Eintrag 91

Stühlerücken

In Eintrag 88 habe ich neulich der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß Oligoamory möglichst etwas sein sollte, was wir tun – und nicht etwas, was uns passiert.
Gleichzeitig habe ich eingeschränkt, daß in der Praxis romantische Verbindungen zwischen mehr als zwei Personen sehr viel öfter eher unvorhergesehene Lebensereignisse sind, die – wie John Lennon es einstmals so ähnlich sagte – geschehen, während wir eigentlich gerade emsig andere Pläne verfolgen.
Und das ist ok – und stellt sich auch im historischen Kontext der Oligoamory so dar, wenn wir auf die Geschichte ihrer „großen Schwester“, der Polyamory, schauen – so wie ich sie z.B. in Eintrag 49 beschrieben habe.
In diesem Eintrag zitiere ich die neopagane Priesterin und Autorin Morning Glory Zell-Ravenheart, die, aus persönlicher Erfahrung in ihrem Leben und weil es sie selbst betraf, die Initiative ergriff, ein Liebes- und Lebensmodell für ethische Mehrfachpartnerschaften zu entwerfen.
Auch für sie bestand der Ausgangspunkt ihrer Vision aus bereits eingetretenen Tatsachen: Mehrere Menschen, die nicht notwendigerweise nach bestehendem (Ehe)Recht gesetzeskonform gemeinsam liiert waren, empfanden Gefühle füreinander, wollten sich – sowohl öffentlich als auch voreinander – verlässlich zu ihrem Zusammensein bekennen.
Vor dem Hintergrund ihrer neopaganen Werte – wie z.B. Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, einem hohen Maß an Aufrichtigkeit sowie der Gleichwürdigkeit aller Geschöpfe – konzipierte sie eine fundierte Berechtigung, um auch mit mehr als zwei Personen eine verbindliche Liebesbeziehung auf Augenhöhe zu führen, in der alle Beteiligte innerhalb eines sicheren und berechenbaren Rahmens interagieren konnten.

Warum schreibe ich das?
Weil also auch historisch die Liebe, das Gefühl des Miteinanders, die Verbundenheit und das sich „einander als zugehörig Empfinden“ zuerst da waren – und daraus dann der Wunsch nach einem lebbaren, realisierbaren Rahmen entsprang.
Morning Glory Raven-Zell war eine Praktikerin, keine Sozialwissenschaftlerin, die sich eines Tages vor ein Reißbrett setzte, weil sie der Welt die philosophische Blaupause für eine weitere Beziehungsform schenken wollte.
Und als Praktikerin ließ sich sich darüber hinaus vom tatsächlichen Leben führen – und nicht so sehr von ihren Bedürfnissen, wenn diese noch keine Gestalt angenommen hatten.

Dies betone ich, weil es in der weiten Welt der Mehrfachbeziehungen nichtsdestoweniger viele Menschen gibt, die sich eine solche Beziehungsform für sich wünschen – genau genommen weitere Partner*innen für eine solche Beziehungsform wünschen – aber noch/derzeit keine haben.
Ich möchte hier ungern problematisieren, ob diese Menschen – in Ermangelung einer konkreten Beziehung – polyamor sind oder nicht. Ich halte das für absurd, da wir dann auch eine alleinstehende monoamore Person fragen müssten, ob sie sich rechtmäßig als „Single“ bezeichnen dürfte, weil dies ja vor allem „temporäre Alleinstellung“ in einer auf Verpartnerung angelegten Welt signalisieren würde.
Also sage ich: Na sicher gibt es „Poly-Singles“, schlicht Menschen eben, die sich ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen können, bei denen diese Beziehungsform aber gerade im Alltag nicht manifest ist. Ob man darüber hinaus auch noch in einer Zweierbeziehung „Polysingle“ sein kann, darüber mag man streiten. Wenn der andere Beziehungsteil monogam veranlagt ist, dann würde ich eventuell hier ebenfalls zustimmen. Wenn allerdings beide aktuellen „Beziehungsinsassen“ sich als polyamor sehen, jedoch derzeit weitere Partner*innen fehlen um „mehr als zwei“ zu werden… Da wird die Diskussion schnell haarspalterisch – aber dafür nähert sie sich sicherlich meinem heutigen Thema.

Denn was brauchen wir, um uns „vollständig“ zu fühlen?
Der schweizerische Lyriker Hans Manz schrieb 1994 einmal folgenden Text, den er unter dem Titel „Der Stuhl“ veröffentlichte:

Ein Stuhl,
allein.
Was braucht er?
Einen Tisch!

Auf dem Tisch liegen Brot, Käse Birnen,
steht ein gefülltes Glas.

Tisch und Stuhl,
was brauchen sie?
Ein Zimmer,
in der Ecke ein Bett,
an der Wand einen Schrank,
dem Schrank gegenüber ein Fenster,
im Fenster einen Baum.

Tisch, Stuhl, Zimmer…
Was brauchen sie?
Einen Menschen.

Der Mensch sitzt auf dem Stuhl am Tisch,
schaut aus dem Fenster
und ist traurig.
Was braucht er?

Es ist interessant, welche Perspektiven dieses scheinbar karge Gedicht eröffnet. Als ich es zum ersten Mal las, waren meine damalige Partnerin und ich gerade Hundebesitzer*innen geworden. Unsere spontane Antwort lautete also: Einen Hund! Und wir alberten, daß der Hund vielleicht den Stuhl umwerfen würde, dann unter dem Tisch sitzen könnte, um Brot, Käse und Birnen betteln würde (dabei das Glas umwedeln),durch das Zimmer liefe, nachts mit im Bett schliefe, er würde sich am Schrank kratzen, mit den Vorderpfoten aufs Fensterbrett hopsen um hinauszuschauen, am Baum sein Bein heben – und der Mensch, der Mensch in dem Gedicht hätte, sobald man lediglich diesen Hund noch dem Bild hinzugefügt hätte, im wahrsten Sinne des Wortes „Leben in der Bude“ und plötzlich eine Menge an Dingen, um die er sich kümmern könnte. Und somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Als „Polysingle“ sind wir es manchmal, die traurig auf dem Stuhl sitzen. Und wir würden unserem Bild dann gerne einen weiteren Menschen hinzufügen. Und falls wir dann immer noch traurig sind…, hm, vielleicht noch einen weiteren… Denn dann hätten wir „Leben in der Bude“, plötzlich würden Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum vielmehr Sinn ergeben, wir könnten dies alles teilen und hätten somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Ein Hund, pardon, ein Leben mit mehreren Partner*innen soll uns offenbar manchmal vor uns selbst retten. Und wenn wir sehr sehr ehrlich mit uns selbst sind, wissen wir tief in uns drin, daß sie uns ja eigentlich nicht wirklich retten können – …nun gut, dann sollen sie uns wenigstens ablenken.
Davon ablenken vor allem, daß wir unsere eigenen Gefühle ganz fühlen müssen. Traurigkeit wie in dem Gedicht zum Beispiel. Tief eingegrabene, negative Grundgefühle wie Traurigkeit, Wut, Angst oder Ekel, für die wir entsprechend eine ganze Welt eintauschen würden, um sie nicht fühlen zu müssen.
In Eintrag 6 zitiere ich erstmals die US-amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin, die schrieb, „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.“¹
Ja, das könnte auch eine Chance sein. Aber viel eher umarmen wir stattdessen hingerissen – oder mehr noch nahezu berauscht – diese neue(n) Welt(en), weil sie uns so viele neue Kümmernisse bescheren, daß wir uns fortan vollständig nur diesen widmen wollen und können. Und Mehrfachbeziehungen lassen darüber hinaus auch noch den Zusammenstoß mehrerer Welten zu, so daß uns vielleicht obendrein eine Rolle als Vermittler*in, Drahtseilakrobat*in oder gar Manager*in erwächst. Da bleibt gar keine Zeit mehr, die eigenen Gefühle ganz zu fühlen, fühlen zu müssen…

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß diese Ablenkung, die für lange Zeit sogar die Illusion einer „Rettung“ (vor eigenem Leid) aufrecht erhalten kann, durchaus eine Weile funktioniert. Wobei das Wort „funktionieren“, welches seit dem 20. Jahrhundert überwiegend für Gegenstände und Geräte benutzt wird, geradezu sinnbildlich ist.
Denn gute – und mit „gut“ meine ich stets gelingende – Oligo- oder Polyamory wird es auf diese Weise nie.

Der schweizerische Psychater C. G. Jung, der sich intensiv mit unserer inneren Welt von Symbolen und Archetypen beschäftigte, schrieb bereits 1934²:
»Jemand anderen zu lieben ist leicht, aber das zu lieben, was man ist – dieses Ding, das du selbst bist–, das ist so, als würde man ein sengendes, rotglühendes Eisen umarmen; es brennt sich in dich hinein und das ist sehr schmerzhaft.
Deshalb ist jemand anderen zu lieben in erster Linie stets ein Ausweg, auf den wir alle hoffen, und wir alle kosten ihn aus, wenn wir dazu fähig sind.
Aber auf lange Sicht fällt es auf uns zurück. Man kann sich nicht für immer von sich selbst fernhalten. Man muss zurückkehren; man muss sich diesem Experiment stellen, um zu wissen, ob man wirklich lieben kann. Das ist die Frage – ob man sich selbst lieben kann. Und das wird der Test sein.«


Womit C. G. Jung zum Ausdruck bringt, daß wir also dem Bild von Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum so rein gar nichts „hinzufügen“ können, damit der Mensch daneben nicht mehr traurig ist. Selbst wenn er*sie*es den Raum mit weiteren Menschen füllen würde, keine*r davon könnte sicherstellen, daß sich gleichzeitig und wie durch Zauberhand auch „Liebe“ mit in diesem Raum einfinden würde.
Der Mensch in dem Bild müsste vielmehr etwas „hineinfügen“ oder noch besser wiederfinden – und zwar in sich selbst.

Und was das ist, das ist ganz analog zu der Wurzel gelingender Polyamory: Dort ist es Liebe, bei uns selbst ist es entsprechend Selbstliebe. Dort ist es das Gefühl des Miteinanders, bei uns ist es das Gefühl des bei-sich-Seins, des sich selbst Innehabens. Dort ist es Verbundenheit, bei uns ist es die Sicherheit, daß wir aufgrund unseres unveräußerlichen Selbstwertes aus uns selbst heraus existieren können. Dort ist es das „einander als zugehörig Empfinden“ – bei uns ist es ein Empfinden von Identität und Sinn.

Gehen wir an die Poly- oder Oligoamory heran wie der traurige Mensch in dem Zimmer, besteht indessen eine große Gefahr, daß wir unsere Wünsche, die aus unerfüllten Bedürfnissen entspringen, den Plan am Reißbrett für unsere Version einer Mehrfachbeziehung entwerfen lassen. Und unerfüllte Bedürfnisse äußern sich leider schnell in Form von Bedürftigkeit, die derart an den Tag tritt, daß sie potentielle Partnermenschen kurzerhand in (all) jene Bedürfnislücken stopfen, durch die unsere ungefühlten Grundgefühle fortwährend hervortreten wollen – und mit dieser unangenehmen Empfindung von diffusem Energieverlust unsere Lebenszufriedenheit stetig mindern (siehe auch mein Bild vom „Bedürfnisfass“ aus Eintrag 58).
Kein „Flicken“ solcher Art ist folglich jemals in der Lage, die eigentliche Lücke dahinter angemessen zu beheben.

Heute wünsche ich uns daher, daß wir erneut den Weg des größtmöglichen Mutes beschreiten, um diesmal den allerersten grundlegenden Schritt für ein Leben in (Mehrfach)Beziehung zu tun:
Dieses Ding, das wir selbst sind, anzunehmen und zu lieben.
Uns erlauben, unsere Gefühle ganz zu fühlen.
Uns selbst die Hand zu halten, und weder Poly- noch Oligoamory als Ausweg zu wählen, wenn es brennt.



¹ Zitat aus: Anaïs Nin, Tagebücher 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?

² Zarathustra Seminar Seite 1473 – C.G. Jung zu Nietzsches Zarathustra (1934)

Der englische Text zu Morning Glory Raven-Zells Artikel mit dem ersten Entwurf zur Polyamory (so wie damals 1990 in der Zeitschrift Green Egg erschienen) HIER

Danke an Renè Müller auf Unsplash für das Foto!