Lang lebe die Königin!
Der fürstliche Sänger ist zutiefst unglücklich. Er schreitet durch den Ballsaal und läßt die ganze Welt an seiner Qual teilhaben, indem er singt:
»Ich will meine Ungebundenheit nicht
Es gibt keinen Grund mehr zu leben
Mit einem gebrochenen Herzen!
Dies ist eine verfahrene Situation:
Ich habe nur mir selbst die Schuld zu geben
Es ist eine einfache Tatsache des Lebens
Es kann jedem passieren…
Du gewinnst, du verlierst
Es ist ein Risiko, das man in der Liebe eingehen muss
Oh, ja, ich hatte mich verliebt
Aber jetzt sagst du, es ist vorbei und ich zerbreche
Es ist ein mühevolles Leben
Zusammen wahre Liebende zu sein
Für immer zu lieben und zu leben
Im Herzen des anderen
Es ist ein langer, harter Kampf
Zu lernen, füreinander zu sorgen
Einander zu vertrauen
Gleich von Anfang an
Wenn du verliebt bist
Ich versuche, die Scherben zu kitten
Ich versuche, die Tränen zurückzudrängen
Es heißt, es sei „nur ein Gemütszustand“
Aber es passiert jedem…
Wie weh es tief im Inneren tut
Wenn deine Liebe dich zurück auf den Boden der Tatsachen geholt hat
Das Leben ist nicht leicht, auf sich allein gestellt
Jetzt warte ich auf etwas, das vom Himmel fällt
Ich warte auf die Liebe
Ja, es ist ein mühevolles Leben
Wahre Liebende vereint
Für immer zu lieben und zu leben
Im Herzen des anderen
Es ist ein langer, harter Kampf
Zu lernen, füreinander zu sorgen
Einander zu vertrauen
Gleich von Anfang an
Wenn man verliebt ist
Ja, es ist ein mühevolles Leben
In einer Welt, die voller Kummer ist
Da gibt es Menschen, die nach Liebe suchen
Auf jede erdenkliche Weise
Es ist ein langer, zäher Kampf
Aber ich werde immer für morgen leben
Ich werde auf mich zurückblicken und sagen
Ich tat es für die Liebe…
Ja, ich tat es für die Liebe – für die Liebe…
Ooh, ich tat es für die Liebe!«
Was ihr gerade gelesen habt, ist der von mir ins Deutsche übersetzte Songtext¹ der Ballade „It’s a Hard Life“ der berühmten britischen Rockband „Queen“, welche 1984 von deren genialem Hauptsänger Freddie Mercury sowohl geschrieben als auch erstmals vorgetragen wurde.
In dem Lied sind jede Menge Merkmale des „romantischen Narrativs“ verpackt – von der Selbstaufopferung (siehe Eintrag 34), die man auf sich nehmen sollte, wenn man eine Liebesbeziehung eingeht, über die komplette Sinnstiftung durch die andere geliebte Person, die dann dem Leben einen Grund gibt, bis hin zu dem alles verzehrenden Schmerz, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Und auch das glücksspielartige Verlangen, um der eigenen Erfüllung halber es daher alsbals erneut in Sachen „romantischer Liebe“ zu versuchen, klingt am Ende an…
Eine Elegie, ein Lamento, eine Wehklage – und damit eigentlich schon eine Art Gebet um Erlösung von diesem gerade erfahrenen Schmerz – hat uns der aus Sansibar stammende, britische Dichter auf diese Weise dargebracht. Und so viele von uns, die es seit damals hörten und heute noch hören, können sich gut in diese Klage und dieses Flehen hineinversetzen.
Anrufungen und Klagelieder rund um die unglückliche Liebe scheint es seit Menschengedenken zu geben – aber muß uns diese Pein selbst im 21. Jahrhundert, welches uns doch eine zunehmende bunte Vielfalt an Beziehungsformen und -philosophien gebracht hat, denn stets immer noch so arg und mit voller Wucht treffen? Hat daher womöglich die „romantische Zweierbeziehung“ ausgedient – und würde uns weniger Leid und mehr Gleichmaß widerfahren, wenn wir stattdessen eher „pragmatische Zweierbeziehungen“ führten? Nüchterner eben, ganz ohne romantische Verflechtungen – aber dafür wenigstens zufriedener…?
Ein überraschend frische Erklärung für das, was unserer Beziehungsharmonie eigentlich vor allem im Weg steht – und welche gedanklichen und praktischen Schritte nachzuvollziehen günstig wären, um unser Liebesglück zu genießen, lieferte vor erst einem Monat einmal mehr die große Dame der Beziehungs(dynamik)forschung, Esther Perel.
Fast als hellseherische Antwort auf mein zu Anfang übersetztes „Gebet“ aus der Feder Freddie Mercurys verdeutlichte sie im Gespräch mit dem New York Times Autor und Podcaster Lewis Howes am 18.September 2024²:
»Dein „Seelengefährte“ war früher Gott, kein Mensch. Also das „Eine und Einzige“ war damals das Göttliche.
Und mit diesem „Einen und Einzigen“ will ich aber heute Ganzheit und Ekstase und Sinn und Transzendenz erleben.
Und ich werde darum noch zehn Jahre länger warten… Wir warten zehn Jahre länger, um uns auf jemanden einzulassen, um uns gegenüber jemandem verbindlich zu erzeigen. Also diejenigen von uns, die sich für einen „Jemand“ entscheiden… Und wenn ich länger warte, wenn ich mich umsehe und unter tausend Menschen wähle, die ich gerade zur Verfügung habe, dann, sei versichert, sollte derjenige, der meine Aufmerksamkeit erregt, derjenige, für den ich meine Apps löschen werde, besser der „Eine und Einzige“ sein!
In einer Zeit, in der sich die Auswahl an Möglichkeiten vervielfacht, haben wir gleichzeitig einen beispiellosen Anstieg der Erwartungen an eine romantische Beziehung. Wir haben noch nie so viel von unseren romantischen Beziehungen erwartet wie heutzutage in der westlichen Welt. Das ist ein enormer Druck: Wir brechen unter der Last dieser Erwartungen zusammen, denn eine ganze Gemeinschaft kann nicht zu einem Stamm von bloß zwei Personen schrumpfen. Dies (Gespräch hier z.B.) ist eine Party für zwei. Und mit dir (Lewis) und mir zusammen sollen wir nun beste Freunde, romantische Partner, Liebhaber, Vertraute, Eltern, intellektuelle Egos, Karrierecoaches etc. miteinander werden… Also, was immer man will. Und ich denke mir: „Ernsthaft!? Eine Person für alles? Eine Person anstatt eines ganzen Dorfes?“
Das ist also der erste Mythos. Und die Vorstellung von bedingungsloser Liebe, die damit einhergeht, ist, dass, wenn wir dieses „Eine und Einzige“ haben, ich das erlange, was du „Klarheit“ nennst, aber eigentlich eher in der Bedeutung von Gewissheit, von Frieden und Freiheit, also quasi Sicherheit. […]
Erhalte (stattdessen) eine Gemeinschaft um dich herum. Pflege tiefe Freundschaften, wirklich tiefe Freundschaften, tiefe Vertrautheit mit Partnern, mit Freunden, mit Mentoren, mit Familienmitgliedern, mit Kollegen! Das Wichtigste für mich, um gute Beziehungen zu gestalten, ist eine breite Vielfalt zu schaffen. Bei manchen Menschen mag das die Sexualität einschließen – bei der großen Mehrheit nicht.
Denn die wichtige Erkenntnis ist, dass es nicht „die eine Person“ für alles gibt und dass dies auch nicht bedeutet, dass ein Problem in eurer Beziehung existiert, wenn dies der Fall ist.
Der zweite Punkt [der zweite Mythos] ist, dass man aufhören muss, die Menschen ständig als Produkt zu betrachten, indem man sie bewertet – und sich dadurch ebenso selbst bewertet. Denn in unserer Marktwirtschaft ist alles ein Produkt geworden, auch wir selbst. Und so scheint das „Verlieben“ zu dem Moment geworden zu sein, in dem die Bewertung des Produkts aufhört: Endlich ist man genehmigt, wenn man erwählt wurde und wenn man seinerseits eine Wahl getroffen hat.«
Wow, Frau Perel! Diese wenigen Interviewzeilen sind für mich nahezu eine oligoamore Offenbarung, da sie viel von dem noch einmal bündeln, was ich selbst an verschiedenen Stellen in diesem bLog zusammengetragen habe.
Die wichtigste Botschaft daran ist für mich, daß wir uns die „verfahrene Situation“, die Freddy Mercury besingt, einerseits mit unserer Erwartungshaltung – aber auch andererseits mit unserer Abhängigkeitshaltung selbst bereiten. Immanuel Kant, der „Vater der Aufklärung“, wäre vermutlich ebenso fassungslos, denn nicht die Fähigkeit, uns unseres Verstandes zu bedienen³, soll uns demzufolge heutzutage aus unserer selbstverschuldeten Abhängigkeit befreien – sondern die „romantische Liebe“ zu einer anderen Person.
Wobei das mit der „selbstverschuldeten Abhängigkeit“ so eine Sache ist, denn Esther Perel weist ja ebenfalls wie ich in meinen oligoamoren Überlegungen darauf hin, daß wir derzeit an einer Gesellschaftsform teilhaben, die sehr stark die Vereinzelung des Individuums und dessen Bewertung nach Leistungskriterien vorantreibt. Die romantische Verbindung zu einem anderen Menschen wird dadurch oft mit der weiteren Bürde belastet, als Beweis dafür herhalten zu müssen, daß wir es jenseits von Anspruch oder Leistung dennoch wert sind, um unserer selbst willen geliebt zu werden… Sollte es dann im Beziehungsgebälk knirschen – oder steht gar die Auflösung einer Beziehung im Raum (von der wir ja nach den momentanen Mehrheitsregeln möglichst nur „eine und einzige“ romantischer Art unterhalten dürfen!), sei es im besten Fall wegen „Neigungswechsel“ oder im schlimmsten Fall wegen vorgefallener Illoyalitäten – dann fallen wir so tief, wie es oben in „It’s a Hard Life“ beschrieben steht: Wir zerbrechen innerlich; unser Existenzgrund, der Sinn unseres Lebens daselbst, ist in Frage gestellt.
Und in einem sind sich Freddy Mercury und Esther Perel dann einig: Haben wir uns einem System unterworfen, welches nach diesen Regeln funktioniert, bleibt uns nur das erneute Hoffen auf etwas „das vom Himmel fällt“, in etwa wie ein Lottogewinn, zu dessen Zustandekommen man außer durch den Loskauf mit so gar keiner Art von eigener Initiative auch nur irgendetwas beitragen könnte… Erwartung und Abhängigkeit – eine Spirale, der wir nicht entrinnen können.
Aber weder wäre Freddy Mercury der geniale Songschreiber, der er war, noch Esther Perel die kluge Kennerin menschlicher Liebespsychologie, wenn nicht beide noch wesentlich mehr Botschaft in ihren Beiträgen untergebracht hätten.
Zunächst Meister Mercury, der die Eingangskadenz seines Songs mit den ersten Takten von „Ridi, pagliaccio!“ des italienischen Komponisten Ruggero Leoncavallos beginnt (die Melodie ist in Deutschland besser in der Version „Lache, Bajazzo!“ aus der zugehörigen Oper „Der Bajazzo“ bekannt – daraus ist quasi ein geflügeltes Wort entstanden und beschreibt eine Situation, in der einer Person zum Weinen zumute ist und stattdessen dennoch eine „frohgemute Fassade“ nach außen zeigen muß…):
Obwohl die Machart des Songs und des dazugehörigen Videos es oberflächlich anders vermuten lassen – das lyrische Ich wurde verlassen, es leidet, es hat hohe Ideale in Sachen Liebe, die (wiedereinmal) von anderer Seite enttäuscht wurden… – befindet es sich vielmehr in genau dem „selbstverursachten“ Teufelskreis („du gewinnst – du verlierst“), den ich zuvor beschrieben habe. Fredie Mercury wollte also der Welt nicht einfach nur eine weitere melodramatische Liebesballade schenken – er war sich jener doppelbödigen Tatsache innerhalb seiner Komposition offensichtlich sehr genau bewußt und hinterließ einige subtile Hinweise, was sein eigentliches „Thema hinter dem Thema“ war.
Als Autor dieses bLogs (und daselbst bekennender Romantiker) freue ich mich in dem Queen-Song insbesondere an dem Refrain, in dem Mr. Mercury nichtsdestoweniger die Werte aufscheinen läßt, auf die es gleichwohl ankommt: Füreinander loyal einzustehen, Fürsorge und Rücksichtnahme aufeinander – und das basierend auf gewachsenem Vertrauen ineinander (da höre ich die Wissenschaftler Cohen, Underwood und Gottlieb aus dem letzten Absatz in Eintrag 14 – oligoamores Stammkapital!).
Womit Esther Perel ins Spiel kommt, an deren Veranschaulichung mir besonders gefiel, daß sie zwar in bester oligo- und polyamorer Weise zu einer dringenden „Diversifizierung“ des eigenen „Beziehungsportfolios“ riet – aber dabei ganz ohne den sonst so häufig in polyamoren Kreisen stereotyp zu hörenden Hinweis auf die persönliche Bedürfnisbefriedigung auskam (Damit meine ich das Pseudoargument, daß ja „niiiiiiiiie nur eine Person alle Bedürfnisse eines anderen erfüllen könne“ – und man allein schon darum mehrere romantische Beziehungen führen müsste… Meine explizite Kritik daran siehe Eintrag 85). Es wäre auch ein Leichtes, ihre Ausführungen in dieser Art zu (miß)verstehen – womit wir uns sofort in der von ihr kritisierten „Selbstbewertungsfalle“ wiederfinden würden – da wir in dem Fall ja der Anderen „bedürftig“wären, um uns als „ganz“ erleben zu dürfen (und die Verzweiflungsbotschaft aus „It’s a Hard Life“ hätte gewonnen…).
Das ist es nämlich nicht, worauf die streitbare Beziehungsforscherin mit ihrem Plädoyer hinauswollte. Esther Perel geht es um einen ganz wichtigen sowohl philosophischen wie humanistischen, sowohl queeren wie auch oligoamoren Grundsatz: Die (Selbst )Ermächtigung.
Exakt diese Selbstermächtigung wäre genau die beste Medizin gegen die zwei verhängnisvollen Seiten der selben unglücklichen Liebes-Medaille: Abhängigkeit und Erwartung.
In Sachen Beziehungsgestaltung ruft Frau Perel daher zu eigener, bewußter Proaktivität auf. Was für mich ebenfalls implizit den Hinweis darauf enthält, unsere gewachsenen oder bestehenden Beziehungen auf ihren Selbstermächtigungsgrad hin noch einmal zu untersuchen: In welchen Beziehungen darf ich als ganze Persönlichkeit bestehen – vereint mit der Flexibilität und dem Nicht-Anspruch, darin ein „Passepartout“ für jeden Zweifels- und Verzweiflungsfall darstellen zu müssen?
Indem Esther Perel aber auch ergänzt, daß es ihr trotz der „Diversifizierung“ auf Gemeinschaft, tiefe Freundschaft und innige Vertrautheit als Maßstab für gesunde Beziehungen ankommt, greift sie Freddie Mercurys Loyalität, Berücksichtigung und Verbundenheit auf, die immer wieder im Refrain von „It’s a Hard Life“ anklingen – wodurch sowohl der Künstler als auch die Wissenschaftlerin in dem Verständnis davon, was die „Kernwährung“ echter Beziehungen auf Augenhöhe ist, übereinstimmen.
Und beide stimmen eben auch darin überein, daß unsere Suche nach Geborgenheit und Angenommensein uns in tückische Untiefen wie Mißverständnisse und scheinbar unerklärliche Verzweiflung treiben können, wenn wir uns unhinterfragt einer normgesellschaftlichen Erwartung überlassen, die in der Sache gute Ideale mittlerweile vor einen seltsam schrillen Karren spannt, um uns zu unrealistischen Leistungen sogar in unseren intimen romantischen Beziehungen anzutreiben – im Gegenzug für die Verheißung nach menschlichen Maßstäben nicht erfüllbarer Gratifikationen.
Bewundernd sitze ich heute also sowohl vor dem 40 Jahre alten Songtext eines viel zu früh verstorbenen Genies als der auch vor der wenigen Wochen ausgesprochenen Lebenserfahrung einer aufmerksamen Beziehungs- und Menschenkennerin.
Das oligoamore Universum – es dreht sich und dehnt sich dabei aus, wie sein großes Vorbild.
Ich bin erneut dankbar, dabei zu sein!
¹ Der Songtext von „It’s a Hard Life“ im englischen Original HIER auf Genius – übersetzt von mir mit Hilfe der deepL-KI
² Lewis Howes in seiner Reihe „THE SCHOOL of GREATNESS„ im Gespräch mit Esther Perel am 18. Spetember 20124: „Relationships Have CHANGED Forever“ als Auszug Englisch mit deutschen Untertiteln z.B. auf Facebook.
³ Immanuel Kant in seinem Essay “ Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? „ von 1784
Danke an Megan Watson auf Unsplash für das Foto!