Eintrag 112

Falsch verbunden?
#Noamory

Die Zahlenkombination 112 steht in Deutschland und vielen Staaten Europas für genau die Nummer, mit der ein telefonischer Notruf getätigt werden kann. Daher halte ich es für sehr passend, mit meinem 112. Eintrag Terrain zu betreten, der mit den leiseren und lauteren Alarmzuständen im Reich ethischer Mehrfachbeziehungen zu tun hat.
Denn so, wie es natürlich viele gute und sogar wunderschöne Gründe für das Entstehen solcher Vielfach-Partnerschaften gibt, gibt es leider auch manche, die ungünstig oder womöglich mittelfristig zerstörerisch sind.

Wie in allen romantischen Nah-Beziehungen geht es auch in Mehrfachbeziehungen grundlegend um Verbindung zwischen Menschen. Daher ist es wichtig, genau dieser Basis bereits Aufmerksamkeit zu widmen: Wie sehen diese Verbindungen aus – und warum gehen wir sie ein – bzw. warum tun wir es manchmal nicht?
Maßgebliche wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es dazu seit dem Jahr 1940, als der britische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby den Grundstein für das legte, was später schlicht als „Bindungstheorie“ bekannt wurde, welche von zahlreichen Psycholog*innen und Verhaltensforscher*innen bis in die Jetztzeit hinein immer wieder erweitert und verfeinert wurde. Bowlby selbst verschriftlichte seine wichtigsten Erkenntnisse – um die es auch heute in diesem Eintrag gehen wird – zwischen den Jahren 1969 und 1980, die sich vor allem darum als maßgebend etablierten, weil es der US-amerikanisch-kanadischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth parallel dazu gelang, seine Befunde anhand praktischer Beobachtungen in zwischenmenschlichen Beziehungen zu bestätigen.

John Bolby war Kinderarzt und Kinderpsychater, so wie Mary Ainsworth Feldforscherin hinsichtlich der Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung war. Beide Persönlichkeiten untersuchten also zunächst menschliches Bindungsverhalten an seiner buchstäblichen Basis, der allerersten Beziehung, die jedes Menschenlebewesen eingeht, quasi noch vor seiner Geburt: Die Verbindung zur Mutter.
Daß wir allerdings von ihren Erkenntnisse heute hier auf einem bLog über ethische Mehrfachbeziehungen lesen und ihr gewonnenes Wissen nicht nur medizinisch-pädiatrischen Fachkreisen vorbehalten blieb, verdanken wir dem faszinierenden Umstand, daß wir Menschen „lernende Wesen“ sind. Lernende Wesen, so erkannten nämlich Bowlby und Ainsworth, die mittels dieser „ersten aller Beziehungen“ Wesentliches hinsichtlich jeder ihrer darauffolgend aufgenommenen Beziehungen verinnerlichen würden.
Konkret (und so freudig wie gruselig): Die Art der frühkindlichen Bezugspersonen-Kind-Bindung* beeinflußt maßgeblich unser aller Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter.

Nach diesem Satz habe ich länger überlegt, ob ich den folgenden Disclaimer an dieser Stelle oder erst am Ende meines heutigen Eintrags schreiben sollte. Ich glaube, nach einem solchen Satz ist es im Zweifel gut, etwas Spannung zu reduzieren – und darum sogleich dazu zwei Dinge:
Zum einen: Fortgesetzte Forschung erwies, daß in einer durchschnittlichen menschlichen Biographie viele Mischformen und Grautöne entstehen, die der gleich folgenden Typenlehre zahlreiche Facetten hinzufügen, so daß ein bestimmer Bindungstyp kein lebenslängliches Aburteil darstellt.
Denn zu anderen – und das ist gewisermaßen die richtig gute Nachricht: Bindungsverhalten kann sich verändern und kann aktiv verändert werden – mit der wichtigen Voraussetzung, sich des momentanen (erlernten) Bindungsverhaltens und dessen Konsequenzen bewußt zu werden.

Wenn es um Erwachsene ging, gehörte die Bindungstheorie viele Jahre lang zu den Werkzeugen von wissenschaftlich aufgeschlossenen Paartherapeut*innen und Beziehungs-Coaches. Deren Dienste wiederum wurden und werden in monogamen Beziehungen nach wie vor zu allermeist im „Un“-Fall – oder wie ich zu Beginn dieses Eintrags schrieb, im „Not“-Fall aktiviert. Unter Zuhilfenahme von Beschreibungen der Betroffenen oder durch eigene Beobachtungen deren Dynamiken im Umgang miteinander war und ist es so möglich, eventuelle Problematiken innerhalb einer Beziehung dem jeweiligen Bindungsverhalten der beteiligten Parteien zuzuordnen. Therapeut*innen und Coaches – aber auch die Forschung – konnten so ebenfalls etwas mittlerweile gut Bekanntes identifizieren: Warum sich bestimmte Muster sowohl im Verhalten als auch bei der Partner*innenwahl regelmäßig wiederholten – und in dieser Art teilweise zu einem stets erneuten Erleben scheinbar gleicher Konflikte führt(e).

Wo und warum kommen hier aber nun die Mehrfachbeziehungen, die Oligo- oder Polyamory, ins Spiel? Wenn es dort Beziehungsprobleme gibt, könnte man sich doch auch schlicht an eine Hilfsperson wenden, die dem entsprechenden Beziehungsmodell gegenüber offen wäre?
Oder bieten Mehrfachbeziehungen noch andere Herausforderungen, jenseits eines monogamen Rosenkriegs?
Als Autor dieses bLogs meiner Ansicht nach ja, wobei ich das Wort „Herausforderungen“ nicht ganz zutreffend finde, sondern es vor allem als eine Auswirkung der erweiterten Dimension der Mehrfachbeziehungen halber bezeichnen würde.
Genau diese „erweiterte Dimension“ gibt es in der Monogamie meistens nicht: „Ob“ bzw. „warum“ ein Paar zusammenkommt, wird selten in Frage gestellt, speziell, wenn die beiden Hauptbeteiligten erst einmal offensichtlich erfolgreich gemeinsam starten.

Auch bei Mehrfachbeziehungen gibt es diesen „gemeinsamen Start“, wenn sich z.B. bei mehreren Beteiligten zu einem ungefähr gleichen Zeitpunkt ein Begehren hinsichtlich all der anderen ebenso Beteiligten regt.
Allerdings gibt es auch den noch wahrscheinlicheren Fall, daß es bereits wenigstens ein Paar oder eine Gruppe gibt, zu dem oder der irgendwann eine oder mehrere andere Person(en) dazukommen.
Genau da läge dann ja der Spezialfall der „Mehrfach“-Beziehung: Ist es möglich, mehr als EINE andere Person zu lieben und gleichzeitig mit diesen in romantischer Verbindung zu sein?

Die auch in diesem bLog auf der Hand liegende Antwort lautet natürlich „Ja“ – jedoch ist die Form der emotionalen, rationalen und sozialen Rechtfertigung eine noch sehr andere als bei den normgesellschaftlich etablierten Zweierbeziehungen der Monogamie (bei denen das bloße „Zusammenkommen“ allein eben meist kein zu hinterfragendes Faktum ist).

Für ethische Mehrfachbeziehungen stellt sich aber genau auch diese Frage – und auch die Beteiligten, glaubt mir, stellen sie sich gelegentlich selbst: Dürfen die das? Und wenn ja – was treibt sie dazu, mehrere romantische Partnerschaften zugleich zu führen?
Die besten Antworten darauf wären selbstverständlich „Selbstverständlich!“ sowie „Klar: Aus Liebe!“ oder „Na, weil sie alle zusammen miteinander sein wollen!“

Auch Herr Bowlby und Frau Ainsworth wären mit diesen Antworten höchst zufrieden, wie wir noch sehen würden. Aber.
Aber die Möglichkeit zum Führen von Mehrfachbeziehungen – und die mutigen Menschen, die sich auf diese Erfahrung einließen und einlassen – deckten nach und nach auf, daß hier im Zwischenmenschlichen durchaus noch weitere Antworten im romantischen Dickicht versteckt waren.

Denn seit die Feministin Morning-Glory Zell Ravenheart 1990 zum ersten Mal das Wort „polyamor“ für ethisch-nichtmonogame Beziehungen etablierte, gaben sich schließlich immer mehr Menschen die Erlaubnis, ihrem Vorbild zu folgen und sich tatsächlich „zu mehreren“ romantisch-intim zu verbinden. Im Laufe der Jahre werden sicher auch einige von ihnen bei Workshops oder anderweitigen Szene-Treffen möglichweise mit der Bindungstheorie nach Bowlby gearbeitet haben.
Meines Wissens nach war es aber erstmals die US-amerikanische Autorin Jessica Fern, die 2020 in ihrem Buch „Polysecure“ ¹ die Bedeutung unseres erlernten Bindungsverhaltens speziell für den polyamoren Kontext betonte. Und das eben auch gerade bezüglich der Frage des „Warums“, die auf die Ausgestaltung eines Mehrfachbeziehungsgeflechts erhebliche Auswirkungen haben kann.

Genug des bunten Rahmens, um verständlich zu bleiben deshalb hier nun endlich in superkonzentrieter Kurzform die vier „Bindungstypen“ nach John Bowlby.

Sicher gebunden (nach Bowlby Typ B)

Unsicher und ablehnend-vermeidend gebunden (Typ A)

• Unsicher und ängstlich-ambivalent gebunden (Typ C)

• Desorganisiert gebunden (Typ D)

Genug des Gruselkabinetts (ok, bis auf die soliden, sicheren Bindungen) möchte ich rufen – aber die Denkanstöße für ge- bzw. mißlingende ethische Mehrfachbeziehungen beginnen genau hier. Mit etwas Hilfe der englischen Wikipedia möchte ich die Auswirkungen der oben aufgeführten Bindungserfahrungen auf uns im Erwachsenenalter betrachten – inklusive der Art, wie wir uns zu romantischen Nahbeziehungen positionieren.

►Betrachten wir zuerst wieder als „unfallfreies“ Verhaltensmuster die sichere Bindung, denn solch ein sicherer Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein positives Selbstbild und ein positives Fremdbild verinnerlicht haben – was für Beziehungsaufnahme jeglicherArt schließlich grundlegend ist.
Sicher gebundene Erwachsene neigen dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Es fällt mir relativ leicht, anderen emotional nahe zu kommen.“
„Ich fühle mich wohl dabei, mich auf andere zu verlassen und dass andere sich auf mich verlassen.“
„Ich mache mir keine Sorgen darüber, allein zu sein oder dass andere mich nicht akzeptieren.“
Sicher gebundene Erwachsene haben daher in der Regel eine positive Einstellung zu sich selbst, zu ihren Bezugspersonen und zu ihren Beziehungen. Sie berichten oft von größerer Zufriedenheit und Eingebundenheit in ihren Beziehungen als Erwachsene mit anderen Bindungsstilen. Sicher gebundene Erwachsene fühlen sich situativ sowohl mit enger Intimität als auch mit Unabhängigkeit wohl.

Ok. Was soll ich da noch sagen? Ich denke, daß eine solche Person sich in jeder Beziehungsform, egal ob mono, oligo oder poly zuhause fühlen würde – und dabei wahrscheinlich obendrein eine gute und wertgeschätzte Figur abgäbe. Auch ihre Beziehungen könnten natürlich scheitern – aber wenn, dann nicht wegen der Art der Bindung.

►Ein unsicherer ablehnend-vermeidender Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die eine eher positive Sicht auf sich selbst, jedoch eine negative Sicht auf andere haben. Daher neigen die dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Ich fühle mich wohl ohne enge emotionale Beziehungen.“
„Es ist mir wichtig, mich unabhängig und selbständig zu fühlen.“
„Ich ziehe es vor, nicht von anderen abhängig zu sein oder dass andere sich auf mich verlassen müssen.“
Erwachsene mit diesem Bindungsstil wünschen sich meist ein hohes Maß an Unabhängigkeit. Sie betrachten sich selbst als autark und können sich eher nicht als Teil einer tagtäglichen, engen Nah-Beziehung vorstellen. Manche sehen enge Beziehungen sogar als relativ unwichtig an. Menschen mit diesem Bindungsstil versuchen teilweise, ihre Gefühle zu unterdrücken und zu verbergen, und sie neigen dazu, mit empfundener Ablehnung umzugehen, indem sie sich von den Quellen der Ablehnung (z. B. ihren Bindungspersonen oder Beziehungen) distanzieren. Trotzdem zeigen sie dennoch starke physiologische Reaktionen auf emotionsgeladene Situationen und Inhalte, die sie dann jedoch oft mittels Konzentration auf ein anderes Thema abzulenken und zu kanalisieren bemüht sind.

In der Welt der ethischen Mehrfachbeziehungen fällt mir bei diesem Abschnitt vor allem die sg. „Solo-Polyamory“ ein: Menschen, die mehrere Einzelbeziehungen zu verschiedenen Personen pflegen, die untereinader aber wiederum in keinem Verbund stehen. „Solo-Polys“ leben häufig allein und verbinden sich mit ihren Partner*innen gezielt, z.B. an Wochenenden, auf Events bzw. bei bestimmten Aktivitäten oder an besonderen Orten.
Fragen, die sich dementsprechend auftun, wären z.B., warum wir uns selbst in solch einem Modell von unseren Liebsten distanzieren, bzw. diese aufgrund des gewählten Beziehungsmodells auf Abstand halten möchten. Auch die grundsätzliche Frage liegt nahe, ob wir uns mit dieser Form von „Poly-Amory“ eine Auswahl an Partner*innen gestatten, so daß wir „für jedes Plaisirchen ein passendes Tierchen“ erhalten – und bei ansteigender Spannung innerhalb einer Beziehung uns die Möglichkeit geschaffen haben, rasch das Betätigungsfeld zu wechseln, wozu wir alle Beziehungen auch mit einem Höchstmaß an unvernetzter Parallelität betreiben. Mehr noch: Gäbe es Hinweise darauf, daß wir uns auf Erkundung nach neuen Partnerschaften begeben, wenn wir andernorts gerade die Intensität nich mehr gut aushalten können? Und wie fühlen sich diesbezüglich eventuell die anhängigen Partner*innenmenschen? Fühlen sie sich durch uns ausreichend gesehen und wertgeschätzt – oder geraten sie in die Gefahr, stets doch nur eine jeweilige Teilzeit-Investition von uns zu erhalten?

►Ein unsicher ängstlich-ambivalenter Bindungsstil zeigt sich bei Personen, die ein negatives Bild von sich selbst und ein eher positives Bild von anderen haben. Daher neigen sie dazu, den folgenden Aussagen zuzustimmen:
„Ich möchte mit anderen emotional absolut innig sein, aber ich stelle oft fest, dass andere zögerlich sind, mir so nahe zu kommen, wie ich es mir wünsche.“
„Ich fühle mich unwohl, wenn ich keine engen Beziehungen habe, aber ich mache mir manchmal Sorgen, dass andere mich nicht so sehr schätzen, wie ich sie schätze.“
Erwachsene mit diesem Bindungsstil suchen ein hohes Maß an Intimität (ja, hier ist auch schnelle bzw. intensive Sexualität innbegriffen), Bestätigung und Entgegenkommen von ihren Bezugspersonen. Sie schätzen Intimität manchmal so sehr, dass sie evtl. sogar übermäßig von einer Bezugsperson abhängig werden können. Im Vergleich zu sicher gebundenen Erwachsenen neigen solche Menschen zu einer weniger positiven Selbsteinschätzung. Sie können ein Gefühl der Ängstlichkeit entwickeln, das nur nachlässt, wenn sie mit einer Bezugsperson in Kontakt sind. Sie zweifeln oft an ihrem Wert als Individuum und geben sich selbst die Schuld für einen empfundenen Mangel an Aufmerksamkeit ihrer Partner*innen. In ihren Beziehungen können sie z.T. ein hohes Maß an Emotionalität, Besorgtheit oder Überkompensation zeigen.

Diesen Bindungsstil kenne ich selbst am besten, weil er leider meine eigene Grundlage ist. Innerhalb ethischer Mehrfachbeziehungen wie der Oligo- und Polyamory ist er nicht unbedingt selten, weil es im Zweifel gerade die Möglichkeit ist, überhaupt eine Mehrzahl von intimen Bezugspersonen aufgrund erhöhten Nähebedarfs für sich zu gewinnen, die Mehrfachbeziehungsmodelle für Menschen dieser Veranlagung interessant macht.
Problematisch bei diesem Bindungsstil ist von Anfang an die Bestrebung nach einem größtmöglichen Vertrautheits- und Verschmelzungsfaktor, so daß beim Kenenlernen häufig die „Aufprallenergie“ sehr hoch ist – und Kompatibilität z.B. über früh initiierte Sexualität herbeizuführen versucht wird. Die „Beinarbeit“ eines gründlichen Kennenlernprozesses mit wechselseitigen Vor- und Abneigungen kann so in den Hintergrund geraten, was bei fortdauernder Beziehung zu Problemen führen kann. Auf diese Weise ist aber auch die NRE („New-Relationship-Energy“ [Neue-Beziehungs-Energie]) sehr hoch, was für Bestandspartner*innen verstörend wirken kann, wenn für eine neue Person z.T. alles stehen und liegen gelassen wird.
Der hohe Nähe- und Klebefaktor führt innerhalb von Mehrfachbeziehungen zusätzlich zu einem gelegentlichen Verwischen von individuellen Grenzen, so daß es sachlich wie emotional irgendwann schwierig sein kann, herauszufinden, welche Anteile an einem Geschehen wem zuzuordnen sind, was ungünstige Wirkung auf die Gesamtbeziehungsdynamik nimmt. Unsicher-ambivalente Personen tragen speziell darin oft wenig hilfreich bei, indem sie in ihrem inneren Zwiespalt gelegentlich zusätzlich in eine Art „Micromanagement“ verfallen, bei dem sie versuchen für ihre Partner*innen eine angestrengte Misch-Performance aus „Warte, ich hole Dir die Sterne vom Himmel“ und übergriffiger Gängelung („Neinnein, das müssen wir SO machen….“ ) aufzubieten.

Desorganisierte Bindungsmuster zeigen sich bei Menschen, die eine instabile und wechselhafte Sicht auf sich selbst und andere haben, welche jedoch vorwiegend in beiden Fällen negativ ist. Verluste oder Traumata (z. B. Missbrauch) in der Kindheit und Jugend können zu einer Zustimmung zu folgenden Aussagen führen:
„Es ist mir etwas unangenehm, anderen nahe zu kommen.“
„Ich wünsche mir emotional enge Beziehungen, aber es fällt mir schwer, anderen völlig zu vertrauen oder mich auf sie zu verlassen.“
„Ich mache mir manchmal Sorgen, dass ich verletzt werde, wenn ich mich zu sehr auf andere Menschen einlasse.“
Personen mit einem ängstlich-besorgten Bindungsstil zeichnen sich durch ein starkes Verlangen nach Nähe und Intimität in ihren Beziehungen aus, erleben jedoch häufig zugleich ein hohes Maß an Angst und Unsicherheit in Bezug auf die Zugänglichkeit und das Entgegenkommen ihrer Bezugspersonen. Sie neigen daher dazu, sich bei zunehmender emotionaler Nähe unwohl zu fühlen. Diese Gefühle sind mit manchmal unbewussten, negativen Ansichten sowohl über sich selbst als auch hinsichtlich ihrer Bindungspersonen verbunden. Dadurch halten sie sich häufig für unwürdig, von ihren Bezugspersonen Aufmerksamkeit zu erhalten, und haben zugleich oft kein Vertrauen in die Absichten ihrer Partner*innen. Ähnlich wie beim ablehnend-vermeidenden Bindungsstil suchen desorganisiert gebundene Erwachsene so weniger Nähe zu ihren Bindungspersonen und unterdrücken und/oder verleugnen häufig ihre Gefühle. Aus diesem Grund fällt es ihnen viel schwerer, Zuneigung auszudrücken. Personen mit diesem Bindungsstil neigen zu einem negativen Selbstbild und einer schwankenden oder gespaltenen Sichtweise auf andere, was zu zwischenmenschlichen Störungen beitragen kann.

Ein desorganisierter Bindungsstil stellt für jede Form von echter, vertrauter Partnerschaft die größten Herausforderungen dar, doch auch von diesem Bindungstyp habe ich leider einige Züge bei mir selbst wiedergefunden.
Problematisch speziell für Mehrfachbeziehungsführung ist meist, daß die betroffene Person sich über mehrere Partnerschaften ein Mini-Universum verschiedener Menschen erstellen kann, zwischen denen sie bei Bedarf emotional „switchen“ (hin- und herschalten) kann. Für die betroffene Umgebung kann dieses Verhalten allerdings im Zweifel seltsam unbeständig und z.T. sogar unberechenbar – oder zumindest unzuverlässig – wirken.
Der „Netzwerkcharakter“ polyamorer Verbindungen kann allerdings auf diese Weise eine desorganisiert gebundene Person oftmals eine Weile lang gewissermaßen „auffangen“ – da durch die Beziehungsvielfalt die innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der betroffenen Person nicht so schnell zu Tage tritt, wie es vielleicht in einer reinen Zweierbeziehung geschehen würde. Gleichzeitig kann genau dieses „Zumuten“ und „Aushalten“ desorganisierter Merkmale in einer Mehrfachbeziehung jedoch wiederum gerade durch die Vielfalt an betroffenen Mitwirkenden großes Leid verursachen, bevor die auslösende Person bereit ist, sich ihren verschütteten Traumata zu stellen. Die Gefahr der „Desorganisation“ besteht indes darin, daß die Auswirkungen – durch allseitige, teilweise widersprüchliche Kompromisse – bis dahin die Gesamtbeziehung für alle Beteiligte schon schleichend zerrüttet haben können.

Puh. Mein Fazit dieses wichtigen – und nun beinahe zu lang geratenen – Eintrags:
Zusätzliche Studien erwiesen leider, dass Personen mit unsicherem oder desorganisiertem Bindungsstil auch anfälliger für psychische Probleme wie Depressionen und Angststörungen sind, sie häufiger ein beeinträchtigtes Selbstwert-Gefühl haben, und dass es für sie darum schwieriger ist, im Erwachsenenalter gesunde Bindungen zu entwickeln.
Beobachtungen ergaben weiter, daß sich ungünstige Bindungsstrategien und Traumata in Beziehungsdingen überdurchschnittlich häufig anziehen – ausgerechnet unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent finden sich z.B. überraschend (und trotz doch scheinbar so unterschiedlicher Bedürfnislagen!) regelmäßig gemeinsam in einem „Beziehungs-Boot“ wieder…

Mehrfachbeziehungen „würfeln“ obendrein meist gleich noch „mehr als zwei“ Menschen zusammen, wodurch im Zweifel äußerst ungünstige Kompensationsstrategien aufeinander treffen können, insbesondere wenn der Grad an Unbewußtheit für die eigenen Bindungserfahrungen (noch) eher hoch ist.
Und um es noch einmal zu sagen: Ethische Mehrfachbeziehungen müssen in ihrer Entstehung schon allein aus Selbsterhaltungsgründen sehr selbstehrlich der Frage ins Auge sehen, ob nicht eben sogar der Wunsch nach „Mehrfachbeziehung“ eigentlich einer ermangelten Bedürftigkeit entspringt, die doch leider drei der vier Bindungstypen verdeckt in sich tragen.
Denn Verlustangst, Bindungsangst und Kontrollverhalten bringen Unruhe, Leid und Drama in jede Beziehung. Und das ist etwas, was wir als Viel-Liebende unseren Lieblingsmenschen doch gerade sicher nicht zuteil werden lassen wollen.

Mit dem heutigen, beim Scrollen sicher nicht nur bedingt durch die Länge manchmal schmerzhaft zu lesenden Eintrag, möchte ich allerdings ähnlich der oben erwähnten Autorin Jessica Fern dringend dafür sensibilisieren, auch diese unfroheren Aspekte des eigenen Beziehungs- und Bindungsverhaltens zu reflektieren. Ich lade dazu ein, dies auch im Verbund mit unseren Partner*innen zu tun, die durch ihre „Sicht von außen“ vielleicht wichtige Impulse für uns selbst beisteuern können – auch wenn diese Form von Offenbarung sicher nicht immer einfach für alle Beteiligte sein wird.
Aber gerade diese Bewußtmachung ist es, die uns alle schließlich befähigen kann, einen eventuell negativen Bindungsstil nach und nach tatsächlich zu verändern.

In diesem Sinne – und in bester, sicher gebundener Weise: Laßt es Liebe sein, echtes Vertrauen und sich wirklich sicher Fühlen – und: weil ihr alle aus tiefstem Herzen miteinander zusammen sein wollt!


*Ich schreibe hier Bezugspersonen-Kind-Bindung, weil sich für das Bindungsverhalten erwiesen hat, daß es in der sensiblen Phase der ersten Lebensjahre maßgeblich ist, wie diese Haupt-Bezugspersonen Zuwendung zeigen – ganz egal, ob es sich dabei um Mutter, Vater, Familienangehörige, Pflegeeltern etc. handelt.

¹
Jessica Fern „Polysecure: Attachment, Trauma and Consensual Non-monogamy“, Thornapple Press (2020)
Deutsche Version: „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“; divana Verlag 2023

² Typenbeschreibungen erstellt mit Hinweisen aus der Masterarbeit von Nadine Madlen Blaßnig Bindung im Erwachsenenalter: Eine Studie zum Zusammenhang von Alkoholkonsum, Mentalisierungsfähigkeit, Selbstwert und Bindung, 2018 Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Zitate aus Kißgen, J. (2009). „Diagnostik der Bindungsqualität in der frühen Kindheit – die Fremden Situation“; in Julius, H. et al. (Hrsg.), „Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Intervention“, Göttingen: Hogrefe

³ Beschreibung aus „Attachment Disturbances in Adults: Treatment for Comprehensive Repair“ von Daniel P. Brown und David S. Elliott, WW Norton & Co (2016)

Danke an engin akyurt auf Unsplash für das Foto!

Last but not least: Im Netz gibt es zahlreiche Tests zur Ermittlung des eigenen Bindungstyps. Nicht alle arbeiten nach Bowlby und Ainsworth – aber für eine Grundeinschätzung kann man dort starten. Für in jedem Fall zielführender halte ich es, sich direkt mit den Typenbeschreibungen (auf Wikipedia z.B. oder hier) auseinanderzusetzen und hinsichtlich der entsprechenden Merkmalen für sich selbst zu reflektieren.

Eintrag 111

Weil es uns am Herzen liegt

Der März ist gekommen – und mit ihm bedeutsame Tage: am 7. begingen wir den „Equal-Pay-Day“, an dem es um die Erzielung von Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern geht; am 8. war gerade erst der Weltfrauentag, der seit 1921 zur globalen Sichtbarmachung, Berechtigung sowie Ermächtigung weiblicher Belange aufruft – und ganz bescheiden wird die Oligoamory dieser Tage großartige 6 Jahre alt!

Der März ist in diesem Sinne also ein regelrecht feministischer Monat – ganz und gar in Übereinstimmung mit dem Geburtstag der Oligoamory, die doch explizit den Frauen und dem Feminismus so viel – ja, eigentlich alles – zu verdanken hat: War es doch 1990 die Feministin und Neopaganistin Morning Glory Zell-Ravenheart, die erstmals das Wort polyamor für den Kontext ethisch-nonmonogamer Beziehungen etablierte – was mir prompt 29 Jahre später gestattete, flugs noch meine eigene Varietät, nämlich die der „verbindlich-nachhaltigen oligoamoren Klein-Gemeinschaften“, hinterherzuentwickeln.

Die beiden im ersten Satz dieses Eintrags genannten (Kampf-)Tage sind für mich in diesem Rahmen besonders wichtig, was mir vor allem aufgefallen ist, als ich mich an einer Überschrift für den heutigen Artikel versucht habe. Ich hatte nämlich begonnen, das englische „Because we care“ von der Übersetzungs-KI deepL übersetzen zu lassen, wobei ich schon vermutete, daß wahrscheinlich „Weil wir uns kümmern“ oder „Weil wir uns sorgen“ als hauptsächliche Ergebnisse dargeboten werden würden. Beide Varianten fand ich im Deutschen nicht so wunderbar, da ja in „kümmern“ der „Kummer“ und in „sorgen“ die „Sorge“ steckt, derer sich angenommen werden soll.
Gleichzeitig aber ist es im Alltag aber eben dann doch auch schlicht das, worum es letztenendes geht: Care-Arbeit heißt heute mit einem Anglizismus die meist unbezahlte (Für)Sorgearbeit, bei der sich genau viel zu oft noch vor allem Frauen um all die Belange rund um den Haushalt, diesem innewohnende Personen, deren Gesundheit und last but not least Lebensmittelbeschaffung sowie Nahrungszubereitung kümmern.
Übrigens – auch das als so hilfsbereit daherkommende englische Wort „care“ steht im eigentlichen Sinne vor allem für eine Form von Belastung, stammt es doch ursprünglich von dem altgermanisch/altsächsischen Wort „cara“, was soviel wie „Klage“ oder eben auch „Sorge“ bedeutete…

Nichtsdestoweniger muß sich selbstverständlich auch in ethischen Mehrfachbeziehungen „gekümmert“ werden – und bereits in Eintrag 93 versuche ich eine Antwort darauf zu geben, wer denn nun in poly- und oligoamoren Verbindungen für die Erledigung von Aufgaben rund um Küche, Kinder, Kachelpflege zuständig zu sein hat. Denn natürlich hat gerade in Beziehungen, die aus „mehr als zwei“ Personen bestehen, das umeinander-Kümmern und das füreinander-Sorgen einen äußerst bedeutsamen Stellenwert.

Mehrfachbeziehungen, die ja ihrem Sinngehalt nach aus mehreren Teilnehmer*innen bestehen, weisen dabei jedoch auch die Herausforderung gesteigerter Komplexität auf – insbesondere in Hinsicht auf den Bereich einzubringender „Care-Arbeit“ – speziell weil nicht immer auf den ersten Blick offensichtlich ist, wer da mit welcher Strategie des Einbringens oder des Profitierens gerade am Zug ist. Bzw. eben auch, wann eine Beziehung aufgrund eines hohen Grades an gemeinsamer Kooperation und ausgeprägtem Wir-Gefühl gelingt – oder wann einzelne Beteiligte beginnen zu dominieren, indem sie sich auf Kosten der übrigen Mitwirkenden zunehmend einen Vorteil verschaffen.

Zwischenmenschlich, ja, noch abstrakter, zwischen Lebewesen überhaupt, ist dieser Prozess nämlich in der Tat von so außerordentlicher Vielschichtigkeit und – wie wir sehen werden – Verflochtenheit geprägt, daß sich ganz verschiedene Wissenschaftszweige, von der Evolutionsbiologie bis hin zur Spieltheorie, seit Jahrzehnten daran versuchen, den Hintergründen dieser Thematik mit immer ausgefeilteren Modellen mehr und mehr auf die Spur zu kommen.

Als dann die Computer- und Programmiertechnik seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend das Laufen erlernte und bald zu mehr als effizienten Analogrechnungen in raumfüllenden Anlagen befähigt war, lieferte diese weitere wirkungsvolle Werkzeuge, um Gesetzmäßigkeiten von Interaktionen innerhalb größerer Gruppen abzubilden, ohne das zuvor stundenlanges Videomaterial von Vogelschwärmen, aus Fußgängerzonen oder WG-Küchen gesichtet und analysiert werden musste.
Denn nun konnte man kleine Programme mit bestimmten Eigenschaften gegeneinander antreten lassen, was als Anreiz sogar regelmäßig wettbewerbsmäßig organisiert wird, indem immer wieder weltweit Programmierer aufgerufen werden, Software-Einheiten zu erstellen, die dann innerhalb eines virtuellen Rahmens aufeinander treffen (Algorithmus- oder Kaggle-Wettbewerbe).
Die Aufgabenstellungen, denen sich solcherart gestaltete Programme darin stellen müssen, entsprechen z.B. dem sg. Gefangenendilemma (mit dem sich in den 80er Jahren vor allem der US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Axelrod intensiv beschäftigte): Zwei Gefangene sitzen in Haft, könnten sich aber jeweils beim Strafmaß einen Vorteil verschaffen, indem sie den anderen Häftling denunzieren, weil es die eigene Zeit hinter Gittern verkürzen – und den anderen länger schmoren lassen würde. Also könnte man diesen Trumpf ziehen und schneller frei kommen – oder schweigen, in der Hoffnung darauf, daß die andere Partei auch dicht hält (quasi eine Art „Win-Win“) – denn natürlich bestünde auch die Möglichkeit, wiederum selbst von der anderen Seite verraten zu werden, wodurch man entweder selbst – oder gar gemeinsam – länger im Gefängnis bliebe („Win-Lose“ oder „Lose-Lose“). Programmierungen, die sich hier bewähren, kommen eine Runde weiter – Software, die aufgrund falscher Einschätzung des Gegenübers zu oft den Kürzeren zieht, scheidet aus.

In einem Artikel für den Bayerischen Rundfunk (BR)¹ erläuterte im diesjährigen Januar die Mathematikerin am RIKEN-Institut für Computerwissenschaften in Kobe (Japan) Nikoleta E. Glynatsi, daß, mathematisch betrachtet, so eine Sache zunächst oft klar zu sein scheint: „Die Mathematik zeigt uns, dass man immer egoistisch handeln sollte, weil es kostspielig ist, selbstlos zu sein, und man sich nie sicher sein kann, ob sich diese Großzügigkeit jemals auszahlt.“
Interessanterweise erwies sich in ihren fortgesetzten Experimenten jedoch, daß sich weder die maximal aggressivsten Programme durchsetzten, noch die, die auf eine schlichte „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“-Taktik setzten. Manche Programme hatten nämlich einen sehr langen Speicher (also quasi eine Art „Gedächtnis“) für die bisherigen Verhaltensweisen ihres Gegenübers – und wie diese zuvor mit anderen Programmen „umgegangen“ waren; schlichtere Programmierungen handelten jedoch überwiegend rein zufällig. Dabei zeigte sich: Langfristig wurden die besten Resultate weder durch starre Herangehensweisen wie „niemals nachgeben“ oder „immer kooperieren“ erzielt, sondern durch flexible Strategien: „Man sollte auf das reagieren, was die andere Person tut, und ihr Verhalten ein Stück weit spiegeln – allerdings abhängig vom Kontext“, erklärt Glynatsi.

In meinem letzten Eintrag 110 zitierte ich den Neurobiologen Herwig Baier, der beschreibt, wie ein Organismus dafür, um komplexe Entscheidungen sinnvoll treffen zu können, seine individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf haben müsste: Er müsse sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, sich auf aktuelle Anforderungen fokussieren und möglichst vorhersehen können, was seine Handlungen bewirken würden.
Die Bedeutung dieses bereits oben erwähnten „Erfahrungs-Gedächtnisses“ bestätigte sich im Dezember 2024 auch in der aktuellen Studie² von Frau Glynatsi.
Wodurch für menschliche Kontexte sogleich wieder die Psychologie an Bord ist.
So entnimmt z.B. der Psychologe Felix Brodbeck von der Ludwig-Maximilians-Universität München der Glynatsi-Forschungsarbeit: „Je länger das Gedächtnis ist, desto eher gelingt situationsangemessene Kooperation. Ich würde mich sogar zu der These hinreißen lassen, dass ohne Gedächtnis gar keine Kooperation möglich ist. Ein längeres Gedächtnis erlaubt es, frühere Erfahrungen in aktuelle Entscheidungen einzubinden. So lässt sich nicht nur Vertrauen aufbauen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit von Konflikten minimieren. Wer hingegen nur auf kurzfristige Gewinne aus ist, riskiert, langfristige Beziehungen zu schädigen, sei es im Privatleben oder im beruflichen Umfeld.“
Oder, wie es die Journalistin Doris Tromballa am Ende des erwähnten BR-Beitrags sehr treffend formulierte: „Wer flexibel handelt, reduziert das Risiko, ausgenutzt zu werden, und vermeidet gleichzeitig, als egoistisch wahrgenommen zu werden.“

Forschungen, wie sie von Frau Glynatsi und ihrem Team betrieben werden, werden in ihrere Bedeutung für unsere Gesellschaft höchstwahrscheinlich noch von maßgebender Dimension sein. Denn einerseits nimmt die Rechenleistung von Super- und Quantencomputern alljährlich um ein mehrfaches zu, so daß die Bilanzierung, Quantifizierung und Prognose menschlicher Interaktion auch – und gerade – in virtuellen Räumen zukünftig immer exakter abzubilden sein wird. Wo diese – andererseits – von der sich rasant parallel entwickelnden Forschung rund um künstliche Intellligenz (KI) ganz sicher aufgegriffen und integriert werden wird. KI übrigens, mit der wir heute alle schon von der Suchmaschine bis hin zum Grafikprogramm interagieren!
Wodurch sich in gewisser Weise der Weg auch zu jenem Moment abzeichnet, der als technologische Singularität Bekanntheit erlangt hat – und die Schwelle beschreibt, ab der die künstliche die menschliche Intelligenz zukünftig eventuell übertreffen könnte…

Soweit dies also das Potential von Computer“hirnen“ betrifft, die in dieser Weise menschliche Interaktion analysieren und emulieren (nachbilden).
Wie steht es aber in dieser Hinsicht mit der „Originalvorlage“ – also unseren eigenen Hirnen?
Denn daß wir Menschen daselbst ganz eigenständig zu einer ähnlichen „Singularität“ in der Lage sind, auch dieser Gedanke ist nicht wirklich neu und wurde z.B. bereits 2009 von dem US-amerikanischen Thriller-Autor Dan Brown in seinem Buch Das verlorene Symbol populär angesprochen: Die menschliche Weltbevölkerung befindet sich derzeit demografisch noch immer im Wachstum. Allein rein physisch kommt entsprechend Tag für Tag „mehr Hirn“, mehr potentieller menschlicher Geist, hinzu. Auch Dan Brown aber wies bereits darauf hin, daß Gehirnmasse allein nicht ausschlaggebend sein würde. Als Optimist projizierte er vielmehr eine damit einhergehende ansteigende Lernkurve menschlichen Bewußtseins, eine sich beschleunigende Zunahme von Einsicht und Erkenntnis, welche die Menschheit eines Tages – mit überschreiten ihrer eigenen „Singularitätsschwelle“ – zu bahnbrechenden, schöpferischen Begabungen, Fähigkeiten, Möglichkeiten und Leistungen katapultieren könnte.

Die Menschheit – als eine Art vereinter, biologischer Supercomputer? Gottkomplex? Absurde Tech-Fiction?
Nein, ich glaube nicht. Ich glaube aber, daß wir dafür etwas mehr brauchen als schrifstellerischen Optimismus – und damit wären wir zurück bei meinen eingangs erwähnten (Kampf-)Tagen.
Denn meiner Meinung nach hätten wir als Menschheit unseren „Singularitätsmoment“ vielleicht schon längst erleben können. Oder vielmehr: Dieser läge schon jetzt absolut in unserer Reichweite.
Wenn – ja, wenn – wir es wie die Programme machen würden – und unser volles, insgesamtes menschliches Potential auch vollumfänglich ausschöpfen würden.
Solange wir jedoch weltweit, wie seit Jahrhunderten geschehen, den weiblichen Anteil der Menschheit (von noch andersgeschlechtlichen Anteilen gar nicht zu reden…) weiter zu sehr geringschätzen und hintanstellen sowie Personen anderer ethnischen Herkunft, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuellen Identität kontinuierlich benachteiligen und zurücksetzen, solange ist es gewissermaßen so, als ob wir uns einen gewaltigen Teil unseres großartigen menschlichen Geistes quasi abbinden. Auf daß dieser ungenutzt verödet, weil die Ideen, Perspektiven, Impulse, Erahrungen und Erfindungen, welche die in dieser Weise unterdrückten Individuen sonst zum großen Ganzen andernfalls vielleicht beigetragen hätten, ungehört und ungenutzt verpuffen – bzw. solche sogar wegen mangelnder Bildungsbeteiligung niemals überhaupt erst entstehen konnten.

Für unseren eigenen „Singularitätssprung“, wenn er eben nicht zuerst – oder nur allein – von einer KI zukünftig vollzogen werden soll, brauchen wir aber uns alle! Wirklich alle, mit ihrem weitgehendst möglichen, erschlossenen seelisch-geistigen Potential. Integrativ und inklusiv.

Große Worte. Die zu beherzigen auch ohne „Singularität“ als Ziel sicher wichtig sind.
Warum bin ich trotzdem mit Dan Brown Optimist – und was haben Mehrfachbeziehungen damit zu tun, um die es auf diesem bLog doch eigentlich gehen sollte?
Einen Hinweis auf die Antwort, hat erneut die Wissenschaft geliefert.

In ihrem aktuellsten Buch „Mutterhirn – Was mit uns passiert, wenn wir Eltern werden“ räumt die Wissenschaftsjournalistin Chelsea Conaboy³ mit einem weiteren Vorurteil über Frauen auf, daß deren Gemüt durch Schwangerschaft und Geburt eines Kindes in eine Art „unberechenbaren Sonderstatus“ geriete, wodurch sie sogar vermeintlich geistige Leistungsfähigkeit einbüßen würden (was jahrhundertelang auch als männliches Argument zum Ausschluß von Frauen hinsichtlich verantwortungsvoller Positionen und Tätigkeiten diente).
In der Tat fasst Conaboy wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen, daß sich die Gehirne von austragenden Müttern – aber eben auch Vätern, Co-Pflegepersonen und anderen engen Bezugsmenschen – unter der Fürsorgearbeit für ein Kind wirklich veränderten. Und zwar in fundamental positiver Weise für das gesamte weitere Leben dieser Betroffenen!
In ihrem Buch beschreibt sie anschaulich den Nachweis, wie alltägliche „Care-Arbeit“ in einem untrennbaren Wechselverhältnis mit neurobiologischen Prozessen steht – genau weil wir uns kümmern.
Die Autorin folgert ferner, daß diese Ergebnisse wegen der menschlichen Fähigkeit zu lebenslangem Lernen – aufgrund der ebenso lebenslangen Plastizität des menschlichen Gehirns – eher nahe lägen – und damit zugleich erhebliche Bedeutung für alle übrigen Bereiche zwischenmenschlichen Kümmerns und (Für)Sorgens entfalten würden.

Wenn Menschen sich demgemäß in Beziehung begeben, verändern sich also sogar ihre Gehirne. Dieser Effekt wird durch den „Fürsorgefaktor“ erwiesenermaßen sogar noch einmal verstärkt: Was uns „am Herzen liegt“ befördert unsere Fähigkeit, noch immer bessere „Care-Arbeiter*innen“ zu werden, zu sein und – zu bleiben.
Dies bestätigt ebenfalls einen weiteren Nutzen, den Mediziner seit langer Zeit betonen. Daß bereits eine einzige Beziehung – und die Anreize, die wir durch diese erfahren – die Gesundheit der Beteiligten stärkt. Und ja, in diesem Fall gilt „mehr ist (noch) besser“ – ganz besonders, wenn uns diese Beziehungen eine „Herzensangelegenheit“ sind, in denen wir mit den Worten des oben erwähnten Psychologen Felix Brodbeck situationsangemessen kooperieren, Konflikte minimieren und Vertrauen aufbauen.

Womit ich euch Beziehungsmenschen da draußen heute den Rücken stärken will: Eine einzige Beziehung kann nicht nur euer Leben verändern – sie verändert grundlegend euch selbst; ja, es reicht offensichtlich sogar, einmal für eine Weile Teil einer fürsorgenden Beziehung gewesen zu sein, daß uns diese innere Metamorphose ein Leben lang erhalten bleibt.

Wird euch Mehrfachbeziehungsführer*innen also jemals nahegelegt, ihr würdet wohl „anders ticken“, dann gebt den Leuten recht und fühlt stolz, daß dies mit jeder einzelnen eurer liebenden Verbindungen einer sowohl einerseits wissenschaftlich bestätigten, als auch einer andereseits tatsächlichen tiefen inneren menschlichen Wahrheit entspricht, die uns mit allen anderen Weltenbewohner*innen in Beziehung verbindet. Eben: Weil es uns am Herzen liegt.
Und es war übrigens der amerikanische Astronom, Visionär und Futurist Carl Sagan, der einst feststellte:

»Wer sind wir, wenn nicht gemessen an unserem Wirken auf andere?
Das ist, wer wir sind!
Wir sind nicht, wer wir vorgeben zu sein, wir sind nicht, wer wir sein wollen – wir sind die Summe des Einflusses und der Wirkung, die wir in unserem Leben auf andere haben.«



¹ Der erstmals im BR am 15.1.2025 um 17.05 auf Bayern 2 erschienene Artikel „Kooperation oder Konkurrenz – Was ist besser?“ findet sich im ARD-Archiv der Tagesschau HIER

² Link zur Studie von Nikoleta E. Glynatsi, Ethan Akin, Martin A. Nowak and Christian Hilbe „Conditional cooperation with longer memory“ vom 06. Dezember 2024 (nur englische Sprache) HIER

³ Chelsea Conaboy, „Mutterhirn“, Harper Collins 2023

Danke an Vonecia Carswell auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 110

Partner*innen-Wahl-Freiheit?

Der Februar ist traditionell der Monat der Reinigung – und selbst das lateinische Wort „februare“, von dem er seinen Namen erhalten hat, bedeutet genau das, nämlich „reinigen“.
Der Februar ist aber auch ein Monat der Extreme, so ist er z.B. nicht nur spätestens seit der gregorianischen Kalenderreform von 1582 sehr kurz – und damit oft schneller vorbei als gedacht – sondern auch sowohl dem erwähnten „Reinigen“ und innerer Einkehr gewidmet, als auch zuvor oft noch einmal Ausschweifungen leiblicher Art, woran heutzutage vielerorts Faschings- und Karnevalsbräuchen nach wie vor erinnern.
Beide Tendenzen – die Ausschweifung wie auch die (ernüchternde) Reinigung – waren früher sicher äußerst plausibel, wenn Menschen in ihren Behausungen über lange dunkle Wintermonate überwiegend müßig auf engem Raum miteinander ausharren mussten.

Doch auch dieser Tage – Hand aufs Herz – sind wir in unseren Beziehungen noch längst nicht gänzlich frei von beidem – und für Mehrfachbeziehungen gilt dies oftmals umso mehr.
Unsicher gebunden, wie viele von uns nun einmal leider aufgewachsen sind, stürzen wir in dieser Art häufig aufeinander. Unser Bedürftigkeitsdruck ist hoch – aber wir reden uns ein, daß es sich um rein zwischenmenschlichen Magnetismus und einen Ausdruck unserer persönlichen Freiheit handelt. Stoßen dabei vielleicht sogar eigene Werte zur Seite, für die wir gestern noch beide Hände und unser Gewissen ins Feuer gelegt hätten, schämen uns kurze Zeit später innerlich vor uns selbst – doch wie sangen schon David Houston und Barbara Mandrell bereits 1972: Wie kann es falsch sein – wenn es sich so richtig anfühlt?
So sind wir unsere schlimmsten Staatsanwälte – und zugleich, wenn es um unsere eigenen guten Gründe geht, auch unsere mildesten Richter…
Unsere Eltern, zum Teil Erzieher*innen und Lehrer*innen haben sich mit ihren eigenen Themen an uns abgearbeitet, zu einem Zeitpunkt, an dem wir längst noch nicht verstanden, was da eigentlich vorging, woher diese überschießende Energie und Heftigkeit herkam, die da ungebremst, ungeklärt an uns weitergereicht wurde. Und sollte es einen psychischen Energieerhaltungssatz geben, so wie in der Physik, – …und die Vermutung ist naheliegend – dann liebt, leidet und lärmt unsere Biografie fortgesetzt in allen unseren Beziehungen stets mit. Wirkmächtig in einer Art, von der es in der Astrologie über die Sterne heißt, sie würden zwar nicht zwingen – aber geneigt machen.

Als Säuge- und Hordentiere, als menschliche Wesen, bedürfen wir der Anderen; wir sind für unser Überleben, – aber fast ebenso stark – für unser soziales Wohlbefinden auf sie angewiesen.
Unsere Primatennatur läßt uns dahingehend vor allem durch Beobachtung, Anpassung und Nachahmung lernen – selbst die Dämmerung eines in der westlichen Welt sehr kopflastigen 21. Jahrhunderts kann dies nicht aus unseren Genen herausleugnen.
Und da stehen wir dann, mit unserem dahingehend lediglich bedingt freien Willen.

Und selbst für den liegt die Latte gar nicht mal so niedrig.
In der Ausgabe 4|2024¹ der Max Planck Forschung formuliert Herwig Baier (deutsch-amerikanischer Neurobiologe; Direktor der Abteilung Gene-Schaltkreise-Verhalten am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz): „Frei sein“ hieße, dass innere und äußere Einflussfaktoren an sie angepasste Verhaltensweisen auslösen würden, die nicht nur einem simplen Reiz-Reaktions-Muster folgten. In dem entsprechenden Artikel wird konkretisiert, daß daher ein Organismus dafür, um komplexe Entscheidungen sinnvoll treffen zu können, seine individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes im Kopf haben müsste: Er müsse sich an zurückliegende Ereignisse erinnern, sich auf aktuelle Anforderungen fokussieren und möglichst vorhersehen können, was seine Handlungen bewirken würden (Die Rede ist dabei übrigens nicht von außergewöhnlichen Persönlichkeiten wie Marie Curie oder Nelson Mandela – sondern von Zebrafischen!).

Gut, daß die erwähnte Ausgabe 4|2024 unmittelbar darauf noch einen weiteren Artikel¹ in petto hat – in dem es zur Freude meines bLogs und seines Themas um unsere Freiheit in der „Partner*innenwahl“ geht.
Dort schränkt die Demografin Julia Leesch ein, daß es der medial vorgegaukelten Freiheit und einer vermeintlich großen Auswahl an potentiell zur Verfügung stehenden, kompatiblen, und für uns lediglich mit etwas Initiative aufzufindenden, weiteren Lieblingsmenschen zum Trotz, klare Faktoren für alle von uns geben würde, nach denen wir Partnerschaften eingingen – und daß wir dahingegend vor allem davon abhängig seien, welchen Menschen wir überhaupt (im Leben) begegneten. Sie ergänzt, daß es außerdem entscheidend sei, welche eigenen Präferenzen wir mitbringen würden – aber eben auch von welchen Personen unser Interesse letztendlich erwidert würde.
Viele Dating-Plattformen und -Apps böten z.B. einen relativ großen Altersabstand zu eindeutig jüngeren Suchenden an, um noch mehr „Auswahl“ zu suggerieren. Beim Abgleich mit der Realität gäbe es aber dann im „grünen Leben“ jedoch vergleichbar wenige tatsächliche Beziehungen, die einen höherem Altersabstand zwischen den Beteiligten aufweisen würden.
Das gleiche gelte für den Mythos der sich „anziehenden Gegensätze“, so die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung: Die überwältigende Mehrheit untersuchter Beziehungen aus über 199 Studien zeigten vielmehr eine große Bandbreite an Gemeinsamkeiten: „Menschen in Beziehung, die voneinander wirklich grundlegend unterschiedlich waren, gab es hier kaum.“ ²
Im Gegenteil. Die Studienlage würde sogar deutlich machen, daß der Umstand, ob wir uns eine Beziehung mit anderen Menschen vorstellen könnten, am Ende nicht etwa vorwiegend durch Ausstrahlung, Humor oder schöne Augen entschieden würden, sondern durch relativ unromantische Faktoren.
Diese lauteten übrigens oft: IQ, Bildungsgrad, sowie (hört, hört!) das Trink- und Rauchverhalten.
Was wir im Leben buchstäblich schon „er-lebt“ haben – und daher anstreben oder erst recht vermeiden wollen, spielt also eine sehr deutliche Rolle…

Insbesondere für ethische Mehrfachbeziehungen lieferten die Studien aus meiner Sicht noch weitere wichtige Erkenntnisse, denn – so Yayouk Willems weiter: „Auf Persönlichkeitsmerkmale wie die Frage, ob jemand eher introvertiert oder extrovertiert ist, kommt es anscheinend weitaus weniger an. Auch sie sei zwar auf den ersten Blick überrascht gewesen, doch inzwischen hielte sie das Ergebnis für nachvollziehbar. Menschen achteten wohl viel stärker darauf, wie man in einer Beziehung Zeit miteinander verbrächte und für welche Werte (!) die andere Person stehen würde. Unterschiede hingegen bei den spezifischen Charakterzügen könne man wohl eher ausgleichen.“
Was mich ganz klar an meinen 33. bLog-Eintrag erinnert, in welchem ich z.B. der Sängerin „Alice im Griff“ eine Stimme verlieh, welche damals ein tragisches Liebeslied zu einer zerstörerischen Grundwertediskrepanz mit ihrem Liebsten vertont hatte.
Ebenso hatte ich ja zuletzt in Eintrag 104 den US-amerikanischer Psychologen Steven Hayes zitiert, der unserem inneren Streben attestierte, daß „Werte der Ausdruck unseres individuellen Strebens nach Bedeutung und Sinn in unseren Leben“ seien. „Ein Grundbedürfnis, welches stets dann in Gefahr geriete, wenn wir bei dessen Erfüllungsversuch beginnen würden, äußerem „Sollen“ oder gesellschaftlich normiertem Streben den Vorrang vor Selbstbestimmung und einer (selbst)gewählten Qualität unserer Handlungen zu geben.“

Eigentlich sind wir mit der Wahl unserer Liebsten also in der Tat auf einer etwas chaotischen Suche nach einer Art „Wertegemeinschaft“. Eine weitere Max-Planck-Demografin, Nicole Hieckel, erklärt dazu, daß wir vielleicht in der Wahl unserer Partner*innen biografisch zwar nur bedingt frei seien, unsere Freiheit im Außen aber dennoch deutlich zugenommen hätte – was für die tatsächliche Gestaltung unserer Beziehungen geradezu „befreiende“ Wirkung zeigen würde – bei gleichzeitiger Zunahme der (oligoamor so wichtigen) Selbstverantwortung:
„Die Bedeutung der Beziehungen für die persönliche Entfaltung ist wichtiger geworden. Das verändert auch die Erwartung an eine Beziehung. Fühle ich mich meinen Partnern nahe? Spüre ich Wertschätzung? Insbesondere der Wunsch nach emotionaler Intimität hat heute einen deutlich höheren Stellenwert. Bleibt diese Erwartung unerfüllt, stehen die Zeichen für den Bestand einer Beziehung schlechter als in früheren Zeiten.“
Sie ergänzt hinsichtlich dieses Wertewandels und der damit einhergehenden Freiheit: „Viele Menschen haben heute stärker das Gefühl, dass die eigene Identität mehrere Dimensionen hat. […] Es haben sich gesellschaftlich alternative Räume aufgetan, in denen Menschen sich verwirklichen können. […] Für viele hat die Vorstellung, emotionale Nähe zu finden, immer noch einen hohen Stellenwert. Und auch dahinter steht heute eine Art von Selbstverwirklichung, die Menschen in der Vergangenheit nicht selbstverständlich zugestanden wurde.“

Die Max-Planck Journalistin Sabine Fischer, die den maßgeblichen Artikel, auf den ich mich hier beziehe, erstellt hat, folgert daraus, daß diese Selbstverwirklichung dadurch zu einer eigenen Form von Freiheit führen würde: Dass sich Beziehungsmodelle diversifizieren würden, sie dadurch neu ausgehandelt und individuell gestaltet werden könnten – wörtlich: „von polyamoren Beziehungen, bei denen die Beteiligten gleichwertige Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen führen, über gleichgeschlechtliche und offene Modelle, in denen Personen es einander gegenseitig erlauben, außerhalb der Beziehung Sex mit weiteren Personen zu haben.“
Dazu läßt sie die schon weiter oben benannte Demografin Nicole Hieckel nochmals zu Wort kommen, die sehr eindrucksvoll den Kreis von neuem Gestaltungsspielraum, Werteorientierung aber auch persönlich-biografischen Einschränkungen schließt:
Hier entsteht eine große Freiheit, weil der institutionelle Rahmen nicht mehr so gegeben ist und Partnerschaften stärker auf Aushandlungsprozessen beruhen.[…] Es könnte zugleich auch sein, dass weniger konventionelle Lebensformen den Menschen mehr Raum geben, sich selbst zu definieren. […] Eine Partnerschaft jenseits hergebrachter Normen und Praktiken auszuhandeln, sei es hinsichtlich sexueller Monogamie, einer geschlechtsunabhängigen Arbeitsteilung oder der Grenzziehung zwischen gemeinsamem und eigenem Eigentum, erfordert Ressourcen, allem voran Kommunikationsfähigkeit. Das ist anspruchsvoll, und da sind Menschen nicht mit den gleichen Kompetenzen ausgestattet. Freiheit heißt eben auch, dass jede* und jeder* eine große Verantwortung übernimmt, die eigene Beziehung nachhaltig zu gestalten.“

Nachdem Frau Hiecke auf diese Weise in einem Satz gleich mehrere oligoamore Basisvokabeln verwendet hat, traue ich mir ein eigenes Resümee (fast) gar nicht mehr zu.
Denn was unsere Beziehungen in der heutigen Zeit angeht – und auch unsere Perspektiven, diese mit mehreren Partner*innen zu führen, fällt doch sogar das Urteil der Wissenschaft etwas ambivalent aus.
Zumal wir dementsprechend wohl noch längere Zeit einen Balanceakt absolvieren müssen, zwischen einerseits unserem Wollen – aber eben gemäßigt durch das, was wir wirklich psychisch und emotional zu leisten in der Lage sind – und andereseits den verheißenen Möglichkeiten, die zugleich ihrerseits wiederum nicht gar so unbegrenzt sind, wie wir uns das eventuell gerne ausmalen würden.
Dabei werden wir, wie eine mehr oder weniger geübte Person auf einer Slackline, nicht nur bloß zwischen beiden Polen gelegentlich schwanken; wir werden manchmal sicherlich erstarren, weil wir den nächsten Schritt nicht wagen oder wissen – und wir werden auch im Extrem immer mal wieder auf der einen oder der anderen Seite schlicht herunterplumpsen. Wir werden auf diese Weise Hochgefühle erfahren, weil wir eine Weile rauschhaft glauben, das System gemeistert zu haben – um an einem anderen Tag dem furchtbaren uns äußerst ernüchterndem Gefühl erliegen, an uns selbst gescheitert zu sein…
Wobei weder das eine ein abschließender Sieg, noch das andere ein vollständiger Mißerfolg wäre, da nicht nur im Februar zum Menschsein eben beides gehört: Leidenschaftlicher Überschwang ebenso wie (Rück)Besinnung auf das Wesentliche.
Wichtig scheint mir, sich dabei immer wieder bewußt zu machen, daß wir uns selbst in beidem stets selber mitnehmen. So daß wir eben als innere Instanzen nicht nur eine strenge Staatsanwaltschaft und milde Richter benötigen, sondern vor allem gewissermaßen einen verständnisvollen (Rechts)Beistand in Form einer liebevollen (Selbst)Begleitung³, die sich unserer teils beschränkten, teil großzügigen Fähigkeiten und Ressourcen bei unserer oben erwähnten Suche nach emotionaler Nähe sehr bewußt ist.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Yayouk Willems bezeichnete eingangs einige unserer ausschlaggebenden Beweggründe zur Partner*innenwahl als „nahezu unromantisch“. Die schönste Versinnbildlichung der Synthese, daß solch ein „unromantisch“ durchaus ganz und gar zutiefst romantisch daherkommen kann, ist für mich der folgende Dialog, der von Susan Sarandon (als Beverly Clark) und Richard Jenkins (als Privatdetektiv Devine) in dem Film Darf ich bitten? (2004) dargestellt wurde. Dort sitzen die beiden in einer Szene zusammen und es ergibt sich folgender Dialog [worin ihr die Worte „heiraten“ und „Ehe“ natürlich durch jede Beziehungsform ersetzen dürft, die ihr euch erhofft]:

Und in diesem Sinne wünsche ich uns allen, daß in unseren Leben nicht nur Staatsanwälte, Richter und Rechtsbeistände eine wichtige Rolle spielen, sondern hoffentlich auch vor allem diese guten Zeugen, die das Herz begehrt.




¹ „Max Planck Forschung“, Ausgabe 04|2024 „Hab ich die Wahl?“ insbesondere mit den Artikeln
„Ist das freiwillig?“ von Harald Rösch (S. 24 ff.) und
„Willst du mit mir gehen?“ von Sabine Fischer (S. 30 ff.)

² Quellen nur in englischer Sprache:
nature human behaviour – T. Horwitz, J. Balbona, K. Paulich, M. Keller: Evidence of correlations between human partners based on systematic reviews and meta-analyses of 22 traits and UK Biobank analysis of 133 traits (Published: 31 August 2023)
Previous version: Correlations between human mating partners: a comprehensive meta-analysis of 22 traits and raw data analysis of 133 traits in the UK Biobank (19 March 2022)
Summary: Opposites don’t actually attract (by Sciencedaily)

³ Auf die Wichtigkeit einer solchen „inneren Selbstbegleitung“ weist z.B. sehr stark die Traumatherapeutin Maria Sanchez hin, über deren Herangehensweise ich einiges vor genau einem Jahr in Eintrag 98 geschrieben habe.

Dank an Eli Pluma auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 109

Jenseits des Denkens

Wo das Vertrauen den Weg beschreitet, kann sogar der Verstand folgen…

Willkommen im neuen Jahr 2025 – und damit ebenfalls willkommen zum Jahresrückblick 2024!
Wenn ich die letzten zwölf Einträge meines „Reisetagebuchs“ betrachte, handelten diese ganz überwiegend vor allem von den wichtigsten Elementen des „oligoamoren Baukastens“: Genau jenen Elemente, die für eine solide Grundkonstruktion von wesentlicher Bedeutung sind.

So ging es z.B. im Januareintrag um die Verbundenheit unter allen Beteiligten einer Mehrfachbeziehung und im Februarartikel um die Gewissheit des Angenommenseins mit seiner ganzen Persönlichkeit in einer solchen Konstellation.
Im März, in dem wir unglaubliche 5 Jahre Oligoamory feierten, ermutigte ich nochmals eindringlich dazu, vor allem der Magie der Liebe zwischen mehr als zwei Menschen in jedem Fall eine Chance zu geben, bevor man diese unter einem Wust eigener Vorurteile und Ressentiments ersticken würde. Trotzdem gab ich im April, im 100. Jubiläumseintrag, dazu sogleich Tipps, wie dementsprechend auf ein günstiges Ressourcenmanagement zu achten wäre – konkret materiell wie auch im Ideal.
Den Mai-Eintrag widmete ich darauf konsequenterweise dem empfundenen Maß an Zufriedenheit in unseren Beziehungen – insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen des Lebens in unserer heutigen Zeit.
Im Juni erinnerte ich daran, nicht zu vergessen, daß all unsere als Erwachsene eingegangenen Beziehungen mit ihrer anhängigen Verantwortung aus der Gestaltung unserer persönlichen Freiheit hervorgegangen seien; dies erweiterte ich im Juli-Eintrag um das Paradoxon des allseitigen Gewinns, der aus der freiwilligen Selbstbeschränkung sämtlicher Beziehungsbeteiligten hervorgehen würde.
Beständigkeit und Nachhaltigkeit, die Grundlagen jeder Form von echter Verbindlichkeit, war nochmals mein Thema im August – was den September-Eintrag vorbereitete, in dem ich dazu aufrief, den Kernwerten ethischer Mehrfachbeziehungsführung auch in weniger ersprießlichen Phasen treu zu bleiben. Um dies zu verdeutlichen, wählte ich für den Oktober-Eintrag ein geradezu melodramatisches Beispiel, bei dem unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen, Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treibt, wenn wir uns unhinterfragt normgesellschaftlichen Erwartungen überlassen.
Das Leben als Person mit Mehrfachbeziehungswunsch in der Normgesellschaft und ihrer Ellbogenmentalität begleitete uns dann auch hinein in den November – zusammen mit dem Wunsch nach authentischer Gewahrsamkeit, jenseits von grell-vereinfachendem Populismus.
Dieses bunte Paket rundete ich im Dezember mit dem Aufruf ab, ein solches „Dazwischengeraten“, welches unsere Lebensweise unweigerlich auf diese Weise mit sich bringt, nicht nur auszuhalten, sondern sich vielmehr als Quelle eigenen Selbstvertrauens zu erschließen.

Wenn ich diese bunte Liste des abgelaufenen Jahres noch einmal betrachte, freue ich mich einerseits über ihre Vielfalt – und ihre Bedeutsamkeit.
Andererseits regt mich der Inhalt auch noch einmal zum Nachdenken an – insbesondere im Angesicht einer derzeit sehr herausfordernden Weltlage und dem allgegenwärtigen Unfrieden, der aktuell an vielzuvielen Orten zu verspüren ist.
Denn „Orte“ – das ist ja nicht nur ein konkreter Begriff und beschreibt tatsächliche Stätten wie Charkiw oder Khartum. „Orte“ können auch Begegnungsräume sein, wie eben unsere zwischenmenschlichen Beziehungen.
Und in diese Orte zieht der Unfriede der Welt am Ende doch auch ein; strapaziert, zermürbt, und erschöpft sie mit den täglichen großen und kleinen Meldungen des Außens: Von diffus-bedrohlichen weltweiten Kriegen und Krisen angefangen – bis hin zu persönlich spürbareren Berührungspunkten wie Klimawandel, Inflation oder Arbeitskräftemangel.
Und haben solche steten Tropfen der Verunsicherung erst einmal den Stein unserer Standfestigkeit und Toleranz unterspült, bildet sich darunter ein tückischer Morast an zunehmender Irritation, in der auch unsere soziale Flexibilität einzusinken droht.
Wodurch unsere Nahbeziehungen letztendlich zu leiden beginnen – da kann der Oligotropos noch so schön über Ressourcenmanagement, Wahlfreiheit oder Achtsamkeit schreiben…

Derzeit hängen Wahlplakate in unserer Republik. Auf manchen von ihnen stehen Schlagworte wie „Hoffnung“ oder auch „Zuversicht“ ¹.
Das sind gute Wort, die unser Land in der Tat auch in Zukunft benötigt. Und auch in unseren Beziehungen, für die Liebe darin, benötigen wir ganz unbedingt Hoffnung und Zuversicht. Wenn die konstanten Tropfen der Verunsicherung allerdigs fallen und fallen, ihre Frequenz sogar stärker und regelmäßiger zu werden scheint… – dann wird auch aus Hoffnung und Zuversicht über kurz oder lang ein so arg verdünnter Stoff, daß selbst dieser uns nicht mehr durch unseren Alltag tragen kann.
Irgendwann haben wir lange genug zugewartet – auf das Wunder, welches eh nicht kommt; darauf, daß sich die Dinge doch noch positiv wenden; daß es schon nicht so schlimm ist und wir es noch länger aushalten könnten.
Nein.
Irgendwann ist der Sprit schlicht erschöpft, die Geduld am Ende; selbst unsere Zuversicht ist schließlich durchgewetzt, so daß wir uns wund, schutzlos und ausgeliefert fühlen– ein unerträglicher Zustand, es geht nicht(s) mehr.
In dieser Verfassung wird unser Blick gehetzt: „Was? Der Wocheneinkauf ist erneut 20€ höher ausgefallen – da war doch gerade vor ein paar Wochen erst so eine Steigerung…!?“ „Das Auto ist schon wieder kaputt – hat der Mechaniker trotz all seiner Beteuerungen bei der Abholung neulich doch geschludert?“ „Unsere Kollegin – was stimmt nicht mit der, daß sie uns mal als Seelenmülleimer in der Mittagspause beansprucht – um uns eine halbe Stunde später für irgendeine mißliebige Kleinigkeit Zusatzarbeit aufzubürden…?“ „Und erst unsere Partner*innen, wie die schon wieder gucken…, bin ich in deren Augen heute mal wieder zu müde, zu fett, zu unperfekt, nicht sexy genug???“

So geht es im Moment einer Menge Menschen. Zu vielen. Und weil es uns so geht, beginnen wir, unter Stress in Unterstellungen und Annahmen zu operieren. Wir schämen uns für allzumenschliche Kleinigkeiten (die auch uns widerfahren) vor uns selbst; gleichzeitig versuchen wir irgendwo Schuld zuzuweisen, denn das ist alles, was gerade am Ende unserer Kräfte noch geht – und jemand anders soll es verdammt nochmal besser machen oder wenigstens verändern, damit es für uns jetzt erträglicher wird.

Wenn wir in dieser Weise über Errungenschaften wie Nachhaltigkeit, Wahlfreiheit und Authentizität längst hinaus sind und diese schon hohl klingen, weil sie keinen Halt mehr geben; wenn selbst Hoffnung und Zuversicht in solch einer Lage aufgebraucht sind – da habe ich mich gefragt, was fehlt.

Was uns dieser Tage vor allem fehlt, ist Vertrauen.

Vor allem jenes aus einem Schatz erlebter Erfahrungen zugesprochene Vertrauen, über das der US-amerikanischer Schriftsteller, Journalist und Kulturturkritiker Henry Louis Mencken einst sagte, daß „es ein Gefühl sei, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde.“
Bzw. dieses gewähren lassende Vertrauen, von dem die deutsche Lyrikerin Damaris Wieser vor einiger Zeit schrieb, daß es „das Abschaffen unserer ständigen Kontrolle der Mitmenschen“ sei.
Ja, noch mehr: Genau das Vertrauen, welches der libanesisch-amerikanische Philosoph Khalil Gibran „eine Oase des Herzens“ nannte, „die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird“.

Erfahrungsschatz? Gewähren lassen?? Jenseits des Denkens???
Hat das tatsächlich etwas mit diesem von uns viel gesuchten und dringend benötigten Vertrauen zu tun? Hatte der englische Schriftsteller Samuel Johnson schon vor 300 Jahren Recht, als er schrieb, daß es „keine Freundschaft ohne Vertrauen, kein Vertrauen ohne Integrität geben“ könne?

Das Ethymologie-Wörterbuch des Dudens² leitet vom Wort „Vertrauen“ sofort auf das Wort „trauen“ weiter – „trauen“ so verwendet wie in dem Satz „Kann ich dir trauen?“
Dort wiederum ist im Duden zu lesen:

»trauen – Das gemeingermanische Verb mittelhochdeutsch trūwen, althochdeutsch trū[w]ēn, gotisch trauan, englisch to trow, schwedisch tro gehört im Sinne von „fest werden“ zu der unter ↑treu behandelten Wortgruppe. Aus dem urspünglichen Wortgebrauch im Sinne von „glauben, hoffen, zutrauen“ entwickelte sich die Bedeutung „vertrauen schenken“ und aus reflexivem „sich zutrauen“ die Bedeutung „wagen“.«
Die Weiterleitung zu ↑treu kennen wir hier auf meinem bLog schon seit Eintrag 66:
»Die heutige Form geht auf mittelhochdeutsch triuwe zurück. Vergleiche aus anderen germanischen Sprachen gotisch triggws „treu, zuverlässig“, altenglisch [ge]trīewe „treu, ehrlich“ (englisch true „treu, wahr, richtig, echt“) und schwedisch trygg „sicher, getrost“. Die Wortgruppe gehört zu dem indogermanischen *deru „Eiche, Baum“, zu dem auch ↑Trost (eigentlich [innere] Festigkeit) und ↑trauen (eigentlich: „fest werden“) gehören. Das Adjektiv treu bedeutet demnach eigentlich „stark, fest wie ein Baum“.«

Ok…, nach soviel Sprachgeschichte halten wir fest: „Vertrauen“ ist in gewissem Sinne in sich selbst begründet – ich kann es (so wie bei der Stabilität eines Baumes…) erst erfahren, wenn ich mich darauf einlasse bzw. es belaste, ob es trägt.
Plus: Das deutsche Sprichwort, welches noch an an manchen alten Fachwerkhäusern als Balkeninnenschrift zu lesen ist, ist darum ebenfalls folgerichtig:
„Vertrauen kommt von Treue – und geht auch mit ihr.“

Daß Vertrauen Treue oder – wie ich hier auf meinem bLog oftmals lieber sage – Loyalität benötigt, habe ich im erwähnten Eintrag 66 schon festgehalten, als ich Wikipedia zitierte: »Treue (mhd. triūwe, Nominalisierung des Verbs trūwen „fest sein, sicher sein, vertrauen, hoffen, glauben, wagen“) ist eine Tugend, welche die Verlässlichkeit eines Akteurs gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ausdrückt. Im Idealfall basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen beziehungsweise Loyalität.[…]«

Womit Samuel Johnson mit seiner Integrität gut im Rennen liegt – denn die Definition von Integrität als Bestandteil der Loyalität ist eines meiner Lieblings-Wikipedia-Zitate seit dem frühen Oligoamory-Werte-Eintrag 3: „…die fortwährend aufrechterhaltene Übereinstimmung des persönlichen Wertesystems und der persönlichen Ideale mit dem eigenen Reden und Handeln.“

Vertrauen ist demnach tatsächlich etwas, das wir Menschen nur „erfahren“ können. Durch faktisches Denken oder intellektuelle Argumente können wir weder davon überzeugt werden, noch andere dazu bekommen, uns zu vertrauen. Also ist auch Khalil Gibrans Oase damit vor dem bloßen Verstand in der Tat sicher. Das ist zwar sprituell und romantisch gesehen zunächst eine gute Nachricht – aber für unsere verrückte Zeit hält dies zugleich die Herausforderung bereit, daß wir uns zum Vertrauen durch reines „zur Besinnung kommen“ eben gerade nicht entschließen können, sondern daß dieser Schritt auf einer anderen Ebene gegangen werden muß.

Diesen zunächst knifflig wirkenden Zusammenhang, der beinahe schon widerspüchlich ist, hat für mich der zeitgenössische Aphoristiker Dirk Hintze äußerst klug folgendermaßen ausgedrückt:
„Vertrauen ist ein geliehenes Geschenk.“

Denn konkret auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen angewendet, verschenken wir unser Vertrauen ja vor allem genau dann, wenn wir unsererseits durch die Empfangenden bereits erfahren, daß diese, hm, postalisch gesprochen, ein „sicherer Ablageort“ dafür sind. Uns wurde also offenbar von der anderen Seite ebenfalls schon Vertrauen wiedergespiegelt, z.B. in irgendeiner Form von Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit oder der schon benannten Integrität.
Vor allem durch die Gegenprobe bestätigt sich die Grundidee: Zieht man aus einer Beziehung Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Integrität ab, war’s das sogleich mit dem Geschenk – und es zeigt sich, daß Anerkennung und Wertschätzung in Form von Vertrauen zwar „verliehen“ werden, sich dieses „Geschenk“ aber sofort in Luft auflöst, sobald die dafür Grund gebenden Erfahrungen nicht mehr wahrgenommen werden.

Und Khalil Gibran liegt goldrichtig, wenn es beschreibt, daß dafür keinerlei Denken notwendig, ja, es sogar abträglich, ist: Die Erfahrung von Vertrauen ist ein innerlich zusammengetragener Schatz an Momenten, denen wir situativ und daher intuitiv im Augenblick des Entgegenbringens Bedeutung verliehen haben. Die allermeisten Erfahrungen der Vergangenheit könnten wir daher mit dem Verstand auch gar nicht mehr bennenen – heute ist das Ergebnis jedoch, daß eine andere Person unser Vertrauen hat – oder eben nicht.

Damaris Wieser wiederum konkretisiert, daß „Vertrauen“ Teil jener Sphäre ist, in der auch Liebe und Freiheit zuhause sind. Denn deren Antagonisten (Widersacher) heißen Kontrolle und Sicherheit – und um Letztere geht es beim Vertrauen ja gerade nicht: Der Ast wird halten – und das „erwarte“ ich, bevor ich den Fuß darauf setze – ich setze den Fuß auf – und er hält in der Tat.
Daß wir hingegen heutzutage bei Stress in Mikromanagement verfallen – und jeden wie auch immer abwegigen Zweig im ganzen Wald so minutiös wie überflüssig zuvor prüfen müssen, erklärt daher über unsere Gegenwart sehr viel…

Bleibt mir fast nur noch, vor Henry Louis Mencken den Hut zu ziehen, der in meiner Lesart den Rahmen um das Vertrauen mit dem „mehr als die Summe seiner Teile“ erweiterte, so, wie ich es mir in der Oligoamory oft wünsche: Das Erleben von Vertrauen in die Anderen übersteigt sogar meinen eigenen ethischen Selbstanspruch. Ich erhalte durch mein Vertrauen noch mehr als meinen eigenen Einsatz zurück.
Umso mehr, da die „Tür des Vertrauens“ ja in beide Richtungen schwingt: Es geht eben nicht nur darum, stets von den anderen Vertrauenswürdigkeit zu verlangen, sondern diese auch regelmäßig selbst durch eigenes berechenbares und überwiegend unzweideutiges Verhalten zu erweisen.

Was wir demgemäß wirklich erfahren wollen, vor allem in unseren Nahbeziehungen, ist das, was in der Forschung „identifikationsbasiertes Vertrauen“ genannt wird. Es besteht aus den vier wichtigen Erlebensebenen:

  • Enge Abstimmung, Offenheit und regelmäßige Kommunikation (wer hätt’s gedacht…?)
  • Identifikation mit den Werten, Zielen und Bedürfnissen der betroffenen Beteiligten
  • Gemeinschaft zwischen den Vertrauenden
  • Gegenseitige Sympathie und die Entwicklung einer emotionalen Bindung

Ob wir jenseits privater Beziehungen jemals sogar diese letzte Ebene erreichen können? Ich glaube, dazu müsste unsere Gesamtgesellschaft deutlich anders aufgestellt sein, als sie es gegenwärtig ist.
Manchmal müssen wir sogar dafür Vertrauen vorstrecken, so wie vielleicht eine unerschrockene Löwenzahnpflanze instinktiv auf ausreichend Licht und Nährstoffe vertraut, während sie eine gepflasterte Oberfläche durchbricht.
Denn auch das hat unsere Welt längst erwiesen, daß solch ein scheinbar unbegründet optimistisches Vertrauen weit weniger absurd ist, als es im ersten Moment erscheinen mag.
Als im November und Dezember 1989 in der damaligen Tschechoslowakei im Verlauf der dortigen „Samtenen Revolution“ ein maßgeblicher Teil des „Eiserne Vorhang“ fiel, erschien kurz vor Weihnachten in der Hauptstadt Prag ein anonymes Graffito an einer Mauer – mit den Worten:

„In einer Welt voller Misstrauen ist Vertrauen die Revolution.“




¹ Wahlkampfkampagne Bündnis90/Die Grünen anlässlich der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar 2025

² Duden Band 7: Das Herkunftswörterbuch, Ethymologie der deutschen Sprache, Nachdruck der 2. Auflage (1997), Verlag Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG

Danke an Enrique auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 108

Dazwischen sein

Das Alte ist nicht mehr – das Neue ist noch nicht geworden…:

Diese Ermutigung des irischen Philosophen, ehemaligen Priesters und Schriftstellers John O’Donohue ist für eine Lebensweise in ethischen Mehrfachbeziehungen nahezu sinnbildlich – und das obendrein gleich in mehrerlei Aspekten.

Schon mit der Wahl unserer Lebensweise setzen wir uns ja gewissermaßen „zwischen die Stühle“ : Die Monogamie in ihrer beschränkenden Ausschließlichkeit und mit dem Exklusivbezug auf nur einen (erlaubten) lebenslangen Partnermenschen wollen wir für uns nicht. Jedoch möchten wir uns zugleich trotzdem als verbindlich, berechenbar und beständig erweisen – weshalb wir eine Beziehungsform wie die Oligo- oder Polyamory wählen. Denn eine rein erotisch „offene Beziehung“ allein – oder gar die bloß auf vorwiegend unbeschränkte/nicht-bevormundete Sexualität abzielende „Freie Liebe“ bieten uns kein inneres Zuhause, in dem wir uns langfristig wohlfühlen würden.
Und da stehen wir dann – mit diesem Wunsch, wenn wir ihn in uns erst nach und nach an die Oberfläche gebracht haben… Denn dann geht es womöglich an die herausfordernde Aufgabe, noch andere Menschen zu entdecken, die dies eventuell so ähnlich empfinden wie wir.
Kein leichtes Unterfangen, in einer Welt, die, was Liebe und Beziehungen angeht, mehrheitsgesellschaftlich vorwiegend erstmal konservativ und normativ unterwegs ist…
Und wer sich einmal für solche Zwecke in die verschlungene Welt des Datings – egal ob off- oder online – gewagt hat, kann Bände davon berichten, wie verschieden all die anderen suchenden Menschenkinder da draußen von dem eigenen Wünschen und Sehnen sein können – und wie viele Frösche man küssen müsste – in der Hoffnung auf ein märchenhaftes Resultat.
Viele Frösche werden sogar Reißaus vor uns nehmen – denn Mehrfachbeziehungen haftet nicht ohne Grund das heikle Faszinosum an, „irgendwie queer“ zu sein. Und wer besitzt genug Mut für solch ein Wagnis?
Davon können uns all diejenigen Zeugnis ablegen, die bereits längst zum queeren Spektrum gehören, all die großartigen lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgeschlechtlichen und übrigen bunten Wesen – die nämlich alle sehr genau wissen, wie es ist, im wahrsten Sinne regelmäßig normgesellschaftlich „dazwischen“ zu geraten.

Auf diese Weise kann es aber leider ebenfalls geschehen, daß auch wir sehr lange „dazwischen hängen“. Uns gefangen fühlen in einem Zustand, wo wir eine Entscheidung zugunsten eines Beziehungsmodells getroffen haben, den alten „ausgewaschenen Weg“ nicht mehr beschreiten wollen und können. Aber das „Neue“ läßt sich reichlich Zeit und ist nicht mit Zwang zu realisieren – wie auch, wenn es Liebe werden soll – aber mit der Zuversicht ist es in solchen Phasen augenscheinlichen Stillstands so eine Sache – was unser irischer Priester wohl wusste und uns daher „so gut Du kannst“ zugesprochen hat. Denn Ungewissheit aushalten, daß zählt für unsere Herzen und Seelen zu den größten Zwickmühlen, in die wir geraten können.
Vielleicht spielte O’Donohue deswegen auf den „Ruf“ (der innere Stimme) an, den man nicht verspielen bzw. verklingen lassen sollte. Auf unsere Situation übertragen würde ich sagen: Lass nicht nach, gib Deinen Traum nicht auf und der Beziehungsphilosophie die Schuld. Gewähre Dir stattdessen wohlwollend diese Zeit für (noch mehr) Wandel.

Und wenn wir „Glück“ haben? Gar nicht daten müssen – und uns vielmehr urplötzlich in einer Mehrfachbeziehungssituation befinden, weil diese sich ereignet, ja, über uns kommt?
Wenn wir uns in Menschen verlieben, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind – oder, oh Wonne, mehrere andere Menschen, die bereits anderweitig in Liebe oder verpartnert sind, verlieben sich in UNS?
Dann, glaubt mir, benötigen wir den obigen Segen John O’Donohues erst recht. Denn selbst wenn man glaubt, in sich selber aufgeräumt zu haben, selbst wenn man für die gute Vorbereitung in der Theorie sämtliche verfügbaren Bücher, Podcasts, Netzvideos etc. zum Thema Polyamory konsumiert hätte – auf die Wirklichkeit bereitet es einen am Ende eben doch nicht vor.

Nein, viel zu häufig holen uns gerade dann tief in uns schlummernde Zweifel ein. Und statt dem angestrebten Ankommen und dem „inneren Zuhause“ brechen Gefühle über uns hinein, die mehr einem zugigen „inneren Bahnsteig“ entsprechen – einem, wie der irische Philosoph es nannte, „Ort des Zwielichts“.
An diesem unangenehmen Ort stellen wir vieles in Frage: Haben die anderen vielleicht wirklich unser Herz aus den Augen verloren? Sind wir für sie nur so eine Art „Lebensdreingabe“, ein bequem zubuchbares „Feature“ ihres Beziehungs- und Liebeslebens, praktisch im Alltag und bereichernd im Bett? Sichern sich alle anderen stets die größeren Stücke vom gemeinsamen Kuchen, indem sie vorwitziger oder lauter sind als wir – und darum ihre Ansprüche ungenierter durchsetzen?
Haben wir uns da überhaupt aufrichtig auf das richtige Beziehungsmodell für uns eingelassen? Hätten wir nicht eventuell doch besser bei der guten alten Monogamie bleiben sollen – dann eben mit nur einem Partnermenschen, ganz für uns – das wäre doch wahrscheinlich schon genug Aufwand, Turbulenz und Herzflimmern gewesen, bloß dann lediglich einmal – und nicht, wie jetzt, gleich mehrfach…

Denn manchmal geraten wir bei mehreren Lieblingsmenschen ja sogar ganz buchstäblich „dazwischen“ (und in der Monogamie gibt es das so nicht – dafür aber nahezu in jeder Familie oder anderweitigen Form von Gemeinschaft): Wenn es zu Streit kommt, bei Loyalitätskonflikten – bzw. wenn wir uns zu irgendeiner Art von Parteiergreifung gedrängt fühlen, obwohl wir uns doch eigentlich nichts sehnlicher wünschen in so einem Augenblick als zurückkehrende Übereinstimmung und allseitiges Verständnis.

Wenn wir dann, wie zur Zeit (denn dies ist der Dezembereintrag), dazu auch noch an vielen Orten von hektischem Glitzer, harmoniebeschwörenden Klängen und dem alljährlichen Geschenkzwang zur wechselseitigen Aufmerksamkeitsbezeugung umgeben sind, dann können diese Fragen schon einmal über dem eigenen Kopf zusammenschlagen und der Ruf sowie unsere innere Stimme, die uns – in welcher Weise auch immer – auf den Mehrfachbeziehungsweg gebracht haben, werden so leise, daß sie nahezu verstummt scheinen.

Lange bevor wir erst eine Industrie- und dann eine Dienstleistungsgesellschaft mit ihren tausenderlei Produkten und Verbindlichkeiten im Außen entwickelten, muß unseren Vorfahren früher einst offenbar bewußter gewesen sein, daß wir Menschen keineswegs auf einen „inneren Knopf“ drücken können, um dann sogleich zu 100% als fertiges Produkt verbindlich marktreif zu erscheinen.
In ihren Legenden spielten indessen geheimnisvolle, mächtige mythische Figuren eine Rolle, die über unsere Lebenszeit herrschten, womit ich z.B. die Nornen meine, unheimliche Schwestern, von denen es hieß, daß sie unseren Lebensfaden spinnen, bemessen und abschneiden würden.
Die Germanen gaben ihnen seltsame Namen, die für uns heute düster und ungefügt klingen: Urd, Verdandi und Skuld. Dabei waren ihre Namen schlicht Programm, Marketing, würden wir jetzt sagen.
Denn an dem Wort „Urd“ kann man noch immer mit etwas Fantasie das heutige Wort „gewo(u)rden“ erkennen – die Norne „Urd“, „das Gewordene“ stand also für die Vergangenheit.
Mit der mittleren Schwester „Verdandi“ ist es etwas komplizierter – nicht mehr aber so sehr , wenn wir ihr „V“ durch ein „W“ ersetzen und dank Urd schon wissen, daß es um das Wort „werden“ geht. Diese Norne trägt in ihrem Namen nämlich dessen Partizip Präsens – und Präsens ist ja die Gegenwart: „Verdandi“ ist also „das Werdende“. Und zwar das Werdende, was JETZT gerade wird – also geschieht.
Bleibt noch die gute Skuld, der eine Verkürzung ihres Namens zuteil wurde, wahrscheinlich weil die grammatischen Formen von „werden“ bei den anderen beiden schon genug strapaziert waren. „Skuld“ bedeutete (ähnlich dem englischen „should“) „soll/te“ – womit gemeint ist, „was noch geschehen soll“, also die Zukunft.
Daher waren es gute, starke Namen von diesen Nornen, denen wir auch heute noch Beachtung schenken können: Das „Gewordene“ können wir nicht mehr ändern; auf das, was jetzt gerade wird, kommt es an, da können wir etwas tun – denn das, was die Zukunft ist…, das „soll“ erst noch kommen – und ist daher keinesfalls als gesichert oder unabänderlich zu betrachten.

Vor hunderten von Jahren hatten eben jene Nornen gerade zm Ende eines Jahres hin besondere Macht, weil unseer Vorfahren mit dem Geheimnis der Zeit noch eine andere Sitte pflegten, nämlich jene der sogenannten Rauhnächte. Vor exakten Kalendern und Uhren orientierte man sich zur Zeitmessung an Sonne und Mond, was allerdings das etwas unpraktische Problem aufwarf, daß ein Sonnenjahr 365 Tage hat und ein Mondjahr nur 354 Tage. 11 Tage blieben also dabei „dazwischen“ auf der Strecke.
Findig erkoren unsere Vorfahren diese 11 Tage zu „heiliger (Zwischen)Zeit“, fügten noch einen weiteren Auftakt-Feiertag hinzu – und glitten so ab der Wintersonnenwende bis ins neue Jahr „zwischen die Zeit“ – eine Periode, die sie durch Befreitheit von Arbeit dem Feiern und der inneren Einkehr widmeten (Übrigens ist das ebenfalls der Grund, warum wir heute noch manchmal diese Zeit nach Weihnachten als „zwischen den Jahren“ bezeichnen…).

Während wir uns also heute an unserer „inneren Bahnsteigkante“ daher oftmals wie zerrissen oder zweifelnd erleben, war „dazwischen Sein“ damals vielmehr etwas Besonderes, etwas Heilendes und etwas kosmisch Gutes.
Genau das ist es, was uns auch der Priester O’Donohue mit seinem keltischen Segen zusichern möchte: Diese „Zwischenzeit“ auszuhalten, noch genauer: in sich hineinzuhören und festzustellen, daß da gerade ein Wandel in uns im Werden (Verdandi!) ist, der uns für das bereit macht, was noch kommen soll (Skuld!).

Wir sollten aber auch unsere Zweifel ernst nehmen und sie ebenfalls zu dieser Übergangszeit als dazugehörig betrachten. Haben unsere Lieblingsmenschen unser Herz aus den Augen verloren?
Haben sie ihr Interesse an uns veringert – oder haben sie es gar verloren, weil wir uns gerade verändern?

Diese Fragen sind so gut wie wichtig, denn – passend zu meinem heutigen Thema – ist auch „Interesse“ unser Stichwort:
Das Wort, welches im Deutschen (laut Wiktionary) in etwa „Gefühl oder Einstellung, von etwas mehr wissen zu wollen“ bedeutet, setzt sich aus den beiden urspünglich lateinischen Wörtern „inter“ (= dazwischen) und „esse“ (= sein) zusammen. Es geht also schon wieder ums „Dazwischensein“! Die Römer nutzen „inter esse“ auch in dem Sinne „es ist von Wichtigkeit“ (ist ja klar, wenn man mehr wissen will…) – womit wir unsere Antwort gewissermaßen schon sogleich erhalten haben: Ja, wir sind wichtig.

„Wer in der Mitte der Dinge ist, gerät anderen schnell in den Weg“ besagt jedoch auch ein englisches Sprichwort – und macht damit auf die Ambivalenz und Herausforderung aufmerksam, die das „dazwischen Sein“ dabei zugleich mit sich bringt. Wie unsere eingangs erwähnten queeren Mitstreiter*innen bestätigen können: „dazwischen Sein“ ist eben nicht bequem.

Inmitten unserer Liebsten dürfen wir uns also allesamt immer wieder mit solchen existentiellen Fragen auseinandersetzen. Ganz ohne Beschwichtigungen wie „Das ist schon nicht so schlimm“ oder Abwiegelungen wie „Andere sind doch noch viel schlechter dran…“ oder gar Bevormundungen „Mir hat das nie etwas ausgemacht…“.
Über einer Einrichtung für behinderte Menschen an einem meiner vorherigen Wohnorte prangte mit etwas Selbstironie das von den Einwohner*innen selbst gefertigte Schild mit der Aufschrift „Niemand weiß, wie schwer die Last wägt, die ein anderer trägt“ – und ganz ohne grammatische Spitzfindigkeiten ist das ein Leitsatz für mich geworden, an den ich mittlerweile regelmäßig denke – gerade wenn im Zwischenmenschlichen mal die Wogen höher schlagen und man schnell versucht ist, zu den obigen Plattitüden Zuflucht zu nehmen.

Wir sind in unseren Beziehungen miteinander – aber dennoch ist jede* und jede*r von uns auch auf dem ganz eigenen Weg und in ganz eigener Weise dabei, zu dem ureigensten „Ich“ bzw. „Du“ zu werden. Wir können uns untereinander diese Aufgaben nicht abnehmen – aber wir können uns unterstützen. Und manchmal heißt das eben auch nur: Vor allem füreinander da zu sein – egal ob gerade dazwischen oder schon mittendrin.

Ich möchte den letzten Eintrag des Jahres 2024 darum auch mit einem weiteren Zitat John O’Donohues schließen, der so unglaublich mitmenschlich schrieb:




¹ aus: John O’Donohue, „Benedictus: Das Buch der irischen Segenswünsche“, Pattloch, München 2009

² aus: John O’Donohue, „To Bless the Space Between Us“, Convergent Books, März 2008

Danke an Magne auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 107

„Jetzt bin ich aber mal dran!“

Die Welt macht es uns vor: Egal ob in den USA Donald Trump mittels schlichter aber nichtsdestoweniger lauter Parolen die diesjährige Präsidentschaftswahl gewinnt – oder in Deutschland der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz durch die Entlassung seines mißliebigen Finanzministers die Regierungskoalition zum Kollabieren bringt: „Jetzt bin ich aber mal dran!“ Endlich einmal unwidersprochen seinen eigenen Willen durchsetzen können, es richtig krachen lassen – wie wunderbar das wohl sein muß…
Und was da im Großen geschieht – und weil es im Großen geschieht, so wollen wir irgendwann auch einmal unseren Teil gleichermaßen behaupten. Zum einen, weil es ja mittlerweile ganz offensichtlich en vogue zu sein scheint, ohne allzu viel Rücksicht auf Verluste zuzugreifen, wenn die Gelegenheit gekommen ist. Zum anderen, weil sich dazu noch so ein „jetzt-erst-recht / Sch#-egal“-Gefühl gesellt, da die Welt gerade eh verrückt zu spielen scheint – und da will man wenigstens nicht die*der Letzte sein, beim scheinbar allgegenwärtig hereinbrechenden Schlußverkauf.
Wäre doch auch blöd, noch länger zu warten. Und dann noch dazu all diese kleinlichen Hindernisse und Regularien, die eine eigentlich ganz einfache Sache bloß unnötig kompliziert machen. So etwas haben sich vermutlich Kommunisten ausgedacht, Ökofreaks oder anderweitig feministisches oder gar queeranarchistisches Volk.
Egal.
Ich will jetzt eine*n weitere*n Partner*in! Und ich will dann auch sofort Sex.
Was ich nicht will ist, zuvor über lästige Gegengründe wie Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit (allein schon dieses Wort ^^!) nachzudenken, zum Teufel damit, ich komme andernfalls ja überhaupt gar nicht zum Zug. Sonst wird wieder alles zerfasert, zerdacht und kaputtdiskutiert. Wer etwas will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Und all das hat unserem Glück nun wirklich lange genug im Weg gestanden, nicht länger:
Heute sind wir mal dran!

Auch so eine Herangehensweise kann man in der Welt der Nicht-Monogamie versuchen. Und das wird auch getan, gar nicht so selten, was gesellschaftlich und medial seinen Teil dazu beiträgt, Mehrfachbeziehungsformen wie der Polyamory einen ausdauernd zweifelhaften Ruf zu bescheren.
Vor allem aber läßt es sowohl bei den Betreiber*innen solcher „Brechstangen-Strategien“ wie auch bei denjenigen, die unversehens Teil eines solchen Handelns wurden, Frustration und oft dazu eine Reihe gebrochener Herzen zurück: „Mehrfachbeziehungen? Das ist nur Kuddelmuddel, ständige Irritation und Schmerz, habe ich probiert, klappt eh nicht…!“

Funktionierende Demokratien und ethische Mehrfachbeziehungen, wie die Poly- oder Oligoamory scheinen sich demnach offenbar mit ähnlichen Problemen herumzuschlagen. Sogar im argumentativen Diskurs. Was ist da los?

Ich möchte mich an einer Antwort versuchen – natürlich vor allem in Sachen Mehrfachbeziehungen. Aber dabei gibt es zur Demokratie immer wieder Parallelen, was in der Natur der Sache liegt.

Denn z.B. ist die 1990 von der paganen Priesterin und Feministin Morning Glory Zell-Ravenheart formulierte „Polyamory“ ja eigentlich noch gar nicht so alt, um romantischen Verhältnissen zwischen mehr als drei Personen eine „Beziehungsverkehrsordnung“ mit auf den Weg zu geben.
Fun fact: Das Wort „Beziehungsverkehrsordnung“ benutzte Morning Glory quasi wortwörtlich in jenem allerersten Text, in dem zum ersten Mal im modernen Kontext das Wort „polyamor“ auftauchte¹ – im Englischen war es die Phrase „Rules of the Road“, welche eben genau als technischer Term auch für das im Deutschen verwendete Wort „Straßenverkehrsordnung“ steht.

Hätte es nicht ausgereicht, bei der „Freien Liebe“ zu bleiben, die aus der sexuellen Revolution der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hervorgegangen war?
Damals eine Anti-Establishment-Bewegung, die mit verstaubten moralischen Regeln brach, die zur Selbstermächtigung der Beteiligten aufrief und dadurch auch das Streben nach unmittelbarer körperlicher und seelischer Bedürfnisbefriedigung zum Anerkenntnis und zur Berechtigung aller Menschen erklärte.
Von den Blumenkindern auf den Straßen San Franciscos fast schon eine ur-US-amerikanische Agenda: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ (engl.: „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ ²). Genau jene Prinzipien übrigens, von denen z.B. aktuell auch Donald Trump sagt, daß er diesen in den USA wieder „mehr Geltung“ verschaffen will…

Mit verstaubten Regeln zu brechen, überkommene Ansichten zu revolutionieren und Menschen zu berechtigen ist großartig und hat seine ganz eigene Kraft. Ohne diese Revolution in den 60ern und 70ern hätten Menschen es vermutlich weiterhin noch lange Zeit nicht gewagt, von da ab mutiger ihre Sexualität und ihr Leben in verschiedenen Beziehungsformen zu erproben.

Etwas mehr als 20 Jahre später führte genau dieses Erproben zu erweiterten Erkenntnissen:
Allein Menschen zu berechtigen, ist nur ein Teil einer Erfolgsgeschichte.
Das ist quasi ikonisch an einer der ältesten „Berechtigungen“ der Menschheit abzulesen – womit ich in der Bibel aus dem 1. Buch Mose (Genesis), Kapitel 1, Vers 28 meine, der lange Zeit als „Macht euch die Erde untertan und herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier…“ übersetzt und verbreitet wurde. Was nach und nach zu einer „Selbstbedienungsmentalität“ an unserem Planeten führte, mit deren Folgen wir nun im 21. Jahrhundert auf das Dramatischste konfrontiert sind…
Denn wenn erst auf diese Weise aus Berechtigung und Selbstermächtigung irgendwann oft genug ein autoritär-trotziges „Jetzt bin ich aber mal dran…!“ abgeleitet worden ist, dann liegt auf der Hand, daß es eines Tages vermutlich nichts mehr geben wird, was noch ge- oder verteilt werden kann.

Knapp 20 Jahre nach der „sexuellen Revolution“ zeigte also nicht nur unser Planet erste deutliche Gebrauchsspuren, sondern auch viele Beziehungsexperimente bewiesen, daß der Faktor „Nachhaltigkeit“ dringend einen Platz in der Gleichung benötigte.

Und „Nachhaltigkeit“ kommt bekanntlich in zwei Stufen:

►Die erste Stufe ist die Wahrnehmung dessen, daß eine lediglich entfesselte Selbstbedienungsmentalität sich selbst nach und nach die Existenzgrundlage entziehen wird. Eine Revolution, die einst aus guten Gründen begonen hatte, wird sich am Ende selbst verzehren, wenn sie schließlich ihre letzten Grundlagen durch Überheblichkeit und Selbstsucht vernichtet hat.
Ressourcen müssen also verwaltet und aufgeteilt werden, damit ein möglichst großer Mehrwert für alle, die daran Anteil haben wollen, erhalten bleibt.
Letzteres Prinzip ist in der Ökologie so wichtig wie in gesunder Beziehungshygiene: Egotripping und intransparentes Handeln, um sich so auf Kosten der Anderen einen Vorteil zu verschaffen, beschleunigen den Weg in den Abgrund (auch wenn dieser für die, die rein eigennützig handeln, noch bis kurz vor dem Ende recht bequem erscheinen mag…).

►Die zweite Stufe war es vermutlich, die Morning Glory dazu bewegte, über ein Modell wie die „Polyamory“nachzudenken: Um anhaltende Funktionsfähigkeit und Langfristigkeit zu gewährleisten, muß Selbstermächtigung um den Schutz von Ressourcen und um Schutzrechte zu Gunsten der eigenen Integrität erweitert werden.
Oh!
Denn genau dieser Moment war es, in dem es mit den „einfachen Antworten“ der ursprünglichen Revolution vorbei war.
Aus: „Klar kannst Du soviele Partner*innen haben, wie Du willst und Sex haben, mit wem und so oft du dabei willst…“ wurde in diesem Moment „…aber die anderen Beteiligten sind dabei ebenfalls als ganze Individuen wahrzunehmen und zu hören, sie haben eigene Rechte wie du selbst – und bei einem Ganzen, von dem du profitieren möchtest und an dem du teilhaben willst, bist du gebeten im Gegenzug beizutragen, damit alle Mehrwert erleben und die Sache so ausgeglichen wie möglich bleibt.“
Spätestens mit dieser Erweiterung fand sich das Wörtchen „ethisch“ zu dem Wort „Mehrfachbeziehung“, was nun alle bekannten Werte, insbesondere Transparenz, Aufrichtigkeit, Berechtigung und Gleichwürdigkeit – aber dazu eben noch Berechenbarkeit, Wechselseitigkeit, Einvernehmlichkeit und ein Bemühen um Langfristigkeit versammelte.

„Gleich wieder so kompliziert…“, so höre ich es in den USA und in Deutschland seufzen. Dürften wir uns nicht wenigstens einmal der Zusage hingeben, daß wir das, was wir anstreben auch schlicht und einfach erhalten können, ohne ein Zuviel an Regularien?

Meine persönliche Antwort lautet: Nein, ich glaube nicht.
Ein „Ja!“ wäre natürlich an dieser Stelle so schön und einfach – aber meiner Meinung nach wäre es an eben dieser Stelle nicht ehrlich, wenn man es in Aussicht stellen würde.

„Früher, wenn sich die Gelegenheit bot, hat man einfach zugegriffen, da hat man nicht viel gefragt, einfach gemacht…“ Ok, da waren wir am Anfang schon: Genau, es ist dieses „Versprechen“ von Einfachheit, was so verführerisch wirkt, schnell zur Bedürfnisbefriedigung (welcher Art auch immer) zu gelangen.
Wodurch das, was ich oben mit etwas Augenzwinkern „Regularien“ oder „Werte“ nenne, als unglaublich hinderlich, kompliziert und damit als negativ wahrgenommen wird, weil es dem direkten Weg zum schon vermeintlich sichtbaren Ziel im Weg zu stehen scheint.

Ihr Leute: Genau das ist die Illusion, die heute u.a. populistisch so stark strapaziert wird:
a) Es sei bloß dieser unnötig „komplizierte Kram“, der uns von der Verwirklichung unseres direkten Glücks trennt. Wäre der fort, hätten wir es uns ja sogleich auf das Vortrefflichste erfüllt.
Und dazu:
b) Nach und nach ist alles zusätzlich immer komplizierter gemacht geworden, um uns auf jeden Fall davon abzuhalten, jemals überhaupt unser Glück erreichen zu können (plus Schuldzuweisung, setzen sie hier eine ursächliche Gruppierung ihrer Wahl ein).

Und das ist eine schlimme Verdrehung der Tatsachen.
Denn jene „Regularien“, jene Werte, sind wesensgemäß eine sehr gute Sache – und es ist fantastisch, daß sie existieren und von vielen mutigen Menschen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen zusammengetragen wurden.

Die Weltgesellschaft – und auch die Gesellschaft derjenigen, die sich wünschen, in Mehrfachbeziehungen zu leben – benimmt sich mittlerweile immer häufiger wie eine Person, die auf eine solidarische Krankenversicherung pfeift, weil sie ja eine robuste Gesundheit hat und stets bei vollen Kräften ist.
Was aber ist, wenn wir das selber einmal nicht sind? Was ist in dem Moment, in dem wir es sind, die Schutz bedürfen? Wenn wir darauf angewiesen sind, um überhaupt wieder auf die Füße zu kommen? Wenn wir dabei dazu noch auf die Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung angewiesen sind, daß diese uns Raum dazu gewähren – in einem Moment, in dem wir selbst nicht die Kraft hätten, einen solchen aufrechtzuerhalten?

Damit will ich sagen: Richtig, die Werte von ethischen Mehrfachbeziehungen sind kompliziert. Sie haben auch komplizierte Namen – und ihre Inhalte sind komplex, z.T. anspruchsvoll. Was dazu führen wird, daß sie im Alltag diskutiert werden, gelegentlich obendrein kontrovers.
Was wiederum für die eigene Wahrnehmung bedeuten kann, das mancher schnell geglaubte Weg zum erhofften Ziel erst einmal wegen dieser Bedingungen ein „Stop!“ erhalten kann.

„Früher konntest Du an jeder Ecke eine Imbißbude aufmachen… Und mit viel ehrlicher Arbeit hattest Du es nach ein paar Jahren geschafft. Heute brauchst Du in deiner Bude fließend kaltes und heißes Wasser, vor dem Frittenfett muß ein Schutzgitter sein – und wenn du gar jemanden einstellst, dann mußt du für den auch noch Sozialabgaben zahlen…“
Boah! Voll kompliziert, früher war alles besser – heute ist das alles schlechter…

Nein. Eben genau nicht. Ok, heute darfst du dich immer noch selbst ausbeuten – aber mit deinen Angestellten geht das eben nicht mehr so einfach. Das Gitter soll dich und deine Mitarbeiter vor Unfällen schützen, das heiße Wasser deine Kunden vor Magenverstimmung und dich damit vor Schadensersatzforderungen.
Genau mit solchen obigen Argumentationen kann man aber positive Errungenschaften zu Hindernissen erklären, zu „Überflüssigkeiten“, die es zum verheißenen Erfolg doch gar nicht braucht.

Wenden wir das auf unsere Beziehungen (und unsere Demokratien) an, so möchte ich sagen, daß wir es durchaus manchmal persönlich bedauern können oder als frustrierend empfinden mögen, wenn unser Weg zum Ziel durch andere Belange nicht so geradlinig verläuft, wie wir es gerne hätten.
Diese „Belange“ betreffen aber fast immer andere Menschen bzw. unsere unmittelbare Gemeinschaft, von der auch wir ein Teil sind.
Und im Umkehrschluß heißt das eben auch, daß beim nächsten Mal wir es sind, die davon profitieren werden, wenn jemand anders nicht einfach unsere persönliche Integrität als Abkürzung durchschneiden kann, bloß weil diese ihrem*seinem Ziel im Weg zu sein scheint. Und so etwas geschieht eben ja auch nicht immer nur dann, wenn wir – analog zu obigem Krankenkassenbeispiel – gesund und wehrhaft sind, sondern eben auch einmal, wenn wir Schutz, Wertschätzung, Solidarität, Verbundenheit oder etwas Freundlichkeit benötigen, schlicht weil wir ein (mit)menschliches Wesen sind.

Ethische Mehrfachbeziehungen und Demokratien sind sich in diesen Eigenschaften also sehr ähnlich – und es liegt an uns allen, beides zu schützen.
Denn auch der Gegenwind, der sich von Zeit zu Zeit erhebt – und teils heftig tobt – ist etwas, womit die zwei regelmäßig konfrontiert sind.

Wahlen (persönliche und nationale) gehen mit anderem Ergebnis aus, als wir uns das wünschen, Koalitionen und Beziehungen zerbrechen, Partner*innen finden nicht zusammen. Manchmal ist es mühevoll, zeitweise niederschmetternd, gelegentlich fühlen wir uns von der Welt – aber auch von unseren allernächsten Mitmenschen – trotz oder wegen unseres Engagements für die ethische aber darum eben kompliziertere Antwort abgelehnt und glauben deswegen vielleicht sogar, versagt zu haben.

In der US-amerikanischen Krimiserie Castle (Staffel 4, Folge 3 „Kopflos“) ermutigt der Protagonist Richard Castle (dargestellt von Nathan Fillion) seiner Tochter Alexis mit folgenden Worten: „Ablehnung ist kein Versagen.“ Woraufhin sie erwidert: „Es fühlt sich aber wie Versagen an.“ Und er antwortet:
„Nein, Aufgeben ist Versagen. Jede*r wird mal abgelehnt. Wie man damit umgeht bestimmt, was aus einem wird.“




¹ Das originalsprachige Dokument aus der Zeitschrift „Green Egg“ von 1990 befindet sich z.B. HIER als Quelle [Englisch]

² Das Zitat stammt natürlich aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776.

Danke an Alana Jordan auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 106

Lang lebe die Königin!

Der fürstliche Sänger ist zutiefst unglücklich. Er schreitet durch den Ballsaal und läßt die ganze Welt an seiner Qual teilhaben, indem er singt:

»Ich will meine Ungebundenheit nicht
Es gibt keinen Grund mehr zu leben
Mit einem gebrochenen Herzen!

Dies ist eine verfahrene Situation:
Ich habe nur mir selbst die Schuld zu geben
Es ist eine einfache Tatsache des Lebens
Es kann jedem passieren…
Du gewinnst, du verlierst
Es ist ein Risiko, das man in der Liebe eingehen muss
Oh, ja, ich hatte mich verliebt
Aber jetzt sagst du, es ist vorbei und ich zerbreche

Es ist ein mühevolles Leben
Zusammen wahre Liebende zu sein
Für immer zu lieben und zu leben
Im Herzen des anderen
Es ist ein langer, harter Kampf
Zu lernen, füreinander zu sorgen
Einander zu vertrauen
Gleich von Anfang an
Wenn du verliebt bist

Ich versuche, die Scherben zu kitten
Ich versuche, die Tränen zurückzudrängen
Es heißt, es sei „nur ein Gemütszustand“
Aber es passiert jedem…
Wie weh es tief im Inneren tut
Wenn deine Liebe dich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt hat
Das Leben ist nicht leicht, auf sich allein gestellt
Jetzt warte ich auf etwas, das vom Himmel fällt
Ich warte auf die Liebe

Ja, es ist ein mühevolles Leben
Wahre Liebende vereint
Für immer zu lieben und zu leben
Im Herzen des anderen
Es ist ein langer, harter Kampf
Zu lernen, füreinander zu sorgen
Einander zu vertrauen
Gleich von Anfang an
Wenn man verliebt ist

Ja, es ist ein mühevolles Leben
In einer Welt, die voller Kummer ist
Da gibt es Menschen, die nach Liebe suchen
Auf jede erdenkliche Weise
Es ist ein langer, zäher Kampf
Aber ich werde immer für morgen leben
Ich werde auf mich zurückblicken und sagen
Ich tat es für die Liebe…
Ja, ich tat es für die Liebe – für die Liebe…
Ooh, ich tat es für die Liebe!«

Was ihr gerade gelesen habt, ist der von mir ins Deutsche übersetzte Songtext¹ der Ballade It’s a Hard Life der berühmten britischen Rockband Queen, welche 1984 von deren genialem Hauptsänger Freddie Mercury sowohl geschrieben als auch erstmals vorgetragen wurde.
In dem Lied sind jede Menge Merkmale des „romantischen Narrativs“ verpackt – von der Selbstaufopferung (siehe Eintrag 34), die man auf sich nehmen sollte, wenn man eine Liebesbeziehung eingeht, über die komplette Sinnstiftung durch die andere geliebte Person, die dann dem Leben einen Grund gibt, bis hin zu dem alles verzehrenden Schmerz, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Und auch das glücksspielartige Verlangen, um der eigenen Erfüllung halber es daher alsbals erneut in Sachen „romantischer Liebe“ zu versuchen, klingt am Ende an…

Eine Elegie, ein Lamento, eine Wehklage – und damit eigentlich schon eine Art Gebet um Erlösung von diesem gerade erfahrenen Schmerz – hat uns der aus Sansibar stammende, britische Dichter auf diese Weise dargebracht. Und so viele von uns, die es seit damals hörten und heute noch hören, können sich gut in diese Klage und dieses Flehen hineinversetzen.

Anrufungen und Klagelieder rund um die unglückliche Liebe scheint es seit Menschengedenken zu geben – aber muß uns diese Pein selbst im 21. Jahrhundert, welches uns doch eine zunehmende bunte Vielfalt an Beziehungsformen und -philosophien gebracht hat, denn stets immer noch so arg und mit voller Wucht treffen? Hat daher womöglich die „romantische Zweierbeziehung“ ausgedient – und würde uns weniger Leid und mehr Gleichmaß widerfahren, wenn wir stattdessen eher „pragmatische Zweierbeziehungen“ führten? Nüchterner eben, ganz ohne romantische Verflechtungen – aber dafür wenigstens zufriedener…?

Ein überraschend frische Erklärung für das, was unserer Beziehungsharmonie eigentlich vor allem im Weg steht – und welche gedanklichen und praktischen Schritte nachzuvollziehen günstig wären, um unser Liebesglück zu genießen, lieferte vor erst einem Monat einmal mehr die große Dame der Beziehungs(dynamik)forschung, Esther Perel.

Fast als hellseherische Antwort auf mein zu Anfang übersetztes „Gebet“ aus der Feder Freddie Mercurys verdeutlichte sie im Gespräch mit dem New York Times Autor und Podcaster Lewis Howes am 18.September 2024²:

»Dein „Seelengefährte“ war früher Gott, kein Mensch. Also das „Eine und Einzige“ war damals das Göttliche.
Und mit diesem „Einen und Einzigen“ will ich aber heute Ganzheit und Ekstase und Sinn und Transzendenz erleben.
Und ich werde darum noch zehn Jahre länger warten… Wir warten zehn Jahre länger, um uns auf jemanden einzulassen, um uns gegenüber jemandem verbindlich zu erzeigen. Also diejenigen von uns, die sich für einen „Jemand“ entscheiden… Und wenn ich länger warte, wenn ich mich umsehe und unter tausend Menschen wähle, die ich gerade zur Verfügung habe, dann, sei versichert, sollte derjenige, der meine Aufmerksamkeit erregt, derjenige, für den ich meine Apps löschen werde, besser der „Eine und Einzige“ sein!
In einer Zeit, in der sich die Auswahl an Möglichkeiten vervielfacht, haben wir gleichzeitig einen beispiellosen Anstieg der Erwartungen an eine romantische Beziehung. Wir haben noch nie so viel von unseren romantischen Beziehungen erwartet wie heutzutage in der westlichen Welt. Das ist ein enormer Druck: Wir brechen unter der Last dieser Erwartungen zusammen, denn eine ganze Gemeinschaft kann nicht zu einem Stamm von bloß zwei Personen schrumpfen. Dies (Gespräch hier z.B.) ist eine Party für zwei. Und mit dir (Lewis) und mir zusammen sollen wir nun beste Freunde, romantische Partner, Liebhaber, Vertraute, Eltern, intellektuelle Egos, Karrierecoaches etc. miteinander werden… Also, was immer man will. Und ich denke mir: „Ernsthaft!? Eine Person für alles? Eine Person anstatt eines ganzen Dorfes?“
Das ist also der erste Mythos. Und die Vorstellung von bedingungsloser Liebe, die damit einhergeht, ist, dass, wenn wir dieses „Eine und Einzige“ haben, ich das erlange, was du „Klarheit“ nennst, aber eigentlich eher in der Bedeutung von Gewissheit, von Frieden und Freiheit, also quasi Sicherheit.
[…]
Erhalte (stattdessen) eine Gemeinschaft um dich herum. Pflege tiefe Freundschaften, wirklich tiefe Freundschaften, tiefe Vertrautheit mit Partnern, mit Freunden, mit Mentoren, mit Familienmitgliedern, mit Kollegen! Das Wichtigste für mich, um gute Beziehungen zu gestalten, ist eine breite Vielfalt zu schaffen. Bei manchen Menschen mag das die Sexualität einschließen – bei der großen Mehrheit nicht.
Denn die wichtige Erkenntnis ist, dass es nicht „die eine Person“ für alles gibt und dass dies auch nicht bedeutet, dass ein Problem in eurer Beziehung existiert, wenn dies der Fall ist.
Der zweite Punkt
[der zweite Mythos] ist, dass man aufhören muss, die Menschen ständig als Produkt zu betrachten, indem man sie bewertet – und sich dadurch ebenso selbst bewertet. Denn in unserer Marktwirtschaft ist alles ein Produkt geworden, auch wir selbst. Und so scheint das „Verlieben“ zu dem Moment geworden zu sein, in dem die Bewertung des Produkts aufhört: Endlich ist man genehmigt, wenn man erwählt wurde und wenn man seinerseits eine Wahl getroffen hat.«

Wow, Frau Perel! Diese wenigen Interviewzeilen sind für mich nahezu eine oligoamore Offenbarung, da sie viel von dem noch einmal bündeln, was ich selbst an verschiedenen Stellen in diesem bLog zusammengetragen habe.
Die wichtigste Botschaft daran ist für mich, daß wir uns die „verfahrene Situation“, die Freddie Mercury besingt, einerseits mit unserer Erwartungshaltung – aber auch andererseits mit unserer Abhängigkeitshaltung selbst bereiten. Immanuel Kant, der „Vater der Aufklärung“, wäre vermutlich ebenso fassungslos, denn nicht die Fähigkeit, uns unseres Verstandes zu bedienen³, soll uns demzufolge heutzutage aus unserer selbstverschuldeten Abhängigkeit befreien – sondern die „romantische Liebe“ zu einer anderen Person.
Wobei das mit der „selbstverschuldeten Abhängigkeit“ so eine Sache ist, denn Esther Perel weist ja ebenfalls wie ich in meinen oligoamoren Überlegungen darauf hin, daß wir derzeit an einer Gesellschaftsform teilhaben, die sehr stark die Vereinzelung des Individuums und dessen Bewertung nach Leistungskriterien vorantreibt. Die romantische Verbindung zu einem anderen Menschen wird dadurch oft mit der weiteren Bürde belastet, als Beweis dafür herhalten zu müssen, daß wir es jenseits von Anspruch oder Leistung dennoch wert sind, um unserer selbst willen geliebt zu werden… Sollte es dann im Beziehungsgebälk knirschen – oder steht gar die Auflösung einer Beziehung im Raum (von der wir ja nach den momentanen Mehrheitsregeln möglichst nur „eine und einzige“ romantischer Art unterhalten dürfen!), sei es im besten Fall wegen „Neigungswechsel“ oder im schlimmsten Fall wegen vorgefallener Illoyalitäten – dann fallen wir so tief, wie es oben in „It’s a Hard Life“ beschrieben steht: Wir zerbrechen innerlich; unser Existenzgrund, der Sinn unseres Lebens daselbst, ist in Frage gestellt.
Und in einem sind sich Freddie Mercury und Esther Perel dann einig: Haben wir uns einem System unterworfen, welches nach diesen Regeln funktioniert, bleibt uns nur das erneute Hoffen auf etwas „das vom Himmel fällt“, in etwa wie ein Lottogewinn, zu dessen Zustandekommen man außer durch den Loskauf mit so gar keiner Art von eigener Initiative auch nur irgendetwas beitragen könnte… Erwartung und Abhängigkeit – eine Spirale, der wir nicht entrinnen können.

Aber weder wäre Freddie Mercury der geniale Songschreiber, der er war, noch Esther Perel die kluge Kennerin menschlicher Liebespsychologie, wenn nicht beide noch wesentlich mehr Botschaft in ihren Beiträgen untergebracht hätten.

Zunächst Meister Mercury, der die Eingangskadenz seines Songs mit den ersten Takten von „Ridi, pagliaccio!“ des italienischen Komponisten Ruggero Leoncavallos beginnt (die Melodie ist in Deutschland besser in der Version „Lache, Bajazzo!“ aus der zugehörigen Oper Der Bajazzo bekannt – daraus ist quasi ein geflügeltes Wort entstanden und beschreibt eine Situation, in der einer Person zum Weinen zumute ist und stattdessen dennoch eine „frohgemute Fassade“ nach außen zeigen muß…):
Obwohl die Machart des Songs und des dazugehörigen Videos es oberflächlich anders vermuten lassen – das lyrische Ich wurde verlassen, es leidet, es hat hohe Ideale in Sachen Liebe, die (wiedereinmal) von anderer Seite enttäuscht wurden… – befindet es sich vielmehr in genau dem „selbstverursachten“ Teufelskreis („du gewinnst – du verlierst“), den ich zuvor beschrieben habe. Freddie Mercury wollte also der Welt nicht einfach nur eine weitere melodramatische Liebesballade schenken – er war sich jener doppelbödigen Tatsache innerhalb seiner Komposition offensichtlich sehr genau bewußt und hinterließ einige subtile Hinweise, was sein eigentliches „Thema hinter dem Thema“ war.
Als Autor dieses bLogs (und daselbst bekennender Romantiker) freue ich mich in dem Queen-Song insbesondere an dem Refrain, in dem Mr. Mercury nichtsdestoweniger die Werte aufscheinen läßt, auf die es gleichwohl ankommt: Füreinander loyal einzustehen, Fürsorge und Rücksichtnahme aufeinander – und das basierend auf gewachsenem Vertrauen ineinander (da höre ich die Wissenschaftler Cohen, Underwood und Gottlieb aus dem letzten Absatz in Eintrag 14 – oligoamores Stammkapital!).

Womit Esther Perel ins Spiel kommt, an deren Veranschaulichung mir besonders gefiel, daß sie zwar in bester oligo- und polyamorer Weise zu einer dringenden „Diversifizierung“ des eigenen „Beziehungsportfolios“ riet – aber dabei ganz ohne den sonst so häufig in polyamoren Kreisen stereotyp zu hörenden Hinweis auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung auskam (Damit meine ich das Pseudoargument, daß ja „niiiiiiiiie nur eine Person alle Bedürfnisse eines anderen erfüllen könne“ – und man allein schon darum mehrere romantische Beziehungen führen müsste… Meine explizite Kritik daran siehe Eintrag 85). Es wäre auch ein Leichtes, ihre Ausführungen in dieser Art zu (miß)verstehen – womit wir uns sofort in der von ihr kritisierten „Selbstbewertungsfalle“ wiederfinden würden – da wir in dem Fall ja der Anderen „bedürftig“wären, um uns als „ganz“ erleben zu dürfen (und die Verzweiflungsbotschaft aus „It’s a Hard Life“ hätte gewonnen…).
Das ist es nämlich nicht, worauf die streitbare Beziehungsforscherin mit ihrem Plädoyer hinauswollte. Esther Perel geht es um einen ganz wichtigen sowohl philosophischen wie humanistischen, sowohl queeren wie auch oligoamoren Grundsatz: Die (Selbst )Ermächtigung.
Exakt diese Selbstermächtigung wäre genau die beste Medizin gegen die zwei verhängnisvollen Seiten der selben unglücklichen Liebes-Medaille: Abhängigkeit und Erwartung.
In Sachen Beziehungsgestaltung ruft Frau Perel daher zu eigener, bewußter Proaktivität auf. Was für mich ebenfalls implizit den Hinweis darauf enthält, unsere gewachsenen oder bestehenden Beziehungen auf ihren Selbstermächtigungsgrad hin noch einmal zu untersuchen: In welchen Beziehungen darf ich als ganze Persönlichkeit bestehen – vereint mit der Flexibilität und dem Nicht-Anspruch, darin ein „Passepartout“ für jeden Zweifels- und Verzweiflungsfall darstellen zu müssen?
Indem Esther Perel aber auch ergänzt, daß es ihr trotz der „Diversifizierung“ auf Gemeinschaft, tiefe Freundschaft und innige Vertrautheit als Maßstab für gesunde Beziehungen ankommt, greift sie Freddie Mercurys Loyalität, Berücksichtigung und Verbundenheit auf, die immer wieder im Refrain von „It’s a Hard Life“ anklingen – wodurch sowohl der Künstler als auch die Wissenschaftlerin in dem Verständnis davon, was die „Kernwährung“ echter Beziehungen auf Augenhöhe ist, übereinstimmen.
Und beide stimmen eben auch darin überein, daß unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen wie Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treiben können, wenn wir uns unhinterfragt einer normgesellschaftlichen Erwartung überlassen, die in der Sache gute Ideale mittlerweile vor einen seltsam schrillen Karren spannt, um uns zu unrealistischen Leistungen sogar in unseren intimen romantischen Beziehungen anzutreiben – im Gegenzug für die Verheißung nach menschlichen Maßstäben nicht erfüllbarer Gratifikationen.

Bewundernd sitze ich heute also sowohl vor dem 40 Jahre alten Songtext eines viel zu früh verstorbenen Genies als der auch vor der wenigen Wochen ausgesprochenen Lebenserfahrung einer aufmerksamen Beziehungs- und Menschenkennerin.
Das oligoamore Universum – es dreht sich und dehnt sich dabei aus, wie sein großes Vorbild.
Ich bin erneut dankbar, dabei zu sein!




¹ Der Songtext von „It’s a Hard Life“ im englischen Original HIER auf Genius – übersetzt von mir mit Hilfe der deepL-KI

² Lewis Howes in seiner Reihe THE SCHOOL of GREATNESS im Gespräch mit Esther Perel am 18. Spetember 20124: „Relationships Have CHANGED Forever“ als Auszug Englisch mit deutschen Untertiteln z.B. auf Facebook.

³ Immanuel Kant in seinem EssayBeantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784

Danke an Megan Watson auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 105

Am Feuer der Ahnen

A -koo-chee-moya – Wir sind weit von den heiligen Stätten unserer Großväter entfernt. Wir sind weit von den Gebeinen meines Volkes entfernt. Aber an diesem Tag der Sorge und der Ungewissheit hoffe ich, dass die Weisheit meines Vaters mich findet und mir dabei hilft, mein Dilemma zu begreifen. Sprich zu mir, Vater. Sprich zu mir in meinen Träumen…
Dies sagt der von seinen Wurzeln her indigene Commander Chakotay, 1. Offizier in der US-Science-Fiction-Serie Star Trek: Raumschiff Voyager (Staffel 2, Folge 26: „Der Kampf ums Dasein Teil 1“ ) – und bittet auf diese Weise um eine Vision und innere Führung.

Um ethische Mehrfachbeziehungen wie Oligo- oder Polyamory scheint es gegenwärtig verhältnismäßig still geworden zu sein. Kein Vergleich zu der Zeit z.B. vor noch etwas über 5 Jahren, als deutlich regelmäßiger (zugegeben teilweise sensationalisierende) Presseartikel und Fernsehbeiträge unsere Lebensweise auf der medialen Bühne präsenter hielten als im Moment.

Gerade Letzteres muß darum ja nichts Schlechtes sein. Wenn die Wogen nicht mehr gar so hoch gehen, könnte dies doch ein Zeichen sein, daß sich seitdem auch manches zurechtgerüttelt hat. Daß sich die unstete„Goldfieberstimmung“ mit all ihren Unsicherheiten und Selbstfindungsbestrebungen ein wenig gelegt hat. Und das wiederum könnte für viele Teilhabende an ethischen Mehrfachbeziehungen bedeuten, daß diese just in diesem Augenblick gerade einigermaßen zufrieden und überwiegend störungsfrei schlicht ihrem Beziehungsalltag nachgehen.
Zu wünschen ist es Euch allen – was ich hiermit aus tiefstem Herzen tue!

Gleichzeitig schleicht sich in solch stilleren Zeiten auch gelegentlich die Sorge an, daß es eben genau nicht so ist.
Das gesellschaftliche Pendel schwingt spätestens seit der Corona-Pandemie (auf jeden Fall in Deutschland) eher wieder in die konservativere Richtung. Die vielzitierten „jüngeren Menschen“ unserer Demographie werden regelmäßig wissenschaftlich befragt – und siehe da: Überraschend traditionelle Vorstellungen zeichnen sich dort ab, insbesondere was das Streben nach Monogamie mit der Suche nach „dem einen“ Lebenspartner – und der Wunschtendenz hin zu der eigenen Kleinfamilie – abbilden…

War das Aufbrechen herkömmlicher Zusammenlebens-Modelle ab den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts also doch nur eine Art verspätete „experimenteller Phase“? Eine verzögerte letzte Blüte der hippiebunten 70er und der geschmacksverworrenen 80er, die noch einmal das unvoreingenommene Fließen der Liebe und ein barrierefreieres Miteinander feiern wollte?
Auch dafür finden sich Zeichen – speziell gemessen an unserer Jetztzeit, mit weltweiten Krisenherde wie im nahen Osten oder in der Ukraine, der resultierenden Preis- und Energiekrise, dem globalen Klimawandel und einer mißtrauischen Furcht vor weiterhin lauernden Pandemien, die von Flüchtligsströmen allzubald rund um den Erdball getragen werden könnten…
Da beibt doch kaum Raum für Liebe und Miteinander, eher wird sich auf sich selbst und zuvorderst bloß das direkte Umfeld konzentriert. Denn auf die eigenen Ressourcen ist zu achten; wieder einmal sind es die allzeit knappen Ressourcen, die das Diktat der Stunde vorzugeben scheinen.

Wie Commander Chakotay oben, ist es zu solch einem Zeitpunkt eventuell günstig, sich um das Feuer seiner Ahnen zu versammeln – und Einkehr zu halten, für eine hoffnungsvollere Vision, für eine Perspektive.
Was würden die „Ahnen ethischer Mehrfachbeziehungen“ uns wohl zuteil werden lassen?
Wer wären diese „Ahnen“ überhaupt…?

Nun, da fallen mir vor allem die mutigen Menschen der Kerista-Kommune in San Francisco ein, die als erste 1984 den Begriff „Polyfidelity“ pägten¹ (also: polyamore Treue und Loyalität unter mehreren Beteiligten einer geschlossenen Gruppe) und natürlich die große Dame der Polyamory, Mornig-Glory Zell-Ravenheart, die 1990 überhaupt erstmalig das Wort „Polyamory“ ² für ethische Mehrfachbeziehungen formulierte.

Zunächst würden uns diese „Ahnen“ möglicherweise gleich darauf aufmerksam machen, daß ihr eigener Weg und ihre eigene Vision auch nicht gerade in einträchtig-harmonischen Weltfriedenszeiten entstanden sind. 1984 wurden z.B. in der damaligen DDR die ersten sowjetischen Nuklearraketen aufgestellt, das Truppenabzugsabkommen zwischen Israel und dem Libanon wurde aufgekündigt (heute wie damals also Ähnliches im unheiligen heiligen Land…), allein in den Monaten Juli und August gab es vier große Flugzeugentführungen durch politisch und/oder spirituell motivierte Terroristen, und in Deutschland erklärte der Waldzustandsbericht bereits 50% der Bäume als unheilbar geschädigt.
1990 wiederum zerfiel die Sowjetunion in einem höchst fragilen Prozess in Einzelstaaten, im August begann der 2. Golfkrieg mit dem Irak (v.a. bekannt durch die von den USA geführte „Operation Desert Storm“ ), in Deutschland fand das terroristische Attentat auf den Innenminister Wolfgang Schäuble statt und im Rijksmuseum in Amsterdam wurde das weltberühmte Gemälde „Die Nachtwache“ von Rembrandt durch einen Anschlag mit Schwefelsäure zerstört…
Genug Gründe also auch damals, vor der übrigen bedrohlichen Welt „in Deckung zu gehen“ und sich ins private Kleinklein zu flüchten.

Und trotzdem experimentierte die Kerista-Kommune 1984 mit einer neuen Form des Zusammenlebens in einer Gruppe, die mehrere Menschen enthielt, die auf romantische und erotische Weise miteinander verbunden waren. Und da die Kerista-Kommune mit ihren Anfängen seit ca. 1956 schon aktiv war und 1971 noch einmal eine innere Umformung durchlebt hatte, waren ihre Mitglieder in ihrer geübten Nonkonformität stark genug, diesen Prozess auch noch zu protokollieren und daraus schließlich die erste erfolgreiche Idee der Vielfach-Treue – der „Polyfidelity“ – abzuleiten.
Über die neopagane Priesterin Morning Glory Zell-Ravenheart, die seit 1974 auch langjähriges Mitglied der liberalen spirituellen Bewegung „Kirche aller Welten“ (= CAW – Church of All Worlds) war, habe ich bereits ausführlich in meiner „Geschichte der Polyamory“ [Teile 1 | 2 | 3 | 4], insbesondere in Teil 3 (Eintrag 49) geschrieben. Morning Glory war bestrebt, eine praktisch lebbare, ethische Grundlage für mehrere sowohl in romantischer als auch erotischer Hinsicht verbundene Beteiligte zu schaffen. Über einen gesellschaftlichen Gegenentwurf hinaus, war es ihr dabei obendrein wichtig, dabei die (Gleich)Berechtigung, die Verbindlichkeit, die Aufrichtigkeit – sowie das Vertrauen in die Berechenbarkeit eines solchen Arrangements für seine Teilhabenden – zu betonen.

Den Kerista-Leuten und Morning Glory waren in ihren Ansinnen dabei ein größtmögliches Maß an Akzeptanz und Inklusion wichtig, da Ausschließertum – und genau das im Außen so oft vorherschende Grenzen Ziehen durch kleinteilige Partikularinteressen – ein Aufkommen von Gemeinschaftsgeist im Keim vergiftet hätten.
Diese visionären „Ahnen“ setzten ihr Zutrauen also in die Kraft (mit)menschlicher Gemeinschaft. Ich sage hier Zutrauen, weil sie alle am eigenen Leib in der Praxis genau das in ihren nahen (Mehrfach)Beziehungen bereits erlebt hatten, was ich auf diesem bLog das „Mehr als die Summe seiner Teile“ nenne.

In meinem Eintrag aus dem letzten Monat erwähne ich den US-amerikanischen Psychologen Steven Hayes³, der aufgrund seiner klinischen Erfahrungen betont, wie bedeutsam es für uns als Individuuen ist, zu unseren persönlichen Werten in guter Verbindung zu stehen. Verunsicherungsphasen durch unseren Alltag und aufgrund unserer Umwelt können dafür sorgen, daß diese Verbindung geschwächt wird, ja, uns sogar eine zeitlang ganz abhanden kommt. Zu äußerem Stress gesellt sich auf diese Weise eine buchstäbliche innere Zerrissenheit, in der es uns dann schnell so vorkommt – und wir sprechen hier doch über Mehrfachbeziehungen – als ob die Oligo- und Polyamory tot wären, auf jeden Fall aber wenigstens „sehr krank“: Mehrfachbeziehungen waren wohl doch nur eine Art „Phase“, wir selbst haben dieses Modell wohl nur gewählt, weil wir irgendein anders geartetes inneres Loch in uns flicken wollten, alle (!) anderen würden ohnehin nur nach monogamen Partner*innen suchen (und wenn wir uns nicht als solche zu erkennen gäben, wären wir geradewegs „unattraktiv“ bzw. „vom Markt“…), überhaupt: funktionierende, von Aufrichtigkeit , Verbindlichkeit und dem Gedanken an Langfristigkeit getragene, ethische Mehrfachbeziehungen würde es doch quasi eigentlich gar nirgendwo geben, zumindest kennt man keine einzige im weiten Umkreis, also was soll’s überhaupt…

A-koo-chee-moya.
Am Feuer unserer Ahnen dürfen wir unsere Zerissenheit, unsere Unsicherheit bekennen.
Am Feuer unserer Ahnen dürfen wir aber auch im Licht der Flammen, die die Dunkelheit zurückdrängen, wiedererkennen, daß die Grundwerte, die hinter guter Beziehungsführung stehen, weder tot sind, noch durch eine gleichgültige Welt relativiert. Daß sie es ja schon damals nicht waren, als sie erstmalig aus dem Dunkeln aufschienen, genauso wenig wie sie es heute sind.
Für mich ist das das Schöne und Tröstliche an ethischen Mehrfachbeziehungen. Es ist dieses kleine Wörtchen „ethisch“, was uns zuspricht: Hier gibt es Werte.
Diese Werte sind manchmal eckig, lästig, schwer einzuhalten, sie führen uns mitunter in Rechtfertigungen und Diskussionen.
Zugleich sind sie dafür beständig. Und sie reflektieren etwas, was uns selbst offensichtlich schon immer ureigen und zutiefst wichtig war. Sonst hätte uns dieses spezielle Feuer nicht angezogen, denn in der Wärme und Helligkeit seiner Flammen und seiner Glut haben wir einen gleichgesinnten Spiegel unseres eigenen, uns innewohnenden Funken gespürt…
Genau das ist wichtig, denn dieses Leuchten führt uns zu unseren inneren Werten zurück, die der Psychologe Hayes in seinen Ausführungen so betont. Werte, die von der äußeren Bedrohlichkeit und Verwirrung unabhängig sind, da sie schon viel länger als diese zu uns gehören. Werte, die darum auch Bestand haben, wenn die Parade vom Christopher Street Day durch Bautzen oder Frankfurt/Oder von Polizeikäften geschützt werden muß. Werte, die trotzdem Bestand haben, auch wenn wir gerade leider nicht selbst Teil einer ethischen Mehrfachbeziehung sind. Oder sogar im weiten Umkreis gerade nicht einmal eine einzige solche kennen und die Stille manchmal fast ohrenbetäubend scheint.

Eine Haltung mit Werten wie Unvoreingenommenheit, Integrität, Gleichberechtigung, Transparenz, Aufrichtigkeit, Verbindlichkeit, Loyalität und Nachhaltigkeit steht für sich selbst. Dazu muß ich nicht einmal Teil einer Nahbeziehung mit mehreren Personen sein. Sie begegnet mir bereits, wenn ich einkaufen gehe, mit meinen Mitlebewesen interagiere – ob ich eine Petition unterzeichne oder wählen gehe.
Da diese Werte nichtsdestoweniger aus dem „Feuer unserer Ahnen“ stammen, haben sie dadurch aber eben auch eine eigene (Anziehungs)Kraft, ein eigenes Licht. Und damit sind wir durchaus nicht allein, denn dieses Licht kann wahrgenommen und gefunden werden.
Von den Anderen bei uns, ja, sicherlich auch das. Aber wir können es ebenso umgekehrt bei ihnen erkennen und sie unsererseits entdecken – da wir doch jetzt durch den Aufenthalt am Feuer wieder wissen, woran wir uns doch ohnehin seit jeher orientieren.

Der schweizerische Lyriker Max Feigenwinter hat für mich mit seinem Werk „Schweige und höre“* übrigens auch eine Art Visions-Suche in Textform gebracht. Oder genau genommen sogar schon eine erste leise Antwort auf eine solche Suche:

vielleicht geht dir
in der Mitte der Nacht ein Licht auf

vielleicht hörst du unverhofft
eine neue Botschaft

vielleicht ahnst du plötzlich
dass Friede auf Erden denkbar ist

vielleicht erfährst du schmerzhaft
dass du Altes zurücklassen musst

vielleicht spürst du
dass sich etwas verändern wird

vielleicht wirst du aufgefordert
aufzustehen und aufzubrechen

schweige und höre
sammle Kräfte und brich auf
damit du den Ort findest
wo neues Leben möglich ist



¹ Das orginalsprachige Dokument aus dem Buch „Polyfidelity: Sex in der Kerista-Kommune und andere verwandte Theorien zur Lösung der Probleme der Welt, Darstellende Kunst Soziale Gesellschaft 1984″ befindet sich HIER – als Originalquelle bislang leider erst nur in englischer Sprache.

² Das originalsprachige Dokument aus der Zeitschrift „Green Egg“ von 1990 befindet sich z.B. HIER als Quelle, bislang ebenfalls nur in englischer Sprache.

³ Steven Hayes: „A Liberated Mind: How to Pivot Toward What Matters“, Avery (27. August 2019); deutsch: „Kurswechsel im Kopf: Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden“, Beltz; 2. Edition (19. August 2020)

* Allerherzlichsten Dank für die höchstpersönliche Erlaubnis zur Verwendung seines Werks „Schweige und höre“ gilt Herrn Max Feigenwinter. Das Original stammt aus: „Einander Engel sein“ von Max Feigenwinter, Verlag am Eschbach; 1. Edition (17. Juni 2013) – sämtliche Nutzungsrechte liegen beim Autor.

Danke an Benjamin Nelan auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 104

Schneller, höher, weiter?

Ein Jahr der Superlativen scheint 2024 werden zu wollen. Meine beiden vorherigen Einträge haben sich bereits auf die diesjährige Europawahl und auf die Fußballweltmeisterschaft bezogen.
Und nun sind gerade mit fulminanter Schlußzeremonie in Paris, Frankreich, die XXXIII. (33.) Olympischen Sommerspiele zuende gegangen.
Das mir als Überschrift dienende „Schneller, höher, weiter!“ (ganz korrekt von den urspünglich lateinischen Komperativen „Citius, altius, fortius!“ – wortwörtlich also: „Schneller, höher, stärker“ abgeleitet) ist dazu passend dann auch das traditionelle, 1894 von dem französischen Philologen Michel Bréal im Rahmen des Ersten Olympischen Kongresses vorgeschlagene, Motto aller Olympischen Spiele, die seit 1896 stattgefunden haben.

„Schneller, höher, weiter!“ – mittlerweile scheinen wir alle auch außerhalb der Olympischen Spiele von dieser Maxime angespornt, ja, getrieben zu sein – und gerade in ethischen Mehrfachbeziehungen drängt sich so förmlich der Vergleich zu olympischen „Mehrfachdisziplinen“ auf, die es da zu absolvieren gilt.

In den Zeiten in meinem Leben, in denen ich mit mehreren Partner*innen verbunden war, reichte das Geschehen locker an modernen Fünfkampf heran: Termine, individuelle und gemeinsame Zeit wollten koordiniert werden, das Leben musste ganz formell weiter bestritten werden – nur eben jetzt mit mehr anteilhabenden Personen (Fahrten, Einkäufe, Übergabezeiten, Mahlzeiten und „sonstige Haushaltsaufwendungen“ potenzierten sich…), zusätzliche Sensibilitäten und Bedürfnisse mehrerer Beteiligter waren zu beachten, zu kommunizieren, auszutarieren, kostbare Ich-Zeit und Selbstfürsorge wollten untergebracht sein – und nicht zuletzt sollte die Leichtigkeit, die Liebe und das Miteinander bei all dem auch seinen Platz finden…

Und in den Zeiten in meinem Leben, in denen ich „Poly-Single“ (also gut: „Oligo-Single“ – und dabei hatte ich persönlich noch das Glück, daß ich fast immer wenigstens eine Partner*in an meiner Seite hatte) war, fühlte ich mich oft unvollständig und trieb mich zu emsiger Aktivität auf dem Dating-Planeten an – was, wie jede*r weiß, die*der jemals in das glückspielartige Hamsterrad des Datings geraten ist, seinerseits Ressourcen – ganz zuvorderst vor allem Lebenszeit – forderte. Und nach manchen Dates konnte ich die Frustration, daß es mal wieder gerade knapp nicht zur einer Bronze-Medaille gereicht hatte, körperlich wie seelisch perfekt nachvollziehen.

Uns „Mehrfachbeziehungsführenden“ ergeht es dabei oft wie den Olympioniken: Außerhalb der „Spiele“ sind diese oft vier Jahre lang so unsichtbar wie wir als Subkultur. Der übrigen getriebigen Welt aber ist das egal. Rechnungen wollen bezahlt, eingegangene Verbindlichkeiten bedient werden – und vor allem: Lächle!, ob Frau, Mann oder Divers, denn wie es dir gerade tief drinnen geht, danach wird meist nicht gefragt.
Die Olympioniken dürfen dann zumindest einmal alle vier Jahre hinter dem Vorhang hervortreten – müssen dann allerdings auch ihre Leistung unter Beweis stellen, die sie sich doch hoffentlich in der Zwischenzeit aufgebaut haben.
Für Menschen, die alternative Lebensentwürfe praktizieren, bleibt der Vorhang allerdings eher dauerhaft geschlossen – dafür müssen sie tagtäglich mit einer normal-normativen Umwelt in Wettbewerb treten, wo die Bedingungen für alle anderen überwiegend zu passen scheinen.
Womit ich sagen will, daß Nicht-Normativität schlechthin schon allein ein steter Stressor sein kann. Was man z.B. gerade in den Situationen deutlich spürt, wo es nur die Leute der eigenen Wahlfamilie gibt, mit denen man seine besonderen Belange überhaupt besprechen kann. Und da kann es eben manchmal eng werden, wenn es die eigene Wahlfamilie selbst ist, die die Herausforderungen aufwirft…

Da wird der Blick auf die mono-normative Welt schnell zum gehetzten Blick über die eigene Schulter: „#§$%! – die anderen schaffen das doch auch irgendwie…“ Wodurch wir das Problem vor allem bei uns selbst suchen und mit noch hektischerer Aktivität reagieren: Den Google-Kalender optimieren, schneller fahren als gut ist, noch ein Dating-Profil anlegen (und jetzt noch mehr alberne Mails „Neue-Leute-in-deiner-Gegend-entdeckt!“ erhalten), abends wenigstens für 15 Minuten noch eine gemeinsame Küchentisch-Gesprächsrunde zusammentreiben (was unseren Beliebtheitsstatus ungemein steigert und richtig Stress rausnimmt…) oder schon mal auf eigene Faust einen Urlaub für das Polykül¹ buchen, damit alle mal endlich rauskommen…

Wenn es bei mir soweit ist, muß ich an meinen derzeitigen Lieblingsautor Matt Haig denken, der in seinem Buch „Mach mal halblang. Anmerkungen zu unserem nervösen Planeten“ (dtv, 3. Auflage Juli 2021) schrieb:

»Aber so wie es nur einen Planeten gibt – einen Planeten mit endlichen Ressourcen – gibt es auch nur ein Du. Und auch du hast eine endliche Ressource – Zeit. Und, ganz ehrlich, du kannst dich nicht selbst vervielfältigen. Ein überfrachteter Planet verleitet uns zu überfrachteten Leben, aber letzten Endes kannst du eben nicht mit allen Spielzeugen spielen.
Du kannst nicht alle Apps nutzen. Du kannst nicht auf allen Partys sein. Du kannst nicht die Arbeit von 20 Leuten erledigen. Du kannst nicht über alle Nachrichten auf dem Laufenden sein. Du kannst nicht alle deiner elf Mäntel auf einmal tragen. Du kannst nicht jede Musst-Du-sehen-Serie anschauen. Du kannst nicht an zwei Orten gleichzeitig leben.
Du kannst mehr kaufen, du kannst mehr in deinen Besitz bringen, du kannst mehr arbeiten, du kannst mehr verdienen, du kannst dich mehr anstrengen, du kannst mehr twittern; aber so, wie jeder neue Kick nachlässt, kommt ein Punkt, an dem du dich fragen musst: Wofür ist das alles gut? Wie viel zusätzliches Glück erhalte ich?«


Hoppla.
Matt Haig erinnert mich an ein ganz wichtiges Gut, welches es ja sogar in den Titel meines hiesigen bLog-Projekt geschafft hat: Die Nachhaltigkeit. Und es ist so wichtig, uns daran zu erinnern, daß Nachhaltigkeit nicht nur als Schlagwort abstrakten Diskussionen über Fairtrade-Kaffee, den Standort Deutschland oder E-Auto vs. öffentlicher Nahverkehr vorbehalten sein sollte.
In meinem Werte-Eintrag 3 schlüssle ich diesen etwas sperrigen und in den Debatten mittlerweile stark abgenutzten Begriff auf, um klar zu machen, wie wichtig Nachhaltigkeit für unsere Beziehungen eigentlich ist. Dazu strapazierte ich zunächst drei weitere Fachbegriffe, nämlich Konsistenz – also (Wert)Beständigkeit bzw. Sinnzusammenhang, Effizienz – also Geeignetheit und Suffizienz – also Tragfähigkeit. Für Eintrag 3 habe ich mir außerdem als graphische Hilfe ein Nachhaltigkeits-Dreieck ausleihen dürfen, um zu zeigen, daß keiner dieser Bereiche ohne die anderen beiden seine Wirkung entfalten kann.

Wenn wir uns in unseren Mehrfachbeziehungen daher irgendwann wieder als Teil eines schrecklichen Rattenrennens erleben, ist es enorm erdend, sich auf diese Weise noch einmal klar zu machen, was im Zusammenhang mit unseren Liebsten (und uns selbst!) wirklich zählt.
Und der legendäre chinesische Philosoph des 6. Jahrhunderts v. Chr., Laotse, hat für mich mit ganzer fernöstlicher Weisheit und Lässigkeit noch besser ausgedrückt, wozu es uns dienen kann:
„Wenn ich loslasse, was ich gerade bin, werde ich, was ich sein könnte.“
Klingt zu sehr nach Glückskeks?
Denkt nochmal über das fast augenzwinkernde Statement nach!

Denn der Ausspruch spielt auf unser Selbstbild an: Je hektischer und getriebener wir agieren, umso stärker verfestigen wir es nach und nach – sowie auch unsere Position im Leben darin, bis hin zu einem Zustand, den der US-amerikanischer Psychologe Steven Hayes „psychische Starrheit“ nennt². Wir werden in unseren Reaktionen und in der Wahl unserer Mittel immer unflexibler, so daß wir z.T. selbst kaum noch den Ausgang aus unserer Misere finden können; von visionärer Kraft „was sein könnte“ längst ganz zu schweigen.
Ich glaube auch nicht, daß Laotse meinte, daß wir uns komplett unseres Selbst entäußern sollen, wie es von manchen modernen Gurus asiatischer Philosophien propagiert wird.

Der zitierte Steven Hayes erkannte z.B. in seiner Forschung, daß unter aller Hektik und dem überbordenden Dschungel an To-Do-Listen bei all seinen Patienten nach einer Weile schließlich wieder ihre ureigenen Grundwerte zutage traten: Die persönliche Konsistenz, die Beständigkeit, die eben keinesfalls verschwunden, sondern bloß durch ein Aufblähen an Äußerlichkeiten zugewachsen war.
Den Verlust von Beständigkeit, nannte Hayes daher auch folgerichtig als die größte Quelle für psychischen Stress – als Resultat des Kontaktverlusts mit all den Werten, die für uns eigentlich von innerlich höchster Bedeutung sind. „Werte“, ergänzte Hayes, seien nämlich der Ausdruck unseres individuellen Strebens nach Bedeutung und Sinn in unseren Leben. Eine Grundbedürfnis, welches stets dann in Gefahr geriete, wenn wir bei dessen Erfüllungsversuch beginnen würden, äußerem „Sollen“ oder gesellschaftlich normiertem Streben den Vorrang vor Selbstbestimmung und einer (selbst)gewählten Qualität unserer Handlungen zu geben.

Das bloße Erleben von Beständigkeit im Verhältnis zu uns selbst oder im Zusammensein mit derzeitigen Liebsten ist also bereits eines der wichtigsten Standbeine, wenn zunehmende gefühlte Leere oder nachlassende Sensibilität im Alltag nach uns greifen will.

Die Verbindung zum „Nachhaltigkeits-Standbein“ Suffizienz (Tragfähigkeit) ist an dieser Stelle sehr einfach zu sehen: In der Tat ist nämlich sehr oft „weniger“ das berühmte „mehr“. Also gerade nicht „Schneller, höher, weiter!“ – sondern „Bedachtsamer, auf Augenhöhe, näher“. Denn unsere Beziehungen wollen doch Vertrauensorte sein; dort, wo wir uns sicher fühlen, unsere Alltags-Rüstungen ablegen dürfen. Statt dessen erledigen wir unsere Beziehungen manchmal regelrecht wie ein lästiges Meeting oder arbeiten unsere Liebe ab wie einen überfüllten Posteingang.

Und das Standbein Effizienz, welches ich oben mit „Geeignetheit“ übersetzt hatte?
Ich glaube, wenn wir heute „Effizienz“ lesen oder hören, dann können wir auch diesen Begriff kaum noch ohne den so oft damit verbundenen Leistungsanspruch wahrnehmen.
Womit wir wieder beim Rattenrennen wären, denn heute heißt Leistungsanspruch, daß stets wir es sein müssen, die Geeignetheit und tiefgreifender Wirksamkeit (so war das Wort einmal gedacht, ja!) gewährleisten sollen.
Geeignetheit und tiefgreifende Wirksamkeit sind jedoch passive Kräfte, die ein Ergebnis, einen Effekt, eine Konsequenz befördern.
Also etwas, was mit uns in unseren Beziehungen geschieht. Etwas fast Unmerkliches, für das wir gar nicht wirklich viel „leisten“ im Sinne von „absolvieren“ oder „hinkriegen“ können. Jedoch umso mehr mit „anteilhaben“, „beitragen“ und „dazugehören“…

In der US-Krimiserie Bones – Die Knochenjägerin hält die Protagonistin Dr. Temperance Brennan (dargestellt von Emily Deschanel) anläßlich eines Todesfalls in ihrer Wahlfamilie folgende Ansprache [Staffel 10, Folge 2 „Sweets und die Verstummten der Verschwörung ,Teil 2“]:

»Aber ich glaube das Sweets immer noch unter uns ist. Nicht im religiösen Sinn, denn das Konzept von Gott ist nur ein törichter Versuch das Unerklärliche zu erklären. Aber in einem realen Sinn ist er hier.
Sweets ist immer ein Teil von uns. Unsere Leben…, wer wir alle in diesem Augenblick sind, wurde geformt von unserer Beziehung zu Sweets. Jede*r von uns ist wie eine komplizierte Gleichung. Und Sweets war die Variable, ohne die wir nicht geworden wären, wer wir heute sind. Ich hätte vielleicht nicht Booth geheiratet. Oder Christine bekommen. Daisy würde sicher nicht sein Kind austragen. Wir sind alle, wer wir sind, weil wir Sweets kannten. Ich brauche also keinen Gott, um ihn zu preisen oder das Universum, woher er stammte, weil ich ihn geliebt habe. Ich habe früher versucht, die Liebe zu erklären, als Absonderung von… Chemikalien und Hormonen. Aber ich glaube jetzt, wenn ich an Sweets denke, und sehe, was er uns hinterlassen hat, dass Liebe nicht erklärt werden kann durch… Wissenschaft oder Religion. Es ist jenseits des Verstandes, jenseits der Vernunft. Was ich aber wirklich weiß, ist, Sweets zu lieben… (*lacht*), die Liebe untereinander, das macht das Leben erst kostbar. Im Augenblick… muss ich nicht mehr wissen als das. Was peinlich ist, denn es kommt von einer extrem intelligenten, faktenbasierten Person wie mir.«


Puh, Gänsehaut. Und ich könnte noch hinzufügen, daß es doch schade ist, daß uns solche Gedanken zu oft immer erst dann in den Kopf kommen, wenn bereits jemand gestorben ist.
Gleichzeitig sind es ja meist auch gerade diese Grenzsituationen, in denen mit einem Mal sehr klar hervortritt, was eigentlich wirklich wichtig ist, was effektiv (!) zählt.

Unsere Beziehungen formen also unsere Leben, berühren und verändern uns; sie sind unser Leben. Es gibt nichts, was wir dafür „machen“, „erzielen“ oder „verdienen“ müssten, sollten oder könnten.
In vielen meiner frühen Einträge auf diesem bLog habe ich mich darauf bezogen, daß Mehrfachbeziehungen die unsichtbare Qualität hätten „mehr als die Summe ihrer Teile“ zu sein. Eine Qualität, die sich offenbar von Liebe, Authentizität und Zusammengehörigkeit angezogen fühlt. Eine Stärke, die aus Miteinander, Verbundenheit und Wechselseitigkeit erwächst – ohne dabei Leistungsanteil zu sein…
Kein rigider olympischer Kraftakt, vielmehr ein aufnahmefähiges Geschehen-Lassen.
Etwa magisch? Oder mystisch? Vielleicht sublim?

Wenn Dr. Temperance Brennan es nicht erklären konnte, dann muß ich es auch nicht.😉



¹„Polykül“ ist ein humorvolles Kofferwort aus Polyamorie und Molekül und bezeichnet eine Gruppe oder eine Reihe von Menschen, die sich miteinander in ethisch non-monogamen Liebes-Beziehungen befinden. Da diese „Gebilde“ bzw. Gruppen, wenn man sie zu graphischen Verdeutlichung aufzeichnet, gerne einmal wie Kohlenwasserstoffringe, komplexe Moleküle oder andere mittelkettige Verbindungen aussehen können, ist dafür der augenzwinkernde Ausdruck „Polykül“ entstanden.

² Steven Hayes: „A Liberated Mind: How to Pivot Toward What Matters“, Avery (27. August 2019); deutsch: „Kurswechsel im Kopf: Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden“, Beltz; 2. Edition (19. August 2020)

Mehr Matt Haig, mehr über Nachhaltigkeit und speziell unsere Beziehungsressourcen gibt es in Eintrag 100!

Danke an andreas N auf Pixabay für das Foto!

Eintrag 103

Kopf und Fuß – oder: Der Blinde und der Lahme

Neulich hat mich eine Bekannte gefragt, wie denn meine bLog-Einträge normalerweise zustande kämen. Und ich sagte „Ganz verschieden – es kann manchmal sogar nur ein Wort sein, das mir im Gedächtnis bleibt, – und daraus entsteht ein vollständiger Eintrag.“
So ist es z.B. heute mit dem Wort „Abhängigkeitssymbiose“, welches ich vor einiger Zeit in einem gänzlich anderen Kontext als dem Universum der Mehrfachbeziehungen aufgeschnappt hatte.
Dieses Wort hat mich nämlich erst einmal irritiert, weil es für mich wirkte, als ob es aus zwei sehr unterschiedlichen Häften bestand, die gar nicht zueinander zu passen – ja, einander geradewegs zu widersprechen – schienen.
Und dann, als ich das Ganze einmal in meinem Kopf und dann in meinem Herzen herumbewegt hatte, habe ich gelächelt, denn mit einem Mal empfand ich den Begriff fast als ein bißchen hübsch in seiner Symbolik – und in diese Fall insbesondere für das Universum der Mehrfachbeziehungen.

„Abhängigkeit“, so sagt Wiktionary, steht für einen „Zustand, auf jemand oder etwas angewiesen zu sein“. Und damit hat das arme Wörtchen „Abhängigkeit“ auch meist sogleich seinen Charme weitestgehend eingebüßt. Denn uns in „Abhängigkeit“ zu befinden, auf jemanden oder etwas angewiesen zu sein, das klingt irgendwie klebrig, verhaftet, unselbständig und gebunden. Wodurch „Abhängigkeit“ nämlich unmittelbar in Verdacht gerät, das Antonym (= das Gegensatzwort) bzw. in gewisser Weise sogar der Antagonist (=Gegenspieler) unserer allseits beliebten und ersehnten „Freiheit“ zu sein.

Und dann ist da noch das Wort „Symbiose“. Hier definiert Wiktionary: „(das) Zusammenleben von Organismen verschiedener Arten zu gegenseitigem Vorteil“ bzw. „das Zusammenwirken von mehreren Faktoren, die sich vielfach gegenseitig begünstigen“. Womit Symbiose also wohl etwas Gutes und für die daran Beteiligten Lohnenswertes ist.

Damit wird aber zugleich klar, daß die in unserem urspünglichen Wortpaar zunächst als negativ wahrgenommene Abhängigkeit und die so vielversprechende Symbiose gar nicht wirklich gegensätzlich sind. Denn um von den Vorteilen einer Symbiose zu profitieren, müssten sich die Mitwirkenden wohl auf dieses „Aufeinander Angewiesensein“ einlassen, damit überhaupt eine solche zustandekäme…
Denn dies ist ja gerade das innewohnende Erfolgsgeheimnis jedweder Symbiose: Damit sie funktioniert – und „funktionieren“ heißt in diesem Fall: alle Beteiligten erfahren (Zu)Gewinn – müssen jene Beteiligte, wie ich im letzten Eintrag schrieb, „aus eigener Veranlassung nehmen UND geben“.

Dieser heutige Eintrag soll ein klein wenig ein „Erinnermich“ für ethische Mehrfachbeziehungen sein. Denn die Gefahr, daß wir in unseren Beziehungen zu stark bilanzieren – und das obendrein von einem zu selbstbezogenen Standpunkt – scheint mir nach wie vor sehr hoch.
Vor allem in einer Welt, wo wir regelmäßig u.a. mit Memen in sozialen Medien zugepfaster werden, die da mit Kalligraphiebuchstaben vor irgendeinem romantischem Fotohintergrund „Wahre Liebe gibt frei!“ postulieren.
Und nun komme ich und schreibe statt dessen viel lieber „Wahre Liebe… …ist symbiotisch!“ – und kann quasi hören, wie sich bei diesem Satz einigen Leser*innen knisternd die Haarspitzen aufstellen.

Gut, daß „Abhängigkeit“ in Beziehungsdingen für mich nicht grundsätzlich eine schlimme Sache ist, dürften regelmäßigere Konsument*innen meines bLogs spätestens seit meiner „Abhängigkeitserklärung“ in Eintrag 24 wissen. Dort schrieb ich – gewissermaßen als Fazit – daß »„Wechselseitige Abhängigkeit “ per se nach oligoamoren Maßstäben erst einmal kein behandlungsbedürftiger Makel sei, den es zu tilgen gelte, und sie in ihrer bewußten Form weder toxisch noch pathologisch sei.
Solch eine gut eingestellte – noch besser gut eingespielte – wechselseitige Aufeinanderbezogenheit stelle vielmehr ein engagiertes, dynamisches und offenes Binnenverhältnis dar, welches von regelmäßigen, gemeinschaftlichen Verhandlungen und (Nach)Justierungen profitiere.«


Für mich ist es aber trotzdem auch noch etwas mehr als das. Denn in der Oligo- und Polyamorie dreht sich nach meinem Empfinden am Ende des Tages alles um nichts weniger als wahrhaftige, romantische Liebe zwischen den so verbundenen Leutchen. Und wie ich wiederum in Eintrag 34 beschrieb, ist aufgrund meiner bisherigen Lebenserfahrung »der Kern des „romantischen Narrativs“ das freiwillig für die Gemeinschaft erbrachte Selbstopfer«.

Speziell letzterer Satz kommt beim Lesen immer erst einmal so unglaublich dramatisch daher, warum ich auch im zugehörige Eintrag damals gleich dieser Dynamik die (Hoch)Spannung nehme.
Symbiose, wenn sie romantisch (und nicht nur einen Zweckbeziehung) sein soll, benötigt aber darum ebenfalls genau dieses Selbstopfer.
Und vermutlich ist es daher auch geradewegs so ein unbehagliches Zwicken, was wir beim Begriff „Selbstopfer“ irgendwie empfinden, weil es dazu eben ohne die oben erwähnte „Abhängigkeit“ und damit einer Teil-Abgabe unserer vollen „Un-Abhängigkeit“, unserer größtmöglichen Freiheit, nicht geht.

Das ist auch ein Grund, warum ich Eintrag 102, in welchem ich exakt diese Freiheit feiere, die es uns überhaupt erst erlaubt, hinsichtlich unserem Wunsch nach Teilhabe und Verantwortungsübernahme Wahlen zu treffen, diesem Eintrag hier vorangestellt habe.
Denn es muß doch ein Ausdruck unseres nach Entfaltung suchenden Wesenskerns sein, wenn wir in uns den Wunsch finden, an einer „Symbiose“ (ich wiederhole: „das Zusammenleben von Organismen verschiedener Arten zu gegenseitigem Vorteil“) teilhaben zu wollen und damit zugleich bereitwillig die Verantwortung für den eigenen Beitrag am Gedeih dieses Gebildes mit zu übernehmen.

Wir haben es in Beziehungen also im ersten Moment stets mit einer freiwilligen Selbstbeschränkung zu tun – ein überaus romantisches Motiv übrigens. Z.B. so aufopferungsvoll-romantisch wie es einige Herren mit gesteiften Kragen im Jahr 1863 betrieben, als sie sich gegenüber einem wilden Gerangel um einen Lederball auferlegten, diesen künftig nur noch fair und gentlemenlike mit Kopf und Fuß zu bewegen – und auf diese Weise zu Gründern des modernen Fußballs avancierten…
Kurz vor dem Finale der derzeit stattfindenen EM finde ich hier Fußball übrigens eine durchaus treffende Metapher. Denn was wollten diese Leute damals erreichen, als sie sich selbst freiwillig beschränkten – und ein „weniger“ in Kauf nahmen?
Sie wollten einen „Mehrwert“ für alle erzeugen – weil sie der Meinung waren, daß mit roher Kraft und ganzem Körpereinsatz irgendwann irgendjemand so oder so in der Lage sei, einen Ball ins Tor zu bringen (was früher oder später nicht mehr sehr interessant gewesen wäre, es sei den für Leute, die den aufgepumptesten und rücksichtslosesten Protagonisten hätten bei ihrem Werk zuschauen wollen…).
Aus ihrer Selbstbeschränkung ging nun jedoch ein dynamisches, spannendes und integratives Spiel hervor, bei dem bis in die heutige Zeit Menschen aller Ethnien und Gender mit ihren vielfältigen Begabungen in Ausdauer, Geschick, Agilität, Mut, Findigkeit und Glück international um Aufmerksamkeit und Preise wettstreiten.

Die Vorteile von Wechselseitigkeit und Aufeinanderbezogenheit wie in einer Symbiose fallen uns also nach einer Weile also vielleicht doch noch ein – selbst wenn uns dabei aufgeht, daß wir dazu logischeweise eben (freiwillig!) einen Teil unserer persönlichen Freiheit dorthinein auflösen müssen, wenn wir wirklich mitwirken und profitieren wollen.
In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei ja auch meist um das „Schönwettergesicht“ der Liebe, über die ich im vorherigen Eintrag schrieb: »Hand aufs Herz: Wenn es in den von uns eingegangenen Beziehungen nicht etwas gäbe, was wir – wie oben erwähnt – „genießen“ wollten, wären wir doch vermutlich nicht darin…«
Das ist dann wieder wie beim Fußball: Klar, mit den heutigen Regeln (denen ich zugestimmt und mich selbstbeschränkt habe) kann ich den Typen in Ballbesitz da vorne jetzt nicht niederschlagen, um an das Leder zu gelangen. Ich muß mich heranpirschen und das Ding vom Fuß dribbeln, wonach ich es mit einem Paß zu den Mitspieler*innen oder (hoffentlich) zum Tor schießen kann. Aber: Am Ende des Tages bin ich dann eben nicht ein dumpfer Schläger, der vielleicht sogar für den eigenen Erfolg Fremdschaden in Kauf genommen hat – ich bin ein*e begehrte*r Ballkünstler*in in einem erfolgreichen Team.
Und weil es gerade nicht nach den Stärksten oder Durchsetzungsfähigsten auf dem Platz geht – denn so funktionieren Symbiosen nicht – bin ich es vielleicht ohnehin nächstes Mal, die den Ball zum Schuß auf das Tor zugespielt bekommt – weil ich eben am günstigsten dazu in Position bin.

Ok – in meinen Beziehungen kann ich durch Beitragen profitieren. Und durch romantische Selbstzurücknahme Mehrwert erfahren, den ich sonst alleine nie hätte erleben oder erzeugen können.
Aber wie ist das mit dieser konkludent (= Handlung, die auf eine bestimmte Willenserklärung schließen lässt, ohne dass diese Erklärung in der Handlung ausdrücklich erfolgt ist [also z.B. die Einwilligung in eine Liebesbeziehung]) eingegangenen Verantwortung für den Gedeih und die Aufrechterhaltung eines solchen Zusammenlebens und -liebens?
Warum schrieb ich im vorigen Eintrag »Wenn wir es mit unserem Wunsch nach Anteilhaben an einer (Liebes)Beziehung jedoch ernst meinen, dann ist auch die Verantwortung im gleichen Augenblick mit eingezogen – die Selbstverantwortung und auch die Verantwortung für das Wohlergehen, den „Gesundheitszustand“ der Beziehung.«?
Selbst der Wikipedia-Eintrag zur „Symbiose“ zeigt doch unterschiedliche Grade der wechselseitigen Abhängigkeit auf und schlägt sogar vor „Die Arten ziehen zwar einen Vorteil aus dem Zusammenleben, sind aber ohne einander gleichwohl lebensfähig.“ Wäre das nicht auch eine Möglichkeit, menschliche, romantische Nahbeziehungen mit mehreren Beteiligten zu handhaben?

Ich glaube, daß sich solche Gedanken vor allem immer dann einschleichen, wenn wir realisieren, daß weder die Liebe noch wir ganz persönlich stets immer nur auf der Seite des oben erwähnten „Schönwettergesichts“ des Beitragens und Genießens zu agieren in der Lage sind.
Dazu sagte der buddhistische Shaolin-Meister Shi Heng Yi neulich in seiner Reihe „positivegedanken“ auf Instagramm etwas sehr Anrührendes, was sogar an Teile des christlichen Eheversprechens erinnerte:

»Und Loyalität bedeutet aber, daß man weiß, dass es Momente geben wird, wo wir uns eventuell uneinig sind.
Aber genau weil ich eben weiß, dass das eventuell eine schwierige Zeit für eine Person werden wird, weil jetzt sehr viel Kritik und sehr viel Schmach – oder egal was – kommen wird, genau deswegen braucht aber diese Person jetzt die Unterstützung.
Wenn jeder immer nur positiv, gut, optimistisch redet, dann findet sich [leicht] eine Schar von Menschen, mit der man sich darum umgibt.
Aber es gibt eben einen Kern [an Menschen], der ist nicht nur in guten Zeiten da, der ist vor allem in den Zeiten da, wo andere weglaufen. Und so einen Kern sollte jeder Mensch haben – und das ist manchmal nicht mehr als eine Handvoll.
Aber was ist das Schöne daran? Dass dir das eben eine Stabilität gibt. Weil du weißt, egal was da kommt: Ich hab‘ einen Job, ich hab‘ keinen – die sind da. Ich habe eine Freundin, ich habe keine Freundin – die sind da.«


Meister Shi Heng Yi sagt also, daß der wichtige Begriff der Loyalität kein „Schönwetterstandard“ ist, sondern einer, dessen Wert sich gerade erst dann ermißt, wenn er in Konflikten miteinander Stand hält – und (trotzdem) erwiesen wird.
Und „Loyalität“, welche schon als Grundwert der Oligoamory in Eintrag 3 aufgeführt wird, verfügt auf der deutschsprachigen Wikipedia über die folgende großartige Definition »die auf gemeinsamen moralischen Maximen basierende oder von einem Vernunftinteresse geleitete innere Verbundenheit und deren Ausdruck im Verhalten gegenüber einer Person, Gruppe oder Gemeinschaft. Loyalität bedeutet, im Interesse eines gemeinsamen höheren Zieles, die Werte des Anderen zu teilen und zu vertreten bzw. diese auch dann zu vertreten, wenn man sie nicht vollumfänglich teilt, solange dies der Bewahrung des gemeinsam vertretenen höheren Zieles dient. Loyalität zeigt sich sowohl im Verhalten gegenüber demjenigen, dem man loyal verbunden ist, als auch Dritten gegenüber.«

Hier ist beides enthalten: Die romantische, freiwille Selbstbeschränkung („…diese auch dann zu vertreten, wenn man sie nicht vollumfänglich teilt…“) und die Verantwortung für das größere Ganze, welches es zu erhalten und zu fördern gilt („ der Bewahrung des gemeinsam vertretenen höheren Zieles…“), die von unserem Wunsch und unserer freien Wahl der „inneren Verbundenheit“ umwunden sind.

Unterm Strich ist nämlich auch die zunächst mit etwas Stirnrunzen betrachtete „(Abhängigkeits)Symbiose“ keine Schönwetterveranstaltung. Denn erst einmal verbunden, schwingt doch auch hier die Tür von Wohl und Wehe von allen Beteiligten in jedwede Richtung.
„Siehste, und deswegen, würde ich so eine Symbiose von Anfang an vermeiden…!“
Ja? Das wäre genau die falsche Lehre aus dem zuvor Gesagtem gezogen. Denn exakt die Symbiose ermöglicht es, Mißstände oder Mißtöne aufgrund der verbundenen Ressourcen ganz anders aufzufangen, als es uns als bloßes Individuum je gelingen könnte.

Eine Fußballmannschaft wird heutzutage normalerweise in einer Weise zusammengestellt, in der sich Talente möglichst zu Höchstleistungen ergänzen sollen.
Doch schon vor Jahrhunderten im Mittelalter – einer Zeit, in der sich die Menschen ihrer Unvollkommenheiten und Abhängigkeiten vermutlich noch wesentlich elementarer bewußt waren als wir heute – entstand die Doppelgestalt „des Blinden und des Lahmen“, der in der Neuzeit die deutsche Folk-Rock-Band Ougenweide auf ihrem Album All die weil ich mag(1974) mit der Vertonung eines Textes von Christian Fürchtegott Gellert¹ noch einmal ein akkustisches Denkmal gesetzt hat: In dem Lied treffen ein lahmer Krüppel und ein Blinder aufeinander, nach kurzer Verhandlung trägt der Blinde den Lahmen, der im Gegenzug dem Blinden den richtigen Weg weist. Das Lied kulminiert mit den Zeilen:

Vereint wirkt also dieses Paar
Was einzeln keinem möglich war.

Du hast das nicht, was andre haben
Und andern mangeln deine Gaben.
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.

Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die Natur für mich erwählte,
So würd‘ er nur für sich allein
Und nicht für mich bekümmert sein

Beschwer‘ die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein:
Wir dürfen nur gesellig sein!

„Geselligkeit“, wie sie die Mittelalterlichen (und auch noch Herr Gellert im 18. Jahrhundert) sie einst nannten, hat heute einen leicht anderen Namen: Wir sagen mittlerweile „Gemeinschaft“. „Abhängigkeitssymbiose?“ Vielleicht darum auch eher ein Wort, was lieber der Vergangenheit angehören sollte. Wir könnten „Solidarität“ dazu sagen. Oder in einer romatischen Beziehung aus mehreren Beteilgten schlicht: Liebe.



¹ Der deutsche Dichter und Moralphilosoph Christian Fürchtegott Gellert sah sich selbst übrigens in Kontinuität mit den Ideen des von mir verehrten englischen Philosophen, Schriftsteller, Politiker, Kunstkritiker und Literaturtheoretiker Anthony Ashley Cooper, den ich in Eintrag 64 zu Wort kommen lasse.

Danke an Mary Taylor auf Pexels für das Foto!