser*innen, die ich hier dazu wieder in meine Gedankenwelt mitnehme:

Am Ende von Eintrag 14 zitierte ich die folgenden vier Sätze ¹ :
Intimität bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, daß man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person, die man ist, annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.


Ich würde diese Feststellungen gerne noch einmal genauer unter die oligoamore Lupe nehmen, da sie für mich sehr stark das enthalten, was die Grundlage einer stabilen Liebesbeziehung ausmacht.

Für insbesondere bemerkenswert halte ich die Formulierungen „eigene(s) Selbstverständnis“ und „Kernselbst“. Denn diese Begriffe heben hervor, daß stabile Intimität und Nähe nicht ohne eine grundlegende Selbstzurkenntnisnahme sowie eine überwiegende Akzeptanz seiner selbst möglich sind.
Die Schlußfolgerung scheint banal: Ist doch klar – wie soll ich anderen vertrauen, wenn ich mir selbst nicht vertraue?

„Absolut!“, stimme ich da als Reiseleiter auf dem entlegenen Eiland der Oligoamory zu. Exakt das ist der Grund, warum ich bei so vielen Gelegenheiten die »Lust zur Selbsterforschung« betone, ohne deren Basisarbeit jegliches Beziehungsgebäude, welches wir darauf zu errichten versuchen, ein eher wackeliges Erdgeschoss behalten wird. Bzw. genau genommen einen „wackeligen Keller“, der quasi ein buchstäbliches Symbol des Unbewußten mit seinen unsichtbaren Truhen unserer Ängste und Abwehrmechanismen ist (siehe auch Eintrag 35).
„Ängste und Abwehrmechanismen“ sind, was unsere Beziehungsfähigkeit angeht, die entscheidenden Stichwörter, denn unsere Liebsten könnten uns soviel Bestätigung, Rücksicht, Empathie und Zuneigung entgegenbringen wie sie wollten – nichts davon hätte einen nachhaltigen Wert für uns, wenn wir nicht zuallererst in der Lage sind, solche Empfindungen überhaupt anzunehmen.
Wenn wir uns unserer eigenen Beweggründe nicht ausreichend klar sind (z.B. weil wir bisher davor ausgewichen sind, sie eingehend zu reflektieren) oder wenn wir mehr oder weniger bewußte Unaufrichtigkeiten als Teil unseres Beziehungsmanagements aufrechtzuerhalten versuchen, werden schon allein Selbstschutzgründe allzu weitgehende Einlassungstiefe in eine Beziehung verhindern. Denn wenn wir nicht geradewegs narzisstische Persönlichkeitsmerkmale haben (die häufig mit pathologischer Empathieunfähigkeit einhergeht), gäbe es dadurch immer einen Teil in uns, der im Wissen um unser inkohärentes Verhalten die allertiefste soziale Angst nähren würde: Daß wir es eigentlich (doch) nicht wert sind.

Wenn wir in dieser Art irgendwo in unserem tiefsten Inneren selbst glauben, „daß wir es nicht wert sind“, dann ergibt sich daraus ein Problem, Zitat: „wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, daß man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben“. Demzufolge das (nicht-)Erleben unsere „Wahrnehmung“ beeinflusst. Und wenn unsere Wahrnehmung aufgrund von unvollständigem Selbstwert Mängel aufweist, dann werden wir, was „Liebe und Zuneigung“ von unseren Liebsten angeht – trotz deren bestem Ansinnen – statt Sicherheit und Fülle immer nur Unsicherheit und Mangel empfinden.
Und Unsicherheit begründet genau den von mir in Eintrag 42 beschriebenen, durch Stress aufrechterhaltenden Alarmzustand des „auf dem Sprung Seins“.

Der Volksmund sagt ja bereits: „Man muß auch die Fähigkeit haben, mal ein Kompliment annehmen zu können.“ In unseren Liebesbeziehungen geht dieses „Annehmen-Können“ weit über bloße Komplimente hinaus. „Annehmen-Können“ ist dort nämlich die Grundvoraussetzung für Akzeptanz und integratives Verhalten (z.B. Eintrag 33). Also größtmögliche Akzeptanz und Integration unserer eigenen Liebsten und in zweiter Linie eventuell wiederum deren Liebsten.
Ist aber bereits unsere Fähigkeit sowohl zur Selbst-Annahme als auch zum „Annehmen-Können“ noch geschwächt, dann leben wir sehr nahe an dem Reflex, bei potentiell auftretenden Schwierigkeiten sofort weitmöglichst von uns weg zu zeigen – und damit eventuelle „Schuld“ (also „Ursächlichkeit“!) immer den anderen Beteiligten zuzuordnen.

[An dieser Stell ist es mir wichtig, hier kurz auf die gesellschaftspolitische Dimension von guter Beziehungsführung hinzuweisen. Denn noch funktionieren die allermeisten soziopolitischen Modelle (Staaten, Kommunen, Familien, etc.) weitestgehend aufgrund dem Prinzip einer „Schuldgemeinschaft“.
Mit sich selbst also zuvorderst für „Klar Schiff“ zu sorgen, ist in dieser Hinsicht damit sogar ein Beitrag zu einer friedlicheren Welt.
Sind Menschen in ethischer Non-Monogamie, wie Poly- oder Oligoamory darum also „entwickelter“ als Leute in monogamen Beziehungen? Nein, das glaube ich nicht, gerade weil das Maß für „Beziehungsfähigkeit“, wie ich hier skizziere, an der Wurzel nicht eine Frage des gewählten Beziehungsmodells, sondern der Reflektionsfähigkeit des Individuums ist.
Da Monogamie die anerkannte Hauptbeziehungsform des derzeitigen Systems (mit seiner Mentalität der „Schuldgemeinschaft“) ist, mag es dort höchstens bislang „einfacher“ sein, Mißstände leichter zu ignorieren bzw. „jemand anderem“ anzuhängen.]

„Selbstzurkenntnisnahme“ ist auf diese Weise also auch ein wesentlicher Bestandteil des „Selbstvertrauens“. Wesentlich – um den Satz von oben noch einmal umzukehren – denn wenn ich mir selbst nicht vertraue, dann kann ich (auch) den anderen nicht vertrauen.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel nannte „Vertrauen“ einmal den „mittleren Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen“, also gewissermaßen eine „Hypothese künftigen Verhaltens“ betreffend. Diese müsse sicher genug sein, um „praktisches Handeln darauf zu gründen.“ ²
Was unsere (Liebes)Beziehungen angeht, empfinde ich das als eine ganz ausgezeichnete Beschreibung. Wir Menschen „vertrauen“ im Alltag nämlich überraschend häufig zahllosen Umständen, die wir als „sicher genug“ erachten: Wir steuern Gefährte durch die Gegend, die zu Geschwindigkeiten weit jenseits von 100 km/h fähig sind, oder wir setzen uns rückwärts auf Stühle, die wir in diesem Moment gar nicht mehr sehen können (!) – felsenfest von der Tasche überzeugt, daß diese doch exakt da sein werden, in dem Moment, in dem unsere Hinterteile sich in Höhe der imaginierten Sitzfläche befinden…
Grundsätzlich also scheinen bestimmte Arten von „Vertrauen“ gewissermaßen doch zur zweiten Natur des Menschen zu gehören, ohne welches weitgehende Prozesse des Alltags unmöglich oder wenigstens sehr umständlich geraten würden.

Das gegenseitige Vertrauen, was wir für stabile Liebesbeziehungen benötigen, ist nun aber tatsächlich etwas komplexer als, jenes, welches wir benötigen, um uns auf einen Stuhl zu setzen oder ein Auto zu steuern. Diese beiden Vorgänge sind eher einem situations- bzw. eigenschaftsbasierten Vertrauen zuzuordnen: Wir haben z.B. gelernt, daß Stühle sich normalerweise nicht heimlich von der Stelle bewegen, wenn unbeobachtet (Achtung Ausnahme: Sitzbälle!) oder wir wissen, daß Autos auch bei hoher Geschwindigkeit in Kurven spurtreu und haltbar sind, wenn sie regelmäßig gewartet werden.
Unter Menschen benötigen wir jedoch ein „identifikationsbasiertes Vertrauen“, welches gemäß dem US-amerikanischen Philosophen David Kelley aus den Komponenten Offenheit/Kommunikation, Empathie, Gemeinschaft und Sympathie besteht ³.

Wenn ich mich für gegenseitiges Vertrauen aber mit den anderen Beteiligten mittels Kommunikation, Empathie und Sympathie in Gemeinschaft „identifizieren“ (was aus dem Lateinischen wörtlich übersetzt „gleichsetzen“ heißt!) soll, dann bedeutet das, daß ich zuerst mir selbst gegenüber sehr freundlich gesonnen sein muß.
Denn um bei unserem Beispiel mit dem Stuhl zu bleiben: Ich kann mich doch nur dann zuversichtlich „fallen lassen“, wenn ich mich, ohne Kontrolle aufzuwenden, darauf verlassen kann, daß auch die anderen „mir freundlich gesonnen“ – meine „Freunde“ – sind.

Womit wir auch in diesem Eintrag nicht um den Autor Saint-Exupéry und seinen „Kleinen Prinzen“ herumkommen werden: Wenn die Psychologen Cohen, Underwood und Gottlieb in ihrem Eingangszitat schrieben, daß wir für das Erleben von Intimität und Nähe das Gefühl von Verständnis, Bestätigung und Rücksicht benötigen, dann kommt unweigerlich der Faktor „Zeit“ ins Spiel. Zeit für das, was „Saint-Exupéry Zähmung nannte.
Das Buch „Der Kleine Prinz“ ist nun meiner Ansicht nach genau deshalb so merkwürdig anrührend und gleichzeitig so verstörend kompliziert, weil diese „Zähmung“ immer zwei Bestandteile hat:
Zum einen die offensichtliche, langsame Annäherung und das Kennenlernen der Hauptbeteiligten in der potentiell zustande kommenden Beziehung.
Zum anderen aber auch die „Heldenreise“, die jeder Mensch allein mit sich selbst bewältigen muß, um eigene Stärken und Schwächen zu erkunden (siehe auch Eintrag 18).

Womit sich für mich der Kreis zum „eigenen Selbstverständnis“, sowie zu „Bewußtheit und Wertschätzung für das Kernselbst“ schließt:
Wahres Vertrauen ist (erst) dann entstanden, wenn ich wahrnehme, daß die anderen mich als die Person, als die Identität, wertschätzen, als die auch ich mich respektiere.
Und in diesem Moment wären wir auch wieder bei der wohltuenden Kohärenz (=Sinnzusammenhang/ Folgerichtigkeit) von innerem und äußerem Erleben angekommen, die unsere Gehirne als den erstrebenswertesten Zustand erachten (siehe auch Eintrag 21).
Kohärenz jedenfalls, die wiederum allen unserer übrigen Beziehungskompetenzen als Kompaß dienen kann, wodurch wir besser an einem gemeinsamen Gleichgewicht von allseitigem Wohlergehen und persönlicher Zufriedenheit mitwirken können.

Ob das dann (schon) Liebe ist? Das müßt ihr da draußen entscheiden.
Für mich jedenfalls ist es weit mehr als nur ein guter Anfang.



* Selbsterkenntnis (Wikipedia)

¹ S. Cohen, L.G. Underwood and B.H. Gottlieb in “Social support measurement and intervention“ – A guide for health and social scientists“, Oxford University Press, 2000

² Georg Simmel, Soziologie (1908); Gesamtausgabe, hrg. von O. Rammstedt, Bd. 11, 1992

³ David Kelley, Unrugged Individualism: The Selfish Basis of Benevolence, The Objectivist Center, 1996

Danke an Kristopher Roller auf Unsplash für das Foto.

Eintrag 45

Die wunderbare Alltäglichkeit des Seins¹

In meinen Januar-Artikeln habe ich mich eingehend der Fragestellung des Vertrauens und Anvertrauens in unseren Beziehungen gewidmet – Grundvoraussetzungen, damit ein echtes, ja, ein authentisches und intimes Miteinander überhaupt möglich und erlebbar werden kann.
Mehrere Komponenten, die für gelingende Oligoamory bedeutsam sind, tauchen dort noch einmal auf, die, wie ein roter Faden, immer mal wieder in meinem bLog angesprochen werden:
Verantwortlichkeit (in erster Linie für sich selbst und in erweiterter Dimension dann auch für die Anderen), Verbindlichkeit (insbesondere hinsichtlich der von einem selbst einmal getroffenen Wahlen) und – nicht zuletzt – eine die ganze Person meinende Liebe.

Ich gebe zu, daß ich mit den sehr ausführlich Erwägungen zu diesen Themen eventuell manchmal die Ausdauer meiner Leser*innen auf eine harte Probe stelle, insbesondere in den Momenten, in denen ich mich scheinbar äußerst umfassend durch den „theoretischen Unterbau“ hangele.
Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und integrative Liebe sind allerdings – wenn wir mutig beginnen, diesen Ideen in unseren Beziehungen mehr Raum zu geben – am Ende höchst entscheidende Trümpfe für die alltägliche Machbarkeit und Lebbarkeit von ethischen (oligoamoren) Mehrfachbeziehungen.
Denn da wir in diesen Beziehungen immer mit lebendigen Menschen zu tun haben, bei denen wir uns hoffentlich wünschen, sie zu unseren „Liebsten“ zählen zu dürfen, werden wir dort vor allem mit den ganz praktischen, alltäglichen Fragen konfrontiert.
Und das sind dann eben meist konkrete Fragen, die da z.B. lauten, wie viel wir uns von unseren Liebsten gefallen lassen sollten (und die sich von uns), wie viel autonom gestaltbare Privatsphäre eine Person allein für sich behalten sollte – oder was zu tun ist, wenn irgendwo im potentiellen Beziehungsnetzwerk Menschen schon Eltern sind.

Die Essenz meiner persönlichen Antwort auf diese Fragen findet sich bei genauer Betrachtung in meinem etwas humorvoll daherkommenden Eintrag 34, in dem es um die selbstgewählten „Lebensgefährten“ geht.
Denn alle Menschen, die sich jemals mit Mehrfachbeziehungen auseinandergesetzt haben, sind früher oder später an den Punkt gekommen, an dem sie feststellen mußten, daß am Ende aller Gespräche, Abmachungen, Regularien, Übereinkommen und Freiheiten sich ein Kuchen einfach kaum teilen läßt – und das ist die Zeit.
Konkret gesprochen: Unsere persönliche Lebenszeit. Die wir als Individuum , aufteilen, verteilen, ja – auch zuteilen – können; die aber selber unerbittlich und unbeeindruckt davon bemessen und endlich bleibt.

Um dieses Dilemma kreist die gesamte Non-Monogamie und führt um diesen unsichtbaren aber nichtsdestoweniger unumstößlichen „Elefanten im Raum“ teils recht bizarre Tänze auf.
Die eben zu solch wenig ganzheitlichen wie menschlich exklusiven Herangehensweisen führen, sg. „Liebste“ pokémonartig nach „Bedürfniserfüllfähigkeit“ zu sortieren (siehe Eintrag 2) oder affärenähnliche Liebeleien auf raumzeitlich begrenzten „Inseln des Glücks“ mit ihnen zu arrangieren (Eintrag 43).

Warum wir dann (trotzdem) immer mittelfristig unzufrieden, irgendwie unerfüllt und bedürftig bleiben?
Nun, die theoretische oligoamore Antwort auf diese Frage würde lauten: Weil eine solche Beziehungsführung überhaupt nicht nachhaltig ist (siehe auch Eintrag 42), indem sämtliche Nachhaltigkeitskriterien gerissen werden, die da heißen beständig (konsistent), geeignet (effizient) und ausreichend (suffizient).

Und die philosophisch-psychologische Antwort würde lauten: Weil eine solche Beziehungsführung Kennzeichen einer „Trennungs- und Abspaltungsrealität“ (siehe Eintrag 26) ist.

Genau Letzteres ist aber nicht nur ein Problem der Non-Monogamie, sondern ein omnipräsentes Gegenwartsphänomen.
Das können wir z.B. dann beobachten, wenn Menschen über ihre Work/Life-Balance sprechen – also über ihre Einstellung gegenüber ihrer Arbeits- und Frei-Zeit.
Es gibt diesbezüglich sicher Ausnahmen, aber wenn man den allermeisten Menschen in dieser Hinsicht einmal zuhört, dann klingt es, als ob sie von zwei völlig getrennten Lebensbereichen sprechen würden. „Arbeit“ scheint oft einer Sphäre quasi-göttlicher Strafe anzugehören², „das richtige Leben“ findet hingegen in der Freizeit statt – und wenn man manchen Menschen glauben darf, dann eigentlich sogar nur im Urlaub: Auf einer ganz buchstäblichen, entrückten fernen „Insel des Glücks“.
In solchen Beschreibungen kommen dann auch die „Grauzonen des Alltags“, also die Übergangsmomente häufig ebenfalls schlecht weg: Einkauf, Kinderversorgung, profane familiäre Interaktion, alltägliche Funktionsabsprachen („Holst Du das Auto? / Hast Du den Klempner angerufen?“ ), usw. geraten zu Lästigkeiten, denen man sich möglichst rasch entledigen möchte – und entsprechend halbherzig tut man dies dann auch oft. Womit der Eindruck noch verstärkt wird, daß diese Tätigkeiten wohl definitiv auch mehr zum Bereich der „biblischen Plagen“ als zum erfreulichen, wahren Leben gehörig sind.

Diese fortwährend aufrechterhaltene „Trennungsrealität“ wird uns dann im Alter – oder spätestens in unserem letzten Stündlein – eine recht traurige Bilanz präsentieren: Unser Dasein war also überwiegend „Mühe und Arbeit“, „echtes Leben“ hat nur ganz selten einmal stattgefunden. Wenn ich auf diese Bilanz schaue, dann wird auch mir himmelangst und es wundert mich nicht, daß das Zittern Parkinsons oder das Vergessen der Demenz oder die Niedergeschlagenheit der Depression heute zu den „Zivilisationskrankheiten“ gehören…

„Ja, aber Oligotropos, es ist doch jetzt schon kaum noch möglich, mehr als eine Liebesbeziehung (wenn überhaupt) im Leben unterzubringen. Wenn wir Menschen so wenig Liebe erfahren, dann ist es doch kein Wunder, daß es uns irgendwann schlecht ergeht…!“

„Aaaargh – nein!“, will ich dann ausrufen. Haarscharf wieder in die Falle geplumpst.
Kennt Ihr das Sprichwort „Man sollte nicht dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben“ ?
Denn die riesige Chance ethischer Non-Monogamie ist es, Mehrfachbeziehungen alltäglich lebbar zu gestalten. Das ist ein Grund, warum ich in zahlreichen meiner Einträge z.B. Scott Peck zitiere, der sich intensiv mit den Herausforderungen von Gemeinschaftsbildung beschäftigte.
Wenn wir uns einig sind, daß der „am schwersten teilbare Kuchen“ unsere begrenzte und irgendwann einmal auch endliche individuelle Lebenszeit ist – dann müssen wir das „Pferd“ genau von dieser Seite her auch aufzäumen: Von der Größe her, die im Zweifel die knappste Ressource in unserem Nachhaltigkeitsmix ist.
Und statt zu versuchen, dieser Tatsache mit Umgehungstaktiken zu entkommen, indem wir möglichst viel Energie darauf verwenden, wie wir den „Kuchen“ trotzdem noch irgendwie so dünn wie möglich auswalzen oder dehnen könnten, wie wir ihn eventuell bröckchenweise strecken oder fein vermahlen als ledigliches „Gewürz“ punktuell einsetzen würden, sollten wir stattdessen „das Prinzip umarmen“ und als Potential zu unseren Gunsten nutzen.

Wenn ich also in so vielen Einträgen Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und Inklusivität das Wort rede, dann dient das quasi der Vorbereitung dazu, wie wir möglichst viele vollwertige menschliche Beziehungen in unserem Alltag erfahren können. Ein „Alltag“, der dann jedoch eben auch als ein „vollwertiger Jeder-Tag“ erfahren wird, weil wir darin erleben: DAS ist unser wahres Leben, Hier & Jetzt.
Was doch auch sehr nachvollziehbar ist: Wir Menschen haben nicht den unendlichen Luxus, etwaige Wohltaten immer nur in ein eventuelles „morgen/dann/demnächst/ erst-wenn“ hineinzuprojizieren. Am Ende könnte es uns nämlich schnell wie in Hans Christian Andersens schrecklicher Geschichte vom kleinen Tannenbaum ergehen: „Nun werde ich wieder leben!“ jubelte dieser und breitete seine Zweige weit aus: aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb“ ³.

„Ich schaue mal, es könnte sein, daß ich im März wieder ein Wochenende frei habe…“
„Im Juni habe ich Jahresurlaub, da wäre es möglich…“
„Wenn die Kinder aus dem Haus sind…“

Aha. Da werden wir dann also „andere Menschen“ sein. Weil dann unser „wirkliches Leben“ beginnen darf. Weil wir dann endlich viel authentischer, wahrhaftiger, integerer sein können als jetzt, wo unser grauer All-Tag das verhindert…
Unser Alltag hindert uns daran, authentisch, wahrhaftig und integer zu sein? Und weil wir also wissen, daß wir im Umkehrschluß demgemäß meistens unaufrichtig, unecht und unzuverlässig sind, lassen wir auch lieber keinen in diesen Alltag hinein?

Wir geraten hier in eine recht sonderbare Schlange, die sich in den Schwanz zu beißen scheint.
Wir wünschen uns, daß sich unsere Liebsten uns gegenüber möglichst von ihrer besten Seite zeigen – und natürlich möchten wir uns wiederum ihnen von unserer besten Seite zeigen. Auf diese Weise werden aber die Hindernisse, die wir für uns und die anderen auftürmen, immer höher und absurder.

Wir müssten aus diesem Teufelskreis also komplett aussteigen.
Auf meiner Startseite schreibe ich:
„Endlichkeit“ – und der Beginn des 21. Jahrhunderts macht dies in vielerlei Hinsicht deutlich – legt uns Menschen dadurch ein sowohl sorgsames als auch nachhaltiges Haushalten mit unseren vorhandenen Schätzen substantieller wie ideeller Natur nahe.
Das Bewußtsein der allgegenwärtigen Endlichkeit hat in menschlichen Gruppen schon immer das faszinierende Talent von Aufteilung, gemeinschaftlichem Nutzen, und Optimierung des Vorhandenen hervorgerufen.“


Dies bedeutet, daß wir aufhören müssen, unseren Alltag als „minderwertigere Form unseres Daseins“ anzusehen. Oder vielmehr: Daß wir das vielleicht getrost unseren Liebsten überlassen dürfen, ob die das (auch) so sehen. Vielleicht holen die nämlich ganz gerne mit uns gemeinsam das Auto von der Werkstatt ab – weil sie dann 20 Minuten mit uns ungestört im Auto 1:1 sprechen könnten. Oder sie holen das Auto alleine ab, weil sie wissen, daß die uns damit die Wohltat eines entspannten Wannenbades ermöglichen. Vielleicht hören sie mit uns auch einen Podcast, während wir diesen verflixten Vorhang nähen müssen – aber immerhin haben wir dann währenddessen Diskussionsstoff. Oder sie gehen mit den Kindern raus – und wir können diesen Volant endlich ohne nervige Unterbrechungen fertig machen…
Vielleicht wären das Liebste, die morgens auch unser angebranntes Rüherei ertragen, weil wir es beim Föhnen im Bad in der Hektik mal wieder 3 Minuten zu lange aus den Augen ließen. Oder wir ertragen ihr quabbeliges Rührei, weil sie es zu früh ausgemacht haben, als sie von unten die Zeitung geholt haben…
Selbstverständlich könnte ein mäßig zubereitetes Rührei am frühen Morgen auch eine Menge negativen Stress bei allen Beteiligten hervorrufen. Vielleicht aber auch Mitgefühl und die (Selbst)Erkenntnis, daß es auch ohne die anderen angebrannt wäre, weil man fast jeden Morgen etwas verpeilt durch die Wohnung tappt.
Heute ist man aber wenigstens nicht allein aufgewacht. Und Nachmittags stellt man fest, daß irgendjemand die Pfanne nicht geschwärzt auf dem Herd hat stehenlassen…
Irgendjemand hört auch gerade im Wohnzimmer Französischvokabeln ab.
Und irgendjemand hat die Katze rausgelassen, obwohl man ausdrücklich gesagt hatte daß…

Haben wir in solcherlei Art erkannt, daß der wirkliche „Schatz“ unseres Lebens aus „Jedem-Tag“ besteht, dann sind wir auf dem besten Weg zu verstehen, wie wir diesen Schatz gemeinsam auch angemessen genießen können: Verantwortlich, verbindlich und integrativ.
Große Worte, die aber meistens schlicht bedeuten: menschlich, fehlbar und tolerant.
Denn würden wir uns nicht trauen, uns in unserer Alltäglichkeit unseren Liebsten zuzumuten – und könnten wir sie im Gegenzug in ihrer Alltäglichkeit nur schwer ertragen – dann würden wir den Großteil unseres gemeinsamen Schatzes wie im Märchen in Laub oder Unrat verwandeln: „unwerte“ Lebenszeit, die wir irgendwie „herumbringen“ müssen.
[„Nein, Oligotropos. Für mich kostbare Lebenszeit, die ich nicht immer mit meinen Liebsten teilen will…“ Ach so? Dann würde ich dazu raten, entweder meine Liebsten oder meine Einstellung zu ihnen zu verändern…]

Daß die „wunderbare Alltäglichkeit des Seins“ von uns verlangt, gelegentlich etwas „auszuhalten“, mit ungeklärten Emotionen, Empfindungen (und Gerüchen) zurechtzukommen, die nicht immer sofort ursächlich zuzuordnen sind, das ist für mich die gleiche Quelle, die auch Akzeptanz und Respekt hervorbringt, um wahre Intimität und Vertrautheit erst möglich zu machen.
Und damit ein tatsächliches Miteinander, heute, morgen und jeden Tag.




¹ Richtig: Zufällig-beabsichtigter Anklang an die „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera, in dem es u.a um die Konsequenzen kompartmentalisierter Beziehungsführung, Affären und Liebschaften geht.

² 1.Mose, Kapitel 3, Vers 17-19: Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.

³ Hans Christian Andersen, „Der Tannenbaum“, 1862

Danke an Jisu Han auf Unsplash für das Foto.