»Hätten die Nüchternen einmal gekostet, alles verließen sie und setzten sich zu uns an den Tisch der Sehnsucht, der niemals leer wird.«¹
Neulich schrieb mir jemand, daß „…über Sehnsucht in der Polyamorie viel zu wenig gesprochen würde“. Das finde ich tatsächlich auch – und möchte diesem gefühlsmäßigen Zustand daher in diesem Monat meinen bLog-Eintrag widmen. „Gefühlsmäßiger Zustand“ sage ich – und bekenne damit sogleich, daß es sich bei unserer „Sehnsucht“ um eine dieser berühmten „Curry-Mischungen“, also einem „Mehrkomponenten-Gefühl“, handelt, wie ich es z.B. für die nicht nur wortmäßig verwandte Eifersucht, sondern auch den Neid in dem dort dazugehörigen Eintrag vor einigen Jahren bereits einmal formuliert hatte. Denn auch in der Sehnsucht gibt es nicht bloß eine hauptsächlich vorherrschende Emotion, sondern sie besteht je nach Anlaß individuell zu verschiedenen Anteilen aus Empfindungen von u.a. Wehmut, Verlangen, Trauer, Hoffnung, Zugeneigtheit, Entsagung und sogar Schmerz, fein abgeschmeckt mit persönlichen Wünschen, Träumen und Projektionen.
Warum ist es bedeutsam, sich beim Thema ethischer Mehrfachbeziehungen auch mit Sehnsucht zu beschäftigen? Nun, die vorhergehende Aufzählung betrachtend, fallen fast sämtliche ihrer Komponenten – oder ganz genau genommen sogar eigentlich alle – in das große, weite Kontextfeld romantischer Liebe. Mit der wichtigen Einschränkung allerdings, daß Sehnsucht, explizit betrachtet, sehr häufig eine Art „Meta-Stadium“ abbildet, da sie selbst nicht unbedingt einer echten, aktuell existierenden zwischenmenschlichen Verbindung bedarf – und dadurch gewissermaßen auch „einseitig“ auftritt, wie es ebenso z.B. bei Verliebtheit, Begehren, Trauer oder Neid der Fall sein kann.
Wir müssen also ein bißchen sortieren, wenn wir uns der Rolle von Sehnsucht in oligo- oder polyamoren Belangen annähern wollen – und das ist gar nicht so leicht, denn u.a. von Seiten der Wissenschaft gibt es spannenderweise bislang nur ganz wenige Versuche einer Annäherung überhaupt. Und das, obwohl Menschen weltweit Sehnsucht nach Personen, Orten, Dingen, ja, sogar Zeitabschnitten und Begleitumständen empfinden können.
Als ein wichtiges Merkmal der Sehnsucht bezeichnete zumindest Paul B. Baltes, ehemals Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin², beispielsweise deren Phänomen der „Dreizeitigkeit“. Was ist damit gemeint? Nun, nichts weniger, als daß wir Sehnsucht nach etwas Verlorenem aus der Vergangenheit, etwas Beständigem aus der Gegenwart oder auch nach etwas noch nicht Erfülltem in der Zukunft empfinden können. Ich kann also einem Polykül nachtrauern, von dem ich einst Teil war (Vergangenheit), könnte meine derzeitigen romantischen Partner*innen vermissen, weil diese gerade vielleicht an einem anderen Ort sind als ich (Gegenwart) – oder mich nach einem weiteren Lieblingsmenschen für eine Mehrfachpartnerschaft sehnen, den ich noch zu finden hoffe (Zukunft). Was alle drei Zeitebenen im Hinblick auf die Sehnsucht eint, ist die Gemeinsamkeit, daß es jedesmal um einen als akut unerreichbar empfundenen Zustand geht: Die Vergangenheit kann ich nicht zurückgewinnen, in der Gegenwart ermangelt mir etwas Konkretes (woran im „Normalzustand“ kein Mangel besteht), hinsichtlich meiner Zukunft habe ich noch unerfüllte Wünsche und Vorstellungen.
Speziell darauf bezogen definierte die Forscher*innengruppe um Paul Baltes² noch ein weiteres inhärentes Merkmal der Sehnsucht, nämlich das der „bittersüßen Gefühle“. Schon oben bei der „Curry-Mischung“ können wir feststellen, daß in der Sehnsucht sowohl positiv wie auch negativ besetzte Empfindungen enthalten sind. „Sehnsucht“ verfügt also über die Besonderheit, daß wir in ihr Freude und Schmerz gleichzeitig erleben können. Denn obwohl die Vergangenheit vorbei ist (schmerzlich), bringt uns die Sehnsucht als Reminiszenz mit der erlebten bzw. erinnerten Freude des damaligen Zustands in Kontakt (freudig). Auch für die Gegenwart ist das so, denn die Sehnsucht macht uns z.B. auf das gerade-nicht-Vorhandensein eines Umstands (schmerzlich) aufmerksam, weil wir im Vergleich genau wissen, wie sich das Vorhandensein (freudig) anfühlt. Und ebenso ist es mit der Zukunft, in der wir in unserer Projektion einen bereichernden Zustand erträumen (freudig), der zum jetzigen Zeitpunkt nicht verwirklicht ist (schmerzlich).
Und bereits nach diesen wenigen Absätzen sind nun schon fast alle maßgeblichen Parameter für die Ambivalenz der Sehnsucht in Mehrfachbeziehungskontexten enthalten – und weitere überraschende Parallen zur Eifersucht tun sich auf:
Ähnlich der Eifersucht kann Sehnsucht eine Größenordnung erreichen, welche für das Individuum und seine Beziehung(en) ungesund wird. Im Englischen z.B. gibt es keine direkte Entsprechung zum deutschen „sehnen“. Die noch verwandtesten Begriffe „desire“, „craving“, „yearning“, und „longing“ betonen hingegen stärker das, was wir hierzulande „Verlangen“ nennen würden (an „longing“ ist die direkte etymologische Verwandtschaft sogar noch gut zu erkennen). Und nicht nur sprachlich ist der Schritt von „Ich habe Verlangen nach frischen Brötchen…“ zu „Ich verlange frische Brötchen…!“ klein – verändert aber die Energie und Strategie des verfolgten Bestrebens (zumal für die Umstehenden) sehr… Beim „emotionalen Maßhalten“ sind wir Menschen daher häufig etwas wackelig aufgestellt, insbesondere wenn auch noch hormonelle (Selbst)Belohnungen damit verbunden sind. Dies betrifft vor allem jedwede verflossene Vergangenheit, in deren rückblickend bewerteter „heiler Welt“ wir uns hemmungslos verlieren können und ebenso die Zukunft, für die wir ein unerreichbar überidealisiertes Wolkenschloß nach dem anderen ersinnen – und beide Projektionen halten uns damit so verläßlich wie tragisch von einem präsenten Dasein in der dagegen oh so banalen Gegenwart ab.
Womit wir sogleich bei einer weiteren Eigenschaft sind, die Sehnsucht und Eifersucht (und auch Neid) teilen: Dem (Abwärts-)Vergleich. Speziell, weil die Sehnsucht die Komponente „subjektiv gefühlt“ enthält, kann sie so enorm viel Kraft entfalten, die wir diese manchmal nachgerade wie ein Ziehen in der Brust verspüren. Dabei muß aber eben der Vergleich mit dem Gegenwartsmoment gar nicht realistisch sein – entweder war früher eh „alles besser“ oder das, was noch kommt, wird das Jetzt locker übertreffen – zumindest in unseren Vorstellungen… Und gemäß dem Sprichwort „Das, was du fühlst, ist immer richtig – aber nicht immer wahr…“³ können wir uns leider auch in solch einem Labyrinth aus Vergleichen verlieren, wenn wir es nicht mehr aus eigener Kraft zurück zu einer realistischen Lageeinschätzung schaffen.
Bei den beiden vorhergehenden Absätzen habe ich jedesmal von Vergangenheit und Zukunft gesprochen – wie steht es dagegen mit der Gegenwart ? Genau dort liegt meiner Ansicht nach das wirkliche Potential der Sehnsucht – ebenso wie das der Eifersucht. Letztere habe ich in meinem damaligen Eintrag als „Motorkontrollleuchte der Beziehung“ bezeichnet: Ein (eher) allgemeines Warnsignal, dessen präzise Ursache im Fall des Aufleuchtens genauer bestimmt werden muß. Diese Rolle kommt meiner Ansicht nach auch der Sehnsucht zu, wenn wir sie in unserem Alltag verspüren – allerdings nicht so sehr in Bezug auf unsere Beziehungen nach außen, sondern vor allem angesichts der Beziehung zu uns selbst. Insbesondere, was den Stand unserer Bewusstheit hinsichtlich der eigenen Realität im Vergleich zu unseren Erwartungen angeht – also einer Art „Bestandsaufnahme“: Bin ich auf dem richtigen Weg? Was fehlt in meinem Leben? Wohin soll es gehen? Stimmen meine Lebensziele noch mit meinen Bedürfnissen überein?
In der Gegenwart empfunden, hat Sehnsucht also ihre wirkliche Sternstunde, weil sie dort als Impuls zu erhöhter Achsamkeit dient, von welcher unsere emotionale Intelligenz profitieren kann – und das wiederum wäre tatsächlich ein echter Bonus in Bezug auf unsere zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit. Wodurch das Mehrkomponentengefühl „Sehnsucht“ zu einem echt starken Curry geraten könnte, als Antrieb, um unseren innigsten Wünschen auf dieser Ebene wirklich näherzukommen.
Persönlich – und als Autor dieses bLogs – möchte ich dabei zugleich auf eine weitere Komponente jedweder Sehnsucht hinweisen, nämlich dem in ihr enthaltenen Bewußtsein von Vergänglichkeit (wodurch sie auch für die romantische Literatur so attraktiv wurde…). Und auch hier sind wieder beide Seiten enthalten, denn natürlich ist Vergänglicheit und die stete Erinnerung daran, daß manches Prozesse irgendwann für immer abgeschlossen sind und das Wissen um unsere zeitliche Begrenztheit schmerzhaft. Zugleich ist dies aber auch genau eine weitere freudvolle Stärke von Sehnsucht, weil sie auf diese Weise für uns zu einem Antrieb geraten kann, die Dinge doch noch rechtzeitig anzupacken.
Vor über sechs Jahren, als ich diesen bLog konzipierte, schrieb ich auf meiner Hauptseite zu der Beschreibung des Oligoamory-Symbols folgende Zeilen, von denen ich auch im Zusammenhang mit den hoffnungsvollen Aspekten der Sehnsucht bezogen auf Mehrfachpartnerschaftlichkeit nach wie vor zutiefst überzeugt bin:
»Wir Menschen existieren raum-zeitlich in einer sowohl begrenzten wie auch vergänglichen Welt. Unsere Ressourcen und unsere Energien, unsere sinnlichen Wahrnehmungen, unsere Zeit, und damit auch unsere Beziehungen und unsere Leben, sind endlich. Diese „Endlichkeit“ – und der Beginn des 21. Jahrhunderts macht dies in vielerlei Hinsicht deutlich – legt uns Menschen dadurch ein sowohl sorgsames als auch nachhaltiges Haushalten mit unseren vorhandenen Schätzen substantieller wie ideeller Natur nahe. Das Bewußtsein der allgegenwärtigen Endlichkeit hat in menschlichen Gruppen schon immer das faszinierende Talent von Aufteilung, gemeinschaftlichem Nutzen, und Optimierung des Vorhandenen hervorgerufen. Dabei zeigt sich weltweit wie auch in unseren kleinsten Gemeinschaften, daß wir dabei immer dann besonders erfolgreich sind, wenn wir von einer reinen Verteilungsgerechtigkeit hin zu einer möglichst individuellen Bedürfnisgerechtigkeit gelangen. Die Oligoamory möchte zu der achtsamen Annahme dieser Lebensprinzipien für das Führen von in Liebe gegründeten Mehrfachbeziehungen einladen.«
Dem eingedenk, fällt mein heutiges Fazit daher trotzdem insgesamt positiv aus – was bei einem Romantiker und Idealisten wie mir aber auch nicht weiter verwunderlich ist: Sehnsucht ist ein äußerst intensives Gefühlsgemisch, das uns oft an unsere innersten Wünsche und Träume erinnert. Sie kann uns dadurch sowohl schmerzen als auch inspirieren, uns mit beiden Impulsen anspornen, neue Wege zu gehen und das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfahren. Indem wir unsere Sehnsüchte letztendlich wahrnehmen und anerkennen, öffnen wir uns für die Möglichkeit, das, was wir suchen, auf verschiedene Weisen zu finden – und in unseren Strategien flexibel zu bleiben. Denn letztlich ist es die Reise durch die Sehnsucht selbst, die uns lehrt, das Hier und Jetzt zu schätzen und währenddessen auch die gegenwärtigen Freuden des Lebens zu umarmen.
PS: Setzt doch in diesen letzten Absatz statt „Sehnsucht/Sehnsüchte“ mal „polyamor sein“ oder „oligoamor sein“ ein…
¹ aus „Hymne“, geschrieben 1800 von Friedrich von Hardenberg (1772 – 1801), bekannt als Novalis, erschienen in Geistliche Lieder, als Nr. VII, erstmals gedruckt von Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck 1802 (sämtliche Herren waren Romantiker, selbstverständlich…)
Wenn es um Mehrfachbeziehungen wie in der Poly- und Oligoamory geht, gibt es ein Phänomen, mit dem wir dort überraschend regelmäßig konfrontiert sind: Dem Warten. Warten z.B. auf unsere Lieblingsmenschen (egal, ob diese gerade auf der Anreise zu uns sind oder sich wie üblich beim Aufbruch drei Leute in einem viel zu engen Garderobenflur gegenseitig im Weg sind…), abwarten müssen, wie sich unsere Beziehungen miteinander entwickeln und hoffentlich festigen – aber natürlich auch vielfach: warten, ob überhaupt irgendwann einmal eine Mehrfachbeziehungssituation in unserem Leben eintreten wird.
Anläßlich des Podcasts „Zeitfragen“ auf Deutschlandfunk Kultur haben die Autor*innen Andrea und Justin Westhoff einen Beitrag¹ erstellt, bei dem sie viele maßgebliche Aspekte des Wartens ansprechen und aufzeigen, wie das damit verbundene Erdulden, Ertragen und Aushalten ganz verschiedene soziologische und psychologische Dimensionen aufweist. U.a. lassen sie den Soziologen Dr. Andreas Göttlich von der Universität Konstanz zu Wort kommen, der dazu konkretisiert: »Warten ist ein „Erleben von Zeit“ – und natürlich abhängig von äußeren Umständen, davon, wie und worauf man wartet. Damit kann man generell sagen, dass es ein Phänomen oder eine Verhaltensform ist, die ganz selten eigentlich wertneutral verläuft. Also Warten ist oftmals emotional aufgeladen, und „hoffen“ und „fürchten“ beschreiben eben solche emotionalen Aufladungen des Wartens, das hängt natürlich davon ab, wie wir das Erwartete dann bewerten.«
Im Bezug auf Mehrfachbeziehungen finde ich das Stichwort „Erwarten“ hier übrigens besonders erwähnenswert. Denn zwischenmenschlich wird in poly- und oligoamoren Zusammenhängen doch mittlerweile oft von den berühmten individuellen Bedürfnissen gespochen, bei denen das Eingehen von mehreren Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen womöglich helfen könnte, daß diese hoffentlich besser erfüllt würden. Dieses Narrativ ist in Mehrfachbeziehungskontexten so regelmäßig zu hören und zu lesen, daß es längst zu einer regelrechten „Erwartung“ innerhalb des Konzept geworden ist. Und „Er-Wartung“ ist doch eigentlich der Sache nach eine etwas putzige Zielvorstellung, versuchen wir Menschen schließlich dort über eine Umstand aktiv die Oberhand zu gewinnen, dem wir der Natur nach in Wirklichkeit passiv ausgeliefert sind. „Er-Warten“, das klingt schon beinahe nach „Er-Arbeiten“ – einen ersehnten Zustand realisieren, den wir mit Warten anstreben, ja, am liebsten geradezu herbeiführen möchten. Das Problem? Wir kennen es alle: Wenn Mitmenschen unsere Erwartungen dann nicht erfüllen, ist es für unseren Geist nahezu das Schlimmste, was sie uns antun können, denn hohe eigene Erwartungen führen nahezu unweigerlich zum Erleben von Frustration, die ich bereits in Eintrag 22 mithilfe des Brockhaus-Lexikon definiere als „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung, das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt.“
In unserer heutigen Zeit und speziell in westlichen Industienationen liegt das meist daran, daß wir mit der oft als fremdbestimmt wahrgenommenen Passivität des Wartens unsere Schwierigkeiten haben. Wir leben schließlich in einer Gesellschaft, in der Individualität, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit stark betonte Eigenschaften, beinahe schon verinnerlichte Grundwerte sind. „Warten müssen“ – selbst auf unsere Lieblingsmenschen – ist etwas, was wir daher schnell als Machtgefälle zu unseren eigenen Ungunsten empfinden. Für Mehrfachbeziehungen ist das ein heikler Umstand, denn „Warten müssen“ erleben wir heutzutage vorwiegend noch im öffentlichen Raum dort, wo z.B. Hierarchien bestehen: Bei der Arbeit, auf Ämtern – oder bei Fachpersonal (z.B. im medizinischen Bereich oder dem Einsatz von Handwerken). Und so gleichberechtigt wir wiederum unsere persönlichen Beziehungen auch führen möchten: Gänzlich frei von Wartezeiten werden diese wohl niemals darzustellen sein. Wenn wir Beziehungen führen – und womöglich tatsächlich noch mehrere – gibt es darin allerdings womöglich durchaus Zeiten, in denen das „aufeinander Warten“ nicht unbedingt mit bloßer Ungeduld oder gar Machtspielen zu tun hat. Manchmal ist es schlicht so, daß man einerseits nicht weiß, was kommt, und andererseits keinen Einfluss darauf nehmen kann – und dann beginnt man – als Folge der Angst vor dem Unbekannten – sich Sorgen zu machen; ein Zustand, den die Psychologin Kate Sweeny, Professorin an der University of California in Riverside sogar als „toxisches Warten“ bezeichnet hat². Wie sehr jede*r von uns unter solchen Situationen leidet – oder sie mit verhältnismäßig ausgeprägter Gelassenheit wegsteckt, hängt von unserer unterschiedlich ausgeprägten, individuellen „Wartefähigkeit“ ab. Das berühmteste Experiment dazu ist wohl der weltweit bekannte psychologische „Marshmallow-Test“, den der US-amerikanischer Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel an der kalifornischen Universität Stanford zwischen 1968 und 1974 in vielen Variationen mit Vorschulkindern durchführte. Mischel wollte eigentlich den freien Willen erforschen, und die Impulskontrolle per „Belohnungsaufschub“, schien ihm ein gutes Messinstrument dafür. Tatsächlich ist es ein vielschichtiges Warteexperiment geworden, denn es erfaßte nicht nur die Zeit, die jedes einzelne Kind der Verlockung – allein mit einem Marshmallow in einem Raum (!) – widerstehen konnte, sondern dokumentierte auch ihre Wartestrategien. Den Kindern wurde nämlich zusätzlich versprochen, bei erfolgreicher Wartezeit einen zusätzlichen Marshmallow zu erhalten, ihre Belohnung also so zu verdoppeln. Maximal 15 Minuten wurden die Kleinen mit der begehrten Süßigkeit allein gelassen und dabei beobachtet: Jedes Vierte verputzte die Süßigkeit sofort, 30 Prozent schafften die volle Zeit. Alle versuchten, sich irgendwie abzulenken; einige liefen herum, manche versuchten zu schummeln. Das Faszinierende waren jedoch vielmehr die Resultate von Nachbeobachtungen der erfolgreichen Proband*innen dieses Test noch Jahrzehnte später: Die geduldig Wartenden erwiesen sich in ihrem weiteren Leben insgesamt als stressresilienter und zeigten vor allem eine höhere Sozialkompetenz.
2014 wiederholte die Soziologin Bettina Lamm vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung der Uni Osnabrück das Experiment mit Kindern aus Deutschland sowie einer Vergleichgruppe von Kindern aus Kamerun, bei der sie für Deutschland Mischels Ergebnis von 30% „Testsieger*innen“ bestätigte – wohingegen die Kameruner allerdings mit sensationellen 70% an „Geduldigen“ abschnitten. Wie kam dies?
Die deutschen Kinder reagierten beim Warten – wie wir Großen wohl auch – überwiegend „normal-hibbelig“. Die Kinder aus Kamerun hingegen starteten jedoch sogar alle mit einer zusätzlichen gesellschaftlichen Einschränkung: Durch ihre erwachsenen Leitfiguren waren sie gewohnt, daß Versprechen ganz überwiegend im Normalfall nicht eingehalten wurden. Eigentlich hätten sie also verinnerlicht haben müssen, daß sich „warten (ohnehin) nicht lohnt“. Als man ihnen vor dem Test den zweiten Marshmallow jedoch bereits zeigte, wartete der erwähnte hohe Prozentsatz geduldig, spielend, singend oder plappernd auf das erfolgsverheißende Ende des Test. Auswertungen ergaben, daß die kleine Geste des „Marshmallow-Zeigens“ offensichtlich eine enorme Verläßlichkeit der Versuchsleiter*innen demonstriert hatte, woraufhin die Kinder mit einem hohen Vorvertrauen reagierten. Sozial gesehen, ist dies ja auch ein eindrucksvolles Versprechen von Verbindlichkeit: Sieh, ich bin vorbereitet/bereit und willens, gleich zu Deinem Bedürfnis beizutragen. Wenn ich dir den Einsatz deiner Zeit wert bin, erleben wir beide Zugewinn.
Spannenderweise konnte Bettina Lamm auf diese Weise Walter Mischels Ergebnis bezüglich Stressresilienz und Sozialkompetenz mit einer weiteren Ebene untermauern, die in meinen Augen eben auch für Mehrfachbeziehungen einen wichtigen Zusammenhang herstellt: „Warten (können)“ stellt in gewisser Weise bereits eine Vorstufe von Vertrauen in unsere Bezugspersonen und Lieblingsmenschen dar! Mit den Worten von Bettina Lamm: »Wenn man sich überlegt, dass diese Fähigkeit, ein momentanes Bedürfnis aufzuschieben und der Verlockung zu widerstehen, um an längerfristigen Zielen zu arbeiten, durchaus eine Fähigkeit ist, die man an vielen Stellen im Leben braucht. Wenn es darum geht, für eine Prüfung zu lernen, statt lieber der Freizeitaktivität nachzugehen oder auch vielleicht Probleme in der Partnerschaft: sich auseinanderzusetzen und nicht gleich auszubrechen aus dieser Situation. Also hat es durchaus eine Plausibilität.«
Persönlich würde ich für romantische Kontexte aufgrund dieses Ergebnisses sogar noch einen Schritt weiter gehen. „Warten“ hat nämlich in seiner passiven Eigenschaft auch etwas mit „dienen“ zu tun, was wir an dem mittlerweile etwas altmodischen Wort „jemandem aufwarten“ (also: jemanden bedienen) noch erkennen können [im Englischen ist der Zusammenhang noch deutlicher bei den Worten für Kellner „waiter“ oder Kellnerin „waitress“ erhalten!]. Und dies bildet für mich quasi das wohltuende Gegenstück zum eingangs erwähnten, etwas aktiv-aggressiven „Erwarten“: Wenn wir einer Angelegenheit „dienen“, machen wir uns ein wenig kleiner, werden dadurch ein bißchen hingebungsvoller, aufnahmefähiger und weicher als zuvor. Ja, hier klingt auch die ebenfalls bereits erwähnte Hierarchie nochmal an (die ja früher beim „Aufwarten“ durch Bedienstete eine ganz reale war). In diesem Fall aber ist es ein frei- und bereitwillig geleisteter „Dienst“ für unsere Lieblingsmenschen, so, wie ich schon in Eintrag 34 darlegte, daß aus meiner Sicht »der Kern des „romantischen Narrativs“ das freiwillig für die Gemeinschaft erbrachte Selbstopfer« ist.
Und da es beim „Warten“ um persönlich aufgewendete (Lebens)Zeit geht, schließt sich hier für mich der Kreis, daß diese investierte Wartezeit ein vertrauensvolles Gegengeschenk für demonstrierte Verläßlichkeit, Beständigkeit und Selbstverpflichtung (commitment) unserer anderen Beziehungspartner*innen ist. Der ganz und gar maßgebliche Schlüssel ist dabei eben genau die aufgebrachte Frei–Willigkeit, die ja sogar Walter Mischel mit seinem „Marshmallow-Experiment“ ursprünglich sichtbar machen wollte.
Dr. Andreas Göttlich von der Uni Konstanz nennt dies übrigens den „Gabentausch“, eine wichtige Form des zwischenmenschlichen Synchronisierens und damit eine soziale Fähigkeit von äußerst positiver Dimension: »Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden, denn wenn ich jedes Geschenk, was mir gemacht wird, unmittelbar vergüte, dann kommt eigentlich keine soziale Bindung zustande. Insofern wäre das ein Beispiel für eine soziale Beziehungsform, die nur Bestand haben kann, wenn eine gewisse Zeit involviert ist und wenn die entsprechend in dieser sozialen Aktion engagierten Personen auch warten können, sonst ist es nämlich kein Schenken, sondern einfach ein Geschäft.« Ganz sicher allein schon deshalb bedenkenswert, weil doch leider nach wie vor sehr oft in den frühen Stadien polyamorer Beziehungen meist Ereignisse zu schnell oder zu zahlreich aufeinander folgen, was das nachhalige Aufwachsen vertrauensvoller Bindungen häufig über Gebühr belastet – zum Nachteil aller Beteiligten. Der deutsche Aphoristiker Georg-Wilhem Exler sagte daher einmal recht passend, daß Warten bedeuten würde, daß das, worauf man wartet, wichtiger ist als das, was jetzt ist. Ich höre da ganz viel von genau dem oligoamoren Mehrwert heraus, den ich auf diesem bLog stets mit dem „mehr als der Summe seiner Teile“ beschreibe – und den ich in Eintrag 9 als das Konzentrat eines gemeinschaftlichen Emotionalvertrags benenne, die »Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.« Denn diese „Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge“ sind eben auch nichts, was man sich wie aus einem Supermarktregal gleich in den Einkaufswagen packen kann, um es sofort zu konsumieren. Sie sind vielmehr wie Samen und Stecklinge für ein Gemüsebeet, die von allen Beteiligten gepflegt, gehegt, gegossen und regelmäßig von Unkraut befreit werden müssen, damit das Resultat schließlich alle Mitwirkenden ausreichend nährt. Bis es soweit ist, müssen wir immer wieder einmal warten, wechselseitig Lebenszeit hingebungsvoll investieren im (Vor)Vertrauen auf einen buchstäblich ersprießlichen, kommenden gemeinschaftlichen Ertrag. Genau dies macht die ambivalenten Tugenden von Geduld und Warten-Können für ein Polykül auch so wertvoll, speziell wenn es darum geht, daß nach und nach mehrere Beteiligte Vertrauen in eine neue, bislang ungewohnte Situation fassen wollen.
Die schönste Zusammenfassung meines heutigen Themas hat für mich der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer ebenfalls mit so einem Erntebild beschrieben, welches ich zum Abschluß mit Euch teilen möchte:
»Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprößling setzte; aber die gierigen Augen werden nur allzuoft betrogen, indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün ist, und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was ihnen so Enttäuschung brachte. Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren. Wer nicht weiß, wie es einem zumute ist, der bange ringt mit den tiefsten Fragen des Lebens, seines Lebens, und wartend, sehnend ausschaut bis sich die Wahrheit ihm entschleiert, der kann sich nichts von der Herrlichkeit dieses Augenblicks, in dem die Klarheit aufleuchtet träumen, und wer nicht um die Freundschaft, um die Liebe eines anderen werben will, wartend seine Seele aufschließt der Seele des anderen, bis sie kommt, bis sie Einzug hält, dem bleibt der tiefste Segen eines Lebens dieser Seelen ineinander für ewig verborgen. Auf die größten, tiefsten, zartesten Dinge in der Welt müssen wir warten, da gehts nicht im Sturm, sondern nach den göttlichen Gesetzen des Keimens und Wachsens und Werdens.«³
Der Protagonist Robin von Loxley streift in der Fernsehserie von 1984 „Robin of Sherwood“ (Staffel 2, Episode 2 „Die Kinder Israels“) entnervt durch den dichten Wald. Er hat sich mit seinen Gefährt*innen gestritten, das gegenwärtiges Abenteuer scheint keinen guten Verlauf zu nehmen. Da er auf diese Weise vor allem mit eigenen Gedanken beschäftigt ist und er nicht darauf achtet, wohin sein Weg ihn führt, trifft er mit einem Mal in einer dunsterfüllten Schlucht auf eine Manifestation seines bisherigen spirituelles Ratgebers – den Wald- und Jagdgott Herne. Herne fragt ihn, warum er gekommen ist – und der frustrierte Robin gibt zu, daß er eigentlich genug hat und ihm am liebsten die Treue brechen würde. Nach einem kurzen Dialog entläßt der weise Herne Robin jedoch mit folgenden Worten: Herne: „Deine Pfeile müssen bereit sein!“ Robin: „Das Ziel ist zu weit weg – ich habe es verloren!“ Herne: „Dann ziele erneut!“ Robin: „Zu welchem Zweck? Für welches Ende?“ Herne: „Es gibt keinen Ende und keinen Anfang. Es genügt, nur zu zielen.“
Morning Glory Zell-Ravenheart, die geistige Mutter und Namensgeberin der Polyamory, war eine Idealistin. Ihre Ideale bezog sie aus ihrem Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft der Liebe – wie ihn vielleicht nur diejenigen empfinden konnten, die ihre Jugend und junge Erwachsenenphase in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Kalifornien erlebten –, aus ihrem neopagan-naturreligiösem Weltbild – an dem sie sich, einmal aufgetan, zeitlebens orientierte –, sowie der Literatur – speziell dem Werk des US-amerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers Robert A. Heinlein.
Die Liebe begriff Morning Glory, die zu Anfang noch schlicht Diana Moore hieß, als die große Wandlerin und Hinterfragerin von Umständen, von welchen die meisten übrigen Menschen annahmen, daß diese „schlicht so zu sein hätten, weil sie doch schon immer so waren“. Und zugleich war die Liebe auch Ansporn für sie, solchen Umstände immer mit einem Maß von mitmenschlicher Angemessenheit sowie Aufmerksamkeit für die ihnen innewohnenden Dynamik real gelebten Lebens zu begegnen. Für alle Unternehmungen, derer sich Morning Glory später auf dieser Basis annahm, war das eine bedeutende, ebenso achtsame wie bodenständige Grundlage, von der insbesondere 1990 ihr neues organisches Konzept für ethische Mehrfachbeziehungen (ja, die Polyamory!) profitierte.
Der Liebe begegnete Morning Glory allerdings zunächst schon 1965 wieder, als sie sich auf ihre eigene spirituelle Positionsbestimmung begeben hatte und sich dabei dem Neopaganismus und dem neuen Hexentum zugewandte, welche beide in ihren Kernsätzen und Ritualzirkeln den Worten „Vollkommene Liebe und vollkommenes Vertrauen!“ (Orig.: „Perfect Love and Perfect Trust!“) Ausdruck zu verleihen suchten. Naturspiritueller hexischer Neopaganismus der späten 1960er Jahre vereinte eine Sicht auf die Erde als lebenden, energetischen Organismus mit feministischem Gedankengut, welches ein eigenständig weibliches, seelisch-psychisches sowie kreativ-schöpfendes Geistesleben propagierte – und feierte vor diesem Hintergrund eine weltverbindende Gesamtschöpfung mit einer starken Betonung der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Die Hexenzirkel ihrer Zeit bildeten sich autonom, ohne hierarische Überorganisationsformen, und zielten darauf ab, intern frei von Standesdünkel, gesellschaftlichem Status oder Geschlechtergrenzen zu sein. Begriffe wie „Gemeinschaft“, „Integrität“, „Konsequenz“, „Verantwortung“ und das schon genannte „Vertrauen“ untereinander waren hier von Bedeutung – als Grundlage einer gerichteten und persönlich wirkmächtigen Veränderung der bestehenden Realität mittels des eigenen Willens. Kenner*innen der Materie entdecken auch hier leicht diejenigen Elemente, die 25 Jahre später mit in die Formulierung der Polyamory eingeflossen sind…
1973 schließlich – Morning Glory hatte bereits mit einer offenen Ehe experimentiert – traf sie während einer neopaganen Convention auf ihren späteren langjährigen Lebensgefährten Timothy „Otter“/„Oberon“ Zell, Mitglied der Gruppe „Church of All Worlds“ (CAW), der sie schließlich nicht nur mit dem selbstverwirklichenden Gedankengut der „Humanistischen Psychologie“ nach Abraham Maslow, sondern auch mit den progressiven Ideen des oben erwähnten US-amerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers Robert A. Heinlein vertraut machte. Insbesondere dessen beide Werke „Fremder in einer fremden Welt“ und „Revolte auf Luna“ (siehe auch Eintrag 47, letztes Drittel) skizzierten fiktionale, jedoch plausible alternative Gesellschaftsmodelle, geprägt von Gleichberechtigung, Transparenz, Aufeinanderbezogenheit, Integration und liberaler Sexualmoral – vorwiegend gelebt in überschaubaren Kleingemeinschaften. Da die CAW ihre eigenen lokalen Gruppen an diesem literarischen Modell auzurichten versuchte, entstand aus ihren Erfahrungen dieses Mitvollziehens (seit 1984 Dreierbeziehung mit Oberon Zell und Diane Darling) letztendlich die Keimzelle der „Polyamory“, welcher Morning Glory schließlich mit einem Artikel in der Mitgliederzeitschrift der CAW zum Durchbruch verhalf.
Diese letzten drei Absätze geschrieben bzw. von Euch gelesen, scheint Morning Glory Zell-Ravenheart nahezu eine Art „Heilige Hippie-Mutter Maria“ der Mehrfachbeziehungen gewesen zu sein: Beherzt, in sich ruhend, voller Ideale, leidenschaftlich, dabei zielstrebig unterwegs auf dem Weg des sich-selbst-wirklich-Machens (der „Self-Realization“ nach A. Maslow). Irgendwie war sie das alles vermutlich tatsächlich auf gewisse Weise. Und zugleich war sie es auch nicht, denn sie war schlicht ebenfalls einfach „eine von uns“, was in den Interviews und Geschichten von und mit ihr selbst fröhlicherweise stets erneut gut zu erkennen ist.
Neugierig? Hier zwei bekanntere Beispiele: Als sie mit 20 Jahren Mitglied in einem dianischen (also der Göttin Diana gewidmetem) und dadurch rein weiblichen Hexenzirkel war, rebellierte sie gegen die Auflage, währen der Zeit ihrer Gruppenangehörigkeit zölibatär – also keusch – zu leben. Ihrem Protest als sexuell aktive und selbstbestimmte Frau verlieh sie Ausdruck, indem sie für sich als Hexenname die Bezeichnung „Morning Glory“ (dt.: „Morgen-Pracht“) wählte – was zwar im Englischen auch der Name für die Pflanze „Prunkwinde“ ist (und botanisch hergeleitete Hexennamen sind nichts unübliches…) – aber eben auch für die englische Vulgärbezeichnung eines maskulinen Phänomens steht, welches wir in Deutschland als „Morgenlatte“ kennen. Mit diesem Namen identifizierte sie sich nichtsdestoweniger fortan und führte ihn bis zu ihrem Tod 2014.
1985, als sie bereits 10 Jahre mit Oberon Zell-Ravenheart in offener Ehe verheiratet war, entwickelte sie gemeinsam mit diesem ein Verfahren, um Ziegenkitze in Einhörner umzuwandeln (ja, ihr habt richtig gelesen) – eine Technik, die erfolgreich mehrere Male dank der Verflechtung der zu Beginn noch stark formbaren Keratinstränge der knospenden Kopfhörner bei verschiedenen Zicklein durchgeführt wurde. Obwohl die Herangehensweise sogar patentiert wurde, wandte sich Morning Glory nach wenigen Versuchen schließlich von dieser Form der „Wachstumsmanipulation“ ab, da sie dies letztlich nicht mit ihren naturreligiösen Werten in Einklang bringen konnte.
Morning Glory war also definitiv jemand mit Idealen, aber eine „Heilige“ – wenn man dies als Sinnbild einer Person verstehen möchte, die „über den Dingen steht“ – war sie ganz sicher nicht. Wie auch, war sie doch von 1984 an bis zu ihrem Tod Teil einer sehr dynamischen Mehrfachbeziehung, die während eines Zeitraums von 30 Jahren zwischen wenigstens drei und maximal sechs beteiligten Partner*innen fluktuierte.
Ob man in so einer Zeit seinen Idealen immer unumwunden treu ist? Niemals streitet? Sich nie irgendwann einmal zurückgesetzt empfindet? Niemals der Versuchung erliegt, der Wahrheit zu den eigenen Gunsten einen etwas bunteren Mantel anzuziehen (um Walter Moers¹ an dieser Stelle zu zitieren)? Ich glaube, daß wäre übermenschlich – und meiner Ansicht nach verkündet insbesondere und ausgerechnet Morning Glorys „Geschenk der Polyamory“ an die Welt, wie sehr gerade auch zutiefste Menschlichkeit einen maßgeblichen Teil ihrerer Werte und Ideale bestimmt haben muß.
Denn der Text „A Bouquet of Lovers“², in dem sie 1990 in der Zeitschrift „Green Egg“ zum ersten Mal das Wort „polyamor“ verwendet, ist kein Manifest von Grundsätzen und Regeln– und so liest es sich auch überhaupt nicht. Es ist vielmehr eine…, ich würde sagen, eine verschriftlichte „Möglichmachung“, wie eine Mehrfachbeziehung auf ethische Weise für alle daran Beteiligten geführt werden könnte. Denn wie ich in Eintrag 49 bereits schrieb, war Morning Glory in allererster Linie eine Praktikerin, die sich ihrer eigenen Schwächen und denen ihrer Mitmenschen recht genau bewußt war. Aus eigener Beobachtung und Erfahrung, sowie der humanistischen Psychologie Abraham Maslows wußte sie, daß Menschen durchaus in der Lage sind, altruistisch, bewußt und intentional (zielgerichtet) zu handeln; daß sie aber auch zu genau gegenteiligem Handeln in Form von Egoismus, Gedankenlosigkeit und Impulsivität in der Lage sind – Letzteres insbesondere, je weniger ausgeprägt das eigene Maß an Selbstverwirklichung gelungen, der Druck der eigenen empfundenen Bedürftigkeit indessen hoch wäre. Gerade dadurch enthält ihr polyamores Vermächtins keinerlei „Du sollst…!“ dafür aber umso mehr „Goldenen Regel“ – die ja selbst tatsächlich mehr ein goldenes „Am besten wäre es….“ ist: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“
Darum haben in der Polyamory auch Eifersucht und Selbstzweifel durchaus einen Platz. Und darum können in der Polyamory auch Unaufrichtigkeit, Intransparenz sowie Illoyalität vorkommen – denn diejenigen, die ethische Mehrfachbeziehungen führen wollen, sind selbst auch (nur) Menschen. Und darin wäre die Polyamory andernfalls doch auch eine dogmatische und recht tyrannische Beziehungsphilosophie, wenn ihre Ideale dergestalt streng daherkommen würden, daß ihre Sympathisanten an der Kompromisslosigkeit und Inflexibilität ihrer Anforderungen regelmäßig verzweifeln müssten…
Ideale, so sagt es der bereits mehrfach auf diesem bLog zitierte US-amerikanischer Psychologe und Psychotherapieforscher Stephen Hayes, wurzeln allerdings in unseren persönlichen Werten. Werte, die sich z.B. nach sozialen Maßstäben ausrichten bzw. von denen wir eine Steigerung unserer Lebensqualität, innere Bereicherung oder sogar eine Reifung unserer Persönlichkeit erhoffen. Damit aus Werten Ideale werden, müssen wir genau jenen Schritt vollziehen, bei dem wir bloßes persönliches Nutzdenken von einem inneren Streben nach Sinn trennen. Denn – ganz praktisch auf die Polyamory bezogen, könnte ich sonst vollkommen mit mir übereinstimmend meine Partner*innen belügen, weil ich mir so einen Vorteil verschaffen oder schnell ein Bedürfnis befriedigen kann – wobei ich Kollateralschäden, z.B. bei anderen Beteiligten potentiell Leid zu verursachen, in Kauf nehme.
Die Polyamory ist jedoch eben auch idealistisch. Es geht in ihr – Morning Glory sei dank! – um einen tieferen Sinn, eine inhärente Ethik: Wie führen wir zu mehreren eine Beziehung ohne unwillkürlich oder gar willkürlich Leid zuzufügen – in der dafür stattdessen allen Beteiligten ein erweiterter Beziehungsrahmen gewährt wird, wo von gemeinsame Ressourcen zu profitieren ist sowie Mitfreude möglich wird?
Stoßen wir uns daher an den Idealen der Polyamory dabei dennoch immer wieder den Kopf, dann kann das zwei Gründe haben.
• Zu einen könnte es sein, daß unsere eigenen Werte derzeit ehrlicherweise nicht mit denen der Polyamory übereinstimmen. Wir legen z.B. eventuell auf Aufrichtigkeit, persönliche Integrität und Verantwortlichkeit auf unserem Weg der Bedürfniserfüllung weniger Wert, als es in einer komplexeren, ethischen Mehrfachbeziehungsphilosophie gewünscht und erforderlich ist. An diesem Punkt müssten wir unsere aktuellen persönlichen Werte auf den Prüfstand stellen und sie gegebenenfalls anpassen – oder uns eingestehen, daß wir (aus welchen eigenen guten Gründen auch immer) bislang unserem Nutzdenken einen höheren Stellenwert einräumen als dem oben erwähnten Zugewinn an Sinn. Was also in sich weder ein Fehler der Polyamory noch von uns sein muß – aber möglicherweise passen wir gerade schlicht nicht zueinander.
• Zum anderen wäre es möglich, daß wir vielleicht – ohne es wirklich zu bemerken – die Ideale so weit über die Werte unseres Selbstbildes erhöht haben, daß wir uns regelmäßig an ihnen als scheiternd erleben. Und das tut weder uns gut, weil wir unser eigenes Handeln zunehmend als fehlerhaft und/oder ungenügend erleben und dies unserer Eigenbewertung hinsichtlich Beziehungsführung erheblich abträglich ist – noch der Polyamory, die uns irgendwann auf diese Art als so hochfliegend und lebensfremd erscheinen muß, daß es zu dem bekannten: „Habe ich versucht, aber es war zu schwierig…“ führt.
Beide obigen Punkte vereinen sich jedoch in einer deutlich freundlicheren Synthese, in der wir und die Polyamory prima koexistieren, ich würde sogar sagen, gedeihen können: Denn es ist erlaubt zu scheitern! Ein bißchen wie in der fälschlicherweise Albert Einstein zugeschriebenen Weisheit „Es ist erlaubt zu scheitern. Wirklich versagt haben nur die, die es niemals versucht haben.“ Aber eigentlich ist es noch milder, noch menschlicher gemeint: Nicht alles (gleich) richtig zu machen ist unabdingbarer Teil der Erfahrung von ethischen Mehrfachbeziehungen. Zugleich wird dabei durchaus etwas Selbstlosigkeit erwartet. Nach dem Sturz liegenzubleiben und dabei entweder die Schuld bei „den anderen“ zu suchen und/oder ersatzweise in Selbstmitleid zu verharren sind keine nachgerade ethischen Optionen. Stattdessen gelten vielmehr die visionären Worte der österreichischen Aphoristikerin Marie von Ebner-Eschenbach (die ebenfalls schon verschiedentlich in diesem bLog zu Wort kam) – welche derzeit tausendfach als Mem in den sozialen Netzwerken zu finden sind: „Aufstehen, Krone richten, weitergehen!“ Denn Erfahrungen benötigen unseren Mut, egal wie diese ausfallen, mit der gewonnen Einsicht danach noch weitere machen zu wollen.
Womit sich mein Bogen (oh, wie passend!) zu Robin Hood in meiner Anfangsszene schließt. Morning Glory Zell-Ravenheart formulierte die Polyamory in einer Weise, daß es darin eben nicht (nur) um das Treffen, das Erreichen eines konkreten Ziels geht, sondern vor allem um unsere Absichten und die Richtung, die wir dabei einschlagen. Insbesondere das kleine Wort „ethisch“ in „ethische Mehrfachbeziehungen“ hebt dadurch hervor, daß der Prozess und das Bemühen hinter unserem Handeln genau genommen fast bedeutsamer sind, als das angestrebte oder erhoffte Ergebnis.
Stets in einem Idealzustand existieren zu wollen, ist hingegen schlicht unrealistisch – es war ebenfalls Marie von Ebner-Eschenbach, die einst beschwichtigend sagte „Ideale sind Leitsterne; sie leuchten uns den Weg und geben uns die Kraft, unsere Ziele zu erreichen.“ Die Oligo- und Polyamory wären dabei – um in diesem Bild zu bleiben – Orientierungshilfen, Richtungsweiser bzw. Landkarten für so einen Weg, Möglichmachungen eben.
Uns entscheiden, die Route wählen und gehen müssen wir natürlich trotzdem selbst. Mit den Worten von Erich Kästner: Laßt es Liebe sein!³
² Der Text des „Bouquet of Lovers“ ist hier leider nur in englischer Sprache verfügbar.
³ Das Zitat „Laßt es Liebe sein“ stammt aus der Geschichte „Das fliegende Klassenzimmer„ (1933) des deutschen Schriftstellers und Publizisten Erich Kästner und wird von einer der Hauptfiguren, „Martin Thaler“, gesprochen.
Danke an Sam von DGSstudios auf Pixabay für das KI-generierte Bild!
Und erneut herzlichsten Dank an Oberon Zell-Ravenheart für die höchstpersönliche Überlassung der privaten Fotos von Morning Glory und ihm. Sämtliche Rechte bei Oberon Zell-Ravenheart, CAW.
Die Zahlenkombination 112 steht in Deutschland und vielen Staaten Europas für genau die Nummer, mit der ein telefonischer Notruf getätigt werden kann. Daher halte ich es für sehr passend, mit meinem 112. Eintrag Terrain zu betreten, der mit den leiseren und lauteren Alarmzuständen im Reich ethischer Mehrfachbeziehungen zu tun hat. Denn so, wie es natürlich viele gute und sogar wunderschöne Gründe für das Entstehen solcher Vielfach-Partnerschaften gibt, gibt es leider auch manche, die ungünstig oder womöglich mittelfristig zerstörerisch sind.
Wie in allen romantischen Nah-Beziehungen geht es auch in Mehrfachbeziehungen grundlegend um Verbindung zwischen Menschen. Daher ist es wichtig, genau dieser Basis bereits Aufmerksamkeit zu widmen: Wie sehen diese Verbindungen aus – und warum gehen wir sie ein – bzw. warum tun wir es manchmal nicht? Maßgebliche wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es dazu seit dem Jahr 1940, als der britische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby den Grundstein für das legte, was später schlicht als „Bindungstheorie“ bekannt wurde, welche von zahlreichen Psycholog*innen und Verhaltensforscher*innen bis in die Jetztzeit hinein immer wieder erweitert und verfeinert wurde. Bowlby selbst verschriftlichte seine wichtigsten Erkenntnisse – um die es auch heute in diesem Eintrag gehen wird – zwischen den Jahren 1969 und 1980, die sich vor allem darum als maßgebend etablierten, weil es der US-amerikanisch-kanadischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth parallel dazu gelang, seine Befunde anhand praktischer Beobachtungen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu bestätigen.
John Bolby war Kinderarzt und Kinderpsychater, so wie Mary Ainsworth Feldforscherin hinsichtlich der Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung war. Beide Persönlichkeiten untersuchten also zunächst menschliches Bindungsverhalten an seiner buchstäblichen Basis, der allerersten Beziehung, die jedes Menschenlebewesen eingeht, quasi noch vor seiner Geburt: Die Verbindung zur Mutter. Daß wir allerdings von ihren Erkenntnisse heute hier auf einem bLog über ethische Mehrfachbeziehungen lesen und ihr gewonnenes Wissen nicht nur medizinisch-pädiatrischen Fachkreisen vorbehalten blieb, verdanken wir dem faszinierenden Umstand, daß wir Menschen „lernende Wesen“ sind. Lernende Wesen, so erkannten nämlich Bowlby und Ainsworth, die mittels dieser „ersten aller Beziehungen“ Wesentliches hinsichtlich jeder ihrer darauffolgend aufgenommenen Beziehungen verinnerlichen würden. Konkret (und so freudig wie gruselig): Die Art der frühkindlichen Bezugspersonen-Kind-Bindung* beeinflußt maßgeblich unser aller Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter.
Nach diesem Satz habe ich länger überlegt, ob ich den folgenden Disclaimer an dieser Stelle oder erst am Ende meines heutigen Eintrags schreiben sollte. Ich glaube, nach einem solchen Satz ist es im Zweifel gut, etwas Spannung zu reduzieren – und darum sogleich dazu zwei Dinge: Zum einen: Fortgesetzte Forschung erwies, daß in einer durchschnittlichen menschlichen Biographie viele Mischformen und Grautöne entstehen, die der gleich folgenden Typenlehre zahlreiche Facetten hinzufügen, so daß ein bestimmer Bindungstyp kein lebenslängliches Aburteil darstellt. Denn zu anderen – und das ist gewisermaßen die richtig gute Nachricht: Bindungsverhalten kann sich verändern und kann aktiv verändert werden – mit der wichtigen Voraussetzung, sich des momentanen (erlernten) Bindungsverhaltens und dessen Konsequenzen bewußt zu werden.
Wenn es um Erwachsene ging, gehörte die Bindungstheorie viele Jahre lang zu den Werkzeugen von wissenschaftlich aufgeschlossenen Paartherapeut*innen und Beziehungs-Coaches. Deren Dienste wiederum wurden und werden in monogamen Beziehungen nach wie vor zu allermeist im „Un“-Fall – oder wie ich zu Beginn dieses Eintrags schrieb, im „Not“-Fall aktiviert. Unter Zuhilfenahme von Beschreibungen der Betroffenen oder durch eigene Beobachtungen deren Dynamiken im Umgang miteinander war und ist es so möglich, eventuelle Problematiken innerhalb einer Beziehung dem jeweiligen Bindungsverhalten der beteiligten Parteien zuzuordnen. Therapeut*innen und Coaches – aber auch die Forschung – konnten so ebenfalls etwas mittlerweile gut Bekanntes identifizieren: Warum sich bestimmte Muster sowohl im Verhalten als auch bei der Partner*innenwahl regelmäßig wiederholten – und in dieser Art teilweise zu einem stets erneuten Erleben scheinbar gleicher Konflikte führt(e).
Wo und warum kommen hier aber nun die Mehrfachbeziehungen, die Oligo- oder Polyamory, ins Spiel? Wenn es dort Beziehungsprobleme gibt, könnte man sich doch auch schlicht an eine Hilfsperson wenden, die dem entsprechenden Beziehungsmodell gegenüber offen wäre? Oder bieten Mehrfachbeziehungen noch andere Herausforderungen, jenseits eines monogamen Rosenkriegs? Als Autor dieses bLogs meiner Ansicht nach ja, wobei ich das Wort „Herausforderungen“ nicht ganz zutreffend finde, sondern es vor allem als eine Auswirkung der erweiterten Dimension der Mehrfachbeziehungen halber bezeichnen würde. Genau diese „erweiterte Dimension“ gibt es in der Monogamie meistens nicht: „Ob“ bzw. „warum“ ein Paar zusammenkommt, wird selten in Frage gestellt, speziell, wenn die beiden Hauptbeteiligten erst einmal offensichtlich erfolgreich gemeinsam starten.
Auch bei Mehrfachbeziehungen gibt es diesen „gemeinsamen Start“, wenn sich z.B. bei mehreren Beteiligten zu einem ungefähr gleichen Zeitpunkt ein Begehren hinsichtlich all der anderen ebenso Beteiligten regt. Allerdings gibt es auch den noch wahrscheinlicheren Fall, daß es bereits wenigstens ein Paar oder eine Gruppe gibt, zu dem oder der irgendwann eine oder mehrere andere Person(en) dazukommen. Genau da läge dann ja der Spezialfall der „Mehrfach“-Beziehung: Ist es möglich, mehr als EINE andere Person zu lieben und gleichzeitig mit diesen in romantischer Verbindung zu sein?
Die auch in diesem bLog auf der Hand liegende Antwort lautet natürlich „Ja“ – jedoch ist die Form der emotionalen, rationalen und sozialen Rechtfertigung eine noch sehr andere als bei den normgesellschaftlich etablierten Zweierbeziehungen der Monogamie (bei denen das bloße „Zusammenkommen“ allein eben meist kein zu hinterfragendes Faktum ist).
Für ethische Mehrfachbeziehungen stellt sich aber genau auch diese Frage – und auch die Beteiligten, glaubt mir, stellen sie sich gelegentlich selbst: Dürfen die das? Und wenn ja – was treibt sie dazu, mehrere romantische Partnerschaften zugleich zu führen? Die besten Antworten darauf wären selbstverständlich „Selbstverständlich!“ sowie „Klar: Aus Liebe!“ oder „Na, weil sie alle zusammen miteinander sein wollen!“
Auch Herr Bowlby und Frau Ainsworth wären mit diesen Antworten höchst zufrieden, wie wir noch sehen würden. Aber. Aber die Möglichkeit zum Führen von Mehrfachbeziehungen – und die mutigen Menschen, die sich auf diese Erfahrung einließen und einlassen – deckten nach und nach auf, daß hier im Zwischenmenschlichen durchaus noch weitere Antworten im romantischen Dickicht versteckt waren.
Denn seit die Feministin Morning-Glory Zell Ravenheart 1990 zum ersten Mal das Wort „polyamor“ für ethisch-nichtmonogame Beziehungen etablierte, gaben sich schließlich immer mehr Menschen die Erlaubnis, ihrem Vorbild zu folgen und sich tatsächlich „zu mehreren“ romantisch-intim zu verbinden. Im Laufe der Jahre werden sicher auch einige von ihnen bei Workshops oder anderweitigen Szene-Treffen möglichweise mit der Bindungstheorie nach Bowlby gearbeitet haben. Meines Wissens nach war es aber erstmals die US-amerikanische Autorin Jessica Fern, die 2020 in ihrem Buch „Polysecure“¹ die Bedeutung unseres erlernten Bindungsverhaltens speziell für den polyamoren Kontext betonte. Und das eben auch gerade bezüglich der Frage des „Warums“, die auf die Ausgestaltung eines Mehrfachbeziehungsgeflechts erhebliche Auswirkungen haben kann.
Genug des bunten Rahmens, um verständlich zu bleiben deshalb hier nun endlich in superkonzentrieter Kurzform die vier „Bindungstypen“ nach John Bowlby.
• Sicher gebunden (nach Bowlby Typ B)
Ein sicher gebundenes Kind erlebt in seinen ersten Lebensjahren ausreichend Feinfühligkeit bei Aktivierung seines Bindungsverhaltenssystems. Seine Bindungsverhaltensweisen wurden von der Bezugsperson wahrgenommen und richtig interpretiert, woraufhin prompt und angemessen gehandelt wurde. Dadurch ist die Bindungsperson für das Kleinkindes als verlässlich gespeichert, mit der Folge, dass das Kind das Verhalten seiner Bezugsperson weitgehend vorhersagen kann. Bei starken Emotionen wie einer Trennung wird es deutliche Bindungssignale, wie weinen, rufen etc. produzieren. Kommt es zu einer Wiedervereinigung, wird das Kind seine Bezugsperson begrüßen und deren Nähe aufsuchen, um sich z.B. durch Körperkontakt zu beruhigen. Doch nach kurzer Zeit wird sich ein sicher gebundenes Kind danach wieder seiner ursprünglichen Tätigkeit (spielen etc.) widmen.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten fühlen sich in Beziehungen sicher und können Nähe und Autonomie gut in Balance halten. Sie haben ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen und können sowohl emotionale Unterstützung geben als auch empfangen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten empfinden sie als normal und lösbar.³
• Unsicher und ablehnend-vermeidend gebunden (Typ A)
Ein solches Kind hat im Laufe der ersten Lebensjahre seine Bezugspersonen nicht als feinfühlig erlebt. Es hat erfahren, dass seine Bindungsverhaltensweisen entweder zu spät, gar nicht oder falsch wahrgenommen und interpretiert wurden. Das Kind beginnt aufgrund dessen immer seltener Bindungssignale zu senden, da es erneute Enttäuschungen vermeiden will. Dadurch ist es zunehmend darauf angewiesen, sich bei starken Emotionen selbst zu regulieren. Beim Verlassen des Raumes einer Bezugsperson schaut das Kind ihr vielleicht kurz hinterher, widmet sich aber bald darauf wieder intensiv seiner Tätigkeit. Z.T. werden so eigene Emotionen mit verstärktem Entdeckungsdrang kompensiert. Bei der Wiedervereinigung sucht ein unsicher-vermeidendes Kind keine Nähe. Ergreift die Bezugsperson die Initiative und hebt das Kind hoch, wird es durch Abwendung des Kopfes und der Körperhaltung schnell verdeutlichen, dass es wieder abgesetzt werden möchte: Aufgrund von schlechten Vorerfahrungen vermeidet dieses Kind seinen Bindungsstress auf der Verhaltensebene offen darzulegen.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten neigen dazu, sich emotional eher zu distanzieren und vermeiden intensivere Nähe. Nähe kann ihnen sogar unangenehm sein, oft bewahren sie eine gewisse Distanz in Beziehungen. Sie könnten Schwierigkeiten haben, ihren eigenen emotionalen Bedürfnissen zu vertrauen oder sich auf andere zu verlassen.³
• Unsicher und ängstlich-ambivalent gebunden (Typ C)
Dieses Kind weiß nicht, wie seine Bezugsperson bei Aktivierung seines Bindungsverhaltenssystems regieren wird. Im Alltag erlebt es seine Bezugsperson widersprüchlich – manchmal feinfühlig und manchmal nicht. Durch diese Unbeständigkeit ist das Kind nicht in der Lage verläßliche Erwartungshaltungen bezüglich der Reaktion seiner Bindungsperson zu entwickeln. Darum sucht das Kind ständig Nähe zu der Bezugsperson, was sich negativ auf sein Entdeckungsverhalten auswirkt: Solch ein Kind wird sich nur zögerlich anderen Tätigkeiten widmen und reagiert bei Trennung von der Bezugsperson gestresst, irritiert oder sogar gereizt. Vor allem bei einer Wiedervereinigung kann es zu sehr heterogenen Verhaltensweisen kommen. Es kann sein, dass das Kind sich um den Kontakt mit der Bindungsperson bemüht, zugleich aber Anzeichen von Ärger und Wut zeigt, oder die Bezugsperson zurückweist.²
Erwachsene mit diesem erlernten Bindungsverhalten empfinden häufig eine starke Abhängigkeit von anderen, sehnen sehnen nach Nähe – und haben jedoch gleichzeitig Angst vor Zurückweisung. Oftmals sorgen sie sich intensiv darüber, ob ihree Bedürfnisse erfüllt werden und ob sie für andere wirklich wichtig sind. Sie können sich schnell unsicher oder überfordert fühlen, wenn sie das Gefühl haben, zu wenig Aufmerksamkeit zu bekommen.³
• Desorganisiert gebunden (Typ D)
Solch ein Kind wurde von seiner Bezugsperson entweder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt oder traumatisiert. Die Person, die dem Kind Geborgenheit und Schutz bieten sollte, ist zugleich die Person, die es ängstigt. Kinder mit einem desorganisierten Bindungsstil fallen durch rasch aufeinander folgende, widersprüchliche, unvollendete oder konfuse Verhaltensstrategien auf. Es kann also vorkommen, dass sich das Kind der Bezugsperson nähert, dann aber von einer auf die andere Sekunde stoppt. Bei Abwesenheit der Bezugsperson kann es direkte Anzeichen von Angst zeigen, dann aber eher die Nähe fremder Personen, statt der Bezugsperson, aufsuchen. Eine andere mögliche Verhaltensweise wäre sogar die Versteinerung, solange sich die Bezugsperson im gleichen Raum aufhält.²
Menschen mit diesem erlernten Bindungsverhalten zeigen auch als Erwachsene widersprüchliche Verhaltensweisen. Sie sehnen sich zwar nach Nähe, aber genau diese kann auch Angst oder Misstrauen auslösen. Oft vermeiden sie Nähe oder wechseln zwischen starken Annäherungs- und Rückzugsimpulsen, da ihre frühen Beziehungserfahrungen von Unsicherheit und vielleicht sogar Trauma geprägt sind. Dies kann sich in intensiven, chaotischen Beziehungen widerspiegeln und aufgrund ihrer Traumata fühlen sie sich selbst oft innerlich gespalten und haben so häufig Schwierigkeiten, überhaupt stabile Bindungen aufzubauen.³
Genug des Gruselkabinetts (ok, bis auf die soliden, sicheren Bindungen) möchte ich rufen – aber die Denkanstöße für ge- bzw. mißlingende ethische Mehrfachbeziehungen beginnen genau hier. Mit etwas Hilfe der englischen Wikipedia möchte ich die Auswirkungen der oben aufgeführten Bindungserfahrungen auf uns im Erwachsenenalter betrachten – inklusive der Art, wie wir uns zu romantischen Nahbeziehungen positionieren.
►Betrachten wir zuerst wieder als „unfallfreies“ Verhaltensmuster die sichere Bindung, denn solch ein sicherer Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein positives Selbstbild und ein positives Fremdbild verinnerlicht haben – was für Beziehungsaufnahme jeglicherArt schließlich grundlegend ist. Sicher gebundene Erwachsene neigen dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen: „Es fällt mir relativ leicht, anderen emotional nahe zu kommen.“ „Ich fühle mich wohl dabei, mich auf andere zu verlassen und dass andere sich auf mich verlassen.“ „Ich mache mir keine Sorgen darüber, allein zu sein oder dass andere mich nicht akzeptieren.“ Sicher gebundene Erwachsene haben daher in der Regel eine positive Einstellung zu sich selbst, zu ihren Bezugspersonen und zu ihren Beziehungen. Sie berichten oft von größerer Zufriedenheit und Eingebundenheit in ihren Beziehungen als Erwachsene mit anderen Bindungsstilen. Sicher gebundene Erwachsene fühlen sich situativ sowohl mit enger Intimität als auch mit Unabhängigkeit wohl.
Ok. Was soll ich da noch sagen? Ich denke, daß eine solche Person sich in jeder Beziehungsform, egal ob mono, oligo oder poly zuhause fühlen würde – und dabei wahrscheinlich obendrein eine gute und wertgeschätzte Figur abgäbe. Auch ihre Beziehungen könnten natürlich scheitern – aber wenn, dann nicht wegen der Art der Bindung.
►Ein unsicherer ablehnend-vermeidender Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die eine eher positive Sicht auf sich selbst, jedoch eine negative Sicht auf andere haben. Daher neigen die dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen: „Ich fühle mich wohl ohne enge emotionale Beziehungen.“ „Es ist mir wichtig, mich unabhängig und selbständig zu fühlen.“ „Ich ziehe es vor, nicht von anderen abhängig zu sein oder dass andere sich auf mich verlassen müssen.“ Erwachsene mit diesem Bindungsstil wünschen sich meist ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Sie betrachten sich selbst als autark und können sich eher nicht als Teil einer tagtäglichen, engen Nah-Beziehung vorstellen. Manche sehen enge Beziehungen sogar als relativ unwichtig an. Menschen mit diesem Bindungsstil versuchen teilweise, ihre Gefühle zu unterdrücken und zu verbergen, und sie neigen dazu, mit empfundener Ablehnung umzugehen, indem sie sich von den Quellen der Ablehnung (z. B. ihren Bindungspersonen oder Beziehungen) distanzieren. Trotzdem zeigen sie dennoch starke physiologische Reaktionen auf emotionsgeladene Situationen und Inhalte, die sie dann jedoch oft mittels Konzentration auf ein anderes Thema abzulenken und zu kanalisieren bemüht sind.
In der Welt der ethischen Mehrfachbeziehungen fällt mir bei diesem Abschnitt vor allem die sg. „Solo-Polyamory“ ein: Menschen, die mehrere Einzelbeziehungen zu verschiedenen Personen pflegen, die untereinader aber wiederum in keinem Verbund stehen. „Solo-Polys“ leben häufig allein und verbinden sich mit ihren Partner*innen gezielt, z.B. an Wochenenden, auf Events bzw. bei bestimmten Aktivitäten oder an besonderen Orten. Fragen, die sich dementsprechend auftun, wären z.B., warum wir uns selbst in solch einem Modell von unseren Liebsten distanzieren, bzw. diese aufgrund des gewählten Beziehungsmodells auf Abstand halten möchten. Auch die grundsätzliche Frage liegt nahe, ob wir uns mit dieser Form von „Poly-Amory“ eine Auswahl an Partner*innen gestatten, so daß wir „für jedes Plaisirchen ein passendes Tierchen“ erhalten – und bei ansteigender Spannung innerhalb einer Beziehung uns die Möglichkeit geschaffen haben, rasch das Betätigungsfeld zu wechseln, wozu wir alle Beziehungen auch mit einem Höchstmaß an unvernetzter Parallelität betreiben. Mehr noch: Gäbe es Hinweise darauf, daß wir uns auf Erkundung nach neuen Partnerschaften begeben, wenn wir andernorts gerade die Intensität nich mehr gut aushalten können? Und wie fühlen sich diesbezüglich eventuell die anhängigen Partner*innenmenschen? Fühlen sie sich durch uns ausreichend gesehen und wertgeschätzt – oder geraten sie in die Gefahr, stets doch nur eine jeweilige Teilzeit-Investition von uns zu erhalten?
►Ein unsicher ängstlich-ambivalenter Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein negatives Bild von sich selbst und ein eher positives Bild von anderen haben. Daher neigen sie dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen: „Ich möchte mit anderen emotional absolut innig sein, aber ich stelle oft fest, dass andere zögerlich sind, mir so nahe zu kommen, wie ich es mir wünsche.“ „Ich fühle mich unwohl, wenn ich keine engen Beziehungen habe, aber ich mache mir manchmal Sorgen, dass andere mich nicht so sehr schätzen, wie ich sie schätze.“ Erwachsene mit diesem Bindungsstil suchen ein hohes Maß an Intimität (ja, hier ist auch schnelle bzw. intensive Sexualität innbegriffen), Bestätigung und Entgegenkommen von ihren Bezugspersonen. Sie schätzen Intimität manchmal so sehr, dass sie evtl. sogar übermäßig von einer Bezugsperson abhängig werden können. Im Vergleich zu sicher gebundenen Erwachsenen neigen solche Menschen zu einer weniger positiven Selbsteinschätzung. Sie können ein Gefühl der Ängstlichkeit entwickeln, das nur nachlässt, wenn sie mit einer Bezugsperson in Kontakt sind. Sie zweifeln oft an ihrem Wert als Individuum und geben sich selbst die Schuld für einen empfundenen Mangel an Aufmerksamkeit ihrer Partner*innen. In ihren Beziehungen können sie z.T. ein hohes Maß an Emotionalität, Besorgtheit oder Überkompensation zeigen.
Diesen Bindungsstil kenne ich selbst am besten, weil er leider meine eigene Grundlage ist. Innerhalb ethischer Mehrfachbeziehungen wie der Oligo- und Polyamory ist er nicht unbedingt selten, weil es im Zweifel gerade die Möglichkeit ist, überhaupt eine Mehrzahl von intimen Bezugspersonen aufgrund erhöhten Nähebedarfs für sich zu gewinnen, die Mehrfachbeziehungsmodelle für Menschen dieser Veranlagung interessant macht. Problematisch bei diesem Bindungsstil ist von Anfang an die Bestrebung nach einem größtmöglichen Vertrautheits- und Verschmelzungsfaktor, so daß beim Kenenlernen häufig die „Aufprallenergie“ sehr hoch ist – und Kompatibilität z.B. über früh initiierte Sexualität herbeizuführen versucht wird. Die „Beinarbeit“ eines gründlichen Kennenlernprozesses mit wechselseitigen Vor- und Abneigungen kann so in den Hintergrund geraten, was bei fortdauernder Beziehung zu Problemen führen kann. Auf diese Weise ist aber auch die NRE („New-Relationship-Energy“ [Neue-Beziehungs-Energie]) sehr hoch, was für Bestandspartner*innen verstörend wirken kann, wenn für eine neue Person z.T. alles stehen und liegen gelassen wird. Der hohe Nähe- und Klebefaktor führt innerhalb von Mehrfachbeziehungen zusätzlich zu einem gelegentlichen Verwischen von individuellen Grenzen, so daß es sachlich wie emotional irgendwann schwierig sein kann, herauszufinden, welche Anteile an einem Geschehen wem zuzuordnen sind, was ungünstige Wirkung auf die Gesamtbeziehungsdynamik nimmt. Unsicher-ambivalente Personen tragen speziell darin oft wenig hilfreich bei, indem sie in ihrem inneren Zwiespalt gelegentlich zusätzlich in eine Art „Micromanagement“ verfallen, bei dem sie versuchen für ihre Partner*innen eine angestrengte Misch-Performance aus „Warte, ich hole Dir die Sterne vom Himmel“ und übergriffiger Gängelung („Neinnein, das müssen wir SO machen….“ ) aufzubieten.
►Desorganisierte Bindungsmuster zeigen sich bei Menschen, die eine instabile und wechselhafte Sicht auf sich selbst und andere haben, welche jedoch vorwiegend in beiden Fällen negativ ist. Verluste oder Traumata (z. B. Missbrauch) in der Kindheit und Jugend können zu einer Zustimmung zu folgenden Aussagen führen: „Es ist mir etwas unangenehm, anderen nahe zu kommen.“ „Ich wünsche mir emotional enge Beziehungen, aber es fällt mir schwer, anderen völlig zu vertrauen oder mich auf sie zu verlassen.“ „Ich mache mir manchmal Sorgen, dass ich verletzt werde, wenn ich mich zu sehr auf andere Menschen einlasse.“ Personen mit einem ängstlich-besorgten Bindungsstil zeichnen sich durch ein starkes Verlangen nach Nähe und Intimität in ihren Beziehungen aus, erleben jedoch häufig zugleich ein hohes Maß an Angst und Unsicherheit in Bezug auf die Zugänglichkeit und das Entgegenkommen ihrer Bezugspersonen. Sie neigen daher dazu, sich bei zunehmender emotionaler Nähe unwohl zu fühlen. Diese Gefühle sind mit manchmal unbewussten, negativen Ansichten sowohl über sich selbst als auch hinsichtlich ihrer Bindungspersonen verbunden. Dadurch halten sie sich häufig für unwürdig, von ihren Bezugspersonen Aufmerksamkeit zu erhalten, und haben zugleich oft kein Vertrauen in die Absichten ihrer Partner*innen. Ähnlich wie beim ablehnend-vermeidenden Bindungsstil suchen desorganisiert gebundene Erwachsene so weniger Nähe zu ihren Bindungspersonen und unterdrücken und/oder verleugnen häufig ihre Gefühle. Aus diesem Grund fällt es ihnen viel schwerer, Zuneigung auszudrücken. Personen mit diesem Bindungsstil neigen zu einem negativen Selbstbild und einer schwankenden oder gespaltenen Sichtweise auf andere, was zu zwischenmenschlichen Störungen beitragen kann.
Ein desorganisierter Bindungsstil stellt für jede Form von echter, vertrauter Partnerschaft die größten Herausforderungen dar, doch auch von diesem Bindungstyp habe ich leider einige Züge bei mir selbst wiedergefunden. Problematisch speziell für Mehrfachbeziehungsführung ist meist, daß die betroffene Person sich über mehrere Partnerschaften ein Mini-Universum verschiedener Menschen erstellen kann, zwischen denen sie bei Bedarf emotional „switchen“ (hin- und herschalten) kann. Für die betroffene Umgebung kann dieses Verhalten allerdings im Zweifel seltsam unbeständig und z.T. sogar unberechenbar – oder zumindest unzuverlässig – wirken. Der „Netzwerkcharakter“ polyamorer Verbindungen kann allerdings auf diese Weise eine desorganisiert gebundene Person oftmals eine Weile lang gewissermaßen „auffangen“ – da durch die Beziehungsvielfalt die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der betroffenen Person nicht so schnell zu Tage tritt, wie es vielleicht in einer reinen Zweierbeziehung geschehen würde. Gleichzeitig kann genau dieses „Zumuten“ und „Aushalten“ desorganisierter Merkmale in einer Mehrfachbeziehung jedoch wiederum gerade durch die Vielfalt an betroffenen Mitwirkenden großes Leid verursachen, bevor die auslösende Person bereit ist, sich ihren verschütteten Traumata zu stellen. Die Gefahr der „Desorganisation“ besteht indes darin, daß die Auswirkungen – durch allseitige, teilweise widersprüchliche Kompromisse – bis dahin die Gesamtbeziehung für alle Beteiligte schon schleichend zerrüttet haben können.
Puh. Mein Fazit dieses wichtigen – und nun beinahe zu lang geratenen – Eintrags: Zusätzliche Studien erwiesen leider, dass Personen mit unsicherem oder desorganisiertem Bindungsstil auch anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen sind, sie häufiger ein beeinträchtigtes Selbstwert-Gefühl haben, und dass es für sie darum schwieriger ist, im Erwachsenenalter gesunde Bindungen zu entwickeln. Beobachtungen ergaben weiter, daß sich ungünstige Bindungsstrategien und Traumata in Beziehungsdingen überdurchschnittlich häufig anziehen – ausgerechnet unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent finden sich z.B. überraschend (und trotz doch scheinbar so unterschiedlicher Bedürfnislagen!) regelmäßig gemeinsam in einem „Beziehungs-Boot“ wieder…
Mehrfachbeziehungen „würfeln“ obendrein meist gleich noch „mehr als zwei“ Menschen zusammen, wodurch im Zweifel äußerst ungünstige Kompensationsstrategien aufeinander treffen können, insbesondere wenn der Grad an Unbewußtheit für die eigenen Bindungserfahrungen (noch) eher hoch ist. Und um es noch einmal zu sagen: Ethische Mehrfachbeziehungen müssen in ihrer Entstehung schon allein aus Selbsterhaltungsgründen sehr selbstehrlich der Frage ins Auge sehen, ob nicht eben sogar der Wunsch nach „Mehrfachbeziehung“ eigentlich einer ermangelten Bedürftigkeit entspringt, die doch leider drei der vier Bindungstypen verdeckt in sich tragen. Denn Verlustangst, Bindungsangst und Kontrollverhalten bringen Unruhe, Leid und Drama in jede Beziehung. Und das ist etwas, was wir als Viel-Liebende unseren Lieblingsmenschen doch gerade sicher nicht zuteil werden lassen wollen.
Mit dem heutigen, beim Scrollen sicher nicht nur bedingt durch die Länge manchmal schmerzhaft zu lesenden Eintrag, möchte ich allerdings ähnlich der oben erwähnten Autorin Jessica Fern dringend dafür sensibilisieren, auch diese unfroheren Aspekte des eigenen Beziehungs- und Bindungsverhaltens zu reflektieren. Ich lade dazu ein, dies auch im Verbund mit unseren Partner*innen zu tun, die durch ihre „Sicht von außen“ vielleicht wichtige Impulse für uns selbst beisteuern können – auch wenn diese Form von Offenbarung sicher nicht immer einfach für alle Beteiligte sein wird. Aber gerade diese Bewußtmachung ist es, die uns alle schließlich befähigen kann, einen eventuell negativen Bindungsstil nach und nach tatsächlich zu verändern.
In diesem Sinne – und in bester, sicher gebundener Weise: Laßt es Liebe sein, echtes Vertrauen und sich wirklich sicher Fühlen – und: weil ihr alle aus tiefstem Herzen miteinander zusammen sein wollt!
*Ich schreibe hier Bezugspersonen-Kind-Bindung, weil sich für das Bindungsverhalten erwiesen hat, daß es in der sensiblen Phase der ersten Lebensjahre maßgeblich ist, wie diese Haupt-Bezugspersonen Zuwendung zeigen – ganz egal, ob es sich dabei um Mutter, Vater, Familienangehörige, Pflegeeltern etc. handelt. ¹ Jessica Fern „Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Non-monogamy“, Thornapple Press (2020) Deutsche Version: „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“; divana Verlag 2023
³ Beschreibung aus „Attachment Disturbances in Adults: Treatment for Comprehensive Repair“ von Daniel P. Brown und David S. Elliott, WW Norton & Co (2016)
Last but not least:Im Netz gibt es zahlreiche Tests zur Ermittlung des eigenen Bindungstyps. Nicht alle arbeiten nach Bowlby und Ainsworth – aber für eine Grundeinschätzung kann man dort starten. Für in jedem Fall zielführender halte ich es, sich direkt mit den Typenbeschreibungen (auf Wikipedia z.B. oder hier) auseinanderzusetzen und hinsichtlich der entsprechenden Merkmalen für sich selbst zu reflektieren.
Der März ist gekommen – und mit ihm bedeutsame Tage: am 7. begingen wir den „Equal-Pay-Day“, an dem es um die Erzielung von Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern geht; am 8. war gerade erst der Weltfrauentag, der seit 1921 zur globalen Sichtbarmachung, Berechtigung sowie Ermächtigung weiblicher Belange aufruft – und ganz bescheiden wird die Oligoamory dieser Tage großartige 6 Jahre alt!
Der März ist in diesem Sinne also ein regelrecht feministischer Monat – ganz und gar in Übereinstimmung mit dem Geburtstag der Oligoamory, die doch explizit den Frauen und dem Feminismus so viel – ja, eigentlich alles – zu verdanken hat: War es doch 1990 die Feministin und Neopaganistin Morning Glory Zell-Ravenheart, die erstmals das Wort „polyamor“ für den Kontext ethisch-nonmonogamer Beziehungen etablierte – was mir prompt 29 Jahre später gestattete, flugs noch meine eigene Varietät, nämlich die der „verbindlich-nachhaltigen oligoamoren Klein-Gemeinschaften“, hinterherzuentwickeln.
Die beiden im ersten Satz dieses Eintrags genannten (Kampf-)Tage sind für mich in diesem Rahmen besonders wichtig, was mir vor allem aufgefallen ist, als ich mich an einer Überschrift für den heutigen Artikel versucht habe. Ich hatte nämlich begonnen, das englische „Because we care“ von der Übersetzungs-KI deepL übersetzen zu lassen, wobei ich schon vermutete, daß wahrscheinlich „Weil wir uns kümmern“ oder „Weil wir uns sorgen“ als hauptsächliche Ergebnisse dargeboten werden würden. Beide Varianten fand ich im Deutschen nicht so wunderbar, da ja in „kümmern“ der „Kummer“ und in „sorgen“ die „Sorge“ steckt, derer sich angenommen werden soll. Gleichzeitig aber ist es im Alltag aber eben dann doch auch schlicht das, worum es letztenendes geht: „Care-Arbeit“ heißt heute mit einem Anglizismus die meist unbezahlte (Für)Sorgearbeit, bei der sich genau viel zu oft noch vor allem Frauen um all die Belange rund um den Haushalt, diesem innewohnende Personen, deren Gesundheit und last but not least Lebensmittelbeschaffung sowie Nahrungszubereitung kümmern. Übrigens – auch das als so hilfsbereit daherkommende englische Wort „care“ steht im eigentlichen Sinne vor allem für eine Form von Belastung, stammt es doch ursprünglich von dem altgermanisch/altsächsischen Wort „cara“, was soviel wie „Klage“ oder eben auch „Sorge“ bedeutete…
Nichtsdestoweniger muß sich selbstverständlich auch in ethischen Mehrfachbeziehungen „gekümmert“ werden – und bereits in Eintrag 93 versuche ich eine Antwort darauf zu geben, wer denn nun in poly- und oligoamoren Verbindungen für die Erledigung von Aufgaben rund um Küche, Kinder, Kachelpflege zuständig zu sein hat. Denn natürlich hat gerade in Beziehungen, die aus „mehr als zwei“ Personen bestehen, das umeinander-Kümmern und das füreinander-Sorgen einen äußerst bedeutsamen Stellenwert.
Mehrfachbeziehungen, die ja ihrem Sinngehalt nach aus mehreren Teilnehmer*innen bestehen, weisen dabei jedoch auch die Herausforderung gesteigerter Komplexität auf – insbesondere in Hinsicht auf den Bereich einzubringender „Care-Arbeit“ – speziell weil nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich ist, wer da mit welcher Strategie des Einbringens oder des Profitierens gerade am Zug ist. Bzw. eben auch, wann eine Beziehung aufgrund eines hohen Grades an gemeinsamer Kooperation und ausgeprägtem Wir-Gefühl gelingt – oder wann einzelne Beteiligte beginnen zu dominieren, indem sie sich auf Kosten der übrigen Mitwirkenden zunehmend einen Vorteil verschaffen.
Zwischenmenschlich, ja, noch abstrakter, zwischen Lebewesen überhaupt, ist dieser Prozess nämlich in der Tat von so außerordentlicher Vielschichtigkeit und – wie wir sehen werden – Verflochtenheit geprägt, daß sich ganz verschiedene Wissenschaftszweige, von der Evolutionsbiologie bis hin zur Spieltheorie, seit Jahrzehnten daran versuchen, den Hintergründen dieser Thematik mit immer ausgefeilteren Modellen mehr und mehr auf die Spur zu kommen.
Als dann die Computer- und Programmiertechnik seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend das Laufen erlernte und bald zu mehr als effizienten Analogrechnungen in raumfüllenden Anlagen befähigt war, lieferte diese weitere wirkungsvolle Werkzeuge, um Gesetzmäßigkeiten von Interaktionen innerhalb größerer Gruppen abzubilden, ohne das zuvor stundenlanges Videomaterial von Vogelschwärmen, aus Fußgängerzonen oder WG-Küchen gesichtet und analysiert werden musste. Denn nun konnte man kleine Programme mit bestimmten Eigenschaften gegeneinander antreten lassen, was als Anreiz sogar regelmäßig wettbewerbsmäßig organisiert wird, indem immer wieder weltweit Programmierer aufgerufen werden, Software-Einheiten zu erstellen, die dann innerhalb eines virtuellen Rahmens aufeinander treffen (Algorithmus- oder Kaggle-Wettbewerbe). Die Aufgabenstellungen, denen sich solcherart gestaltete Programme darin stellen müssen, entsprechen z.B. dem sg. „Gefangenendilemma“ (mit dem sich in den 80er Jahren vor allem der US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Axelrod intensiv beschäftigte): Zwei Gefangene sitzen in Haft, könnten sich aber jeweils beim Strafmaß einen Vorteil verschaffen, indem sie den anderen Häftling denunzieren, weil es die eigene Zeit hinter Gittern verkürzen – und den anderen länger schmoren lassen würde. Also könnte man diesen Trumpf ziehen und schneller frei kommen – oder schweigen, in der Hoffnung darauf, daß die andere Partei auch dicht hält (quasi eine Art „Win-Win“) – denn natürlich bestünde auch die Möglichkeit, wiederum selbst von der anderen Seite verraten zu werden, wodurch man entweder selbst – oder gar gemeinsam – länger im Gefängnis bliebe („Win-Lose“ oder „Lose-Lose“). Programmierungen, die sich hier bewähren, kommen eine Runde weiter – Software, die aufgrund falscher Einschätzung des Gegenübers zu oft den Kürzeren zieht, scheidet aus.
In einem Artikel für den Bayerischen Rundfunk (BR)¹ erläuterte im diesjährigen Januar die Mathematikerin am RIKEN-Institut für Computerwissenschaften in Kobe (Japan) Nikoleta E. Glynatsi, daß, mathematisch betrachtet, so eine Sache zunächst oft klar zu sein scheint: „Die Mathematik zeigt uns, dass man immer egoistisch handeln sollte, weil es kostspielig ist, selbstlos zu sein, und man sich nie sicher sein kann, ob sich diese Großzügigkeit jemals auszahlt.“ Interessanterweise erwies sich in ihren fortgesetzten Experimenten jedoch, daß sich weder die maximal aggressivsten Programme durchsetzten, noch die, die auf eine schlichte „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“-Taktik setzten. Manche Programme hatten nämlich einen sehr langen Speicher (also quasi eine Art „Gedächtnis“) für die bisherigen Verhaltensweisen ihres Gegenübers – und wie diese zuvor mit anderen Programmen „umgegangen“ waren; schlichtere Programmierungen handelten jedoch überwiegend rein zufällig. Dabei zeigte sich: Langfristig wurden die besten Resultate weder durch starre Herangehensweisen wie „niemals nachgeben“ oder „immer kooperieren“ erzielt, sondern durch flexible Strategien: „Man sollte auf das reagieren, was die andere Person tut, und ihr Verhalten ein Stück weit spiegeln – allerdings abhängig vom Kontext“, erklärt Glynatsi.
In meinem letzten Eintrag 110 zitierte ich den Neurobiologen Herwig Baier, der beschreibt, wie ein Organismus dafür, um komplexe Entscheidungen sinnvoll treffen zu können, seine individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf haben müsste: Er müsse sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, sich auf aktuelle Anforderungen fokussieren und möglichst vorhersehen können, was seine Handlungen bewirken würden. Die Bedeutung dieses bereits oben erwähnten „Erfahrungs-Gedächtnisses“ bestätigte sich im Dezember 2024 auch in der aktuellen Studie² von Frau Glynatsi. Wodurch für menschliche Kontexte sogleich wieder die Psychologie an Bord ist. So entnimmt z.B. der Psychologe Felix Brodbeck von der Ludwig-Maximilians-Universität München der Glynatsi-Forschungsarbeit: „Je länger das Gedächtnis ist, desto eher gelingt situationsangemessene Kooperation. Ich würde mich sogar zu der These hinreißen lassen, dass ohne Gedächtnis gar keine Kooperation möglich ist. Ein längeres Gedächtnis erlaubt es, frühere Erfahrungen in aktuelle Entscheidungen einzubinden. So lässt sich nicht nur Vertrauen aufbauen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten minimieren. Wer hingegen nur auf kurzfristige Gewinne aus ist, riskiert, langfristige Beziehungen zu schädigen, sei es im Privatleben oder im beruflichen Umfeld.“ Oder, wie es die Journalistin Doris Tromballa am Ende des erwähnten BR-Beitrags sehr treffend formulierte: „Wer flexibel handelt, reduziert das Risiko, ausgenutzt zu werden, und vermeidet gleichzeitig, als egoistisch wahrgenommen zu werden.“
Forschungen, wie sie von Frau Glynatsi und ihrem Team betrieben werden, werden in ihrere Bedeutung für unsere Gesellschaft höchstwahrscheinlich noch von maßgebender Dimension sein. Denn einerseits nimmt die Rechenleistung von Super- und Quantencomputern alljährlich um ein mehrfaches zu, so daß die Bilanzierung, Quantifizierung und Prognose menschlicher Interaktion auch – und gerade – in virtuellen Räumen zukünftig immer exakter abzubilden sein wird. Wo diese – andererseits – von der sich rasant parallel entwickelnden Forschung rund um künstliche Intellligenz (KI) ganz sicher aufgegriffen und integriert werden wird. KI übrigens, mit der wir heute alle schon von der Suchmaschine bis hin zum Grafikprogramm interagieren! Wodurch sich in gewisser Weise der Weg auch zu jenem Moment abzeichnet, der als „technologische Singularität“ Bekanntheit erlangt hat – und die Schwelle beschreibt, ab der die künstliche die menschliche Intelligenz zukünftig eventuell übertreffen könnte…
Soweit dies also das Potential von Computer“hirnen“ betrifft, die in dieser Weise menschliche Interaktion analysieren und emulieren (nachbilden). Wie steht es aber in dieser Hinsicht mit der „Originalvorlage“ – also unseren eigenen Hirnen? Denn daß wir Menschen daselbst ganz eigenständig zu einer ähnlichen „Singularität“ in der Lage sind, auch dieser Gedanke ist nicht wirklich neu und wurde z.B. bereits 2009 von dem US-amerikanischen Thriller-Autor Dan Brown in seinem Buch „Das verlorene Symbol“ populär angesprochen: Die menschliche Weltbevölkerung befindet sich derzeit demografisch noch immer im Wachstum. Allein rein physisch kommt entsprechend Tag für Tag „mehr Hirn“, mehr potentieller menschlicher Geist, hinzu. Auch Dan Brown aber wies bereits darauf hin, daß Gehirnmasse allein nicht ausschlaggebend sein würde. Als Optimist projizierte er vielmehr eine damit einhergehende ansteigende Lernkurve menschlichen Bewußtseins, eine sich beschleunigende Zunahme von Einsicht und Erkenntnis, welche die Menschheit eines Tages – mit überschreiten ihrer eigenen „Singularitätsschwelle“ – zu bahnbrechenden, schöpferischen Begabungen, Fähigkeiten, Möglichkeiten und Leistungen katapultieren könnte.
Die Menschheit – als eine Art vereinter, biologischer Supercomputer? Gottkomplex? Absurde Tech-Fiction? Nein, ich glaube nicht. Ich glaube aber, daß wir dafür etwas mehr brauchen als schrifstellerischen Optimismus – und damit wären wir zurück bei meinen eingangs erwähnten (Kampf-)Tagen. Denn meiner Meinung nach hätten wir als Menschheit unseren „Singularitätsmoment“ vielleicht schon längst erleben können. Oder vielmehr: Dieser läge schon jetzt absolut in unserer Reichweite. Wenn – ja, wenn – wir es wie die Programme machen würden – und unser volles, insgesamtes menschliches Potential auch vollumfänglich ausschöpfen würden. Solange wir jedoch weltweit, wie seit Jahrhunderten geschehen, den weiblichen Anteil der Menschheit (von noch andersgeschlechtlichen Anteilen gar nicht zu reden…) weiter zu sehr geringschätzen und hintanstellen sowie Personen anderer ethnischen Herkunft, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuellen Identität kontinuierlich benachteiligen und zurücksetzen, solange ist es gewissermaßen so, als ob wir uns einen gewaltigen Teil unseres großartigen menschlichen Geistes quasi abbinden. Auf daß dieser ungenutzt verödet, weil die Ideen, Perspektiven, Impulse, Erahrungen und Erfindungen, welche die in dieser Weise unterdrückten Individuen sonst zum großen Ganzen andernfalls vielleicht beigetragen hätten, ungehört und ungenutzt verpuffen – bzw. solche sogar wegen mangelnder Bildungsbeteiligung niemals überhaupt erst entstehen konnten.
Für unseren eigenen „Singularitätssprung“, wenn er eben nicht zuerst – oder nur allein – von einer KI zukünftig vollzogen werden soll, brauchen wir aber uns alle! Wirklich alle, mit ihrem weitgehendst möglichen, erschlossenen seelisch-geistigen Potential. Integrativ und inklusiv.
Große Worte. Die zu beherzigen auch ohne „Singularität“ als Ziel sicher wichtig sind. Warum bin ich trotzdem mit Dan Brown Optimist – und was haben Mehrfachbeziehungen damit zu tun, um die es auf diesem bLog doch eigentlich gehen sollte? Einen Hinweis auf die Antwort, hat erneut die Wissenschaft geliefert.
In ihrem aktuellsten Buch „Mutterhirn – Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden“ räumt die Wissenschaftsjournalistin Chelsea Conaboy³ mit einem weiteren Vorurteil über Frauen auf, daß deren Gemüt durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes in eine Art „unberechenbaren Sonderstatus“ geriete, wodurch sie sogar vermeintlich geistige Leistungsfähigkeit einbüßen würden (was jahrhundertelang auch als männliches Argument zum Ausschluß von Frauen hinsichtlich verantwortungsvoller Positionen und Tätigkeiten diente). In der Tat fasst Conaboy wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen, daß sich die Gehirne von austragenden Müttern – aber eben auch Vätern, Co-Pflegepersonen und anderen engen Bezugsmenschen – unter der Fürsorgearbeit für ein Kind wirklich veränderten. Und zwar in fundamental positiver Weise für das gesamte weitere Leben dieser Betroffenen! In ihrem Buch beschreibt sie anschaulich den Nachweis, wie alltägliche „Care-Arbeit“ in einem untrennbaren Wechselverhältnis mit neurobiologischen Prozessen steht – genau weil wir uns kümmern. Die Autorin folgert ferner, daß diese Ergebnisse wegen der menschlichen Fähigkeit zu lebenslangem Lernen – aufgrund der ebenso lebenslangen Plastizität des menschlichen Gehirns – eher nahe lägen – und damit zugleich erhebliche Bedeutung für alle übrigen Bereiche zwischenmenschlichen Kümmerns und (Für)Sorgens entfalten würden.
Wenn Menschen sich demgemäß in Beziehung begeben, verändern sich also sogar ihre Gehirne. Dieser Effekt wird durch den „Fürsorgefaktor“ erwiesenermaßen sogar noch einmal verstärkt: Was uns „am Herzen liegt“ befördert unsere Fähigkeit, noch immer bessere „Care-Arbeiter*innen“ zu werden, zu sein und – zu bleiben. Dies bestätigt ebenfalls einen weiteren Nutzen, den Mediziner seit langer Zeit betonen. Daß bereits eine einzige Beziehung – und die Anreize, die wir durch diese erfahren – die Gesundheit der Beteiligten stärkt. Und ja, in diesem Fall gilt „mehr ist (noch) besser“ – ganz besonders, wenn uns diese Beziehungen eine „Herzensangelegenheit“ sind, in denen wir mit den Worten des oben erwähnten Psychologen Felix Brodbeck situationsangemessen kooperieren, Konflikte minimieren und Vertrauen aufbauen.
Womit ich euch Beziehungsmenschen da draußen heute den Rücken stärken will: Eine einzige Beziehung kann nicht nur euer Leben verändern – sie verändert grundlegend euch selbst; ja, es reicht offensichtlich sogar, einmal für eine Weile Teil einer fürsorgenden Beziehung gewesen zu sein, daß uns diese innere Metamorphose ein Leben lang erhalten bleibt.
Wird euch Mehrfachbeziehungsführer*innen also jemals nahegelegt, ihr würdet wohl „anders ticken“, dann gebt den Leuten recht und fühlt stolz, daß dies mit jeder einzelnen eurer liebenden Verbindungen einer sowohl einerseits wissenschaftlich bestätigten, als auch einer andereseits tatsächlichen tiefen inneren menschlichen Wahrheit entspricht, die uns mit allen anderen Weltenbewohner*innen in Beziehung verbindet. Eben: Weil es uns am Herzen liegt. Und es war übrigens der amerikanische Astronom, Visionär und Futurist Carl Sagan, der einst feststellte:
»Wer sind wir, wenn nicht gemessen an unserem Wirken auf andere? Das ist, wer wir sind! Wir sind nicht, wer wir vorgeben zu sein, wir sind nicht, wer wir sein wollen – wir sind die Summe des Einflusses und der Wirkung, die wir in unserem Leben auf andere haben.«
¹ Der erstmals im BR am 15.1.2025 um 17.05 auf Bayern 2 erschienene Artikel „Kooperation oder Konkurrenz – Was ist besser?“ findet sich im ARD-Archiv der Tagesschau HIER
² Link zur Studie von Nikoleta E. Glynatsi, Ethan Akin, Martin A. Nowak and Christian Hilbe „Conditional cooperation with longer memory“ vom 06. Dezember 2024 (nur englische Sprache) HIER
³ Chelsea Conaboy, „Mutterhirn“, Harper Collins 2023
Der Februar ist traditionell der Monat der Reinigung – und selbst das lateinische Wort „februare“, von dem er seinen Namen erhalten hat, bedeutet genau das, nämlich „reinigen“. Der Februar ist aber auch ein Monat der Extreme, so ist er z.B. nicht nur spätestens seit der gregorianischen Kalenderreform von 1582 sehr kurz – und damit oft schneller vorbei als gedacht – sondern auch sowohl dem erwähnten „Reinigen“ und innerer Einkehr gewidmet, als auch zuvor oft noch einmal Ausschweifungen leiblicher Art, woran heutzutage vielerorts Faschings- und Karnevalsbräuchen nach wie vor erinnern. Beide Tendenzen – die Ausschweifung wie auch die (ernüchternde) Reinigung – waren früher sicher äußerst plausibel, wenn Menschen in ihren Behausungen über lange dunkle Wintermonate überwiegend müßig auf engem Raum miteinander ausharren mussten.
Doch auch dieser Tage – Hand aufs Herz – sind wir in unseren Beziehungen noch längst nicht gänzlich frei von beidem – und für Mehrfachbeziehungen gilt dies oftmals umso mehr. Unsicher gebunden, wie viele von uns nun einmal leider aufgewachsen sind, stürzen wir in dieser Art häufig aufeinander. Unser Bedürftigkeitsdruck ist hoch – aber wir reden uns ein, daß es sich um rein zwischenmenschlichen Magnetismus und einen Ausdruck unserer persönlichen Freiheit handelt. Stoßen dabei vielleicht sogar eigene Werte zur Seite, für die wir gestern noch beide Hände und unser Gewissen ins Feuer gelegt hätten, schämen uns kurze Zeit später innerlich vor uns selbst – doch wie sangen schon David Houston und Barbara Mandrell bereits 1972: Wie kann es falsch sein – wenn es sich so richtig anfühlt? So sind wir unsere schlimmsten Staatsanwälte – und zugleich, wenn es um unsere eigenen guten Gründe geht, auch unsere mildesten Richter… Unsere Eltern, zum Teil Erzieher*innen und Lehrer*innen haben sich mit ihren eigenen Themen an uns abgearbeitet, zu einem Zeitpunkt, an dem wir längst noch nicht verstanden, was da eigentlich vorging, woher diese überschießende Energie und Heftigkeit herkam, die da ungebremst, ungeklärt an uns weitergereicht wurde. Und sollte es einen psychischen Energieerhaltungssatz geben, so wie in der Physik, – …und die Vermutung ist naheliegend – dann liebt, leidet und lärmt unsere Biografie fortgesetzt in allen unseren Beziehungen stets mit. Wirkmächtig in einer Art, von der es in der Astrologie über die Sterne heißt, sie würden zwar nicht zwingen – aber geneigt machen.
Als Säuge- und Hordentiere, als menschliche Wesen, bedürfen wir der Anderen; wir sind für unser Überleben, – aber fast ebenso stark – für unser soziales Wohlbefinden auf sie angewiesen. Unsere Primatennatur läßt uns dahingehend vor allem durch Beobachtung, Anpassung und Nachahmung lernen – selbst die Dämmerung eines in der westlichen Welt sehr kopflastigen 21. Jahrhunderts kann dies nicht aus unseren Genen herausleugnen. Und da stehen wir dann, mit unserem dahingehend lediglich bedingt freien Willen.
Und selbst für den liegt die Latte gar nicht mal so niedrig. In der Ausgabe 4|2024¹ der Max Planck Forschung formuliert Herwig Baier (deutsch-amerikanischer Neurobiologe; Direktor der Abteilung Gene-Schaltkreise-Verhalten am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz): „Frei sein“ hieße, dass innere und äußere Einflussfaktoren an sie angepasste Verhaltensweisen auslösen würden, die nicht nur einem simplen Reiz-Reaktions-Muster folgten. In dem entsprechenden Artikel wird konkretisiert, daß daher ein Organismus dafür, um komplexe Entscheidungen sinnvoll treffen zu können, seine individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf haben müsste: Er müsse sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, sich auf aktuelle Anforderungen fokussieren und möglichst vorhersehen können, was seine Handlungen bewirken würden (Die Rede ist dabei übrigens nicht von außergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Marie Curie oder Nelson Mandela – sondern von Zebrafischen!).
Gut, daß die erwähnte Ausgabe 4|2024 unmittelbar darauf noch einen weiteren Artikel¹ in petto hat – in dem es zur Freude meines bLogs und seines Themas um unsere Freiheit in der „Partner*innenwahl“ geht. Dort schränkt die Demografin Julia Leesch ein, daß es der medial vorgegaukelten Freiheit und einer vermeintlich großen Auswahl an potentiell zur Verfügung stehenden, kompatiblen, und für uns lediglich mit etwas Initiative aufzufindenden, weiteren Lieblingsmenschen zum Trotz, klare Faktoren für alle von uns geben würde, nach denen wir Partnerschaften eingingen – und daß wir dahingegend vor allem davon abhängig seien, welchen Menschen wir überhaupt (im Leben) begegneten. Sie ergänzt, daß es außerdem entscheidend sei, welche eigenen Präferenzen wir mitbringen würden – aber eben auch von welchen Personen unser Interesse letztendlich erwidert würde. Viele Dating-Plattformen und -Apps böten z.B. einen relativ großen Altersabstand zu eindeutig jüngeren Suchenden an, um noch mehr „Auswahl“ zu suggerieren. Beim Abgleich mit der Realität gäbe es aber dann im „grünen Leben“ jedoch vergleichbar wenige tatsächliche Beziehungen, die einen höherem Altersabstand zwischen den Beteiligten aufweisen würden. Das gleiche gelte für den Mythos der sich „anziehenden Gegensätze“, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Die überwältigende Mehrheit untersuchter Beziehungen aus über 199 Studien zeigten vielmehr eine große Bandbreite an Gemeinsamkeiten: „Menschen in Beziehung, die voneinander wirklich grundlegend unterschiedlich waren, gab es hier kaum.“ ² Im Gegenteil. Die Studienlage würde sogar deutlich machen, daß der Umstand, ob wir uns eine Beziehung mit anderen Menschen vorstellen könnten, am Ende nicht etwa vorwiegend durch Ausstrahlung, Humor oder schöne Augen entschieden würden, sondern durch relativ unromantische Faktoren. Diese lauteten übrigens oft: IQ, Bildungsgrad, sowie (hört, hört!) das Trink- und Rauchverhalten. Was wir im Leben buchstäblich schon „er-lebt“ haben – und daher anstreben oder erst recht vermeiden wollen, spielt also eine sehr deutliche Rolle…
Insbesondere für ethische Mehrfachbeziehungen lieferten die Studien aus meiner Sicht noch weitere wichtige Erkenntnisse, denn – so Yayouk Willems weiter: „Auf Persönlichkeitsmerkmale wie die Frage, ob jemand eher introvertiert oder extrovertiert ist, kommt es anscheinend weitaus weniger an. Auch sie sei zwar auf den ersten Blick überrascht gewesen, doch inzwischen hielte sie das Ergebnis für nachvollziehbar. Menschen achteten wohl viel stärker darauf, wie man in einer Beziehung Zeit miteinander verbrächte und für welche Werte (!) die andere Person stehen würde. Unterschiede hingegen bei den spezifischen Charakterzügen könne man wohl eher ausgleichen.“ Was mich ganz klar an meinen 33. bLog-Eintrag erinnert, in welchem ich z.B. der Sängerin „Alice im Griff“ eine Stimme verlieh, welche damals ein tragisches Liebeslied zu einer zerstörerischen Grundwertediskrepanz mit ihrem Liebsten vertont hatte. Ebenso hatte ich ja zuletzt in Eintrag 104 den US-amerikanischer Psychologen Steven Hayes zitiert, der unserem inneren Streben attestierte, daß „Werte der Ausdruck unseres individuellen Strebens nach Bedeutung und Sinn in unseren Leben“ seien. „Ein Grundbedürfnis, welches stets dann in Gefahr geriete, wenn wir bei dessen Erfüllungsversuch beginnen würden, äußerem „Sollen“ oder gesellschaftlich normiertem Streben den Vorrang vor Selbstbestimmung und einer (selbst)gewählten Qualität unserer Handlungen zu geben.“
Eigentlich sind wir mit der Wahl unserer Liebsten also in der Tat auf einer etwas chaotischen Suche nach einer Art „Wertegemeinschaft“. Eine weitere Max-Planck-Demografin, Nicole Hieckel, erklärt dazu, daß wir vielleicht in der Wahl unserer Partner*innen biografisch zwar nur bedingt frei seien, unsere Freiheit im Außen aber dennoch deutlich zugenommen hätte – was für die tatsächliche Gestaltung unserer Beziehungen geradezu „befreiende“ Wirkung zeigen würde – bei gleichzeitiger Zunahme der (oligoamor so wichtigen) Selbstverantwortung: „Die Bedeutung der Beziehungen für die persönliche Entfaltung ist wichtiger geworden. Das verändert auch die Erwartung an eine Beziehung. Fühle ich mich meinen Partnern nahe? Spüre ich Wertschätzung? Insbesondere der Wunsch nach emotionaler Intimität hat heute einen deutlich höheren Stellenwert. Bleibt diese Erwartung unerfüllt, stehen die Zeichen für den Bestand einer Beziehung schlechter als in früheren Zeiten.“ Sie ergänzt hinsichtlich dieses Wertewandels und der damit einhergehenden Freiheit: „Viele Menschen haben heute stärker das Gefühl, dass die eigene Identität mehrere Dimensionen hat. […] Es haben sich gesellschaftlich alternative Räume aufgetan, in denen Menschen sich verwirklichen können. […] Für viele hat die Vorstellung, emotionale Nähe zu finden, immer noch einen hohen Stellenwert. Und auch dahinter steht heute eine Art von Selbstverwirklichung, die Menschen in der Vergangenheit nicht selbstverständlich zugestanden wurde.“
Die Max-Planck Journalistin Sabine Fischer, die den maßgeblichen Artikel, auf den ich mich hier beziehe, erstellt hat, folgert daraus, daß diese Selbstverwirklichung dadurch zu einer eigenen Form von Freiheit führen würde: Dass sich Beziehungsmodelle diversifizieren würden, sie dadurch neu ausgehandelt und individuell gestaltet werden könnten – wörtlich: „von polyamoren Beziehungen, bei denen die Beteiligten gleichwertige Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen führen, über gleichgeschlechtliche und offene Modelle, in denen Personen es einander gegenseitig erlauben, außerhalb der Beziehung Sex mit weiteren Personen zu haben.“ Dazu läßt sie die schon weiter oben benannte Demografin Nicole Hieckel nochmals zu Wort kommen, die sehr eindrucksvoll den Kreis von neuem Gestaltungsspielraum, Werteorientierung aber auch persönlich-biografischen Einschränkungen schließt: „Hier entsteht eine große Freiheit, weil der institutionelle Rahmen nicht mehr so gegeben ist und Partnerschaften stärker auf Aushandlungsprozessen beruhen.[…] Es könnte zugleich auch sein, dass weniger konventionelle Lebensformen den Menschen mehr Raum geben, sich selbst zu definieren. […] Eine Partnerschaft jenseits hergebrachter Normen und Praktiken auszuhandeln, sei es hinsichtlich sexueller Monogamie, einer geschlechtsunabhängigen Arbeitsteilung oder der Grenzziehung zwischen gemeinsamem und eigenem Eigentum, erfordert Ressourcen, allem voran Kommunikationsfähigkeit. Das ist anspruchsvoll, und da sind Menschen nicht mit den gleichen Kompetenzen ausgestattet. Freiheit heißt eben auch, dass jede* und jeder* eine große Verantwortung übernimmt, die eigene Beziehung nachhaltig zu gestalten.“
Nachdem Frau Hiecke auf diese Weise in einem Satz gleich mehrere oligoamore Basisvokabeln verwendet hat, traue ich mir ein eigenes Resümee (fast) gar nicht mehr zu. Denn was unsere Beziehungen in der heutigen Zeit angeht – und auch unsere Perspektiven, diese mit mehreren Partner*innen zu führen, fällt doch sogar das Urteil der Wissenschaft etwas ambivalent aus. Zumal wir dementsprechend wohl noch längere Zeit einen Balanceakt absolvieren müssen, zwischen einerseits unserem Wollen – aber eben gemäßigt durch das, was wir wirklich psychisch und emotional zu leisten in der Lage sind – und andereseits den verheißenen Möglichkeiten, die zugleich ihrerseits wiederum nicht gar so unbegrenzt sind, wie wir uns das eventuell gerne ausmalen würden. Dabei werden wir, wie eine mehr oder weniger geübte Person auf einer Slackline, nicht nur bloß zwischen beiden Polen gelegentlich schwanken; wir werden manchmal sicherlich erstarren, weil wir den nächsten Schritt nicht wagen oder wissen – und wir werden auch im Extrem immer mal wieder auf der einen oder der anderen Seite schlicht herunterplumpsen. Wir werden auf diese Weise Hochgefühle erfahren, weil wir eine Weile rauschhaft glauben, das System gemeistert zu haben – um an einem anderen Tag dem furchtbaren uns äußerst ernüchterndem Gefühl erliegen, an uns selbst gescheitert zu sein… Wobei weder das eine ein abschließender Sieg, noch das andere ein vollständiger Mißerfolg wäre, da nicht nur im Februar zum Menschsein eben beides gehört: Leidenschaftlicher Überschwang ebenso wie (Rück)Besinnung auf das Wesentliche. Wichtig scheint mir, sich dabei immer wieder bewußt zu machen, daß wir uns selbst in beidem stets selber mitnehmen. So daß wir eben als innere Instanzen nicht nur eine strenge Staatsanwaltschaft und milde Richter benötigen, sondern vor allem gewissermaßen einen verständnisvollen (Rechts)Beistand in Form einer liebevollen (Selbst)Begleitung³, die sich unserer teils beschränkten, teil großzügigen Fähigkeiten und Ressourcen bei unserer oben erwähnten Suche nach emotionaler Nähe sehr bewußt ist.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems bezeichnete eingangs einige unserer ausschlaggebenden Beweggründe zur Partner*innenwahl als „nahezu unromantisch“. Die schönste Versinnbildlichung der Synthese, daß solch ein „unromantisch“ durchaus ganz und gar zutiefst romantisch daherkommen kann, ist für mich der folgende Dialog, der von Susan Sarandon (als Beverly Clark) und Richard Jenkins (als Privatdetektiv Devine) in dem Film „Darf ich bitten?“ (2004) dargestellt wurde. Dort sitzen die beiden in einer Szene zusammen und es ergibt sich folgender Dialog [worin ihr die Worte „heiraten“ und „Ehe“ natürlich durch jede Beziehungsform ersetzen dürft, die ihr euch erhofft]:
Beverly Clark: »Woran liegt es ihrer Meinung nach, dass Menschen heiraten?«
Detektiv Devine: »Leidenschaft!«
Beverly Clark: »Nein.«
Detektiv Devine: »Das ist interessant. Ich hätte sie nämlich für eine Romantikerin gehalten. Warum dann?«
Beverly Clark: »Weil wir einen Zeugen für unser Leben brauchen. Es gibt Milliarden von Menschen auf diesem Planeten… Ich meine, was bedeutet da schon irgendein einzelnes Leben? Aber in einer Ehe verspricht man, sich mit allem zu befassen. Den guten Dingen, den schlechten Dingen, den schrecklichen Dingen, den alltäglichen Dingen… allem davon, die ganze Zeit, jeden Tag. Womit man sagt: „Dein Leben wird nicht unbemerkt vorübergehen, denn ich werde es bemerken. Dein Leben wird nicht unbezeugt bleiben, denn ich werde dein Zeuge sein.“«
Und in diesem Sinne wünsche ich uns allen, daß in unseren Leben nicht nur Staatsanwälte, Richter und Rechtsbeistände eine wichtige Rolle spielen, sondern hoffentlich auch vor allem diese guten Zeugen, die das Herz begehrt.
³ Auf die Wichtigkeit einer solchen „inneren Selbstbegleitung“ weist z.B. sehr stark die Traumatherapeutin Maria Sanchez hin, über deren Herangehensweise ich einiges vor genau einem Jahr in Eintrag 98 geschrieben habe.
Wo das Vertrauen den Weg beschreitet, kann sogar der Verstand folgen…
Willkommen im neuen Jahr 2025 – und damit ebenfalls willkommen zum Jahresrückblick 2024! Wenn ich die letzten zwölf Einträge meines „Reisetagebuchs“ betrachte, handelten diese ganz überwiegend vor allem von den wichtigsten Elementen des „oligoamoren Baukastens“: Genau jenen Elemente, die für eine solide Grundkonstruktion von wesentlicher Bedeutung sind.
So ging es z.B. im Januareintrag um die Verbundenheit unter allen Beteiligten einer Mehrfachbeziehung und im Februarartikel um die Gewissheit des Angenommenseins mit seiner ganzen Persönlichkeit in einer solchen Konstellation. Im März, in dem wir unglaubliche 5 Jahre Oligoamory feierten, ermutigte ich nochmals eindringlich dazu, vor allem der Magie der Liebe zwischen mehr als zwei Menschen in jedem Fall eine Chance zu geben, bevor man diese unter einem Wust eigener Vorurteile und Ressentiments ersticken würde. Trotzdem gab ich im April, im 100. Jubiläumseintrag, dazu sogleich Tipps, wie dementsprechend auf ein günstiges Ressourcenmanagement zu achten wäre – konkret materiell wie auch im Ideal. Den Mai-Eintrag widmete ich darauf konsequenterweise dem empfundenen Maß an Zufriedenheit in unseren Beziehungen – insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen des Lebens in unserer heutigen Zeit. Im Juni erinnerte ich daran, nicht zu vergessen, daß all unsere als Erwachsene eingegangenen Beziehungen mit ihrer anhängigen Verantwortung aus der Gestaltung unserer persönlichen Freiheit hervorgegangen seien; dies erweiterte ich im Juli-Eintrag um das Paradoxon des allseitigen Gewinns, der aus der freiwilligen Selbstbeschränkung sämtlicher Beziehungsbeteiligten hervorgehen würde. Beständigkeit und Nachhaltigkeit, die Grundlagen jeder Form von echter Verbindlichkeit, war nochmals mein Thema im August – was den September-Eintrag vorbereitete, in dem ich dazu aufrief, den Kernwerten ethischer Mehrfachbeziehungsführung auch in weniger ersprießlichen Phasen treu zu bleiben. Um dies zu verdeutlichen, wählte ich für den Oktober-Eintrag ein geradezu melodramatisches Beispiel, bei dem unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen, Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treibt, wenn wir uns unhinterfragt normgesellschaftlichen Erwartungen überlassen. Das Leben als Person mit Mehrfachbeziehungswunsch in der Normgesellschaft und ihrer Ellbogenmentalität begleitete uns dann auch hinein in den November – zusammen mit dem Wunsch nach authentischer Gewahrsamkeit, jenseits von grell-vereinfachendem Populismus. Dieses bunte Paket rundete ich im Dezember mit dem Aufruf ab, ein solches „Dazwischengeraten“, welches unsere Lebensweise unweigerlich auf diese Weise mit sich bringt, nicht nur auszuhalten, sondern sich vielmehr als Quelle eigenen Selbstvertrauens zu erschließen.
Wenn ich diese bunte Liste des abgelaufenen Jahres noch einmal betrachte, freue ich mich einerseits über ihre Vielfalt – und ihre Bedeutsamkeit. Andererseits regt mich der Inhalt auch noch einmal zum Nachdenken an – insbesondere im Angesicht einer derzeit sehr herausfordernden Weltlage und dem allgegenwärtigen Unfrieden, der aktuell an vielzuvielen Orten zu verspüren ist. Denn „Orte“ – das ist ja nicht nur ein konkreter Begriff und beschreibt tatsächliche Stätten wie Charkiw oder Khartum. „Orte“ können auch Begegnungsräume sein, wie eben unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Und in diese Orte zieht der Unfriede der Welt am Ende doch auch ein; strapaziert, zermürbt, und erschöpft sie mit den täglichen großen und kleinen Meldungen des Außens: Von diffus-bedrohlichen weltweiten Kriegen und Krisen angefangen – bis hin zu persönlich spürbareren Berührungspunkten wie Klimawandel, Inflation oder Arbeitskräftemangel. Und haben solche steten Tropfen der Verunsicherung erst einmal den Stein unserer Standfestigkeit und Toleranz unterspült, bildet sich darunter ein tückischer Morast an zunehmender Irritation, in der auch unsere soziale Flexibilität einzusinken droht. Wodurch unsere Nahbeziehungen letztendlich zu leiden beginnen – da kann der Oligotropos noch so schön über Ressourcenmanagement, Wahlfreiheit oder Achtsamkeit schreiben…
Derzeit hängen Wahlplakate in unserer Republik. Auf manchen von ihnen stehen Schlagworte wie „Hoffnung“ oder auch „Zuversicht“¹. Das sind gute Wort, die unser Land in der Tat auch in Zukunft benötigt. Und auch in unseren Beziehungen, für die Liebe darin, benötigen wir ganz unbedingt Hoffnung und Zuversicht. Wenn die konstanten Tropfen der Verunsicherung allerdigs fallen und fallen, ihre Frequenz sogar stärker und regelmäßiger zu werden scheint… – dann wird auch aus Hoffnung und Zuversicht über kurz oder lang ein so arg verdünnter Stoff, daß selbst dieser uns nicht mehr durch unseren Alltag tragen kann. Irgendwann haben wir lange genug zugewartet – auf das Wunder, welches eh nicht kommt; darauf, daß sich die Dinge doch noch positiv wenden; daß es schon nicht so schlimm ist und wir es noch länger aushalten könnten. Nein. Irgendwann ist der Sprit schlicht erschöpft, die Geduld am Ende; selbst unsere Zuversicht ist schließlich durchgewetzt, so daß wir uns wund, schutzlos und ausgeliefert fühlen– ein unerträglicher Zustand, es geht nicht(s) mehr. In dieser Verfassung wird unser Blick gehetzt: „Was? Der Wocheneinkauf ist erneut 20€ höher ausgefallen – da war doch gerade vor ein paar Wochen erst so eine Steigerung…!?“ „Das Auto ist schon wieder kaputt – hat der Mechaniker trotz all seiner Beteuerungen bei der Abholung neulich doch geschludert?“ „Unsere Kollegin – was stimmt nicht mit der, daß sie uns mal als Seelenmülleimer in der Mittagspause beansprucht – um uns eine halbe Stunde später für irgendeine mißliebige Kleinigkeit Zusatzarbeit aufzubürden…?“ „Und erst unsere Partner*innen, wie die schon wieder gucken…, bin ich in deren Augen heute mal wieder zu müde, zu fett, zu unperfekt, nicht sexy genug???“
So geht es im Moment einer Menge Menschen. Zu vielen. Und weil es uns so geht, beginnen wir, unter Stress in Unterstellungen und Annahmen zu operieren. Wir schämen uns für allzumenschliche Kleinigkeiten (die auch uns widerfahren) vor uns selbst; gleichzeitig versuchen wir irgendwo Schuld zuzuweisen, denn das ist alles, was gerade am Ende unserer Kräfte noch geht – und jemand anders soll es verdammt nochmal besser machen oder wenigstens verändern, damit es für uns jetzt erträglicher wird.
Wenn wir in dieser Weise über Errungenschaften wie Nachhaltigkeit, Wahlfreiheit und Authentizität längst hinaus sind und diese schon hohl klingen, weil sie keinen Halt mehr geben; wenn selbst Hoffnung und Zuversicht in solch einer Lage aufgebraucht sind – da habe ich mich gefragt, was fehlt.
Was uns dieser Tage vor allem fehlt, ist Vertrauen.
Vor allem jenes aus einem Schatz erlebter Erfahrungen zugesprochene Vertrauen, über das der US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Kulturturkritiker Henry Louis Mencken einst sagte, daß „es ein Gefühl sei, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde.“ Bzw. dieses gewähren lassende Vertrauen, von dem die deutsche Lyrikerin Damaris Wieser vor einiger Zeit schrieb, daß es „das Abschaffen unserer ständigen Kontrolle der Mitmenschen“ sei. Ja, noch mehr: Genau das Vertrauen, welches der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran„eine Oase des Herzens“ nannte, „die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird“.
Erfahrungsschatz? Gewähren lassen?? Jenseits des Denkens??? Hat das tatsächlich etwas mit diesem von uns viel gesuchten und dringend benötigten Vertrauen zu tun? Hatte der englische Schriftsteller Samuel Johnson schon vor 300 Jahren Recht, als er schrieb, daß es „keine Freundschaft ohne Vertrauen, kein Vertrauen ohne Integrität geben“ könne?
Das Ethymologie-Wörterbuch des Dudens² leitet vom Wort „Vertrauen“ sofort auf das Wort „trauen“ weiter – „trauen“ so verwendet wie in dem Satz „Kann ich dir trauen?“ Dort wiederum ist im Duden zu lesen:
»trauen – Das gemeingermanische Verb mittelhochdeutsch trūwen, althochdeutsch trū[w]ēn, gotisch trauan, englisch to trow, schwedisch tro gehört im Sinne von „fest werden“ zu der unter ↑treu behandelten Wortgruppe. Aus dem urspünglichen Wortgebrauch im Sinne von „glauben, hoffen, zutrauen“ entwickelte sich die Bedeutung „vertrauen schenken“ und aus reflexivem „sich zutrauen“ die Bedeutung „wagen“.« Die Weiterleitung zu ↑treu kennen wir hier auf meinem bLog schon seit Eintrag 66: »Die heutige Form geht auf mittelhochdeutsch triuwe zurück. Vergleiche aus anderen germanischen Sprachen gotisch triggws „treu, zuverlässig“, altenglisch [ge]trīewe „treu, ehrlich“ (englisch true „treu, wahr, richtig, echt“) und schwedisch trygg „sicher, getrost“. Die Wortgruppe gehört zu dem indogermanischen *deru „Eiche, Baum“, zu dem auch ↑Trost (eigentlich [innere] Festigkeit) und ↑trauen (eigentlich: „fest werden“) gehören. Das Adjektiv treu bedeutet demnach eigentlich „stark, fest wie ein Baum“.«
Ok…, nach soviel Sprachgeschichte halten wir fest: „Vertrauen“ ist in gewissem Sinne in sich selbst begründet – ich kann es (so wie bei der Stabilität eines Baumes…) erst erfahren, wenn ich mich darauf einlasse bzw. es belaste, ob es trägt. Plus: Das deutsche Sprichwort, welches noch an an manchen alten Fachwerkhäusern als Balkeninnenschrift zu lesen ist, ist darum ebenfalls folgerichtig: „Vertrauen kommt von Treue – und geht auch mit ihr.“
Daß Vertrauen Treue oder – wie ich hier auf meinem bLog oftmals lieber sage – Loyalität benötigt, habe ich im erwähnten Eintrag 66 schon festgehalten, als ich Wikipedia zitierte: »Treue (mhd. triūwe, Nominalisierung des Verbs trūwen „fest sein, sicher sein, vertrauen, hoffen, glauben, wagen“) ist eine Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ausdrückt. Im Idealfall basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen beziehungsweise Loyalität.[…]«
Womit Samuel Johnson mit seiner Integrität gut im Rennen liegt – denn die Definition von Integrität als Bestandteil der Loyalität ist eines meiner Lieblings-Wikipedia-Zitate seit dem frühen Oligoamory-Werte-Eintrag 3: „…die fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln.“
Vertrauen ist demnach tatsächlich etwas, das wir Menschen nur „erfahren“ können. Durch faktisches Denken oder intellektuelle Argumente können wir weder davon überzeugt werden, noch andere dazu bekommen, uns zu vertrauen. Also ist auch Khalil Gibrans Oase damit vor dem bloßen Verstand in der Tat sicher. Das ist zwar sprituell und romantisch gesehen zunächst eine gute Nachricht – aber für unsere verrückte Zeit hält dies zugleich die Herausforderung bereit, daß wir uns zum Vertrauen durch reines „zur Besinnung kommen“ eben gerade nicht entschließen können, sondern daß dieser Schritt auf einer anderen Ebene gegangen werden muß.
Diesen zunächst knifflig wirkenden Zusammenhang, der beinahe schon widerspüchlich ist, hat für mich der zeitgenössische Aphoristiker Dirk Hintze äußerst klug folgendermaßen ausgedrückt: „Vertrauen ist ein geliehenes Geschenk.“ Denn konkret auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen angewendet, verschenken wir unser Vertrauen ja vor allem genau dann, wenn wir unsererseits durch die Empfangenden bereits erfahren, daß diese, hm, postalisch gesprochen, ein „sicherer Ablageort“ dafür sind. Uns wurde also offenbar von der anderen Seite ebenfalls schon Vertrauen wiedergespiegelt, z.B. in irgendeiner Form von Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit oder der schon benannten Integrität. Vor allem durch die Gegenprobe bestätigt sich die Grundidee: Zieht man aus einer Beziehung Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Integrität ab, war’s das sogleich mit dem Geschenk – und es zeigt sich, daß Anerkennung und Wertschätzung in Form von Vertrauen zwar „verliehen“ werden, sich dieses „Geschenk“ aber sofort in Luft auflöst, sobald die dafür Grund gebenden Erfahrungen nicht mehr wahrgenommen werden.
Und Khalil Gibran liegt goldrichtig, wenn es beschreibt, daß dafür keinerlei Denken notwendig, ja, es sogar abträglich, ist: Die Erfahrung von Vertrauen ist ein innerlich zusammengetragener Schatz an Momenten, denen wir situativ und daher intuitiv im Augenblick des Entgegenbringens Bedeutung verliehen haben. Die allermeisten Erfahrungen der Vergangenheit könnten wir daher mit dem Verstand auch gar nicht mehr bennenen – heute ist das Ergebnis jedoch, daß eine andere Person unser Vertrauen hat – oder eben nicht.
Damaris Wieser wiederum konkretisiert, daß „Vertrauen“ Teil jener Sphäre ist, in der auch Liebe und Freiheit zuhause sind. Denn deren Antagonisten (Widersacher) heißen Kontrolle und Sicherheit – und um Letztere geht es beim Vertrauen ja gerade nicht: Der Ast wird halten – und das „erwarte“ ich, bevor ich den Fuß darauf setze – ich setze den Fuß auf – und er hält in der Tat. Daß wir hingegen heutzutage bei Stress in Mikromanagement verfallen – und jeden wie auch immer abwegigen Zweig im ganzen Wald so minutiös wie überflüssig zuvor prüfen müssen, erklärt daher über unsere Gegenwart sehr viel…
Bleibt mir fast nur noch, vor Henry Louis Mencken den Hut zu ziehen, der in meiner Lesart den Rahmen um das Vertrauen mit dem „mehr als die Summe seiner Teile“ erweiterte, so, wie ich es mir in der Oligoamory oft wünsche: Das Erleben von Vertrauen in die Anderen übersteigt sogar meinen eigenen ethischen Selbstanspruch. Ich erhalte durch mein Vertrauen noch mehr als meinen eigenen Einsatz zurück. Umso mehr, da die „Tür des Vertrauens“ ja in beide Richtungen schwingt: Es geht eben nicht nur darum, stets von den anderen Vertrauenswürdigkeit zu verlangen, sondern diese auch regelmäßig selbst durch eigenes berechenbares und überwiegend unzweideutiges Verhalten zu erweisen.
Was wir demgemäß wirklich erfahren wollen, vor allem in unseren Nahbeziehungen, ist das, was in der Forschung „identifikationsbasiertes Vertrauen“ genannt wird. Es besteht aus den vier wichtigen Erlebensebenen:
Enge Abstimmung, Offenheit und regelmäßige Kommunikation (wer hätt’s gedacht…?)
Identifikation mit den Werten, Zielen und Bedürfnissen der betroffenen Beteiligten
Gemeinschaft zwischen den Vertrauenden
Gegenseitige Sympathie und die Entwicklung einer emotionalen Bindung
Ob wir jenseits privater Beziehungen jemals sogar diese letzte Ebene erreichen können? Ich glaube, dazu müsste unsere Gesamtgesellschaft deutlich anders aufgestellt sein, als sie es gegenwärtig ist. Manchmal müssen wir sogar dafür Vertrauen vorstrecken, so wie vielleicht eine unerschrockene Löwenzahnpflanze instinktiv auf ausreichend Licht und Nährstoffe vertraut, während sie eine gepflasterte Oberfläche durchbricht. Denn auch das hat unsere Welt längst erwiesen, daß solch ein scheinbar unbegründet optimistisches Vertrauen weit weniger absurd ist, als es im ersten Moment erscheinen mag. Als im November und Dezember 1989 in der damaligen Tschechoslowakei im Verlauf der dortigen „Samtenen Revolution“ ein maßgeblicher Teil des „Eiserne Vorhang“ fiel, erschien kurz vor Weihnachten in der Hauptstadt Prag ein anonymes Graffito an einer Mauer – mit den Worten:
„In einer Welt voller Misstrauen ist Vertrauen die Revolution.“
² Duden Band 7: Das Herkunftswörterbuch, Ethymologie der deutschen Sprache, Nachdruck der 2. Auflage (1997), Verlag Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG
Das Alte ist nicht mehr – das Neue ist noch nicht geworden…:
»Du befindest Dich in dieser Zwischenzeit, in der Dir alles vorenthalten scheint. Der Weg, den Du genommen hast, um hierher zu gelangen, ist längst ausgewaschen. Der Weg nach vorn ist Dir noch verborgen. Das Alte ist noch nicht alt genug, um gestorben zu sein, das Neue ist noch zu jung, um geboren zu werden. An diesem Ort des Zwielichts kannst Du auf nichts Anspruch erheben. Deine Augen sind getrübt – und es gibt keinen Spiegel. Alle anderen scheinen Dein Herz aus den Augen verloren zu haben – und jetzt weißt Du nicht, worauf Du Dein Vertrauen gründen kannst. Du weißt, dass Du Dir Deinen eigenen Weg da hindurch erschließen musst. Bewahre Deine Zuversicht, so gut Du kannst. Lass nicht zu, dass Deine Verunsicherung diesen Ruf in Dir verspielt, der Deine Wurzeln im falschen Boden lockert, damit Du frei wirst von allem, dem Du entwachsen bist. Was sich hier umwandelt, ist Deine Seele – und es ist schwierig und langwierig, „Du“ zu werden. Je hingebungsvoller Du hier bestehen kannst, desto reifer wird Dein Herz werden für Deine Ankunft beim kommenden Tagesanbruch.«¹
Diese Ermutigung des irischen Philosophen, ehemaligen Priesters und Schriftstellers John O’Donohue ist für eine Lebensweise in ethischen Mehrfachbeziehungen nahezu sinnbildlich – und das obendrein gleich in mehrerlei Aspekten.
Schon mit der Wahl unserer Lebensweise setzen wir uns ja gewissermaßen „zwischen die Stühle“ : Die Monogamie in ihrer beschränkenden Ausschließlichkeit und mit dem Exklusivbezug auf nur einen (erlaubten) lebenslangen Partnermenschen wollen wir für uns nicht. Jedoch möchten wir uns zugleich trotzdem als verbindlich, berechenbar und beständig erweisen – weshalb wir eine Beziehungsform wie die Oligo- oder Polyamory wählen. Denn eine rein erotisch „offene Beziehung“ allein – oder gar die bloß auf vorwiegend unbeschränkte/nicht-bevormundete Sexualität abzielende „Freie Liebe“ bieten uns kein inneres Zuhause, in dem wir uns langfristig wohlfühlen würden. Und da stehen wir dann – mit diesem Wunsch, wenn wir ihn in uns erst nach und nach an die Oberfläche gebracht haben… Denn dann geht es womöglich an die herausfordernde Aufgabe, noch andere Menschen zu entdecken, die dies eventuell so ähnlich empfinden wie wir. Kein leichtes Unterfangen, in einer Welt, die, was Liebe und Beziehungen angeht, mehrheitsgesellschaftlich vorwiegend erstmal konservativ und normativ unterwegs ist… Und wer sich einmal für solche Zwecke in die verschlungene Welt des Datings – egal ob off- oder online – gewagt hat, kann Bände davon berichten, wie verschieden all die anderen suchenden Menschenkinder da draußen von dem eigenen Wünschen und Sehnen sein können – und wie viele Frösche man küssen müsste – in der Hoffnung auf ein märchenhaftes Resultat. Viele Frösche werden sogar Reißaus vor uns nehmen – denn Mehrfachbeziehungen haftet nicht ohne Grund das heikle Faszinosum an, „irgendwie queer“ zu sein. Und wer besitzt genug Mut für solch ein Wagnis? Davon können uns all diejenigen Zeugnis ablegen, die bereits längst zum queeren Spektrum gehören, all die großartigen lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgeschlechtlichen und übrigen bunten Wesen – die nämlich alle sehr genau wissen, wie es ist, im wahrsten Sinne regelmäßig normgesellschaftlich „dazwischen“ zu geraten.
Auf diese Weise kann es aber leider ebenfalls geschehen, daß auch wir sehr lange „dazwischen hängen“. Uns gefangen fühlen in einem Zustand, wo wir eine Entscheidung zugunsten eines Beziehungsmodells getroffen haben, den alten „ausgewaschenen Weg“ nicht mehr beschreiten wollen und können. Aber das „Neue“ läßt sich reichlich Zeit und ist nicht mit Zwang zu realisieren – wie auch, wenn es Liebe werden soll – aber mit der Zuversicht ist es in solchen Phasen augenscheinlichen Stillstands so eine Sache – was unser irischer Priester wohl wusste und uns daher „so gut Du kannst“ zugesprochen hat. Denn Ungewissheit aushalten, daß zählt für unsere Herzen und Seelen zu den größten Zwickmühlen, in die wir geraten können. Vielleicht spielte O’Donohue deswegen auf den „Ruf“ (der innere Stimme) an, den man nicht verspielen bzw. verklingen lassen sollte. Auf unsere Situation übertragen würde ich sagen: Lass nicht nach, gib Deinen Traum nicht auf und der Beziehungsphilosophie die Schuld. Gewähre Dir stattdessen wohlwollend diese Zeit für (noch mehr) Wandel.
Und wenn wir „Glück“ haben? Gar nicht daten müssen – und uns vielmehr urplötzlich in einer Mehrfachbeziehungssituation befinden, weil diese sich ereignet, ja, über uns kommt? Wenn wir uns in Menschen verlieben, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind – oder, oh Wonne, mehrere andere Menschen, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind, verlieben sich in UNS? Dann, glaubt mir, benötigen wir den obigen Segen John O’Donohues erst recht. Denn selbst wenn man glaubt, in sich selber aufgeräumt zu haben, selbst wenn man für die gute Vorbereitung in der Theorie sämtliche verfügbaren Bücher, Podcasts, Netzvideos etc. zum Thema Polyamory konsumiert hätte – auf die Wirklichkeit bereitet es einen am Ende eben doch nicht vor.
Nein, viel zu häufig holen uns gerade dann tief in uns schlummernde Zweifel ein. Und statt dem angestrebten Ankommen und dem „inneren Zuhause“ brechen Gefühle über uns hinein, die mehr einem zugigen „inneren Bahnsteig“ entsprechen – einem, wie der irische Philosoph es nannte, „Ort des Zwielichts“. An diesem unangenehmen Ort stellen wir vieles in Frage: Haben die anderen vielleicht wirklich unser Herz aus den Augen verloren? Sind wir für sie nur so eine Art „Lebensdreingabe“, ein bequem zubuchbares „Feature“ ihres Beziehungs- und Liebeslebens, praktisch im Alltag und bereichernd im Bett? Sichern sich alle anderen stets die größeren Stücke vom gemeinsamen Kuchen, indem sie vorwitziger oder lauter sind als wir – und darum ihre Ansprüche ungenierter durchsetzen? Haben wir uns da überhaupt aufrichtig auf das richtige Beziehungsmodell für uns eingelassen? Hätten wir nicht eventuell doch besser bei der guten alten Monogamie bleiben sollen – dann eben mit nur einem Partnermenschen, ganz für uns – das wäre doch wahrscheinlich schon genug Aufwand, Turbulenz und Herzflimmern gewesen, bloß dann lediglich einmal – und nicht, wie jetzt, gleich mehrfach…
Denn manchmal geraten wir bei mehreren Lieblingsmenschen ja sogar ganz buchstäblich „dazwischen“ (und in der Monogamie gibt es das so nicht – dafür aber nahezu in jeder Familie oder anderweitigen Form von Gemeinschaft): Wenn es zu Streit kommt, bei Loyalitätskonflikten – bzw. wenn wir uns zu irgendeiner Art von Parteiergreifung gedrängt fühlen, obwohl wir uns doch eigentlich nichts sehnlicher wünschen in so einem Augenblick als zurückkehrende Übereinstimmung und allseitiges Verständnis.
Wenn wir dann, wie zur Zeit (denn dies ist der Dezembereintrag), dazu auch noch an vielen Orten von hektischem Glitzer, harmoniebeschwörenden Klängen und dem alljährlichen Geschenkzwang zur wechselseitigen Aufmerksamkeitsbezeugung umgeben sind, dann können diese Fragen schon einmal über dem eigenen Kopf zusammenschlagen und der Ruf sowie unsere innere Stimme, die uns – in welcher Weise auch immer – auf den Mehrfachbeziehungsweg gebracht haben, werden so leise, daß sie nahezu verstummt scheinen.
Lange bevor wir erst eine Industrie- und dann eine Dienstleistungsgesellschaft mit ihren tausenderlei Produkten und Verbindlichkeiten im Außen entwickelten, muß unseren Vorfahren früher einst offenbar bewußter gewesen sein, daß wir Menschen keineswegs auf einen „inneren Knopf“ drücken können, um dann sogleich zu 100% als fertiges Produkt verbindlich marktreif zu erscheinen. In ihren Legenden spielten indessen geheimnisvolle, mächtige mythische Figuren eine Rolle, die über unsere Lebenszeit herrschten, womit ich z.B. die Nornen meine, unheimliche Schwestern, von denen es hieß, daß sie unseren Lebensfaden spinnen, bemessen und abschneiden würden. Die Germanen gaben ihnen seltsame Namen, die für uns heute düster und ungefügt klingen: Urd, Verdandi und Skuld. Dabei waren ihre Namen schlicht Programm, Marketing, würden wir jetzt sagen. Denn an dem Wort „Urd“ kann man noch immer mit etwas Fantasie das heutige Wort „gewo(u)rden“ erkennen – die Norne „Urd“, „das Gewordene“ stand also für die Vergangenheit. Mit der mittleren Schwester „Verdandi“ ist es etwas komplizierter – nicht mehr aber so sehr , wenn wir ihr „V“ durch ein „W“ ersetzen und dank Urd schon wissen, daß es um das Wort „werden“ geht. Diese Norne trägt in ihrem Namen nämlich dessen Partizip Präsens – und Präsens ist ja die Gegenwart: „Verdandi“ ist also „das Werdende“. Und zwar das Werdende, was JETZT gerade wird – also geschieht. Bleibt noch die gute Skuld, der eine Verkürzung ihres Namens zuteil wurde, wahrscheinlich weil die grammatischen Formen von „werden“ bei den anderen beiden schon genug strapaziert waren. „Skuld“ bedeutete (ähnlich dem englischen „should“) „soll/te“ – womit gemeint ist, „was noch geschehen soll“, also die Zukunft. Daher waren es gute, starke Namen von diesen Nornen, denen wir auch heute noch Beachtung schenken können: Das „Gewordene“ können wir nicht mehr ändern; auf das, was jetzt gerade wird, kommt es an, da können wir etwas tun – denn das, was die Zukunft ist…, das „soll“ erst noch kommen – und ist daher keinesfalls als gesichert oder unabänderlich zu betrachten.
Vor hunderten von Jahren hatten eben jene Nornen gerade zm Ende eines Jahres hin besondere Macht, weil unseer Vorfahren mit dem Geheimnis der Zeit noch eine andere Sitte pflegten, nämlich jene der sogenannten „Rauhnächte“. Vor exakten Kalendern und Uhren orientierte man sich zur Zeitmessung an Sonne und Mond, was allerdings das etwas unpraktische Problem aufwarf, daß ein Sonnenjahr 365 Tage hat und ein Mondjahr nur 354 Tage. 11 Tage blieben also dabei „dazwischen“ auf der Strecke. Findig erkoren unsere Vorfahren diese 11 Tage zu „heiliger (Zwischen)Zeit“, fügten noch einen weiteren Auftakt-Feiertag hinzu – und glitten so ab der Wintersonnenwende bis ins neue Jahr „zwischen die Zeit“ – eine Periode, die sie durch Befreitheit von Arbeit dem Feiern und der inneren Einkehr widmeten (Übrigens ist das ebenfalls der Grund, warum wir heute noch manchmal diese Zeit nach Weihnachten als „zwischen den Jahren“ bezeichnen…).
Während wir uns also heute an unserer „inneren Bahnsteigkante“ daher oftmals wie zerrissen oder zweifelnd erleben, war „dazwischen Sein“ damals vielmehr etwas Besonderes, etwas Heilendes und etwas kosmisch Gutes. Genau das ist es, was uns auch der Priester O’Donohue mit seinem keltischen Segen zusichern möchte: Diese „Zwischenzeit“ auszuhalten, noch genauer: in sich hineinzuhören und festzustellen, daß da gerade ein Wandel in uns im Werden (Verdandi!) ist, der uns für das bereit macht, was noch kommen soll (Skuld!).
Wir sollten aber auch unsere Zweifel ernst nehmen und sie ebenfalls zu dieser Übergangszeit als dazugehörig betrachten. Haben unsere Lieblingsmenschen unser Herz aus den Augen verloren? Haben sie ihr Interesse an uns veringert – oder haben sie es gar verloren, weil wir uns gerade verändern?
Diese Fragen sind so gut wie wichtig, denn – passend zu meinem heutigen Thema – ist auch „Interesse“ unser Stichwort: Das Wort, welches im Deutschen (laut Wiktionary) in etwa „Gefühl oder Einstellung, von etwas mehr wissen zu wollen“ bedeutet, setzt sich aus den beiden urspünglich lateinischen Wörtern „inter“ (= dazwischen) und „esse“ (= sein) zusammen. Es geht also schon wieder ums „Dazwischensein“! Die Römer nutzen „inter esse“ auch in dem Sinne „es ist von Wichtigkeit“ (ist ja klar, wenn man mehr wissen will…) – womit wir unsere Antwort gewissermaßen schon sogleich erhalten haben: Ja, wir sind wichtig.
„Wer in der Mitte der Dinge ist, gerät anderen schnell in den Weg“ besagt jedoch auch ein englisches Sprichwort – und macht damit auf die Ambivalenz und Herausforderung aufmerksam, die das „dazwischen Sein“ dabei zugleich mit sich bringt. Wie unsere eingangs erwähnten queeren Mitstreiter*innen bestätigen können: „dazwischen Sein“ ist eben nicht bequem.
Inmitten unserer Liebsten dürfen wir uns also allesamt immer wieder mit solchen existentiellen Fragen auseinandersetzen. Ganz ohne Beschwichtigungen wie „Das ist schon nicht so schlimm“ oder Abwiegelungen wie „Andere sind doch noch viel schlechter dran…“ oder gar Bevormundungen „Mir hat das nie etwas ausgemacht…“. Über einer Einrichtung für behinderte Menschen an einem meiner vorherigen Wohnorte prangte mit etwas Selbstironie das von den Einwohner*innen selbst gefertigte Schild mit der Aufschrift „Niemand weiß, wie schwer die Last wägt, die ein anderer trägt“ – und ganz ohne grammatische Spitzfindigkeiten ist das ein Leitsatz für mich geworden, an den ich mittlerweile regelmäßig denke – gerade wenn im Zwischenmenschlichen mal die Wogen höher schlagen und man schnell versucht ist, zu den obigen Plattitüden Zuflucht zu nehmen.
Wir sind in unseren Beziehungen miteinander – aber dennoch ist jede* und jede*r von uns auch auf dem ganz eigenen Weg und in ganz eigener Weise dabei, zu dem ureigensten „Ich“ bzw. „Du“ zu werden. Wir können uns untereinander diese Aufgaben nicht abnehmen – aber wir können uns unterstützen. Und manchmal heißt das eben auch nur: Vor allem füreinander da zu sein – egal ob gerade dazwischen oder schon mittendrin.
Ich möchte den letzten Eintrag des Jahres 2024 darum auch mit einem weiteren Zitat John O’Donohues schließen, der so unglaublich mitmenschlich schrieb:
»Obwohl wir die Namen der anderen kennen und ihre Gesichter zuordnen können, wissen wir nicht, welches Schicksal jedes Leben prägt. Der Plan des individuellen Schicksals ist geheim; er liegt hinter und unter der Abfolge von Ereignissen verborgen, die sich ständig für uns entfalten. Jedes Leben ist ein Mysterium, das sich dem Licht des Verstands oder seinen Fragen nie endgültig erschließt. Dass wir hier sind, ist eine riesige Bestätigung; irgendwie brauchte das Leben uns und wollte, dass wir hier sind. Diese ursprüngliche Akzeptanz zu spüren und ihr zu vertrauen, kann eine große Quelle des Vertrauens im Herzen öffnen. Es kann uns zu einem natürlichen Mut befreien, der die Angst vertreibt und unser Leben zu einer Reise der Entdeckung, der Kreativität und des Mitgefühls werden lässt. Keine solche Schwelle sollte eine Bedrohung sein, sondern vielmehr eine Einladung und ein Versprechen.«²
¹ aus: John O’Donohue, „Benedictus: Das Buch der irischen Segenswünsche“, Pattloch, München 2009
² aus: John O’Donohue, „To Bless the Space Between Us“, Convergent Books, März 2008
Die Welt macht es uns vor: Egal ob in den USA Donald Trump mittels schlichter aber nichtsdestoweniger lauter Parolen die diesjährige Präsidentschaftswahl gewinnt – oder in Deutschland der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz durch die Entlassung seines mißliebigen Finanzministers die Regierungskoalition zum Kollabieren bringt: „Jetzt bin ich aber mal dran!“ Endlich einmal unwidersprochen seinen eigenen Willen durchsetzen können, es richtig krachen lassen – wie wunderbar das wohl sein muß… Und was da im Großen geschieht – und weil es im Großen geschieht, so wollen wir irgendwann auch einmal unseren Teil gleichermaßen behaupten. Zum einen, weil es ja mittlerweile ganz offensichtlich en vogue zu sein scheint, ohne allzu viel Rücksicht auf Verluste zuzugreifen, wenn die Gelegenheit gekommen ist. Zum anderen, weil sich dazu noch so ein „jetzt-erst-recht / Sch#-egal“-Gefühl gesellt, da die Welt gerade eh verrückt zu spielen scheint – und da will man wenigstens nicht die*der Letzte sein, beim scheinbar allgegenwärtig hereinbrechenden Schlußverkauf. Wäre doch auch blöd, noch länger zu warten. Und dann noch dazu all diese kleinlichen Hindernisse und Regularien, die eine eigentlich ganz einfache Sache bloß unnötig kompliziert machen. So etwas haben sich vermutlich Kommunisten ausgedacht, Ökofreaks oder anderweitig feministisches oder gar queer–anarchistisches Volk. Egal. Ich will jetzt eine*n weitere*n Partner*in! Und ich will dann auch sofort Sex. Was ich nicht will ist, zuvor über lästige Gegengründe wie Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit (allein schon dieses Wort ^^!) nachzudenken, zum Teufel damit, ich komme andernfalls ja überhaupt gar nicht zum Zug. Sonst wird wieder alles zerfasert, zerdacht und kaputtdiskutiert. Wer etwas will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Und all das hat unserem Glück nun wirklich lange genug im Weg gestanden, nicht länger: Heute sind wir mal dran!
Auch so eine Herangehensweise kann man in der Welt der Nicht-Monogamie versuchen. Und das wird auch getan, gar nicht so selten, was gesellschaftlich und medial seinen Teil dazu beiträgt, Mehrfachbeziehungsformen wie der Polyamory einen ausdauernd zweifelhaften Ruf zu bescheren. Vor allem aber läßt es sowohl bei den Betreiber*innen solcher „Brechstangen-Strategien“ wie auch bei denjenigen, die unversehens Teil eines solchen Handelns wurden, Frustration und oft dazu eine Reihe gebrochener Herzen zurück: „Mehrfachbeziehungen? Das ist nur Kuddelmuddel, ständige Irritation und Schmerz, habe ich probiert, klappt eh nicht…!“
Funktionierende Demokratien und ethische Mehrfachbeziehungen, wie die Poly- oder Oligoamory scheinen sich demnach offenbar mit ähnlichen Problemen herumzuschlagen. Sogar im argumentativen Diskurs. Was ist da los?
Ich möchte mich an einer Antwort versuchen – natürlich vor allem in Sachen Mehrfachbeziehungen. Aber dabei gibt es zur Demokratie immer wieder Parallelen, was in der Natur der Sache liegt.
Denn z.B. ist die 1990 von der paganen Priesterin und Feministin Morning Glory Zell-Ravenheart formulierte „Polyamory“ ja eigentlich noch gar nicht so alt, um romantischen Verhältnissen zwischen mehr als drei Personen eine „Beziehungsverkehrsordnung“ mit auf den Weg zu geben. Fun fact: Das Wort „Beziehungsverkehrsordnung“ benutzte Morning Glory quasi wortwörtlich in jenem allerersten Text, in dem zum ersten Mal im modernen Kontext das Wort „polyamor“ auftauchte¹ – im Englischen war es die Phrase „Rules of the Road“, welche eben genau als technischer Term auch für das im Deutschen verwendete Wort „Straßenverkehrsordnung“ steht.
Hätte es nicht ausgereicht, bei der „Freien Liebe“ zu bleiben, die aus der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hervorgegangen war? Damals eine Anti-Establishment-Bewegung, die mit verstaubten moralischen Regeln brach, die zur Selbstermächtigung der Beteiligten aufrief und dadurch auch das Streben nach unmittelbarer körperlicher und seelischer Bedürfnisbefriedigung zum Anerkenntnis und zur Berechtigung aller Menschen erklärte. Von den Blumenkindern auf den Straßen San Franciscos fast schon eine ur-US-amerikanische Agenda: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ (engl.: „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“²). Genau jene Prinzipien übrigens, von denen z.B. aktuell auch Donald Trump sagt, daß er diesen in den USA wieder „mehr Geltung“ verschaffen will…
Mit verstaubten Regeln zu brechen, überkommene Ansichten zu revolutionieren und Menschen zu berechtigen ist großartig und hat seine ganz eigene Kraft. Ohne diese Revolution in den 60ern und 70ern hätten Menschen es vermutlich weiterhin noch lange Zeit nicht gewagt, von da ab mutiger ihre Sexualität und ihr Leben in verschiedenen Beziehungsformen zu erproben.
Etwas mehr als 20 Jahre später führte genau dieses Erproben zu erweiterten Erkenntnissen: Allein Menschen zu berechtigen, ist nur ein Teil einer Erfolgsgeschichte. Das ist quasi ikonisch an einer der ältesten „Berechtigungen“ der Menschheit abzulesen – womit ich in der Bibel aus dem 1. Buch Mose (Genesis), Kapitel 1, Vers 28 meine, der lange Zeit als „Macht euch die Erde untertan und herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier…“ übersetzt und verbreitet wurde. Was nach und nach zu einer „Selbstbedienungsmentalität“ an unserem Planeten führte, mit deren Folgen wir nun im 21. Jahrhundert auf das Dramatischste konfrontiert sind… Denn wenn erst auf diese Weise aus Berechtigung und Selbstermächtigung irgendwann oft genug ein autoritär-trotziges „Jetzt bin ich aber mal dran…!“ abgeleitet worden ist, dann liegt auf der Hand, daß es eines Tages vermutlich nichts mehr geben wird, was noch ge- oder verteilt werden kann.
Knapp 20 Jahre nach der „sexuellen Revolution“ zeigte also nicht nur unser Planet erste deutliche Gebrauchsspuren, sondern auch viele Beziehungsexperimente bewiesen, daß der Faktor „Nachhaltigkeit“ dringend einen Platz in der Gleichung benötigte.
Und „Nachhaltigkeit“ kommt bekanntlich in zwei Stufen:
►Die erste Stufe ist die Wahrnehmung dessen, daß eine lediglich entfesselte Selbstbedienungsmentalität sich selbst nach und nach die Existenzgrundlage entziehen wird. Eine Revolution, die einst aus guten Gründen begonen hatte, wird sich am Ende selbst verzehren, wenn sie schließlich ihre letzten Grundlagen durch Überheblichkeit und Selbstsucht vernichtet hat. Ressourcen müssen also verwaltet und aufgeteilt werden, damit ein möglichst großer Mehrwert für alle, die daran Anteil haben wollen, erhalten bleibt. Letzteres Prinzip ist in der Ökologie so wichtig wie in gesunder Beziehungshygiene: Egotripping und intransparentes Handeln, um sich so auf Kosten der Anderen einen Vorteil zu verschaffen, beschleunigen den Weg in den Abgrund (auch wenn dieser für die, die rein eigennützig handeln, noch bis kurz vor dem Ende recht bequem erscheinen mag…).
►Die zweite Stufe war es vermutlich, die Morning Glory dazu bewegte, über ein Modell wie die „Polyamory“nachzudenken: Um anhaltende Funktionsfähigkeit und Langfristigkeit zu gewährleisten, muß Selbstermächtigung um den Schutz von Ressourcen und um Schutzrechte zu Gunsten der eigenen Integrität erweitert werden. Oh! Denn genau dieser Moment war es, in dem es mit den „einfachen Antworten“ der ursprünglichen Revolution vorbei war. Aus: „Klar kannst Du soviele Partner*innen haben, wie Du willst und Sex haben, mit wem und so oft du dabei willst…“ wurde in diesem Moment „…aber die anderen Beteiligten sind dabei ebenfalls als ganze Individuen wahrzunehmen und zu hören, sie haben eigene Rechte wie du selbst – und bei einem Ganzen, von dem du profitieren möchtest und an dem du teilhaben willst, bist du gebeten im Gegenzug beizutragen, damit alle Mehrwert erleben und die Sache so ausgeglichen wie möglich bleibt.“ Spätestens mit dieser Erweiterung fand sich das Wörtchen „ethisch“ zu dem Wort „Mehrfachbeziehung“, was nun alle bekannten Werte, insbesondere Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit – aber dazu eben noch Berechenbarkeit, Wechselseitigkeit, Einvernehmlichkeit und ein Bemühen um Langfristigkeit versammelte.
„Gleich wieder so kompliziert…“, so höre ich es in den USA und in Deutschland seufzen. Dürften wir uns nicht wenigstens einmal der Zusage hingeben, daß wir das, was wir anstreben auch schlicht und einfach erhalten können, ohne ein Zuviel an Regularien?
Meine persönliche Antwort lautet: Nein, ich glaube nicht. Ein „Ja!“ wäre natürlich an dieser Stelle so schön und einfach – aber meiner Meinung nach wäre es an eben dieser Stelle nicht ehrlich, wenn man es in Aussicht stellen würde.
„Früher, wenn sich die Gelegenheit bot, hat man einfach zugegriffen, da hat man nicht viel gefragt, einfach gemacht…“ Ok, da waren wir am Anfang schon: Genau, es ist dieses „Versprechen“ von Einfachheit, was so verführerisch wirkt, schnell zur Bedürfnisbefriedigung (welcher Art auch immer) zu gelangen. Wodurch das, was ich oben mit etwas Augenzwinkern „Regularien“ oder „Werte“ nenne, als unglaublich hinderlich, kompliziert und damit als negativ wahrgenommen wird, weil es dem direkten Weg zum schon vermeintlich sichtbaren Ziel im Weg zu stehen scheint.
Ihr Leute: Genau das ist die Illusion, die heute u.a. populistisch so stark strapaziert wird: a) Es sei bloß dieser unnötig „komplizierte Kram“, der uns von der Verwirklichung unseres direkten Glücks trennt. Wäre der fort, hätten wir es uns ja sogleich auf das Vortrefflichste erfüllt. Und dazu: b) Nach und nach ist alles zusätzlich immer komplizierter gemacht geworden, um uns auf jeden Fall davon abzuhalten, jemals überhaupt unser Glück erreichen zu können (plus Schuldzuweisung, setzen sie hier eine ursächliche Gruppierung ihrer Wahl ein).
Und das ist eine schlimme Verdrehung der Tatsachen. Denn jene „Regularien“, jene Werte, sind wesensgemäß eine sehr gute Sache – und es ist fantastisch, daß sie existieren und von vielen mutigen Menschen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zusammengetragen wurden.
Die Weltgesellschaft – und auch die Gesellschaft derjenigen, die sich wünschen, in Mehrfachbeziehungen zu leben – benimmt sich mittlerweile immer häufiger wie eine Person, die auf eine solidarische Krankenversicherung pfeift, weil sie ja eine robuste Gesundheit hat und stets bei vollen Kräften ist. Was aber ist, wenn wir das selber einmal nicht sind? Was ist in dem Moment, in dem wir es sind, die Schutz bedürfen? Wenn wir darauf angewiesen sind, um überhaupt wieder auf die Füße zu kommen? Wenn wir dabei dazu noch auf die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung angewiesen sind, daß diese uns Raum dazu gewähren – in einem Moment, in dem wir selbst nicht die Kraft hätten, einen solchen aufrechtzuerhalten?
Damit will ich sagen: Richtig, die Werte von ethischen Mehrfachbeziehungen sind kompliziert. Sie haben auch komplizierte Namen – und ihre Inhalte sind komplex, z.T. anspruchsvoll. Was dazu führen wird, daß sie im Alltag diskutiert werden, gelegentlich obendrein kontrovers. Was wiederum für die eigene Wahrnehmung bedeuten kann, das mancher schnell geglaubte Weg zum erhofften Ziel erst einmal wegen dieser Bedingungen ein „Stop!“ erhalten kann.
„Früher konntest Du an jeder Ecke eine Imbißbude aufmachen… Und mit viel ehrlicher Arbeit hattest Du es nach ein paar Jahren geschafft. Heute brauchst Du in deiner Bude fließend kaltes und heißes Wasser, vor dem Frittenfett muß ein Schutzgitter sein – und wenn du gar jemanden einstellst, dann mußt du für den auch noch Sozialabgaben zahlen…“ Boah! Voll kompliziert, früher war alles besser – heute ist das alles schlechter…
Nein. Eben genau nicht. Ok, heute darfst du dich immer noch selbst ausbeuten – aber mit deinen Angestellten geht das eben nicht mehr so einfach. Das Gitter soll dich und deine Mitarbeiter vor Unfällen schützen, das heiße Wasser deine Kunden vor Magenverstimmung und dich damit vor Schadensersatzforderungen. Genau mit solchen obigen Argumentationen kann man aber positive Errungenschaften zu Hindernissen erklären, zu „Überflüssigkeiten“, die es zum verheißenen Erfolg doch gar nicht braucht.
Wenden wir das auf unsere Beziehungen (und unsere Demokratien) an, so möchte ich sagen, daß wir es durchaus manchmal persönlich bedauern können oder als frustrierend empfinden mögen, wenn unser Weg zum Ziel durch andere Belange nicht so geradlinig verläuft, wie wir es gerne hätten. Diese „Belange“ betreffen aber fast immer andere Menschen bzw. unsere unmittelbare Gemeinschaft, von der auch wir ein Teil sind. Und im Umkehrschluß heißt das eben auch, daß beim nächsten Mal wir es sind, die davon profitieren werden, wenn jemand anders nicht einfach unsere persönliche Integrität als Abkürzung durchschneiden kann, bloß weil diese ihrem*seinem Ziel im Weg zu sein scheint. Und so etwas geschieht eben ja auch nicht immer nur dann, wenn wir – analog zu obigem Krankenkassenbeispiel – gesund und wehrhaft sind, sondern eben auch einmal, wenn wir Schutz, Wertschätzung, Solidarität, Verbundenheit oder etwas Freundlichkeit benötigen, schlicht weil wir ein (mit)menschliches Wesen sind.
Ethische Mehrfachbeziehungen und Demokratien sind sich in diesen Eigenschaften also sehr ähnlich – und es liegt an uns allen, beides zu schützen. Denn auch der Gegenwind, der sich von Zeit zu Zeit erhebt – und teils heftig tobt – ist etwas, womit die zwei regelmäßig konfrontiert sind.
Wahlen (persönliche und nationale) gehen mit anderem Ergebnis aus, als wir uns das wünschen, Koalitionen und Beziehungen zerbrechen, Partner*innen finden nicht zusammen. Manchmal ist es mühevoll, zeitweise niederschmetternd, gelegentlich fühlen wir uns von der Welt – aber auch von unseren allernächsten Mitmenschen – trotz oder wegen unseres Engagements für die ethische aber darum eben kompliziertere Antwort abgelehnt und glauben deswegen vielleicht sogar, versagt zu haben.
In der US-amerikanischen Krimiserie „Castle“ (Staffel 4, Folge 3 „Kopflos“) ermutigt der Protagonist Richard Castle (dargestellt von Nathan Fillion) seiner Tochter Alexis mit folgenden Worten: „Ablehnung ist kein Versagen.“ Woraufhin sie erwidert: „Es fühlt sich aber wie Versagen an.“ Und er antwortet: „Nein, Aufgeben ist Versagen. Jede*r wird mal abgelehnt. Wie man damit umgeht bestimmt, was aus einem wird.“
¹ Das originalsprachige Dokument aus der Zeitschrift „Green Egg“ von 1990 befindet sich z.B. HIER als Quelle [Englisch]
Der fürstliche Sänger ist zutiefst unglücklich. Er schreitet durch den Ballsaal und läßt die ganze Welt an seiner Qual teilhaben, indem er singt:
»Ich will meine Ungebundenheit nicht Es gibt keinen Grund mehr zu leben Mit einem gebrochenen Herzen!
Dies ist eine verfahrene Situation: Ich habe nur mir selbst die Schuld zu geben Es ist eine einfache Tatsache des Lebens Es kann jedem passieren… Du gewinnst, du verlierst Es ist ein Risiko, das man in der Liebe eingehen muss Oh, ja, ich hatte mich verliebt Aber jetzt sagst du, es ist vorbei und ich zerbreche
Es ist ein mühevolles Leben Zusammen wahre Liebende zu sein Für immer zu lieben und zu leben Im Herzen des anderen Es ist ein langer, harter Kampf Zu lernen, füreinander zu sorgen Einander zu vertrauen Gleich von Anfang an Wenn du verliebt bist
Ich versuche, die Scherben zu kitten Ich versuche, die Tränen zurückzudrängen Es heißt, es sei „nur ein Gemütszustand“ Aber es passiert jedem… Wie weh es tief im Inneren tut Wenn deine Liebe dich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt hat Das Leben ist nicht leicht, auf sich allein gestellt Jetzt warte ich auf etwas, das vom Himmel fällt Ich warte auf die Liebe
Ja, es ist ein mühevolles Leben Wahre Liebende vereint Für immer zu lieben und zu leben Im Herzen des anderen Es ist ein langer, harter Kampf Zu lernen, füreinander zu sorgen Einander zu vertrauen Gleich von Anfang an Wenn man verliebt ist
Ja, es ist ein mühevolles Leben In einer Welt, die voller Kummer ist Da gibt es Menschen, die nach Liebe suchen Auf jede erdenkliche Weise Es ist ein langer, zäher Kampf Aber ich werde immer für morgen leben Ich werde auf mich zurückblicken und sagen Ich tat es für die Liebe… Ja, ich tat es für die Liebe – für die Liebe… Ooh, ich tat es für die Liebe!«
Was ihr gerade gelesen habt, ist der von mir ins Deutsche übersetzte Songtext¹ der Ballade „It’s a Hard Life“ der berühmten britischen Rockband „Queen“, welche 1984 von deren genialem Hauptsänger Freddie Mercury sowohl geschrieben als auch erstmals vorgetragen wurde. In dem Lied sind jede Menge Merkmale des „romantischen Narrativs“ verpackt – von der Selbstaufopferung (siehe Eintrag 34), die man auf sich nehmen sollte, wenn man eine Liebesbeziehung eingeht, über die komplette Sinnstiftung durch die andere geliebte Person, die dann dem Leben einen Grund gibt, bis hin zu dem alles verzehrenden Schmerz, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Und auch das glücksspielartige Verlangen, um der eigenen Erfüllung halber es daher alsbals erneut in Sachen „romantischer Liebe“ zu versuchen, klingt am Ende an…
Eine Elegie, ein Lamento, eine Wehklage – und damit eigentlich schon eine Art Gebet um Erlösung von diesem gerade erfahrenen Schmerz – hat uns der aus Sansibar stammende, britische Dichter auf diese Weise dargebracht. Und so viele von uns, die es seit damals hörten und heute noch hören, können sich gut in diese Klage und dieses Flehen hineinversetzen.
Anrufungen und Klagelieder rund um die unglückliche Liebe scheint es seit Menschengedenken zu geben – aber muß uns diese Pein selbst im 21. Jahrhundert, welches uns doch eine zunehmende bunte Vielfalt an Beziehungsformen und -philosophien gebracht hat, denn stets immer noch so arg und mit voller Wucht treffen? Hat daher womöglich die „romantische Zweierbeziehung“ ausgedient – und würde uns weniger Leid und mehr Gleichmaß widerfahren, wenn wir stattdessen eher „pragmatische Zweierbeziehungen“ führten? Nüchterner eben, ganz ohne romantische Verflechtungen – aber dafür wenigstens zufriedener…?
Ein überraschend frische Erklärung für das, was unserer Beziehungsharmonie eigentlich vor allem im Weg steht – und welche gedanklichen und praktischen Schritte nachzuvollziehen günstig wären, um unser Liebesglück zu genießen, lieferte vor erst einem Monat einmal mehr die große Dame der Beziehungs(dynamik)forschung, Esther Perel.
Fast als hellseherische Antwort auf mein zu Anfang übersetztes „Gebet“ aus der Feder Freddie Mercurys verdeutlichte sie im Gespräch mit dem New York Times Autor und Podcaster Lewis Howes am 18.September 2024²:
»Dein „Seelengefährte“ war früher Gott, kein Mensch. Also das „Eine und Einzige“ war damals das Göttliche. Und mit diesem „Einen und Einzigen“ will ich aber heute Ganzheit und Ekstase und Sinn und Transzendenz erleben. Und ich werde darum noch zehn Jahre länger warten… Wir warten zehn Jahre länger, um uns auf jemanden einzulassen, um uns gegenüber jemandem verbindlich zu erzeigen. Also diejenigen von uns, die sich für einen „Jemand“ entscheiden… Und wenn ich länger warte, wenn ich mich umsehe und unter tausend Menschen wähle, die ich gerade zur Verfügung habe, dann, sei versichert, sollte derjenige, der meine Aufmerksamkeit erregt, derjenige, für den ich meine Apps löschen werde, besser der „Eine und Einzige“ sein! In einer Zeit, in der sich die Auswahl an Möglichkeiten vervielfacht, haben wir gleichzeitig einen beispiellosen Anstieg der Erwartungen an eine romantische Beziehung. Wir haben noch nie so viel von unseren romantischen Beziehungen erwartet wie heutzutage in der westlichen Welt. Das ist ein enormer Druck: Wir brechen unter der Last dieser Erwartungen zusammen, denn eine ganze Gemeinschaft kann nicht zu einem Stamm von bloß zwei Personen schrumpfen. Dies (Gespräch hier z.B.) ist eine Party für zwei. Und mit dir (Lewis) und mir zusammen sollen wir nun beste Freunde, romantische Partner, Liebhaber, Vertraute, Eltern, intellektuelle Egos, Karrierecoaches etc. miteinander werden… Also, was immer man will. Und ich denke mir: „Ernsthaft!? Eine Person für alles? Eine Person anstatt eines ganzen Dorfes?“ Das ist also der erste Mythos. Und die Vorstellung von bedingungsloser Liebe, die damit einhergeht, ist, dass, wenn wir dieses „Eine und Einzige“ haben, ich das erlange, was du „Klarheit“ nennst, aber eigentlich eher in der Bedeutung von Gewissheit, von Frieden und Freiheit, also quasi Sicherheit. […] Erhalte (stattdessen) eine Gemeinschaft um dich herum. Pflege tiefe Freundschaften, wirklich tiefe Freundschaften, tiefe Vertrautheit mit Partnern, mit Freunden, mit Mentoren, mit Familienmitgliedern, mit Kollegen! Das Wichtigste für mich, um gute Beziehungen zu gestalten, ist eine breite Vielfalt zu schaffen. Bei manchen Menschen mag das die Sexualität einschließen – bei der großen Mehrheit nicht. Denn die wichtige Erkenntnis ist, dass es nicht „die eine Person“ für alles gibt und dass dies auch nicht bedeutet, dass ein Problem in eurer Beziehung existiert, wenn dies der Fall ist. Der zweite Punkt [der zweite Mythos] ist, dass man aufhören muss, die Menschen ständig als Produkt zu betrachten, indem man sie bewertet – und sich dadurch ebenso selbst bewertet. Denn in unserer Marktwirtschaft ist alles ein Produkt geworden, auch wir selbst. Und so scheint das „Verlieben“ zu dem Moment geworden zu sein, in dem die Bewertung des Produkts aufhört: Endlich ist man genehmigt, wenn man erwählt wurde und wenn man seinerseits eine Wahl getroffen hat.«
Wow, Frau Perel! Diese wenigen Interviewzeilen sind für mich nahezu eine oligoamore Offenbarung, da sie viel von dem noch einmal bündeln, was ich selbst an verschiedenen Stellen in diesem bLog zusammengetragen habe. Die wichtigste Botschaft daran ist für mich, daß wir uns die „verfahrene Situation“, die Freddie Mercury besingt, einerseits mit unserer Erwartungshaltung – aber auch andererseits mit unserer Abhängigkeitshaltung selbst bereiten. Immanuel Kant, der „Vater der Aufklärung“, wäre vermutlich ebenso fassungslos, denn nicht die Fähigkeit, uns unseres Verstandes zu bedienen³, soll uns demzufolge heutzutage aus unserer selbstverschuldeten Abhängigkeit befreien – sondern die „romantische Liebe“ zu einer anderen Person. Wobei das mit der „selbstverschuldeten Abhängigkeit“ so eine Sache ist, denn Esther Perel weist ja ebenfalls wie ich in meinen oligoamoren Überlegungen darauf hin, daß wir derzeit an einer Gesellschaftsform teilhaben, die sehr stark die Vereinzelung des Individuums und dessen Bewertung nach Leistungskriterien vorantreibt. Die romantische Verbindung zu einem anderen Menschen wird dadurch oft mit der weiteren Bürde belastet, als Beweis dafür herhalten zu müssen, daß wir es jenseits von Anspruch oder Leistung dennoch wert sind, um unserer selbst willen geliebt zu werden… Sollte es dann im Beziehungsgebälk knirschen – oder steht gar die Auflösung einer Beziehung im Raum (von der wir ja nach den momentanen Mehrheitsregeln möglichst nur „eine und einzige“ romantischer Art unterhalten dürfen!), sei es im besten Fall wegen „Neigungswechsel“ oder im schlimmsten Fall wegen vorgefallener Illoyalitäten – dann fallen wir so tief, wie es oben in „It’s a Hard Life“ beschrieben steht: Wir zerbrechen innerlich; unser Existenzgrund, der Sinn unseres Lebens daselbst, ist in Frage gestellt. Und in einem sind sich Freddie Mercury und Esther Perel dann einig: Haben wir uns einem System unterworfen, welches nach diesen Regeln funktioniert, bleibt uns nur das erneute Hoffen auf etwas „das vom Himmel fällt“, in etwa wie ein Lottogewinn, zu dessen Zustandekommen man außer durch den Loskauf mit so gar keiner Art von eigener Initiative auch nur irgendetwas beitragen könnte… Erwartung und Abhängigkeit – eine Spirale, der wir nicht entrinnen können.
Aber weder wäre Freddie Mercury der geniale Songschreiber, der er war, noch Esther Perel die kluge Kennerin menschlicher Liebespsychologie, wenn nicht beide noch wesentlich mehr Botschaft in ihren Beiträgen untergebracht hätten.
Zunächst Meister Mercury, der die Eingangskadenz seines Songs mit den ersten Takten von „Ridi, pagliaccio!“ des italienischen Komponisten Ruggero Leoncavallos beginnt (die Melodie ist in Deutschland besser in der Version „Lache, Bajazzo!“ aus der zugehörigen Oper „Der Bajazzo“ bekannt – daraus ist quasi ein geflügeltes Wort entstanden und beschreibt eine Situation, in der einer Person zum Weinen zumute ist und stattdessen dennoch eine „frohgemute Fassade“ nach außen zeigen muß…): Obwohl die Machart des Songs und des dazugehörigen Videos es oberflächlich anders vermuten lassen – das lyrische Ich wurde verlassen, es leidet, es hat hohe Ideale in Sachen Liebe, die (wiedereinmal) von anderer Seite enttäuscht wurden… – befindet es sich vielmehr in genau dem „selbstverursachten“ Teufelskreis („du gewinnst – du verlierst“), den ich zuvor beschrieben habe. Freddie Mercury wollte also der Welt nicht einfach nur eine weitere melodramatische Liebesballade schenken – er war sich jener doppelbödigen Tatsache innerhalb seiner Komposition offensichtlich sehr genau bewußt und hinterließ einige subtile Hinweise, was sein eigentliches „Thema hinter dem Thema“ war. Als Autor dieses bLogs (und daselbst bekennender Romantiker) freue ich mich in dem Queen-Song insbesondere an dem Refrain, in dem Mr. Mercury nichtsdestoweniger die Werte aufscheinen läßt, auf die es gleichwohl ankommt: Füreinander loyal einzustehen, Fürsorge und Rücksichtnahme aufeinander – und das basierend auf gewachsenem Vertrauen ineinander (da höre ich die Wissenschaftler Cohen, Underwood und Gottlieb aus dem letzten Absatz in Eintrag 14 – oligoamores Stammkapital!).
Womit Esther Perel ins Spiel kommt, an deren Veranschaulichung mir besonders gefiel, daß sie zwar in bester oligo- und polyamorer Weise zu einer dringenden „Diversifizierung“ des eigenen „Beziehungsportfolios“ riet – aber dabei ganz ohne den sonst so häufig in polyamoren Kreisen stereotyp zu hörenden Hinweis auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung auskam (Damit meine ich das Pseudoargument, daß ja „niiiiiiiiie nur eine Person alle Bedürfnisse eines anderen erfüllen könne“ – und man allein schon darum mehrere romantische Beziehungen führen müsste… Meine explizite Kritik daran siehe Eintrag 85). Es wäre auch ein Leichtes, ihre Ausführungen in dieser Art zu (miß)verstehen – womit wir uns sofort in der von ihr kritisierten „Selbstbewertungsfalle“ wiederfinden würden – da wir in dem Fall ja der Anderen „bedürftig“wären, um uns als „ganz“ erleben zu dürfen (und die Verzweiflungsbotschaft aus „It’s a Hard Life“ hätte gewonnen…). Das ist es nämlich nicht, worauf die streitbare Beziehungsforscherin mit ihrem Plädoyer hinauswollte. Esther Perel geht es um einen ganz wichtigen sowohl philosophischen wie humanistischen, sowohl queeren wie auch oligoamoren Grundsatz: Die (Selbst )Ermächtigung. Exakt diese Selbstermächtigung wäre genau die beste Medizin gegen die zwei verhängnisvollen Seiten der selben unglücklichen Liebes-Medaille: Abhängigkeit und Erwartung. In Sachen Beziehungsgestaltung ruft Frau Perel daher zu eigener, bewußter Proaktivität auf. Was für mich ebenfalls implizit den Hinweis darauf enthält, unsere gewachsenen oder bestehenden Beziehungen auf ihren Selbstermächtigungsgrad hin noch einmal zu untersuchen: In welchen Beziehungen darf ich als ganze Persönlichkeit bestehen – vereint mit der Flexibilität und dem Nicht-Anspruch, darin ein „Passepartout“ für jeden Zweifels- und Verzweiflungsfall darstellen zu müssen? Indem Esther Perel aber auch ergänzt, daß es ihr trotz der „Diversifizierung“ auf Gemeinschaft, tiefe Freundschaft und innige Vertrautheit als Maßstab für gesunde Beziehungen ankommt, greift sie Freddie Mercurys Loyalität, Berücksichtigung und Verbundenheit auf, die immer wieder im Refrain von „It’s a Hard Life“ anklingen – wodurch sowohl der Künstler als auch die Wissenschaftlerin in dem Verständnis davon, was die „Kernwährung“ echter Beziehungen auf Augenhöhe ist, übereinstimmen. Und beide stimmen eben auch darin überein, daß unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen wie Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treiben können, wenn wir uns unhinterfragt einer normgesellschaftlichen Erwartung überlassen, die in der Sache gute Ideale mittlerweile vor einen seltsam schrillen Karren spannt, um uns zu unrealistischen Leistungen sogar in unseren intimen romantischen Beziehungen anzutreiben – im Gegenzug für die Verheißung nach menschlichen Maßstäben nicht erfüllbarer Gratifikationen.
Bewundernd sitze ich heute also sowohl vor dem 40 Jahre alten Songtext eines viel zu früh verstorbenen Genies als der auch vor der wenigen Wochen ausgesprochenen Lebenserfahrung einer aufmerksamen Beziehungs- und Menschenkennerin. Das oligoamore Universum – es dreht sich und dehnt sich dabei aus, wie sein großes Vorbild. Ich bin erneut dankbar, dabei zu sein!
¹ Der Songtext von „It’s a Hard Life“ im englischen Original HIER auf Genius – übersetzt von mir mit Hilfe der deepL-KI
² Lewis Howes in seiner Reihe „THE SCHOOL of GREATNESS„ im Gespräch mit Esther Perel am 18. Spetember 20124: „Relationships Have CHANGED Forever“ als Auszug Englisch mit deutschen Untertiteln z.B. auf Facebook.