Eintrag 52

Habe ich das zu verantworten?
#Verantwortung/#Verantwortlichkeit

Eine knackig geführte Debatte mit den eigenen Nesting-Partner*innen¹ kann in ethisch geführten Mehrfachbeziehungen dankbarerweise häufiger zu einem Quell neuer Erkentnisse werden als zu einem Stresstest geraten. Wenn, richtig: Wenn man bereit ist, den eigenen Standpunkt zu erweitern.
Das ist neulich auch eurem guten Oligotropos geschehen, als ich in einem Gespräch versuchte „Verantwortung“ und „Verantwortlichkeit“ gegeneinander abzugrenzen.
Beide Begriffe sind mir sehr wichtig – und (gerade nachgesehen!) sie erscheinen bei mir explizit genannt daher auch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich gleich im ersten Absatz von Eintrag 3, wo es um die „Grundwerte“ der Oligoamory geht.
Damals wie heute bin ich allerdings ebenfalls immer noch erstaunt, wie wenig Hervorhebung sowohl „Verantwortung“ als auch „Verantwortlichkeit“ in der Vorform der Oligoamory – nämlich in der „klassischen Polyamory“ – erhalten: Im Stichwortverzeichnis eines der polyamoren Grundwerke „More Than Two – A practical guide to ethical Polyamory“ von F. Veaux und E. Rickert tauchen beide Begriffe z.B. tatsächlich dann auch gar nicht auf(!!!). Auch auf der deutschen und der englischen Wikipedia-Seite zur Polyamory fehlen sie beide ebenso.
Als eifriger Leser, der ich selber bin, weiß ich selbstverständlich, daß diese beiden Werte trotzdem sowohl in der Ratgeber-Literatur als auch auf der Wikipedia implizit dennoch enthalten sind. Denn es läßt sich schwerlich von Verbindlichkeit und Aufrichtigkeit (Werte, die ausdrücklich genannt werden) schreiben, ohne Verantwortung und Verantwortlichkeit im Sinne persönlicher Integrität unausgesprochen mit einzuschließen.
Das zunächst unmittelbare Fehlen auf den ersten Blick ist aber für mich etwas, was mir hinsichtlich des „Archipels der Polyamory“ nach wie vor Kopfzerbrechen macht: Denn auf diese Weise scheint es mir weiterhin zu leicht möglich, daß insbesondere diese beiden Werte zu schnell in den „Toten Winkel“ geraten (oder dort schon angekommen sind). Und das ist der Moment, wo ich, als Autor dieses bLogs, ein dickes Fragezeichen hinter das Zusatzprädikat „ethisch“ zu machen beginne, wenn eine Mehrfachbeziehungsform sich damit (trotzdem) auszeichnen möchte.

Hier bei uns zuhause wird viel über Verantwortung und Verantwortlichkeit gesprochen – auch mal leidenschaftlich – wie ihr den ersten Sätzen dieses Eintrags entnehmen könnt.
Ich selbst, als verhältnismäßig freiheitlich denkender Mensch, betone dahingehend z.B. sehr stark die Verantwortlichkeit – insbesondere im Sinne von Eigenverantwortlichkeit. Wer diesen bLog regelmäßig liest, weiß, daß ich Bewußtwerdung, Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis zu den wichtigsten Zielen der Persönlichkeitsentfaltung zähle – und wenn sich so ein Weg nicht in Egomanie oder gar Narzissmus verlieren soll, dann ist es selbstverständlich wichtig, daß er von gesunder Eigenverantwortlichkeit begleitet werden muß. Eigenverantwortlichkeit, die eben auch Grenzen des eigenen Handelns aufzeigt und zu Selbstkritik befähigt: Daß einem eben nicht immer alles wunderbar und fehlerlos gelingt, daß man ein durchaus fehlbares menschliches Wesen ist – und daß es manchmal mehr als einen Versuch (oder einen ganz neuen Ansatz) braucht, um auf dem „Weg des größtmöglichen Mutes“ weiterzukommen.
Indem ich in dieser Weise der „Entwicklung meines Selbst“ einen sehr hohen Stellenwert einräume, gerate ich gelegentlich in die Gefahr, dieses „eigenveranwortliche Selbst“ an die höchste Stelle zu setzen, aus der alles andere hervorgeht. Ergo auch das „Maß an Verantwortung“, welche ich zu tragen auf mich genommen habe…
Tja – und da ist es bisweilen günstig, angelegentlich durch den Kontakt mit den Standpunkten anderer Menschen wieder etwas „kalibriert“ zu werden.

Meine Nestingpartnerin z.B. argumentierte auf meine Position hin, daß „Verantwortung“ ebenfalls ein absolut eigenständiger Wert sei, der durchaus nicht „aus irgendetwas anderem hervorgehen“ müsse.
Auslöser war übrigens eine Szene in einer Fernsehserie, in der ein depressiver Vater nach dem Tod seines Sohnes einen Selbstmordversuch unternahm – mit der Konsequenz bei „Gelingen“ seine finanziell abhängige Frau mit zwei weiteren Kindern zurückzulassen.
Und wiewohl die Fernsehszene stark polarisierend „konstruiert“ zu sein scheint, so verwies sie mit ihrem „moralischen Dilemma“ direkt auf hochaktuelle Fragen der gegenwärtigen Ethikdebatte, z.B. bei Themen wie Sterbehilfe oder Sorgerecht – und dadurch genau auf die damit verbundenen Fragen von „Verantwortlichkeit“ und „Verantwortung“.

Im Laufe des anschließenden Gesprächs wurde mir bewußt, daß ich meinen eigenen bLog besser selbst noch einmal gründlich hätte lesen sollen…
…denn in Eintrag 42 zitiere ich doch den berühmten Satz des Autors Antoine de Saint-Exupéry, mit dem der Fuchs in seiner Geschichte dem kleinen Prinzen eine wichtige Wahrheit offenbart: „Du bist für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ ²
Großartigerweise gelingt es Saint-Exupéry mit dieser „Wahrheit“ genau genommen herauszustellen, daß sowohl Verantwortung aus Verantwortlichkeit, als auch Verantwortlichkeit aus Verantwortung hervorgeht. Mithin also, daß keiner dieser Werte dem anderen vorausgeht oder zugrunde liegt, sondern daß sie sich stets wechselseitig bedingen.
Und in oligoamoren Beziehungen, die ethisch sein sollen, benötigen wir darum immer auch beide(s).

Gemäß Wikipedia ist Verantwortung „im Allgemeinen die (freiwillige) Übernahme von Verpflichtung“. Was die Wikipedia »Verpflichtung« nennt, ist das, was ich hinsichtlich menschlicher Beziehungen vor allem als »Verbindlichkeit« bezeichne: Diese wertvolle Mischung aus Verlässlichkeit und Integrität. Und da ich seit Eintrag 3 Integrität als „Handeln in fortwährend aufrechterhaltender Übereinstimmung mit dem persönlichen Wertesystem“ beschreibe, ist dafür ein Wertesystem, also eine Form von Ethik unabdingbar.

Ganz spitzfindige Zeitgenoss*innen könnten an dieser Stelle darauf hinweisen, daß ja nun exakt an jenem Punkt eine Zwickmühle entstehen würde: Insbesondere mein Hinweis auf das „persönliche Wertesystem“ sei heikel. Was wäre, wenn jemand die persönlichen Werte seines Größenwahns oder eines übersteigerten Egos zugrunde legen würde? Denn auch dann könnte eine solche Person doch für ihre Umwelt verläßlich eigennützig auftreten und ihre Handlungen wären stets mit ihrem eigenen ichbezogenen Denken kohärent (übereinstimmend).

Auf den ersten Blick scheint dies möglich.
Am Ende von Eintrag 7 weise ich mit dem Zitat Ezra Taft Bensons „Du bist frei darin, eine Wahl zu treffen – aber Du bist nicht darin frei, die Konsequenzen Deiner Wahl zu verändern.“ jedoch darauf hin, daß bei einer solchen Auslegungsart der Fokus nicht weit genug gewählt wäre, da – insbesondere was unsere Teilhabe an menschlichen Beziehungen angeht – es immer Faktoren gibt, die größer sind als „nur“ wir selbst.

Was uns zur Wurzel ethischer Mehrfachbeziehungsführung zurückführt: Denn die „Polyamory“ war konzeptionell ursprünglich einmal angetreten, (Mehrfach)Beziehungen ein philosophische Zuhause zu geben, welche die Liebe als bindungsstiftendes Merkmal betonten (im Gegensatz zu hauptsächlichem oder ausschließlichem sexuellen Interesse!).
Bei hauptsächlichem oder ausschließlichem sexuellen Interesse promiskuitiver Natur kann man den Aspekt von nachhaltiger Beziehungsführung in mittel- oder längerfristiger Form relativ problemlos umgehen: Der berühmte „One-Night-Stand“ fällt dazu ein, Casual Dating oder Swinger-Arrangements [Und wenn in diesen Zusammenhängen von „Verantwortung“ die Rede ist, wird meist an eine verantwortliche Ausübung der Sexualität in Hinsicht auf STDs und Verhütung appelliert].
In dem Moment, in dem „Liebe“ („ein starkes Gefühl mit der Haltung inniger und tiefer Verbundenheit“) hinzukommt, ist dies nicht mehr möglich, denn ab diesem Moment gibt es nicht nur mehr „mich selbst“ – sondern auch „die Anderen“.
Gemäß Ezra Taft Beson habe ich bis zu diesem Moment frei meine eigenen Entscheidungen, meine Wahl, nach meinen persönlichen Maßgaben getroffen – aber meine freie Wahl hat mich nun in einen Bereich geführt, wo durch exakt das, was ich gewählt habe, Konsequenzen entstehen, die sich von diesem Zeitpunkt an meiner persönlichen „Hoheitsgewalt“ entziehen werden…!
Dies ist übrigens der magische Moment, den ich in der Oligoamory immer wieder als das „Erleben von mehr als der Summe der Teile“ beschreibe, weil vor allem das „in-Beziehung-begeben“ mit anderen Lebewesen (Haustieren, Kindern, Lebensabschnittsgefährt*innen…) diesen Effekt hat.
Und das ist gut so, sehr gut sogar, denn dieser magische Moment erkennt automatisch „den Anderen“ einen eigenen inhärenten und unveräußerlichen (Lebens)Wert zu, der außerhalb unserer Verfügungsmöglichkeiten aus sich selbst heraus besteht.
Und lediglich persönliche Verantwortlichkeit wandelt sich so zu gemeinschaftlicher Verantwortung.

Ich finde es unglaublich spannend, daß sich auf diese Weise immer dann ein„ethisches System“ und ein Emotionalvertrag ausbilden, wenn Lebewesen miteinander eine auf wechselseitiger Liebe gegründete Beziehung eingehen.³ Denn das „Mehr als die Summe der Teile“ stellt sich als wohltuender Bonuseffekt jedes Mal ohne weiteres Zutun in jedem Fall ein.
Ich schreibe „wohltuend“, denn wir brauchen dieses „Mehr“ aufgrund unserer eigenen Fehlbarkeit und den Grenzen unserer eigenen Wahrnehmung, die uns sonst genau der Gefahr ausliefern würden, schlimmstenfalls zu Egomanen oder Narzissten zu werden: In Eintrag 11, in dem ich uns als „Helden in unserem eigenen (Lebens)Film“ darstelle, wird z.B. deutlich, daß wir sehr wohl trotz „sehr guter persönlicher Gründe“ anderen Menschen unbeabsichtigt Leid zufügen könnten, weil wir dazu tendieren unsere eigene Bedürfnislage zu favorisieren. Und in Eintrag 26 zitiere ich Jesper Juul, der ebenfalls „Verantwortung“ als einen der wichtigsten Beziehungsgrundwerte nennt – lenke aber ein, indem ich dort zugebe, daß dazu der Mut zu einer profunden Selbstzurkenntnisnahme notwendig wäre (an dem die meisten von uns hart zu arbeiten hätten).

Weil wir Menschen aber – was ich zuletzt im vorigen Eintrag betonte – zutiefst soziale Wesen sind, werden wir uns höchstwahrscheinlich nichtsdestotrotz regelmäßig „in Beziehungen begeben“. Womit wir immer wieder langfristig Verpflichtung, Verantwortung und Verbindlichkeit auf uns nehmen, bei der erwünscht ist, daß wir berechenbar und zuverlässig dafür einstehen.
Und ja: Wenn wir aufgrund unserer Liebe zustimmen, daß jene anderen an unseren Beziehungen beteiligten Lebewesen „einen eigenen inhärenten und unveräußerlichen (Lebens)Wert, der aus sich selbst heraus besteht“ haben, dann ist es schlechterdings nicht mehr gut möglich, „die Brocken“ nach lediglich eigenem Ermessen hinzuwerfen, wenn wir diese Verantwortung nicht mehr tragen wollen.
Gemäß Ezra Taft Benson (s.o.) müssen wir uns in einem solchen Moment vielmehr den „Konsequenzen unserer Wahl“ stellen (also unserer freiwillig aufgegebenen persönlichen Totalfreiheit!) und uns gemeinsam mit allen Betroffenen um einvernehmliche Lösungen kümmern. Was also z.B. bedeuten würde, den bestehenden Emotionalvertrag in allseitigem Konsens abzuändern, neu zu verhandeln oder sogar aufzulösen.

Ob das übermäßig hart ist? Ob ich einmal übernommener Verantwortung damit nicht doch einen zu hohen Stellenwert vor persönlicher Verantwortlichkeit gebe?
Ich glaube nicht, denn persönliche Verantwortlichkeit bedeutet in meiner Lesart gerade, daß wir fähig sind zu erkennen, wann und warum wir Verantwortung für das tragen, „was wir uns (einstmals) vertraut gemacht haben“ – und wie es dadurch auch zu einem Teil von uns selbst geworden ist.
Außerdem bin ich froh, daß ich bereits im letzten Absatz von Eintrag 5 niedergelegt habe, zu welchem Zweck Verantwortlichkeit und Verantwortung keinesfalls mißbraucht werden dürfen: Als Anlaß, Selbstaufopferung und Hintanstellung einer Gemeinschaft „zuliebe“ als unangreifbares Gut festzuschreiben und damit der Möglichkeit von Veränderung und Entscheidungsfreiheit von vornherein einen Riegel vorzuschieben.

Verantwortung und Verantwortlichkeit gehen für mich also nun stets Hand in Hand, sie stehen gegenseitig in dem gleichen Verhältnis, in dem wir auch zu unsere Liebsten stehen: Um Extreme zu mäßigen, um einander zu ergänzen und um sich im Zusammenwirken zu potenzieren.



¹ „NestingPartner“: In Mehrfachbeziehungen eine Bezeichnung für die Menschen, mit denen man „ein Nest“ teilt – also eng zusammenlebt und auch viel Alltags-Zeit verbringt, z.B. in einer gemeinsamen Wohnstatt.

² „Der Kleine Prinz“; 21. Kapitel; „Freundschaft mit dem Fuchs“

³ Da, was z.B. Haustiere und Kinder (oder andere abhängige Lebewesen) angeht, die Frage nach der Wechselseitigkeit – und vor allem nach der Augenhöhe bzw. der Freiwilligkeit – nicht immer eindeutig beantwortet werden kann, ist in diesen Fällen stets besonders sorgfältig zu prüfen, wie es um die „Liebe“ in diesen Beziehungen bestellt ist – und ob ein gleichberechtigtes Ausleben in einem gemeinsam konstituierten Wertesystem wirklich vorliegt!

Danke an Susanne Jutzeler, suju-foto auf Pixabay für das Foto!