Eintrag 32

Dunkle Klänge¹

In dem großen Legendenschatz der Oligoamoren wimmelt es von Heroen und Ungeheuern, von Idolen, Sagengestalten und Monstern.
Wenn die kleinen Kinder zu Bett gegangen sind und auch jene Menschen, die noch reinen Herzens sind, sich längst in ihre Koje gekuschelt haben – dann beschwören die Erzähler am düster flackernden Feuer der Geschichten in manchen Neumondnächten eine furchteinflößende Gestalt herauf. Allein ihr Name schlägt die meisten Zuhörer in zähneklappernden Bann; ihr Schicksal, diese Welt auf der Suche nach den Energien der Lebenden zu durchstreifen läßt auch bei den hartgesottensten Oligoamoren das Blut erstarren.
Daß es diese Wesen dennoch gibt, mußte ich selber an einem unheilvollen Neumondtag am Ende eines kalten Oktobers erfahren, als mir folgende Geschichte so wiederfuhr, wie sie an den Feuern der Oligoamoren mit abergläubischem Flüstern seit jeher erzählt wird…

Der Nissratz betrat mein Haus unerkannt und in Begleitung seines liebsten Spielzeugs.
An meinen Tisch gebeten sprach der Nissratz zunächst wenig und wenn, mit gedämpfter Stimme. Dann stellte er meist leise Fragen und überhaupt schien er seine Umgebung und die Teilnehmer der Tischgesellschaft dabei intensiv zu mustern. Sein Spielzeug – obwohl dazu fähig – sprach wenig bis gar nicht. Der Nissratz machte mir Komplimente über meine Kaffeetafel und zu meiner Einrichtung und betrachtete dabei eingehend meine umfangreiche Bücherwand.
Der Nissratz meinte, daß es heutzutage recht schwierig geworden sei, Menschen für den eigenen Stamm zu finden, da sei es eine Wohltat ähnlich Gesinnten zu begegnen.
Ich sprach weiter mit dem Nissratz und seinem Spielzeug, dabei redete jedoch hauptsächlich ich und der Nissratz lauschte und wohl auch sein Spielzeug, jedenfalls schwieg es im Wesentlichen.
Nach einiger Zeit fragte der Nissratz, ob ich denn so mit meinem Leben zufrieden sein könne. Innerlich ärgerte ich mich ein bisschen, denn ein wenig hatte der Nissratz einen Punkt getroffen, der wohl nicht gerade wund – aber doch etwas empfindlich war.
Ich antwortete, daß ich mit meinem Leben im großen und ganzen zufrieden sei, wie ich es mir eingerichtet hätte, daß aber doch gelegentlich die ein oder andere Zutat in zu geringem Maße vorhanden sei, um stets vollumfänglich zufrieden zu sein. Da wir von Gemeinsamkeiten und vom eigenen Seelenstamm gesprochen hatten, erläuterte ich, daß ich es so z.B. manchmal als frustrierend empfand, daß in der übrigen Welt vielfach die verbindliche Mitmenschlichkeit und Menschenfreundlichkeit geringer ausgeprägt seien, als ich es mir manchmal für mich wünschen würde.
Der Nissratz erklärte daraufhin, daß doch wohl nichts da draußen in der Welt mehr menschenfreundlich sei und er dieser Welt darob den Rücken gekehrt habe. Wie überhaupt die Menschen vor allem bloß danach streben würden, über alles Kontrolle auszuüben. Für ihn sei deshalb nur noch maßgeblich, was die Natur vorgebe, er lebe hauptsächlich zurückgezogen und für sich selbst (sowie künftig für seinen noch zu schaffenden Stamm). Meine Frage, was es denn seiner Meinung nach sei, was die Natur vorgebe, verblüffte den Nissratz für einen kurzen Moment sichtlich, doch dann lobte er sogleich mein Interesse. Er beschrieb, daß naturgemäß vor allem bedeute, alles, ja, wirklich alles zuzulassen, insbesondere sämtliche Gefühle, wie auch immer diese beschaffen sein mochten. Selbstverständlich, sagte er, gäbe es zu diesem Thema eine Menge zu vertiefen und auszuführen, was er dann bei Gelegenheit für mich bereitwillig tun wolle.

Es folgte eine Pause in der Konversation, denn wir brachen zu einem Spaziergang „zum Gedanken ordnen“ auf, den der Nissratz allerdings gerne allein mit seinem liebsten Spielzeug – und ich also mit meiner Gefährtin und ihrem Pferd absolvierte.
Ich war verwirrt – was war dies für eine eigentümliche Begegnung? Mir fehlten Anhaltspunkte und Informationen an allen Ecken und Enden, denn über den Nissratz und sein liebstes Spielzeug hatte ich bisher fast nichts erfahren (das Spielzeug hatte gelegentlich mit strahlenden Augen genickt, schien aber sonst von sich aus nichts beitragen zu wollen…) – ich hingegen kam mir ein wenig, tja, ausgefragt vor. Deshalb sah ich der „Zweiten Halbzeit“ des Nachmittags entgegen, in der ich hoffte, mehr von meinen erstaunlichen Besuch in Erfahrung zu bringen.

Als wir vom Spaziergang heimkehrten, begann der Nissratz als erstes sogleich mein Haus zu erkunden, unaufdringlich – aber auch ungefragt.
Als es mir gelang, meinen Besuch nach der „Besichtigung“ an den Tisch zurückzulotsen, war es aber erneut der Nissratz, der nun zielstrebig den Gesprächsfaden in die Hand nahm – um ihn auch bis zum Ende nicht wieder niederzulegen.
Der Nissratz bekundete, daß die „erste Halbzeit“ ihn schon fast erschöpft hätte. So viele Worte seien gesprochen worden, wie er sie mit seinem liebsten Spielzeug sonst am ganzen Tag nicht wechseln würde. So viele Informationen – dabei hielte er, der Nissratz – und auch sein liebstes Spielzeug – doch das Schweigen und die Stille für das höchste Maß aller Dinge. An manchen Tagen würden sie kaum ein Wort miteinander wechseln…
Dennoch schlug der Nissratz zum Wiedereinstieg eine gemeinsame Feedbackrunde vor, die er selbst sogleich eröffnete. Er fühle sich bei uns willkommen und sicher, so betonte er. Noch einmal unterstrich er, wie selten es heute sei, überhaupt Menschen zu finden, die ähnlich Werte, wie er, der Nissratz, schätzten. Wohl sei ihm aufgefallen, daß wir gelegentlich ins Wort zu fallen versuchten, was nicht sehr achtsam sei – doch ansonsten bescheinigte er uns eine gedeihliche Atmosphäre die tiefgründigeren Menschen angemessen sei. Besonders das Stichwort „Hochsensibilität“ hätte ihn berührt, denn hochsensibel, daß seien er und sein liebstes Spielzeug ganz sicher auch. Er wäre dahingehend auch sehr neugierig zu ergründen, was uns wohl widerfahren² sei, daß wir „hochsensibel geworden“ seien, doch dafür würde sicher ein andermal noch Raum sein – denn bei ihm gäbe es dazu selbstverständlich auch eine ausführliche Geschichte seiner Fährnisse, die hier jetzt zu umfänglich wäre.
Nun war es an dem liebsten Spielzeug, die Rückmeldung zu geben und artig formulierte das Kleinod des Nissratz eine Variation seiner Worte, insbesondere ebenfalls Wohlgefühl und Behagen betonend.
Als die Reihe an mich kam, wollte der Nissratz wissen, wie ich mich fühle. Ich erwiderte aufrichtig, daß ich in einen Zustand zunehmender Verwirrung und widerstreitender Ambivalenz hinsichtlich des Verlaufs des Nachmittags geraten wäre und nicht wüßte, wie ich mich adäquat äußern sollte. Der gewandte Nissratz griff sogleich nach, indem er mich direkt fragte, in welchen Anteilen ich Angst, Trauer und Zorn in mir spüren würde.
Ehrlich antwortete ich, daß ich Angst in Form einer Unvertrautheit mit der plötzlichen Intensität der heutigen Situation empfinden würde, daß ich meistens eine begleitende Traurigkeit in mir trüge (auch heute) – aber daß ich keine Wut finden würde, lediglich die beschriebene Verwirrung.
Der Nissratz nickte wissend und erklärte, daß er solche Angst angesichts seiner Präsenz oft erleben würde, ein vertrauter Effekt, den die Kraft seiner Gegenwärtigkeit häufig hervorrufen würde.
Der Nissratz erläuterte, daß dies die gelegentlich Wirkung aller entwickelten Menschen sei, mir meine Angst jedoch darum zu nehmen sei, würde ich anstreben, dem Nissratz gleich zu werden, wozu er mir beihelfen und heilen wolle.
Daher bot der Nissratz mir nun an, eine Beziehung mit ihm zu führen. Er wolle darin nicht nur mein Partner, sondern auch mein Therapeut, mein Mentor, mein Priester und mein Heiler sein. Als ich sagte, ich würde ihn in diesen Eigenschaften permanent in Frage stellen, erklärte er großzügig, daß er sich auch dieser Herausforderung gewachsen sähe und ich ihn dahingehend beruhigt auf das Härteste prüfen könne. Der Nissratz erläuterte, daß nämlich alle entwickelten Menschen schließlich zu Heilern würden. Auch er und sein liebstes Spielzeug seien Heiler*innen. In dieser Eigenschaft ließen sie „sich finden“, von jenen Menschen, die bedürftig seien und Gesundung ersehnten. Sogar seinen Wohnraum und seine Lebenszeit bot mir der Nissratz nun an, bekräftigte, daß er all dies stets jenen Seelen widmen würde, die seine Hilfe bräuchten – egal ob für Tage, Wochen oder längere Zeit. Sein liebstes Spielzeug nickte zustimmend.
Als ich sagte, ich wäre auf der Suche nach verbindlich-nachhaltigen Beziehungen, nicht jedoch auf der Suche nach einer Therapiebeziehung und könne solches nicht mit mir vereinbaren, da wischte der Nissratz meine Bedenken fort, in dem er mich darauf hinwies, daß für ihn nur noch pure „Beziehungen“ im Universum existieren würden – und diese enthielten immer alle Qualitäten zusammen.
Als ich einwandte, ich hätte dann Schwierigkeiten zu erkenne, wann er dann als mein Liebster und mein Freund oder wann er als mein Lehrer und mein Therapeut zu mir sprechen würde, wiederholte er, daß es da bei entwickelten Menschen keinen Unterschied mehr gäbe und zeigte sich bekümmert ob meines so hinderlichen wie kleinlichen Misstrauens.
Der Nissratz bot mir darum zu meiner Erdung und zum Fassen von Urvertrauen seinen Körper zur Umarmung an, was ich gemäß seiner Vorannahme ablehnte.
Der Nissratz bot mir zu meiner Erdung und zum Fassen von Vertrauen nun sein liebstes Spielzeug an (ohne zuvor von diesem Konsenz eingeholt zu haben), was ich zu seiner sichtbaren Konsternation erneut ablehnte.
Als ich begründete, ich würde nicht so schnell mit mir fremden Menschen irgendeine Form von Körperlichkeit herstellen, denn es sei wie in der Geschichte vom „Kleinen Prinzen und dem Fuchs“, daß man einander erst „zähmen“ müsse um nach und nach ein Mißtrauen abzubauen und das Vertrauen herzustellen – da belehrte mich der Nissratz, daß Mißtrauen auch nur ein anderes Wort für Angst sei. Und Angst würde begrenzen und unfrei machen und sei darum wider die Natur.

Als ich antwortete, daß „Angst“ doch hauptsächlich etwas Persönliches sei, weil man doch meistens, auch wenn man um die Anfälligkeit einer anderen Person besorgt wäre, vor allem Angst um sich selber hätte – weil man hauptsächlich darum bekümmert wäre, wie man selber mit den Folgen dieser Anfälligkeit zurechtkommen müsste – da bezweifelte der Nissratz dieses sogleich.
Denn auch er, so betonte er ausdrücklich, würde sich z.B. seinerseits sehr vor dem Verlust seines liebsten Spielzeuges fürchten. Wie gesagt sei er ja hochsensibel und jeder hätte darob eine zentnerschwere traumatische Vergangenheit – nicht nur seine Zuhörer, nein auch er und sogar sein liebstes Spielzeug.

Der Nissratz diagnostizierte nun, daß ich zunächst mein physisches Mißtrauen abzulegen hätten. Bei unserem nächsten Treffen würde er dazu einen kleinen Worshop mit Berührungen anleiten.
Ob er denn nicht verstanden hätte, wandte ich abermals ein, daß Berührungen bei mir erst nach einer Periode des miteinander Zeitverbringens und des Vertrauensaufbaus stimmig seien?
Nun war es am Nissratz, wahrhaft ungnädig zu werden: Von Berührungen durch ihn wäre ja gar nie die Rede gewesen. Aber in meiner Verwundetheit sei es ja offensichtlich, daß ich sein selbstloses Angebot nur in dieser Weise hätte auffassen können, obwohl er es keinesfalls so gemeint hätte.
Die Geduld des Nissratz schien durch meine Sprödigkeit gegenüber der durch ihn verheißenen Gesundung allmählich erschöpft. Und tatsächlich spürte auch ich einen überraschend heftig aufkommenden Widerwillen gegen meine Gäste und die ganze mittlerweile recht eigenartig entgleiste Veranstaltung, die sich da an diesem Nachmittag abzuspielen begonnen hatte.

„Abflug!“ stieß da plötzlich das liebste Spielzeug – nahezu erstmals wahrhaft hörbar – hervor.
„Ich glaube auch, daß hier eine Zeit zur Besinnung angebracht scheint“, bilanzierte der Nissratz schnarrend, sich erhebend und mit langen Schritten der Ausgangstür zustrebend.

Bittere Resignation und resignierte Bitterkeit sprachen aus den Blicken und Worten des Nissratz mit denen er mich bedachte, als er sein großäugig blinzelndes liebstes Spielzeug unsanft vor sich her zum Ausgang stieß: „Dann einen deprimierenden Abend noch!
Die letzten Worte des Nissratz, schon auf der Treppe, sprachen davon, wie schade es sei, daß ich wohl keinen Ort für meine Tränen finden würde.

Als der Nissratz fort war fühlte ich mich seltsam vorgeführt und beschämt. Eine Weile klebte dieser Zustand an mir, wich aber mit der Zeit, als ich nach und nach erkannte, welch oligoamores Schreckgespenst da der vermummte Neumond in mein Heim gespült hatte – und daß ich es glücklich gebannt hatte.

Und so schreibe ich es heute für Euch hierher, den Lebenden zur Warnung und zur Mahnung:
Habt Acht vor dem Nissratz, seiner Schlangenzunge, seinen Schmeicheleien und tausend Versprechungen. Habt Acht um Eures Selbst willen, um Eure Bedürftigkeiten und Ängste, daß Ihr Euch darin annehmt und gut Freund seid – auf daß Ihr niemals in Gefahr kommt dem Nissratz als Nahrung zu dienen für lange Zeit in seinen Verstecken und Winkeln unter dem ahnungslosen schwarzen Mond.
Schürt stets Euer Feuer, liebt Euch selbst und Eure Liebsten und steht fest zusammen, dann wird der Nissratz einen Bogen um Euer Haus machen, ein schauerliches Flüstern nur bleiben, weiterzuerzählen an einem kalten Tag Ende Oktober…




¹ Diesen Titel habe ich wegen dem „Dunklen Dreiklang“ (auch „Dunkle Triade“) gewählt und dem zentralen Merkmal dieser Geschichte („Der Name ist ein Anagramm“, hätte Grace Cardiff in Rosemary’s Baby gesagt).

² Unter den vielen Theorien zu Herkunft und Ursprung von Hochsensibilität gibt es die kontroverse These, daß Hochsensibilität ein stimulierbares Merkmal sei, daß sich insbesondere durch Traumatisierung in der Kindheit herausbildet.

Danke an Joachim/Max und Anke für die Inspiration und
Dank an „The Yorck Project (2002): 10.000 Meisterwerke der Malerei “ (DVD-ROM) und das darauf befindliche gemeinfreie Bild des Altmeisters Michelangelo Merisi da Caravaggio – , distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148809

PS: Wenn man bedenkt, daß sich diese Geschichte in etwa so zugetragen hat, weil ich ursprünglich das „liebste Spielzeug“ auf einer Datingplattform für ein Treffen angeschrieben hatte, welches dann in seinem Verlauf die Grundzüge zu diesem Eintrag hervorbrachte, dann muß man auf jeden Fall sagen, daß einem in der Welt des Online-Datings doch viel „Interessantes“ geboten wird…

PPS: Ich entschuldige mich ausdrücklich dafür, diese Geschichte – und insbesondere die Gestalt des „Nissratz“ – mit überwiegend maskulinen Pronomen besetzt zu haben. Nissratzen gibt es in jeder Form, in jedem Geschlecht oder Gender und wir tun gut daran, um auf der Hut zu sein, dies zu beherzigen.
Ich habe diese fiktive Geschichte für mich so erzählt, wie sie meinem Erzählduktus als Autor am besten entsprach.

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Eintrag 31

Rosshandel

Am Wochenende erhielt meine Nestingpartnerin* eine Nachricht, die für sie mit einiger Nachdenklichkeit verbunden war.
Zur Erklärung: Meine Nestingpartnerin ist Pferdebesitzerin und hat im Laufe ihres Lebens schon das ein oder andere Pferd gehalten. Ein Pferd ist allerdings eine aufwendige Leidenschaft – auf jeden Fall was den Bedarf an Zeit und Finanzen angeht – und so kann es im Leben der Halter*innen durchaus vorkommen, daß sich die Gesamtumstände im Alltag aus vielerlei Gründen so verändern, daß ein verantwortungsbewußtes Fortsetzen der Haltung nicht mehr möglich ist. In solchen Krisenmomenten geschieht es dann, daß die meisten Pferdebesitzer*innen (die ich zumindest kenne) versuchen, ihr Tier in die vielzitierten „guten Hände“ abzugeben. Die Suche nach der geeigneten Übernahme ist damit quasi auch ein Dienst am eigenen Gewissen, das kontinuierliche Wohlergehen gemäß den eigenen Maßstäben auch nach dem Eigentumswechsel halbwegs sicherzustellen. In den günstigen Fällen ergibt es sich dann sogar, daß man selbst nach dem Fortgeben des Tieres periodisch mit Statusmitteilungen zur Gesundheit oder sogar Fotos versorgt wird – womit auch die neuen Halter*innen rückmelden: Dem Pferd geht es (weiterhin) gut.
Auf diese Weise ist Pferdehaltung aber auch vielfach ein gewisser „Verschiebebahnhof“ – und selbstverständlich geschieht es irgendwann, daß bei einem weiteren Wechsel solch eine Kette schließlich doch abreißt – und man als Vorbesitzer*in in zweiter oder dritter Reihe nicht mehr erfährt, wie es dem Tier in seinem weiteren Leben ergangen ist – bzw. ergehen wird.
Genau so ein Besitzer*innenwechsel stand jetzt im Leben eines der ehemaligen Pferde meiner Partnerin an, sprich: Ein früheres Haustier stand im Begriff, aus den ursprünglich gründlich ausgesuchten „guten Händen“ nun erneut in eine ungewissere Zukunft weiterer Besitzverhältnisse zu gehen.

Selbstverständlich gibt es bezüglich dieser recht regelmäßig vorkommenden Eigentumsübergänge auch in Reiterkreisen einen gewissen ostentativen Dünkel der Ungehörigkeit.
Wenn man sich ein Pferd kauft, dann überlegt man sich das doch vorher! “, heißt es dann gerne. Oder noch extremer: „Wenn man nicht bereit ist, ein Leben lang Verantwortung für ein Pferd zu übernehmen, dann sollte man sich auch keines zulegen.
Markige Appelle also an Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit einem Lebewesen gegenüber – und damit stecken wir sogleich mitten in den Verwicklungen der Oligoamory (siehe dazu auch Einträge 3 + 4 ).

Denn als Zaungast der Geschehnisse vom Wochenende fühlte ich mich sogleich an einen persönlichen Bereich erinnert, der vielleicht nicht ganz gleiche – aber doch ähnliche Entwicklungen und Moralaufrufe kennt: Das ElternSein. Und als Vater weiß ich sehr gut selbst, daß man auch auf dieser „Langstrecke“ in Lebensphasen kommt, wo man überfordert, hilflos oder auf Unterstützung in irgendeiner Form angewiesen ist. Und auch hier gibt es sie dann, die „Sittenwächter“, die in solchen Situationen mit dem hilfreichsten Rat von allen zur Hand sind: „So etwas überlegt man sich doch vorher! “. Darum gibt es eben nicht nur „Rider-Shaming¹“ sondern selbstverständlich das gut etablierte „Parent-Shaming¹“. Und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum „Husband¹- bzw. Spouse-Shaming¹“ – oder um im Bild des „Besitzerwechsels“ zu bleiben: Das „Divorcee-Shaming¹“. Samt und sonders Situationen, in denen wohlwollende Mitmenschen uns mit ihrer an wahrsagerische Fähigkeiten erinnernde Tugendhaftigkeit auf die Plätze verweisen: „So etwas überlege man sich doch früher/vorher! “.

Wer mir durch 30 Einträge zum Thema Oligoamory bis heute wacker gefolgt ist weiß, daß ich als Autor mit diesem Projekt, was Beziehungsführung angeht, durchaus gelegentlich verhältnismäßig ambitionierte Wünsche formuliere. Manchmal klinge ich dabei sehr leidenschaftlich, mitunter wird es geradezu idealistisch. Das ist die Oligoamory auch durchaus, denn ein Ideal ist für mich ein Leitstern, ein Wegweiser – etwas, wonach es sich zu streben lohnt, wo der stete Weg das Ziel ist.
Aber ich hoffe auch, daß es mir gelungen ist, erkennbar zu halten, daß es nicht „nur“ ein Ideal ist, denn ein bloßes Ideal ist immer in Gefahr, Mittel zum Zweck zu werden: Dann ruft purer Idealismus genau die Sittenwächter auf den Plan, die uns im Moment unserer Schwäche mit ihrem „So etwas überlegt man sich aber vorher! “ bloß noch tiefer hinabstoßen wollen.
Oligoamory – und darum habe ich ja das Symbol der Doppelspirale gewählt – soll menschlich sein. Und Menschlichkeit heißt Endlichkeit – und damit ebenso Begrenztheit.

Die Sittenwächter des Idealismus (und so eine kleine Ausgabe davon gibt es ab und an in nahezu jeder und jedem von uns) vergessen als Teilnehmer*innen am „Spiel des Lebens“, daß das Leben selbst nicht eine statische Gegebenheit ist, sondern das Wesentliche des Spiels ausmacht. „Vorhersagbar“ bzw. „vorher zu überlegen“ ist darin folglich genau genommen sehr wenig. Denn wir Menschen sind zwar von unserer Biologie auf günstige Energieverwaltung („Ab auf’s Sofa! “) und von unserer Hordennatur einigermaßen auf soziale Kooperation („Was Du nicht willst, das man Dir tu’…“) getrimmt – aber in der „3. Dimension“ des Vorsorgens und Planens sind wir exakt wegen unserer Endlichkeit von unserer Grundausstattung her gesehen im Höchstfall eingeschränkt kompetent.
Aktuelles Beispiel: Das führt gegenwärtig beim Thema „Energiewende“ dazu, daß das konkrete Vorvollziehen einer Verantwortungsübernahme für Menschengenerationen, die noch nicht geboren sind, so schwer fällt. Dieser Schritt verlangt ein äußerst bewußte und aktive Bereitwilligkeit, denn „in unserer Natur“ liegt er nicht – ein „wildlebender“ Homo sapiens hätte kaum jemals über seine Enkelgeneration hinaus gedacht (Gene weitergegeben, Mission erfüllt).

Nun sind wir aber keine „wildlebenden“ Hominiden mehr – und dadurch hat sich u.a. unsere Lebensspanne deutlich erhöht. Und plötzlich sehen wir uns mit einem höheren Maß an „Enden“ und „Endlichkeit“ in unseren Leben konfrontiert als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor – und ebenso mit der Herausforderung einer erhöhten „Vorsorglichkeit“. Ganz plötzlich kommt diese Entwicklung natürlich nicht, denn bei genauerem Besehen lassen sich seit der Antike in verschiedenen Philosophien und spirituellen Systemen Gedanken über „Lebenszyklen“ finden: Vorstellungen also, daß in einem menschlichen Leben verschiedene Stadien durchlaufen werden, diese sich manchmal wiederholen oder einander ähnlich sind (Symbole von Kreis oder Spirale). Und sowohl die antike Philosophie² als auch der frühe Buddhismus³ haben den Satz hervorgebracht „Was nicht vergehen will, kann nicht entstehen“.

Das ist für unseren Idealismus zunächst scheinbar ein herber Schlag. Denn es bedeutet, daß es menschlicherseits keine vollkommene Loyalität, keine absolute Integrität, keine totale Verantwortung und keine perfekte Nachhaltigkeit gibt.
Ein unerbittlicher Hang zur Perfektion, der Formulierungen wie „immer (und ewig) “ oder „ein Leben lang “ in sich trägt, tut im Gegenzug aber auch den Idealen nicht gut. Denn Leute, die nur noch versuchen Idealen gerecht zu werden, verlieren ihre Mitmenschen und sich selbst in ihrer eigenen Menschlichkeit (und Fehlbarkeit) schnell aus den Augen.
In seinem Buch „Die Kunst , kein Egoist zu sein“ (Goldmann 2010) schreibt der Gegenwartsphilosoph R.D. Precht, daß wir Menschen vor allem unserem Selbstbild verpflichtet sind: »Deswegen ist es für uns nur halb so schlimm, wenn wir einen bestimmten Wunsch nicht erfüllt bekommen oder eine Absicht mißlingt. Viel schlimmer ist es, wenn wir uns als Person angegriffen fühlen. Wenn man uns als Mensch in Frage stellt. Wenn man unser Selbstwertgefühl verletzt oder zerstört. Unser Sein – anders läßt sich diese Empfindlichkeit kaum erklären – ist immer mehr als unser Wollen, unsere Rede, unser Tun
Unser Selbstwertgefühl mit unseren inneren „Sittenwächtern“ zu sabotieren, daß können wir allerdings mindestens genauso gut, wie es unsere wohlmeinenden Kritiker im Außen auch tun – ohne darum gebeten worden zu sein. R.D. Precht empfiehlt daher mit Aristoteles, daß es vor allem wichtig sei, sich darum zu bemühen, „ein guter Freund seiner selbst “ zu werden – jenseits vermeintlichem Perfektionismus.

Ich habe diesen Eintrag mit einem Pferdebeispiel begonnen, weil bereits das Thema „Tiere“, derzeit noch eher wenn es mehr „Haustiere“ als Nutztiere sind, schnell sehr sensibel werden kann. Ich glaube allerdings, daß es letztendlich egal ist, zu welchen Lebewesen auch immer wir uns in dieser Art positionieren, wenn wir uns ihnen partnerschaftlich verbunden fühlen. Denn dann greifen in uns Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit unweigerlich immer ineinander: Das Eintreten für ein gemeinsames Ziel, die Übereinstimmung mit den eigenen Werten, das Einstehen für die eigene Selbstverpflichtung, das Wahren von (regenerativen) Grenzen.
Persönliche Ziele, eigene Werte, Selbstverpflichtungen und auch individuelle Grenzen sind aber eben keine statischen Gebilde von Ewigkeitswert. Auf jeden Fall nicht in einem endlichen menschlichen Leben, was fähig sein muß sich veränderlichen Außenbedingungen anzupassen (und ich spreche hier nicht von einer beliebigen charakterlichen Wandlungsfähigkeit nach Art eines Chamäleons).
Ich möchte uns allen aber die Erlaubnis zusprechen, daß auch scheinbar so gewichtig daherkommende Werte und insbesondere ihre Inhalte sich im Laufe der Zeit verändern – und manche auch schlicht und einfach ausklingen – dürfen.

Mein Fazit für heute fällt darum ebenfalls etwas philosophisch aus:
In der Aufnahme, Gestaltung und Beendigung unserer Beziehungen gleichen wir alle Töpfer*innen, die gemeinsam um die Töpferscheibe sitzen und ein Gefäß formen. Aufgrund der Beschaffenheit unseres Arbeitsmaterials ist uns – wenn wir uns dem Gedanken zu stellen wagen – recht klar, daß unser gemeinsames Produkt vermutlich eine begrenzte Haltbarkeit haben wird, es ist definitiv endlich. Wir könnten darum nun versucht sein, ein kunstloses, robustes Standardmodell zu erzeugen, was hoffentlich möglichst lange seinen Zweck erfüllt – würden aber auf diese Weise einen Teil von unserem Idealismus, unserer Inspiration und unserem individuellen Ausdruck verleugnen.
Wir könnten aber auch gerade wegen unseres Bewußtseins von Endlichkeit eine Form kreieren, die genau darum das uns derzeitig jeweils größtmögliche Maß an (Kunst)Fertigkeit repräsentiert, als raumzeitliche Schöpfung unserer Gegenwärtigkeit und unseres Strebens. Auf diese Weise werden unsere Beziehungen viel eher einzigartig und den Beteiligten angemessen geraten – und in ihrer Geeignetheit „mehr als die Summe ihrer Teile “ sein.
Durch das dabei in Kauf genommene Zulassen von Endlichkeit (also Vergehen) erhalten wir in diesem Prozess gleichzeitig die potentielle Motivation für ein neues Entstehen, was auf Beziehungen übertragen, die Erlaubnis von Fehlbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Verhandlungsmöglichkeit bedeutet.
Wenn wir in dem Sinne folglich einigermaßen gewiss sind, daß alle Beteiligten in einer Beziehung, was Loyalität, Integrität, Verantwortung und Nachhaltigkeit angeht, das ihnen Mögliche geben, dann nimmt das für die Einzelnen enormen Druck vom unerbittlichen Hang zur Perfektion.
Und es stärkt das Erleben von Freiheit in Verbundenheit, wozu ich mit der Oligoamory vor allem einladen möchte (siehe Eintrag 7).
Das Motiv der Langfristigkeit ist mir in der ethischen Nicht-Monogamie sehr wichtig, denn Langfristigkeit wird gebraucht, damit sich die Werte der Poly- oder Oligoamory überhaupt für alle erfahrbar und gestaltbar (!) entfalten können. Doch für „immer und ewig “ – also überleg‘ Dir das besser vorher? Das ist nicht menschlich, ja, das wird gar keinem Lebewesen und unserer gemeinsamen veränderlichen Natur gerecht.
In diesem Sinne: Brrrrrr!



* „Nesting-Partner*in“: In Mehrfachbeziehungen gelegentlich verwendete Bezeichnung für
Nähemenschen, mit denen man gemeinsam eng zusammenlebt, z.B. wohnt.

¹ „Rider-Shaming “, engl., ironischer Begriff von mir, Übersetzung „Reiter-Anprangerung“.
Parent-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Eltern(teilen) bezeichnet.
Husband-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Ehemännern
bezeichnet.
Spouse-Shaming “, engl., Begriff, der die Anprangerung von Ehefrauen bezeichnet.
Die letzteren drei Begriffe gibt es alle tatsächlich. Sie bezeichnen einen meist verbalen
Angriff, welcher der öffentlichen Anprangerung des Versagens durch
Schuldzuschreibung hinsichtlich des „erwünschten/erwarteten“ Rollenverhaltens
dienen soll.
Analog wäre also „Divorcee-Shaming “ das Anprangern von Geschiedenen, die mit
ihrer Beziehung „versagt“ hätten.

² Unsterblichkeitslehre des griechischen Philosophen Plotins, maßgeblich editiert und überliefert durch seinen Schüler Porphyrios.

³ Überlieferungen Nagarjunas im Mahāyāna-Buddhismus.

Danke an Crawford Jolly auf Unsplash für das Foto, welches einen der Köpfe des Kelpie-Monuments in Falkirk, Schottland, zeigt.

Eintrag 30

Dating is as Dating does…

Oligotropos datet mal wieder.
Nein halt.
Er datet genau genommen noch nicht. Er treibt sich erst einmal wieder auf Datingportalen herum.
Diesmal immerhin auf Plattformen, die sowohl monogame als auch nicht-monogame Formen der Suche und des fakultativen Datings gewährleisten.
So weit – so gut.
Doch nach dem ersten halben Dutzend gesichteter Profile überfällt ihn allerdings eine merkwürdige Nachdenklichkeit, als er erkennt, daß eine „oligoamore Suche“ selbst auf solchen Webseiten so ihre tieferen inneren Tücken hat:

Stufe 1 – Monogamie als Beispiel: Fast alle Datingplattformen scheinen für die Monogamie wie geschaffen. Nicht, daß ich sagen möchte, daß monogame Menschen es da wirklich einfach haben – aber sämtliche Kriterien scheinen auf die Monogamie zugeschnitten zu sein: Topf sucht Deckel – oder Deckel sucht Topf. Frau oder Mann sucht nach „dem einen Menschen“. Und wenn sich dann zwei in dieser Weise auf so einer Plattform finden, dann tun sie sich zusammen und verschwinden beide aus dem „Pool“ potentieller Sucher*innen – um fürderhin das zu tun, was monogame Menschen dann eben so gemeinsam machen. Womit wir diese Personen schon einmal aus unserer Geschichte ausblenden können, denn erstens zieht diese Gruppe ohnehin immer nur pärchenweise von dannen und zweitens sind wir ja selbst nicht monogam. Also schauen wir ihnen ein wenig bewundernd und ein wenig kopfschüttelnd hinterher: Ja, die zwei haben sich wohl „gefunden“ – bis daß wer oder was auch immer sie scheidet.

Stufe 2 – Non-monogam – polyamores Suchen und Finden: Klingt ja für alle Welt wirklich erst mal nach der großen Freiheit schlechthin. Hier wäre es also egal, ob ich als freies Atom oder als ein bereits gebundenes (quasi als Teil irgendeines Moleküls) nach weiteren potentiellen (Ver)Bindungen Ausschau halten würde.
Natürlich wären hier zuvor ein paar Hausaufgaben zu erledigen: Einvernehmlich-transparentes Öffnen (und Offenhalten) der eigenen Beziehung. Oder falls man noch allein ist: Der klare Vorsatz, daß man dies künftig mit all seinen möglichen Beziehungen so halten wird. Das Ganze dann gut abschmecken mit der gleichen Berechtigung für alle potentiell beteiligten Parteien, konsequenter Verantwortungsübernahme für eventuelles eigenes Risikoverhalten (z.B. sexuell) – plus einem Quentchen Verbindlichkeit hinsichtlich des entstehenden Gesamtbeziehungsnetzwerkes und dahingehend einer eher längerfristigen Orientierung (sonst täte es auch ein gelegentlicher Besuch im Swingerclub oder Casual-Dating).
Und dann kann die fröhliche Partner*innensuche losgehen. Und all die Menschen, die Lust haben und zu deren Parametern meine Vorstellungen von Mehrfachbeziehungen passen – und wiederum meine Parameter zu deren Vorstellungen – die könn(t)en sich dann zusammenfinden. Wenn Entfernung und/oder Logistik sowie Kommunikation untereinander da einigermaßen mitspielen.
Ich, Oligotropos, als Autor dieses bLogs, finde dann natürlich immer noch ein-zwei-drei Häkchen an den Beziehungsgebilden, die diese Herangehensweise ermöglichen würde. Diese drei „Häkchen“ habe ich in Eintrag 2 ausführlich beschrieben, da ich hinsichtlich der „Polyamory“ zu oft erlebt habe, daß die aus solchen Vorgaben entstehenden Verbindungen häufig auf Sexualität als wichtigstem (oder einzigem) gemeinschaftsstiftendem Hauptinteresse beruhen, die Beteiligten um ein unrealistisches Diktat von Bedürfnis- und Anspruchsfreiheit ringen und letztendlich Persönlichkeitsfragmentierung betrieben wird.
Aber über die Geeignetheit solcher Beziehungen habe ich nicht zu entscheiden. Das müssen die dort Beteiligten selbst abstimmen, ob die so entstehenden Formen ihnen (trotzdem) dienlich sind.
Und für viele Konstellationen reichen solche polyamoren Arrangements auch völlig aus: Vom Ausleben von sexueller Freiheit in einer Beziehung, über Teilhabe an der neotantrischen Community oder an BDSM-Spielbeziehungen, bis hin zur kategorielosen Beziehungsanarchie.
Und darum glaube ich aber auch, daß es da früher oder später mit dem Suchen und dem Dating klappen wird: Denn es werden sich Menschen zusammenfinden, die situativ übereinstimmend besondere Augenblicke ihres Lebens miteinander teilen wollen. Ob bei Veranstaltungen oder im Urlaub, auf Kursen oder bei Festivals, aus der Freundschaft bzw. aus gemeinschaftlichem Interesse und Engagement heraus.

Mir, Oligotropos, hat das alles aber nicht gereicht. Die Polyamory ließ für meinen eigenen Seelen- und Beziehungsfrieden zu viele Definitionslücken hinsichtlich Verläßlichkeit/Berechenbarkeit, Loyalität/Identifikation und Nachhaltigkeit offen (siehe auch Einträge 3 + 4).
Außerdem schien mir die „Polyamory“ häufig entgegen ihrem Gründungsgedanken nicht mehr als „Beziehungsphilosophie“ angesehen zu werden, sondern als eine Art neuer Philosophie von Liebe und persönlicher Freiheit. Über Buchautoren und Coaches wie Robert Betz und auch Veit Lindau rückten im 21. Jahrhundert daher Betrachtungen wie die Folgenden dort immer öfter in den argumentativen Fokus:
»Beziehungen sind eine Struktur, und Liebe ist unstrukturiert. Liebe bezieht sich auf jemanden, natürlich, wird aber nie zur Beziehung. Liebe geschieht von Moment zu Moment. Liebe ist ein Seins-Zustand, keine Beziehung. Es gibt liebevolle Menschen und solche, die nicht liebevoll sind. Menschen, die nicht liebevoll sind, benutzen ihre Beziehung, um liebevoll zu erscheinen. Liebevolle Menschen brauchen keine Beziehung – Liebe ist genug. Sei ein liebevoller Mensch, anstatt in einer Liebesbeziehung zu sein – denn Liebesbeziehungen bestehen an einem Tag, und am nächsten sind sie vorbei. Sie sind Blüten, am Morgen blühen sie auf, am Abend sind sie verblüht. […] Eine Beziehung kann aus Angst eingegangen werden, sie mag nichts mit Liebe zu tun haben. Sie kann einfach eine Art Sicherheit sein. Die Beziehung wird nur gebraucht, weil es keine Liebe gibt. Eine Beziehung ist ein Ersatz. Sei achtsam. Beziehungen zerstören die Liebe, sie zerstören die bloße Möglichkeit, dass Liebe aufscheint.¹«
Oder:
»Wirkliche Persönlichkeiten lieben einander als Luxus; es ist nicht länger ein Bedürfnis. Sie genießen es zu teilen: Sie haben so viel Freude, dass sie gerne jemanden damit erfüllen würden. Und sie wissen, wie sie ihr Leben als Soloinstrument spielen können.²«
„Armer Rajneesh!“, würde ich nun beinahe laut ausrufen (siehe dazu auch Eintrag 8), „hast Du deine Beziehungen tatsächlich vorwiegend so erlebt?“
Denn in der zunehmenden menschlichen „Beziehungslosigkeit“ und im „Solistentum“ sehe ich aktuell eher ein heraufziehendes Problem als eine (Er)Lösung.

Auch deshalb machte ich mich daran, für mich die „Oligoamory“ zu erforschen, insbesondere mit Blick auf die Bedürfnisse und Wünsche, die ich hinsichtlich Mehrfachbeziehungen hatte.
Was mich aber nun bei der „Suche“ und beim Daten gewissermaßen vor neue Herausforderungen stellt. Oder zumindest vor Fragen, denen ich mich stellen muß.

Stufe 3 – Oligoamore Suche:
Stellen wir den obigen Rajneesh/Osho-Zitaten direkt eines von dem britischen Schauspieler Anthony Hopkins gegenüber:
»Keiner von uns kommt lebend hier raus. Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.«
Was mir an diesem Zitat aus oligoamorer Sicht besonders gut gefällt, ist der direkte Hinweis auf unsere zutiefste Menschlichkeit mit ihren Freuden – und auf unsere Endlichkeit.
Mr. Hopkins sagt ebenfalls: Macht Schluß damit, euch selbst und euch gegenseitig wie „Lebensdreingaben“, ja, wie „Andenken“ zu behandeln. Und er ergänzt: Sagt die Wahrheit, tragt Euer Herz auf der Zunge – womit er also an unsere radikale Aufrichtigkeit appelliert.

Gerade diese beiden Aspekte scheinen mir hinsichtlich dem Finden von potentiellen Partner*innen in der Oligoamory von großer Bedeutung.
Denn gemäß dem PrinzipWas Du nicht willst, das man Dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu...“ möchte ich jedenfalls nicht als „Luxus“ oder „Lebensdreingabe“ angesehen oder behandelt werden. Ich bin ein ganzer, komplizierter Mensch mit meinen Schwächen und Stärken und so wünsche ich auch angenommen zu werden. Hups, da habe ich auch gleich den zweiten Punkt touchiert: Denn um so „angenommen zu werden“, muß ich mich ja auch selbst aufrichtig so annehmen können. In Eintrag 26 und 27 setze ich mich damit auseinander, wie ich meine innere Fragmentierung überwinden kann, um wieder wirkliche Nähe und echte Vertrautheit erleben zu können. Und dabei spielt konsequente und etwas schonungslose Selbstehrlichkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Nehmen wir nun an, daß wir es gemäß Mr. Hopkins halbwegs geschafft hätten, uns selbst nicht länger „wie ein Andenken“ zu behandeln, weil wir uns in unserer schrullig-schönen, auf jeden Fall menschlichen, Einzigartigkeit einigermaßen akzeptiert hätten, wozu unsere immer wieder aufgewandte Aufrichtigkeit maßgeblich beitragen würde.
Dann würde dies im Gegenzug ja ganz klar bedeuten, daß auch unsere potentiellen Partner*innen nichts weniger wert wären…
Holla.
Denn jetzt haben wir für unsere „Suche“ und für eventuelles Dating einen Anspruch formuliert, dem wir erst einmal gerecht werden müssen:

Habe ich derzeit die Kapazität in meinem Leben, einen (weiteren) GANZEN Menschen als solchen zu würdigen?
Vielleicht denkt nun jemand: „Ach, bitte, lieber Oligotropos, das würde ich nie von jemandem anderen verlangen, daß er*sie*es mich so betrachtet. Mir würde es reichen wenn sie denken, ich sei ein*e gute*r Gitarrist*in /Surfer*in / Bettgenoss*in – ob ich meine Steuern korrekt abführe oder wo ich politisch stehe ist dabei doch ganz unwichtig…!“
Ach ja? Da bist Du vielleicht noch (bestenfalls) in der Polyamory richtig – aber dann hat diese Webpräsenz hier tatsächlich nichts für Dich zu bieten. Und jammere auch nicht länger über das Erleben von so einer seltsamen elenden inneren Diskrepanz zwischen Schein und Sein – denn „Trennungsrealität“ bzw. ein Leben weit weg von Deinem „Kontinuum“ scheinst Du wohl doch eher zu bevorzugen.
Ich bitte um Entschuldigung für diese sehr offenen Worte – aber darin besteht die Konsequenz, wenn wir auf der Beziehungsebene für ein gleichberechtigtes Wohlergehen aller Beteiligten eintreten wollen.
Und diese Konsequenz müssten wir eben bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt miteinbeziehen, quasi schon bei der „einseitigen Beziehungsanbahnung“.
Unsere Zielvorstellung einer „oligoamoren Beziehung“ wäre ja geprägt von dem Wunsch, einen (weiteren) Menschen zu finden, der auf diese Weise Teil unseres „Seelenstammes“ wird, eine*r unserer „Zugehörigen“. Wir hoffen damit auf eine Beziehung, die von Vertrautheit geprägt ist, die es zuläßt, daß dort alle Beteiligten ihre „Alltagsrüstung“ voreinander ablegen können. In einer solchen Beziehung wäre man einander gerade wegen der vielen Kleinigkeiten wichtig, durch die man gemäß dem Schriftsteller Antoine de Saint-Exupérydie Farbe des Weizens gewonnen hätte ³“: (Nur) Scheinbar unerhebliche Details, die aber für die Anderen in ihrer Eigenheit die jeweilige Persönlichkeit aufstrahlen läßt. Denn schließlich führt jede menschliche Beziehung darauf zurück, daß wir uns in einer solchen Beziehung jenseits unserer sichtbaren Errungenschaften, unserer Erfolge oder Kenntnisse – aber auch jenseits unserer Kümmernisse und Sorgen – einfach als Menschen angenommen fühlen möchten. Und zwar nicht als Bestätigung durch irgendein Außen – da irrt der gute Osho und alle seine Mitredner meiner Ansicht nach – sondern als Zuspruch bzw. Zusicherung unserer eigenen inneren erlangten Gewißheit hinsichtlich unseres Wertes und des Wertes, den jeder andere Mensch hat – ohne das irgendeine*r von uns irgendwie gemindert wird.

Fazit: Darum ist für mich als oligoamor-sensibler Mensch Online-Dating aufregender und komplizierter, als es genau genommen für mich richtig wäre.
Viele Portale scheinen z.B. eine Strategie zu bevorzugen, die ein multiples Anschreiben von Profilen nahelegt, um quasi ein möglichst großes Netz auszuwerfen. Ich z.B. kann das nicht, ohne daß ich mir dabei in irritierender Weise etwas inkohärent und auch etwas illoyal vorkomme: Hinter jedem Profil steckt ein ganzer Mensch. Wie ich hinter meinem Profil doch auch. Und keine zwei Profile oder Menschen gleichen sich. Darum finde ich, daß auch jeder dieser Menschen eine eigene Herangehensweise verdient hat. Sonst wäre es ein bißchen so, als ob ich in eine Kneipe zu einer Gruppe Frauen „Na, Mädels!“ gebrüllt hätte und zu hoffen, daß sich eine von ihnen nun aufgrund dieser so eloquenten wie individualistischen Ansprache mir nähert…
Und es ist tatsächlich so, daß wenn ich ein Profil lese, ich durchaus überlege, ob ich die Kapazität habe, mehr als nur eine Projektionsfläche für die Wünsche und Bedürfnisse der Gegenseite zu sein – was im Zweifelsfall ein arg dünner Lack wäre, der kaum einer „Nagelprobe“ standhalten würde.
Und ich überlege immer, ob es ein guter Moment für einen solchen Schritt jetzt gerade in meinem Leben ist:

  • Ob in meinem schon reichen Leben überhaupt Platz für einen GANZEN (weiteren) Menschen ist (Ich erinnere an das Anaïs Nin-Zitat aus Eintrag 6, daß „jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und das nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.“).
  • Ob ich derzeit mein „inneres Haus“ aufrichtig genug aufgeräumt habe, um einen (weiteren) Menschen hineinzulassen – oder ob ich nur einen knappen Platz an meinem bestgeschmückten Schaufenster zu vergeben habe.
  • Ob ich derzeit einen stabilen Ort biete, an dem ein anderer Mensch sicher genug sein kann, um sich ihrer*seiner „Alltagsrüstung“ zu entledigen.
  • Ob ich über genug innere Gewißheit verfüge, daß ich mich nicht an mir selbst festklammern muß, in der panischen Angst, mich selbst zu verlieren – sondern sowohl einen Arm für mich als auch einen Arm für jemand anderen habe, um sie*ihn mit ihrer*seiner Gewißheit zu empfangen und auszuhalten.


¹ Osho/Rajneesh/Bhagwan, Walk without feet, fly without wings and think without mind, Talk #8

² Osho/Rajneesh/Bhagwan, „The Power of Love“ He said / She said: Love in a relationship

³ Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz, Kapitel 21, Auszug aus der Rede des Fuchses: »Mein Leben ist eintönig. Ich jage Hühner, die Menschen jagen mich. Alle Hühner gleichen einander und alle Menschen sind gleich. Das langweilt mich ein wenig. Aber wenn du mich zähmst, wird mein Leben heiter wie die Sonne sein. Ich werde den Klang deiner Schritte von den anderen unterscheiden lernen. Alle anderen Schritte jagen mich in meinen Bau. Deine Schritte werden mich wie Musik aus meinem Bau herauslocken. Und dann schau! Siehst du dort die Weizenfelder? Ich esse kein Brot. Weizen ist für mich ohne Nutzen. Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Und das ist traurig! Aber du hast goldene Haare. Wie wunderbar es sein wird, wenn du mich gezähmt hast! Der goldene Weizen wird mich an dich erinnern. Und ich werde das Brausen des Windes durch den Weizen lieben…«

Danke an Simon Müller auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 29

…den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Vor wenigen Tagen schrieb mir eine Bekannte, die ein vereinbartes Treffen absagte, u.a. folgende Zeilen:
…Ich habe in den letzten Wochen mein Leben spontan umgekrempelt und bin jetzt erstmal monogam unterwegs. Hab mich so verliebt und wir wollen jetzt erstmal alleine schauen.Er hatte bisher nur normale Beziehungen und ich merke, daß es mir gerade richtig gut tut. Nach dem hin und her, was ich vorher hatte…“
Nun.
Ist vielleicht blöd für unser Treffen – aber wenn man sich gerade in der Zeit erster Verliebtheit auf das zweisame Miteinander konzentrieren möchte, dann kann ich das nachvollziehen.
Dennoch…– in gewisser Weise eine „Erschütterung der Macht“, wie der Schauspieler Alec Guiness in seiner Rolle als sensibler Yedi-Meister Obi-Wan Kenobi in dem Film „Krieg der Sterne“ (Episode IV) gesagt hätte.
Eine sehr viel deutliche „Erschütterung der Macht“ nahm ich im gerade zurückliegenden September wahr, als die LGBT-Aktivistin, Schauspielerin und Comedian Margaret Cho in einem Podcast-Interview (engl.)¹ sagte:
Wissen sie, was mich angeht, ich habe mittlerweile Polyamory-Fatigue und absolute BDSM-Fatigue. Es braucht soviel Energie, stets zu verhandeln, was du brauchst und was du tust – und ich habe einfach nicht mehr die Energie dafür. Auch die ständige Ver- und Aufarbeitung (orig.:„Processing“), die immer anfällt, das habe ich satt. Für mich ist das alles sehr in den 90ern und den frühen 2000ern steckengeblieben – trotzdem schätze ich es.“
Na, wenigstens hat sie noch den letzten Halbsatz nachgeschoben… Denn ansonsten empfinde ich so eine Aussage von jemandem, der die letzten 25 Jahre des Lebens intensiv einem Lebensstil ethischer nicht-Monogamie verschrieben hatte, schon als Erdbeben mittlerer Stärke. Insbesondere, wenn diese Person im Interview hinzufügt:
Ich habe die Idee, dass ich, weil ich jetzt Single bin, versuchen möchte, für den Rest meines Lebens ohne Partner zu bleiben, und ich werde es wirklich versuchen.
Und auf Nachfrage warum:
In meinem Erwachsenenleben hatte ich Partner*innen, seit ich 25 war oder was auch immer. Ich fühle mich jetzt, da ich 50 bin, als sollte ich wirklich nochmal mein Bestes geben, um zu sehen, ob ich auch allein meine Frau stehen kann.“
Nun.
Auch das sind für mich nachvollziehbare Gründe.
Und dennoch erschüttern mich beide Aussagen. Denn in der polyamoren „Szene“ ist es durchaus nicht so, daß ich solche Erklärungen nicht schon öfter gehört hätte. Mrs. Cho war für mich jetzt allerdings ein sehr prominentes Beispiel – und darum macht es mich besonders nachdenklich.
„Polyamory-Fatigue“ – das klingt ernst, wie ein medizinisches Merkmal; zu „Fatigue“ sagt Wikipedia: »signifikante Müdigkeit, erschöpfte Kraftreserven oder erhöhtes Ruhebedürfnis, disproportional zu allen kürzlich vorangegangenen Anstrengungen«.
Bei jemandem wie Margaret Cho mag Vieles davon höchstwahrscheinlich auch genau so zutreffen, speziell wenn ein Vierteljahrhundert hinter einem liegt, wo man ein aktives Leben hoher medialer Präsenz für die Anerkennung von Homosexualität, LGBT-Rechten, BDSM und queerem Leben überhaupt geführt hat.
Gerade wenn man „anders“ als der Mainstream ist, geschieht es ja dann ohnehin leicht, daß auch das „Private politisch und das Politische privat“ ² wird, da das „Andersartige“, das „Abweichende“ sich erst einmal lange Zeit gegen die vorherrschende Moral und den etablierten Lebensstil behaupten muß.

Als Erforscher nicht-monogam-oligoamorer Lande bin ich dennoch besorgt. Denn sowohl meine Bekannte als auch Margaret Cho stellen mit ihren Aussagen und ihrem Handeln zwei Werte in Frage, die für mich in der Oligoamory so wichtig sind, daß sie gleichsam zum Untertitel dieses Projekts hier dazugehören: Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit.
Fairerweise möchte ich sofort ergänzen, daß weder meine Bekannte noch Mrs. Cho sich jemals als oligoamor erklärt haben – und daß auch ich, der ich Autor dieses bLogs bin, keinesfalls dekretieren möchte, daß man einem einmal gewählten Lebensentwurf für alle Zeit auf Biegen und Brechen verhaftet bleiben müsste.
Und trotzdem gibt es sie: Die gar nicht mal so kleine Gruppe von Menschen, die nach kürzerer oder längerer Weile eben bekennen: „Polyamory? Hab‘ ich ausprobiert. Hat nicht funktioniert…, bin jetzt wieder monogam/Single...“ Die Selbstehrlicheren in dieser Gruppe sagen eventuell noch etwas genauer: „Hat für mich nicht funktioniert.“
Ach, Leute…“, seufzt es dann in mir.
Persönlich halte ich es nämlich für sehr wahrscheinlich, daß – wenn eine Sache nicht funktioniert – sehr selten „die Sache“ das Problem ist, sondern sehr viel häufiger unser Qualitätsmanagement.
„Qualitätsmanagement“ ist in diesem Fall ein weiter Begriff. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, daß zahlreiche Menschen ethische Nicht-Monogamie (wie Poly-oder Oligoamory) so ähnlich anwenden, wie der Mann, der am Boden zerstört die Kettensäge in den Laden zurück bringt und stöhnt: „Bin total erschöpft, hat nicht funktioniert, hab‘ mich total abgerackert und kaum einen Baum geschafft…“ Der Verkäufer besieht sich die Kettensäge, betätigt den Anlasser, horcht auf den Motor und sagt: „Ich kann keinen Fehler finden...“ Während ihn der fassungslose Kunde anstarrt: „Was ist denn das für ein Geräusch...!“
Wenn Menschen in dieser Art versuchen, Mehrfachbeziehungen zu führen – dann wundert es mich nicht, daß sie es in der Tat als „hin und her“ empfinden, an dessen Ende „Polyamory-Fatigue“ droht.

Dabei möchte ich die anstrengenden Anteile am Leben in ethischer Nicht-Monogamie absolut nicht leugnen. Vom Zeitmanagement mit mehreren Partner*innen über ständige Selbst- und Fremdrechtfertigungen hinsichtlich der eigenen Lebensweise, von mangelnden rechtlichen Grundlagen bis hin zu den Schwierigkeiten, Gleichgesinnte zu finden – das alles sind reale Nöte und potentielle Quellen für aufbrechende Konflikte. Ein bLog-Eintrag auf einer obskuren Oligoamory-Webseite kann da weder die zahlreichen Herausforderungen benennen, noch in ein paar Zeilen adäquate Praxislösungen für die vielfältigen Situationen, in denen sich Menschen in Mehrfachbeziehungskontexten befinden, anbieten.
Was ich anbieten möchte, ist ein wenig Öl für die Wogen der Erschöpfung, bevor Betroffene glauben, als Ausweg bliebe nur, den Stecker zu ziehen der da heißt: „ich bin wieder monogam unterwegs“ oder „ich möchte für den Rest meines Lebens Single bleiben“.

Weder meine Bekannte noch Mrs. Cho kenne ich persönlich genug, als daß ich wirklich etwas über ihre Beweggründe sagen könnte. Und wie ich schrieb, ist der Weg in die ethische Nicht-Monogamie wahrhaftig nicht gerade mit einem roten Teppich geschmückt.
Abgesehen von den vielen inneren und äußeren Fallstricken, mit denen wir Sucher*innen von Mehrfachbeziehungen – wie oben beschrieben – ohnehin zu tun haben, glaube ich aber, daß wir uns ein gewisses Maß an Druck auch selber erzeugen. Und dieser Druck wirkt sich auf unser erwähntes „Qualitätsmanagement“ aus – indem wir schnellstmöglich stolze „Kettensägebesitzer*innen“ werden wollen, um uns alsbald an den nächsten Bäumen austoben zu können. Dann besucht man Kettensäge-Workshops, Kettensäge-Stammtische, surft durch Kettensägeforen und der Stress kann dadurch enorm werden: Wenn man sieht, wieviel Holz die Anderen scheinbar beiseite schaffen – und einem selbst zittern die Knie schon bei nur einem kleinen Baumstamm…
Denn analog können einem „die anderen Polyamoren“ sehr schnell als eierlegende Wollmilchsäue erscheinen, die fröhlich allerorten ihre intensiven Beziehungen zu einer Vielzahl interessanter Partner*innen managen – wohingegen man selbst z.B. in einem unerfreulich zähen Dating-Sumpf steckt und weit und breit niemanden auffinden kann, der das eigene Beziehungsmodel auch nur annähernd halbwegs teilt. Gleichzeitig wird man dabei immer noch zusätzlich verwirrter, weil man am Wegesrand reihenweise spannende monogame Menschen bzw. Singles ausläßt, die ja nun leiderleider nicht die eigene Weltsicht teilen. Ach, war das damals noch einfach, als man selbst noch monogam, respektive Single war…
Der Druck erhöht sich übrigens, wenn man selber womöglich in einer Bestandspartnerschaft ist, mit einem etwas in die Jahre geratenem „Altmodell“, man aber die Beziehung „beiderseitig einvernehmlich“ geöffnet hat – sich aber trotzdem irgendwie nichts Nachhaltiges ergibt. Oder wenn man mit Menschen in eine Mehrfachbeziehung gerät, die „poly/oligoamor“ sagten, für sich damit aber vorwiegend „promiskuitiv“ meinten. Dazu dann noch immer diese ganze Ver- und Aufarbeitung (die ja doch oft irgendwo zwischen heftiger Arbeit am Selbst und trutzig-trotziger Rechtfertigung schwankt): Da kommt die Polyamory-Fatigue schneller, als einem lieb ist. Kettensäge zurück ins Geschäft – Furchtbar.

Vor allem den Männern wird ja nachgesagt, daß sie neue Geräte immer sofort ausprobieren wollen, ohne auch nur einen Gedanken an die Bedienungsanleitung zu verschwenden. Im Falle ethischer Mehrfachbeziehungen trifft dies in schöner Gleichberechtigung auf alle Beteiligten zu. Sonst würde uns allen viel eher auffallen, daß wir ein besseres (Arbeits)Ergebnis erzielen könnten, würden wir erst einmal dem Laufen des Motors Aufmerksamkeit schenken. Und auch ein laufender Motor „garantiert“ noch keinen Ertrag – er macht ihn aber in jedem Fall wahrscheinlicher.
Vielleicht ist es darum wichtig uns damit zu beruhigen, was es nicht heißt, wenn man Kettensägebesitzer*in, ach – Verzeihung – Mensch im Kontext ethischer Nicht-Monogamie ist:
Es bedeutet eben nicht automatisch, daß man über zahlreiche aufregende Parallel-Partnerschaften verfügt – oder vielmehr: verfügen muß. Überhaupt scheint mir „Verfügbarkeit“ das Schlüsselwort zu sein: Denn auch darüber trifft eine Veränderung unserer Wahl, wie wir Beziehungen oder Partnerschaften führen wollen, keine Aussage. Bin ich ein „schlechter Poly“, weil ich gerade keine weiteren Beziehungen führe? Oder nur eine? Wäre meine Überzeugung oder mein Aktivismus für Belange ethischer Nicht-Monogamie in solchen Fällen weniger glaubhaft?
Heißt „nicht-monogam“ zu sein, daß man damit automatisch immer verfügbar, immer potentiell offen ist – oder es sein muß?
Sollten wir tatsächlich beginnen, so über uns zu denken, dann würden wir ein erhebliches Maß von Stress und Polyamory-Fatigue auf uns selbst herabbeschwören.
Denn es würde in Konsequenz bedeuten, daß wir mehr Wert auf die Kettensäge – also auf das „ob“ – statt auf die Qualität – also auf das „wie“– legten.Was in Folge bedeuten könnte, daß wir bereit wären, beim „wie“ Zugeständnisse zu machen, um das „ob“ zu gewährleisten. Und das würde übersetzt bedeuten, daß wir uns früher oder später als Teil einer Reihe von seriellen wie parallelen Bindungen wiederfinden könnten, die uns nicht gerecht werden, in dem diese unstet sind („hin und her“) – oder uns in unserer Persönlichkeitsentfaltung einschränken („ob ich selbst meine Frau stehen kann“). Was aus oligoamorer Perspektive heißt: Wenig nachhaltig und wenig verbindlich.

Im besten Falle könnte man es uns ja nun doch selbst überlassen, welche Art von Konzessionen wir auf uns nehmen würden, um endlich Teilhabe an Mehrfachbeziehungen für uns zu bewerkstelligen.
Aber.
In diesem Fall prägt das Sein durchaus am Ende das Bewußtsein, egal ob Pragmatiker oder Idealist:
Denn schließlich überzeugen wir uns auf diesem Weg mittelfristig davon, daß Kettensägen untauglich sind, sprich: Daß ethische Nicht-Monogamie uns kein erfüllendes Beziehungsleben gewährleisten kann. Weil es immer so ein unnormales Hin und Her mit ermüdender Ver- und Aufarbeitung ist, was uns am Ende auslaugt „disproportional zu den vorhergegangenen Anstrengungen“.
Wer würde da nicht die Kettensäge zurückgeben?
Wem würde dann nicht Monogamie als „normal“ und „richtig gut“ empfinden und Singletum als Feld, auf dem man endlich allein „seine Frau stehen“ könnte?

Dabei haben wir ein kräftiges Eigentor geschossen, denn ob ethische Nicht-Monogamie, Poly- bzw. Oligoamory dazu nicht mindestens ebenso in der Lage gewesen wären, haben wir keinesfalls erwiesen. Erwiesen haben wir, daß unsere Erwartungen unserer Bedürftigkeit davongaloppiert sind, weil wir, als wir zum ersten Mal von einer Kettensäge gehört haben, wir die Geschichte so aufgefasst hatten, als ob diese Wundersäge unsere Arbeit ganz von alleine erledigen würde. Wiederum auf Mehrfachbeziehungssysteme bezogen: Daß die Wahl dieser Lebensart Bedürfniserfüllung sicherstellen würde [Ein herber Schlag übrigens besonders für jene Polyprediger, die immer noch als anti-Monogamie-Argument „Dass niiiiie nur ein Mensch für alle Bedürfnisse da sein kann...“ ins Feld führen. Die Non-Monogamie selbst mit 100 Partner*innen gewährleistet dies nämlich auch nicht.].
Schlimmstenfalls erzeugen wir so „bekehrte Polys“, die schlimmer als die üblichen Gegner von Mehrfachbeziehungen dann aus ihrer (schlechten) Erfahrung heraus berichten werden: „Nein, bloß nie wieder Mehrfachbeziehungen, das hat mich nicht nur nicht glücklich gemacht, sondern auch noch gestresst und ausgebrannt…“

So wie der Besitz einer Kettensäge eine große Sorgfaltspflicht anmahnt, so möchte ich hinsichtlich ethischer Nicht-Monogamie zu dieser Sorgfaltspflicht einladen, die man hauptsächlich sich selbst zu Gute kommen lassen sollte. Im Rahmen der Oligoamory wünsche ich mir ja gerade genau darum eine hohe Aufrichtigkeit, die in erster Linie eine Verbindung von Selbstehrlichkeit und Selbstverantwortung ist. Und um die kämen wir ja genau genommen in keiner Beziehungsform herum, auch wenn Singletum oder Monogamie uns als „Gesellschaftliche Standardmodelle“ dies vorzugaukeln scheinen: Nur weil etwas bekannt wirkt, heißt das nicht, daß dort ohne unser weiteres Zutun alle Fragestellungen von unseren Vorgänger*innen (Eltern, Lehrer*innen, Gesellschaftsphilosoph*innen, Politiker*innen) für uns gelöst wurden. Das „Standardmodell“ vermittelt diese Illusion lediglich durch sein Diktat muffig-vertrauter Normativität.
Um bei meinem Bild zu bleiben: In dieser Hinsicht wäre jede Beziehungsphilosophie irgendeine Art Säge, ob Stichsäge, Klappsäge, Bügelsäge, und die Verletzungsgefahr bei inkompetentem Gebrauch wird unweigerlich zu Selbst- oder Fremdverletzung führen.
Ganz streng genommen, kann überhaupt niemand uns fertige Antworten für uns liefern, denn wie schon Konfuzius meinte: »Sage es mir, und ich vergesse es; zeige es mir, und ich erinnere mich; lass es mich tun, und ich behalte es.« Wir sind es also selbst, die „Leben in Beziehung“ mit unserem eigenen Leben erfüllen müssen, um die Beziehung, die Anderen und uns selbst immer besser zu verstehen. Auch das gehört zu der „Ver- und Aufarbeitung“, die Margaret Cho so satt hatte. Wenn ich es aber müde bin und nicht mehr wage, wenigstens vor mir selber Rechenschaft für meine Beweggründe abzulegen, wie soll ich dann auf irgendeinem Parkett überhaupt glaubhaft meine Frau oder meinen Mann stehen (Inkohärenz läßt grüßen)?
Wenn ich mir in der Oligoamory wünsche: „Führt gute Beziehungen!“, dann meine ich damit Euch angemessene Beziehungen – die aber vor allem sehr bewußte und aufrichtige Beziehungen sind. Oft sind wir diese hohe Aufrichtigkeit, insbesondere gegenüber uns selbst und in Beziehungen dann gleich zu einem sehr frühen Zeitpunkt nicht gewohnt.
Helfen wird uns – da stimme ich Konfuzius zu – nur das Tun, das Üben, nicht der Modellwechsel.

Ich wünsche mir darum, daß hinsichtlich der Abkehr von der ethischen Nicht-Monogamie bei den Betroffenen das zutrifft, was Charlies Mutter ihrem Sohn in dem Buch von Roald DahlCharlie und die Schokoladenfabrik“ erklärt:
Wenn Erwachsene »für immer« sagen, dann meinen sie meist: »sehr lange«...“



¹ Der Podcast ist HIER verfügbar, erfordert aber eine Anmeldung auf der Seite (nur Englisch).

² Kampagnenzitat aus der 2. Feminismuswelle zur „Politik der ersten Person

Danke an Andreas Scherbel auf Pixabay für das Bild.