Eintrag 99

Don’t dream it – be it…!

Liebe Leser*innen, es ist soweit:
Mit dem heutigen 99. Eintrag wird das Oligoamory-Projekt unglaubliche 5 Jahre alt!
Für einen privaten bLog im Einmannbetrieb ein stolzes Alter, welches viele ähnliche Unternehmungen nicht erreichen, die ja alle ebenfalls mit Leidenschaft und dem überzeugten Enthusiasmus, zu einem bestimmten Thema etwas zu sagen zu haben, irgendwann einmal begonnen hatten.¹
Dementsprechend rufe ich Euch heute zu: „Ich bin noch hier!“ – und gemäß den drei wichtigsten Werten der Oligoamory „Verbindlichkeit“, „Einlassung“ und „Berechenbarkeit“ werde ich mich bemühen dafür zu sorgen, daß dies auch nächsten Monat wieder gilt, so wie in den 60 vorangegangenen zuvor.

In gewisser Weise ist es schon kurios. Vor fünf Jahren um diese Zeit im Jahr war gerade meine letzte polyamore Mehrfachbeziehung mit Mißverständnissen und Grenzverletzungen (auch von meiner Seite) zuende gegangen. Genau genommen war es sogar das Ende einer Dreier-Serie kürzerer polyamorer Arrangements, die sich nacheinander aufgelöst hatten und sämtlich ein maues Gefühl von – wie sagt man heute neudeutsch? – „Underperformance“ hinterließen, ja, eben: unter den potentiellen Möglichkeiten geblieben zu sein.

Eine Flucht in eine weitere Beziehung hinein zeichnete sich damals nicht ab – und wurde von mir zugleich als höchst kontraproduktiv empfunden.
Ich brauchte also dringend einen grünen Stecken, um trotz der frischen Blessuren auf dem Herzen meiner Beziehungsphilosophie dennoch treu zu bleiben und erst einmal weiter voranzukrücken – sowie einen Reflektionsraum, um mir meiner Lernerfahrungen aus dem Erlebten klar zu werden – und zugleich festzuhalten, was ich mir denn von einer intimen romantischen Nahbeziehung mit mehreren Beteiligten eigentlich für mich wünschen würde (ein Prozess, den ich in eingermaßen unbedarfter Weise zuvor jedesmal ausgelassen hatte).
Zusätzlich war ich davon ausgegangen, daß die Menschen, mit denen ich Beziehungen eingegangen war, unter der Wortfolge „ethische Mehrfachbeziehung“ in etwas dasselbe verstehen würden wie ich. Speziell herauszufinden, daß dies ganz und gar nicht so war, stellte für mich eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse dar, die ich aus jener Zeit gewonnen habe.

Ok, dies ist jetzt vermutlich ein etwas ernster Einstieg in den heutigen Jubiläumsartikel…
Dennoch, ja, aus dieser Wurzel sproß die Oligoamory hervor, wuchs und entfaltete sich mit jedem Eintrag – und stärkte damit zugleich meine Zuversicht in eine Art zu Lieben, die ich für mich selbst aus dem tiefsten Inneren empfand: Die Möglichkeit, einige (wenige) ausgewählte Personen gleichzeitig romantisch zu begehren und wertzuschätzen.

Von da an wurde die Oligoamory, die gewissermaßen als „meine Reise“ begonnen hatte, immer stetiger auch zu „Eurer Reise“, inklusiverweise sollte ich sogar noch besser sagen zu „unserer Reise“ – als Unternehmung und Herzensangelegenheit all derer, die in diesem besonderen Bereich der Zwischenmenschlichkeit ähnlich empfinden.

Von der ersten Stunde an stand die „Oligoamory“ dabei aber nicht als Sturzgeburt im luftleeren Raum. Weil ihr Autor und Reiseleiter ein bekennender Idealist ist, stand sie vielmehr auf den Schultern all derjenigen, die bereits zuvor der Möglichkeit von Mehrfachbeziehung ihr Leben (oder zumindest einen wichtigen Teil davon) gewidmet hatten – UND diesem Ganzen darüber hinaus stets konsequent das wichtige Wörtchen „ethisch“ hinzugefügt hatten, um es klar von Unehrlichkeiten, Betrügereien, Affären oder Geliebtenstatus abzugrenzen.
Womit sich der Kreis schloß, weil dies die Bedeutung der „Arbeit am Selbst“ deutlich hervorhob: eben genau herauszufinden, was Menschen für sich selbst von einer solchen Art von Beziehung erhoffen würden – sowie zugleich nach eigener Aufgestelltheit einzubringen in der Lage wären…

Wenn ich heute den 99. Eintrag abfasse, dann fallen mir drei weitere Einsichten ein, die mir während der vergangenen Jahre immer wieder aufgefallen sind:

Erstens, und darum nicht zufällig an dieser Stelle von mir genannt, wie wichtig es ist, auch im „Reich der Poly- oder Oligoamory“ Beziehungen zu Menschen zu suchen, aufzunehmen und zu unterhalten – und eben nicht zu Beziehungen.
In ihrem Polyamory-Buch „More than Two“ ² – und auch auf ihrer ehemaligen gemeinsamen Webseite – postulierten die Autoren Franklin Veaux und Eve Rickert diese wichtige Maxime sogar als fundamentales Prinzip welches sie auch dementsprechend konsequent in ihrer Beziehungs-Grundrechteerklärung verankerten.
Was hier im ersten Augenblick als merkwürdig selbstverständlich erscheinen kann, ist es – speziell wenn man sich zwecks Orientierungshilfe durch knapp 600.000 Wörter Oligoamory wühlt – hingegen ganz und gar nicht. Denn die Gefahr, am Ende „function follows form“ (dt.: „der Zweck folgt der Form“) zu erliegen, ist überraschend groß. Das muß nicht unbedingt wie in dem klassischen „Worst-Case-Szenarien“ bedeuten, daß Menschen in Mehrfachbeziehungen nur dann ein bestimmtes vordefiniertes Plätzchen mit ihrer Rolle zugewiesen wird, wenn sie buchstäblich zuvor eine „Beziehungsrahmen-Vereinbarung“ signiert haben (kein Witz: es gab/gibt Mehrfachbeziehungen, die dies wirklich mit einem selbstgeschriebenen Regularium abzubilden versuchen…). Nein, die viel gegenwärtigere Gefahr ist, daß wir uns selbst im Alltag schlicht unbewußt eine „Beziehungsrahmen-Brille“ aufsetzen und damit Menschen, denen wir begegnen – und die uns vielleicht sogar zugewandt sind – einer Art „ethischer Mehrfachbeziehungscheckliste“ anheimfallen lassen.
Was für uns, als Bekennende ethischer Mehrfachbeziehungen, die Sache aber meist noch schwieriger macht ist, daß speziell wir auch „von außen“ oft nur in dieser eingeschränkten Sicht, also lediglich in unserer Eigenschaft als „Mehrfachbeziehungsführer*innen“ wahrgenommen werden. Und das ist nicht nur problematisch, sondern erstickt meistens jeden anfänglichen zarten Beziehungsaufbau im Keim.
Genau dieser anfängliche zarte Beziehungsaufbau ist ein ganz sensibler Prozess. Denn natürlich ist es im zweiten Schritt von absoluter Wichtigkeit, um allen Seiten eine informierte Wahl zu gewähren, direkt die für sich gewählte Beziehungsphilosophie und die eigene Identifikation damit offenzulegen. Aber der ERSTE Schritt ist und bleibt, herauszufinden, ob sich da Menschen gegenseitig mögen, füreinander empfinden, sich richtig gut leiden können…!
Zu oft habe ich in den letzten 5 Jahren erlebt, daß die an den Anfang gestellte Abklärung hinsichtlich des Beziehungsmodells jeden Verliebtheitsfunken, nahezu schon bevor noch ein solcher erglühen konnte, vorerwartungsmäßig erstickte. Und dies ist kein menschliches Maß, wenn eben die Form wichtiger gerät als der Zweck. Wieviel Mitmenschlichkeit, wieviel Verständnis, Unterstützung, Empathie, Chance auf Verbindung, ja, auf mögliche Verliebtheit und eventuell echte Liebe lassen wir uns so entgehen?

Das 21. Jahrhundert sollte uns lehren, daß für Beziehungen keine Fertig-Blaupausen aus dem Kopierer der Vergangenheit gezogen werden können. Vielmehr ist das Gebot der Zeit, daß vereinbarte Formen immer wieder aufgesucht werden müssen und der gegenwärtigen Situation und Aktualität anzupassen sind, um Bestand zu haben und den Beteiligten angemessen zu sein.
Darum sage ich hier und heute: „Liebt, Ihr guten Leute, liebt und verliebt Euch, wenn zwischen Euch die Möglichkeit dazu besteht – und errichtet im nächsten Schritt darum herum den ethischen Rahmen, in dem sich alle Beteiligte zum größtmöglichen Maß wahrgenommen, wertgeschätzt, aufgehoben und angenommen fühlen!“
Die vowegnehmende Beziehungsrahmen-Diskussion ist in etwa, als ob jemand sagen würde „Du kaufst da Blumenkohl – ich kann dich doch nicht lieben…“ oder „Oh, du trägst Karomuster – ich will gar nicht herausfinden, ob ich dich mögen könnte…“ Das klingt albern? Dann genügt ein Blick z.B. in die sozialen Netzwerke, um desillusioniert zu erkennen, daß unser zwischenmenschlicher Diskurs mittlerweile auf diesem schalen Niveau angekommen ist. Und daß wir uns wegen kleinlicher Äußerlichkeiten die Chance vergeben, eine andere, sonst womöglich durchaus sympathische Person, näher kennenzulernen – die doch vielleicht unser Leben bereichert hätte.

600.000 Wörter Oligoamory sind (auch) eine Menge Theorie. Aber bitte laßt Euch durch diese nicht davon abhalten, dem Zweck den Vorzug vor der Form zu geben. Kommt ins Gespräch, laßt Euch auf einander ein, gebt einer ersten zarten Verbindung, den ersten vermeintlichen Funken, Luft und Raum zum atmen und wachsen: Geht daher bitte Beziehungen mit Menschen ein, nicht sofort mit Beziehungen – oder Beziehungsmodellen (so wichtig diese – und die Verständigung darüber – im zweiten Schritt auch sind).

Mein Zweitens hat in gewisser Weise mit dem obigen „Erstens“ zu tun.
In meinem letztjährigen März-Eintrag 87 schrieb ich, daß viele von „uns“ – die sich also mit dem Thema „ethische Mehrfachbeziehungsführung“ hinsichtlich ihrer zwischenmenschlichen Kontakte beschäftigen – sich oft auch in dem ein oder anderen Bereich ihres Lebens bereits „frei gedacht“ hätten (u.a. Ökologische Lebensweise, politischer Aktivismus, Queerness, Spiritualität, Identifikation mit Subkulturen, Veganismus etc.). Da solcherlei alternative Herangehensweisen häufig eine bewußte, oft widerständigen Haltung gegen eine mehrheitsgesellschaftliche Normativität benötigen, gehen diese Lebensweisen oft mit Grenzziehungen und Betonung der eigenen Identität in Sprache, Engagement, Kleidung, Wahl der Umgebung und Gleichgesinnter einher.
Eine Gefahr, beim nicht-gewöhnlich-Sein besteht nach einer Weile darin, wegen der aufgewandten Kraft, die das Außer-Gewöhnliche in einer Mehrheitsgeselschaft braucht, auch vor allem dieses Außergewöhnliche für sich selbst als maßgeblich anzunehmen.
Dies ist aber nicht nur ein Minderheiten-Phänomen, sondern es betrifft genauso die erwähnte Norm-Gesellschaft: Unsere zunehmende Event- und Leistungs-Kultur stumpft uns zunehmend gegenüber den leisen Tönen ab und läßt mittlerweile das Spektakuläre zum Erwarteten werden.
Der in Deutschland geborene spiritueller Lehrer und Selbsthilfeautor Eckhart Tolle sagte einmal passend dazu:

»Warum warten wir darauf, dass etwas Außergewöhnliches passiert, um uns lebendig zu fühlen?
Warum beginnt die Aufregung erst, wenn ein bestimmtes Ereignis eintritt – eine Beförderung, eine Reise, ein großer Lebenswandel?
Die Wahrheit ist, dass jeder Augenblick – ja, wirklich jeder – ein Spektakel sein kann.
Selbst die alltäglichsten Tätigkeiten, wie einen Tee trinken oder zum Bus laufen, können zu etwas Großartigem werden.
Wenn du einen Tee trinkst, nimm dir einen Moment Zeit, um die Wärme der Tasse in deinen Händen zu spüren, das Aroma des Tees zu genießen, den Geschmack auf deiner Zunge wahrzunehmen. Plötzlich wird diese einfache Handlung zu einem Erlebnis voller Sinnlichkeit und Präsenz.
Beim Gang zum Bus kannst du den Rhythmus deiner Schritte beobachten, die Frische der Luft einatmen, die Geräusche der Umgebung wahrnehmen. Du bist voll und ganz da, in diesem Augenblick, und jede Sekunde wird lebendig und bedeutungsvoll.
Dies geschieht nicht durch magische Verwandlung, sondern durch deine bewusste und präsente Wahrnehmung des Moments.«


In meinem Eintrag 45, in dem ich über die „wunderbare Alltäglichkeit des Seins“ schreibe, lasse ich dies ebenfalls anklingen. Die Gefahr, daß wie 100% Leben verpassen, weil unsere Reizschwelle längst jenseits der 110% liegt, läßt uns alles vermeintlich darunter liegende als weniger authentisch oder gar wert erscheinen. Womit wir selbst die Latte für uns selber immer höher schieben, was es denn braucht, uns noch „aus dem Häuschen“ zu bringen… Und das ist problematisch für jedweden Beziehungsaufbau – und dann auch innerhalb unserer bestehenden Beziehungen, denn durch einen künstlichen „nach-oben-Vergleich“ banalisieren und mindern wir unser derzeitiges Erleben, was dazu führt, daß wir immer schon beim nächsten (Erwartungs-)Schritt sind – und uns so nur selten wirklich im Hier&Jetzt befinden.
Liebe, die sich genau in Einlassung, Wertschätzung und Da-Sein ausdrückt ist jedoch ein vollständiger Gegenwärtigkeitsaugenblick.
Lasst uns diesen Augenblick nicht deshalb verpassen, weil wir in unserer Anspruchshaltung auf nichts weniger als die manifestierte Erscheinung des leibhaftigen Regenbogeneinhorns in Cinemascopeformat und HD warten – und dabei das Glück übersehen, welches gerade direkt neben uns die Dosenerbsen in den Einkaufswagen legt…

Drittens – und weil „Erstens“ und „Zweitens“ sich nach einer Weile nichtsdestoweniger frustrierend anfühlen können, speziell wenn sich wenig bewegt und die ersehnten Lieblingsmenschen sich absehbar nicht einfinden wollen: Bleibt Euch selbst treu. Und verliert nicht den Glauben und das Zutrauen in die Richtigkeit Eures romantischen Empfindens.
Lasst es Euch auch von niemandem absprechen oder als Phase verunglimpfen, die sich eventuell durch Mangel an Augenscheinlichkeit sicherlich erledigt hätte…
Oder gar dadurch, daß Ihr selbst vielleicht bisher nicht den letzten Schritt gewagt habt – und Euch noch nicht zu Euren Mehrfachbeziehungswünschen nach außen bekannt habt.
Denn das wäre so, als ob jemand anderes bösartig diagostizieren würde: „Was? Du bist nicht geoutet? – Dann bist Du wohl auch nicht wirklich schwul, lesbisch, trans etc…!“
Aber auch hier gilt „form follows function“ (dt.: die Form folgt dem Zweck): Ein „Outing“, der Schritt zum offenen Bekenntnis, Mehrfachbeziehungsfähig zu sein, ist der letzte Schritt in einem Prozess, dessen ursprüngliche, ausgängliche Quelle das innerste eigene Empfinden ist.
Lasst Euch das von mir zusprechen, jemandem, dem es in der Tat in den letzten 5 Jahren dann doch nicht mehr gelungen ist, Teil einer kontinuierlicheren Mehrfachbeziehung zu werden.
Denn bin ich dadurch weniger poly- oder oligoamor geworden?
Im Gegenteil, jeder Tag, jeder Schritt auf meinem Weg hat mich konstant mehr darin versichert, wer ich bin, wie es um mein romantisches Erleben bestellt ist.
Würde ich noch einmal einen weiteren Lieblingsmenschen finden, wäre niemand glücklicher als ich, na sicher. Zugleich ist die aus dem anfänglichen Tohuwabohu gewonnene Selbsterkenntnis der vergangenen 5 Jahre mein aus mir selbst und für mich selbst gewonnener Reichtum, der mir mein Leben lang bleibt (und der sich sicher noch vermehren wird, wenn ich so zurückschaue…). Und mit mir muß ich es schließlich am meisten aushalten – insbesondere, wenn ich mich unter andere, vielleicht wundervolle, Menschen begebe…

„Don’t dream it – be it!“, zu deutsch „Träum‘ es nicht – sei es !“, mit diesen Worten meiner heutigen Überschrift fordert der außerirdische Transvestit und Nonkonformist Frank-N-Furter im dem prallbunten Musical The Rocky Horror (Picture) Show sein Publikum zu unerschrockenem Dasein und Handeln auf.
Seiner Einladung kann ich mich nur anschließen, wenn wir dabei eben nicht aus dem Blick verlieren, daß wie es in Beziehungsdingen immer mit Menschen als Gegenüber zu tun haben, wir erkennen, daß unsere Wünsche außer-gewöhnlich sein dürfen – aber darum nicht automatisch „spektakulärer, besser, mehr“ bedeuten müssen (da wäre Frank-N-Furter anderer Meinung gewesen…😉) und daß Treue zu uns selbst – auch in „Dürrezeiten“ und sogar wenn unser inneres Glitzern bislang noch nicht vollständig nach außen gedrungen ist– immer die beste Form von Authentizität ist.

Schlichter als Frank-N-Furter– aber viel direkter, hat dies alles der niederländische Maler Vincent van Gogh für mich ausgedrückt, mit einem Zitat, welches ich heute zum 5-jährigen Jubiläum der Oligoamory ins virtuelle Knopfloch stecke:

»Die Normalität ist eine gepflasterte Straße,
man kann gut darauf gehen,
doch es wachsen
keine Blumen
auf ihr.«

Lasst uns also wieder abseits der Straße treffen! Noch einmal 5 Jahre lang? Soviel will ich heute nicht versprechen – aber auf jeden Fall: solange die Liebe (zum bLoggen) währt.




¹ Wie zum Beispiel das von mir ehedem hochgeschätzte feministische kleinerdrei-Projekt, welches von mehreren Autorinnen getragen wurde. Nach 5 Jahren war leider, leider Schluß…

² Das bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014

Danke an Alfonso Scarpa auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 98

Sei willkommen!

(…nicht nur am Valentinstag)

Während unseres ganzen Leben – und speziell in den Momenten, in denen wir Beziehungen eingehen, bewegen wir Menschen uns zwischen verschiedenen Polen: Zum einen wollen wir natürlich unseren Individualismus, unser Selbst, mit unserem eigenen Gedanken- und Wertesystem erhalten. Zum anderen möchten wir aber auch meist zum Wohl anderer beitragen – auf deren Unterstützung wir selbst ja ebenfalls oft angewiesen sind – und üben uns daher in Altruismus.
Altruismus – laut Wikipedia eine „Uneigennützigkeit, Selbstlosigkeit, durch Rücksicht auf andere gekennzeichnete Denk- und Handlungsweise“ – ist daher in unseren menschlichen Beziehungen eine wichtige Eigenschaft, die allerdings – wie die sprichwörtliche Medaille – eine zweite Seite besitzt.
Und diese zweite Seite äußert sich in unserer Angst, uns durch zu starkes Eingehen auf unsere Mitmenschen und aufgrund unserer Sehnsucht nach Teilhabe und Einbeziehung quasi „aufzulösen“, uns durch Anpassung und Einordnung in Konformismus zu verlieren (Aufgabe eigener Individualität an die Normen und Meinungen der Bezugsgruppe). Wodurch wir wieder zurück zum Individualismus steuern, es mit unserer Strebsamkeit aber dabei manchmal übertreiben und bei dessen „Medaillenrückseite“, dem Egoismus (Ichbezogenheit, Selbstverliebtheit) landen…

Dies alles könnte hübsche Theorie sein, wenn wir in unseren Mehrfachbeziehungen nicht alle permanent miteinander eigentlich durch diese 4-Faktoren-Matrix pendeln würden. „Wir und die anderen“ ist DAS dynamische Grundmotiv, nach dem wir wie in einem Tanz – mal näher und mal weiter – kreisen.
Die Herausforderung: Seinen eigenen Werten und Zielen treu bleiben – und dabei nicht in Egotripping, Narzissmus oder Gängelei zu verfallen; willentlich zum Gesamtwohl einer Gruppe, der man selbst angehört, beizutragen (durchaus auch, weil es einem selbst mit zugutekommen kann) – und dies nicht zu tun aus Angst vor Verantwortung, aus Selbstunterschätzung oder der Bedürftigkeit, unbedingt dazugehören zu wollen.
Aus diesem Grund wird in der Polyamory so häufig zu der einer Mehrfachbeziehungserrichtung vorausgehenden Pflege eines gut aufgestellten Selbst aufgerufen, bzw. in der Oligoamory betone ich hier auf meinem bLog das Hervorbringen des berühmten „gemeinsame Wirs“, welches den Beziehungsmittelpunkt bilden sollte, um die Wahrnehmung von Eingebundensein bei gleichzeitiger Wertschätzung aller Beteiligten erfahrbar zu machen.
Auf diese Weise könnte die Verbundenheit, der ich u.a. meinen letzten Eintrag gewidmet habe, von dem Maß unserer Fähigkeit zur Einlassung als Individuum und unserer Bindungsfähigkeit als soziales Wesen profitieren.
Die Traumatherapeutin Maria Sanchez z.B. weist darauf hin, daß wir demgemäß über die Bindungsfähigkeit, die wir nach innen haben, auch nach außen verfügen können…

Frau Sanchez geht allerdings davon aus, daß die meisten von uns in unserer westlichen Gesellschaft bereits zu einem frühkindlichen Zeitpunkt ein Bindungstrauma erlitten haben, welches aus der Diskrepanz, wie wir urspünglich angelegt waren und wie das Außen (vor allem unsere nächsten Bezugspersonen) uns indessen haben wollte, hervorgegangen ist.¹
Ein meist unbewußter Teil von uns würde sich seither regelmäßig als „unverbunden“ erleben, speziell in Situationen, die die Verletzung unseres Wesenskernes um den Preis der Anerkennung durch Bezugspersonen (bzw. später: Beziehungs- und Lieblingsmenschen!) berühren würden.

Der Sozialwissenschaftler Stefan Ossmann sagte vor drei Jahren in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung: „Das knappe Gut [in polyamoren Beziehungen] ist nicht Liebe oder Sex, sondern Aufmerksamkeit.“ ²
Eine ziemlich präzise Beobachtung würde ich sagen, eingedenk vieler der von mir verfolgten Filmbeiträge, Situationsbeschreibungen und Forumsdiskussionen zu unserem Thema – und vor allem der dort regelmäßig dargestellten Herausforderungen und Schwierigkeiten.

Ein heute wahrgenommener Mangel an Aufmerksamkeit kann also gewissermaßen eine Art Retraumatisierung auslösen, indem jener oben erwähnte verletzte Teil von uns erneut registriert, daß es wohl (abermals / seit kurzem / jetzt aktuell) Seinsseiten an uns gibt, die wieder einmal nicht willkommen sind.
Was für die Betroffenen und die übrigen Beziehungsbeteiligten jedoch ebenfalls nicht offensichtlich ist – und für die Gesamtbeziehung problematisch wird – ist, daß wir aus einem solchen Erleben dann fast immer Glaubenssätzen ableiten, die wir uns fortan selbst sagen (oder wir bestätigen jene negativ, die ohnehin schon verankert waren).
Ich sage „problematisch für die Gesamtbeziehung“, da Verletzungen auf dieser Ebene stets in einem „Wir-Feld“ verhaftet sind, da die (re)traumatisierte Person aus einer Haltung heraus agiert, in der sie ohnehin bereits übersensibel auf ein Geschehen oder Antizipieren (Vorwegahnen) im Außen fokussiert ist – und eben bereits nicht mehr gut bei sich selbst verwurzelt ist [aus „So, wie du bist, bist du nicht ok!“ wird „So, wie ich bin, bin ich nicht ok…“].

An dieser Stelle ist ebenso zu erkennen, wie aus einem bloßen Gefühl („…da hat mich etwas irritiert…“), welches nach der Irritation abklingen würde, wenn es unbelastet wäre, eine Emotion (= Gefühl+Bewertung) entsteht, deren „Getriggertsein“ fortan weiter anhält. Ein Prozess setzt ein, der dauerhaft Lebenskraft bindet, die andernorts viel gedeihlicher gebraucht werden würde.

Die Traumatheraputin Sanchez folgert, daß solche Prozesse dazu beitragen sollten – und auf jeden Fall dazu beigetragen haben, daß wir mit bestimmten Bereichen unserer Persönlichkeit gar nicht ausgereift individuell werden durften bzw. sollten – und dementsprechend auch nicht wurden.
Sie folgert weiter, daß viele von uns dadurch „chronische Symptome“ entwickelt haben, die einem „inneren Diktator“ entsprechen, der uns mit Glaubenssätzen nach wie vor vorschreibt, wie wir statt dessen besser sein sollten, des weiteren einen „inneren Kritiker“, der uns beim vermeintlichen Scheitern abwertet – und vor allem unsere Umgebung in diesen Abwärtsvergleich einbezieht, sowie einen „inneren Verführer“, der uns mit Ablenkung im Außen (Suchtstrukturen wie Medien, Drogen, Sex, Essen, Geld/Konsum, etc…) zeitweise aus diesem Spannungsfeld herauszunehmen versucht.
Suchtstrukturen wiederum sind laut Frau Sanchez gefärlich, weil sie, wie sie es nennt, „die Bühnen vertauschen“würden: Es würde ein vermeintlich „kontrollierbares“ Substitut angeboten, statt einem Weg hin zu echter Daseinsfreude.

Wer meinem bLog bis zu diesem Eintrag gefolgt ist, weiß, daß dies insbesondere in Mehrfachbeziehungen kritisches Potential birgt, da hier „Verunsicherungssituationen“ doch andere Herausforderungen als in der Monogamie darstellen – und sei es nur dadurch, daß es dort keinen Rückzug ins „Gewohnte“ gibt, weil einerseits eventuell mit mehr „Neuanfängen“ umgegangen werden muß – aber auch weil schlicht die (nicht mal so große) Zahl der teilhabenden Personen in ihrer Vielfalt eine immer wieder veränderte Fülle an Nuancen, Facetten und Schattierungen des Miteinanders hervorbringen wird [als bei (nur) zwei langjährigen Partner*innen].
Daher bieten obendrein gerade Konflikte in Mehrfachbeziehungen das zwiespältige Potential, ausgestanden werden zu müssen – weil sich hier die Beteiligten eher mittelfristig nicht in einen falschen Burgfrieden aus Rückzug in Schneckenhäuser des Schweigens entlassen werden (was bei zwei Personen noch eine Option wäre – wie unsere Eltern- und Großelterngenerationen bewiesen…)

In Eintrag 62 nannte ich sie erstmals: Ambiguitätstoleranz ist also gefragt – die Frau Sanchez übrigens passend zum Beziehungsthema noch konkreter „Begegnungskompetenz“ nennt.
Hier sind wir also wieder als Individuum (wie gesagt aus dem Lateinischen in-dividuus : „un-teilbar“) eingeladen, diese Kompetenz aufzubauen; denn weil wir ja leider nicht vollends individuell (und vielschichtig) werden durften – wie ich weiter oben schrieb – hat dies auch dafür gesorgt, daß wir akut jedem Dilemma hilfloser gegenüberstehen, als es sonst vermutlich der Fall gewesen wäre.

Unsere Glaubenssätze und Symptome aus inneren Diktatoren, Kritikern und Verführern profitieren davon, wenn wir derart mit uns selbst und den äußeren Umständen im fortgesetzten (Unzufriedenheits-)Kampf bleiben.
Folglich hieße das für uns, aus diesem Kampf auszusteigen. Aber bitte nicht durch die nächste Verführung in Verkleidung (die ja auch als ambitioniertes Sportprogramm oder das strenge Praktizieren einer spirituellen Ausrichtung daher kommen könnte…)!

Der Weg zur erwähnten Daseinsfreude, zu einem „Ich bin“, bedeutet vor allem, gerade auch mit dieser seltsamen empfundenen Unverbundenheit in unserem Inneren in Kontakt zu kommen. Sogar einschließlich der Seiten in uns, die diese Unverbundenheit um keinen Preis fühlen möchten und uns deshalb diktieren wollen, daß ein*e Starke*r am mächtigsten allein sei*, uns als abhängig und bedürftig kritisieren – oder die uns mit nicht ganz passend zugeschnittener Zerstreuung vom Fühlen, Anerkennen und uns-selbst-Wahrnehmen ablenken möchten.
Auf diese Weise erschaffen wir für uns die Chance, dann festzustellen, daß wir doch sehr gute Gründe für all das haben, was wir fühlen: Womit wir beginnen, auch ganz stark internalisiert (in uns aufgenommene) Traumata und Glaubenssätze aufzulösen, weil wir so durchschauen, daß WIR NIE VERKEHRT WAREN!
Und da ich bereits in Eintrag 26 auf Konsequenzen ungünstig erworbenen Denkens bei Konfliktlösungsstrategien (Stichwörter „win / lose“ ) hinweise, schließt sich hier der Bogen zu Frau Sanchez‘ Eingangsbemerkung, wie sehr eben unsere Bindungsfähigkeit „nach innen“ mit unserer Bindungsfähigkeit „nach außen“ – also vor allem zu unseren Lieblingsmenschen – zu tun hat.

Unsere Vergangenheit liebt also in der Tat immer mit, wenn wir uns mit unseren Partner*innen verbinden wollen. Daher ist Begenungskompetenz so wichtig, denn dies kann nur in einem Leben in Kontakt gelingen.
Echter Kontakt bedeutet, daß diese Liebe, nach der wir uns alle sehnen, nichts von uns „weg“ oder „anders“ haben“ möchte. Liebe umarmt sogar all unsere Konjunktive von „wenn“ und „hätte“: Wahre Liebe gibt allen Seiten ein Daseinsrecht.
Und wenn – wie Stefan Ostmann oben sagte – Aufmerksamkeit das knappe Gut ist, welches wir alle begehren, dann stellen wir doch schon sehr oft fest, daß wir uns meist bereits zu wenig Zeit für uns selbst nehmen. Hier beginnt Begegnungskompetenz: Sich selbst immer tiefer begegnen – in der Liebesbeziehung zu sich selbst.
„Ich“ sollte also mehr da sein; „Ich“ sollte mehr stattfinden…

Wie so etwas beginnen könnte, das hat für mich sehr lebensnah der britische Autor Matt Haig in seinem Buch „Die Mitternachtsbibliothek“ ausgedrückt, indem er schreibt:


¹ aus: YouTube: Transgenerationstrauma, Maria Sanchez im Interview mit Simon Rilling (25.10.2022)
Zusätzlich Dank an Frau Sanchez für ihr therapeutisches Onlineangebot, aus dem ich in meinem Eintrag auszugsweise zitiere (für den Zugang zu den betreffenden Inhalten hat mein Haushalt ordnungsgemäß bezahlt).

² Online-Angebot Süddeutsche Zeitung Magazin vom 02. Juli 2021, Interview von Thomas Bärnthaler im Gespräch mit Stefan Ossmann [Polyamorieforscher an der Universität Wien] (SZPLus abonementpflichtig)

³ Matt Haig: „Die Mitternachtsbibliothek“ [2021] – Droemer TB; (10. Edition, 3. April 2023)

* „Der Starke ist am mächtigsten allein“ – Zitat aus Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, I. Akt, 3. Szene

Danke an Valiant Made auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 97 #Verbundenheit

Sicher verbunden?

Ein neues Jahr – ein neuer Jahresrückblick: Meine Einträge im zurückliegenden Jahr 2023 hatte ich ganz überwiegend unseren Lieblingsmenschen und Liebsten gewidmet:
Dazu startete der Januar-Eintrag zunächst einmal mit der Frage, aus welchen Gründen wir es uns denn wünschen würden, andere Personen überhaupt als romantische Partner*innen in unseren Leben haben zu wollen.
Im Februar fokussierte ich mich auf die in Beziehungen so häufig gestellte Frage „Liebst Du mich (noch)?“ – und wie sehr die Antwort mit dem wertschätzenden Fundament der darauf aufbauenden Verbindung zusammenhängen würde.
Demzufolge beschrieb ich im März-Eintrag unserer tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit einerseits und unseren Wunsch nach Autonomie andererseits; ein Zwiespalt, der es uns manchmal schwer macht, uns in unseren Beziehungen als berechenbar und verbindlich zu erweisen.
Darauf aufbauend beleuchtete ich im April das Thema „Exklusivität“, welche gerade im Hinblick auf Mehrfachbeziehungen immer wieder diskutiert wird – und die doch durchaus darin eine Berechtigung hat, wenn dabei das Ziel der Gemeinschaftlichkeit nicht aus den Augen verloren wird.
Darum rief ich im Mai-Eintrag dazu auf, keinesfalls als „unwiderstehliche Dating-Götter“ in die Welt hinaus zu ziehen, sondern weiterhin auf die viel bedeutsameren, wegweisenden inneren Signale zu achten, wenn wirkliche Verliebtheit und Liebe in unser Leben tritt.
Sonst würde nämlich das drohen, was ich im Juni-Eintrag persiflierte: Mangelnde Kommunikation und Selbstüberschätzung würden alsbald zu Mißverständnissen führen – sowie dazu, stets von allen anderen Beteiligten die schlimmst mögliche Motivation für ihr Handeln anzunehmen.
Im Juli ergänzte ich dies mit dem Appell, darum gut die eigene Bedürfnislage zu erforschen, um nicht mit einer zu festen Vorstellung im Kopf eine Mehrfachbeziehung als Rettungsplan für sich selbst zusammenzuzimmern.
Der August-Eintrag hob daher noch einmal hervor, wie wichtig es für die Führung von Mehrfachbeziehungen ist, unsere „Teamplayer-Eigenschaften“ mit Fähigkeiten wie Perspektivwechsel, Toleranz und Nachsicht beständig zu pflegen und zu erweitern.
Was ich im September damit konkretisierte, daß Beziehungsarbeit immer ein „Gemeinschaftsprojekt“ ist, welche nicht unter dem Druck von Pflichterfüllung, Geschäftsdenken oder gar Verlustangst immer von den gleichen Personen erledigt werden darf.
Im Oktober erläuterte ich an einem persönlichen Beispiel, wie sehr in diesen Dingen unsere Transparenz und Aufrichtigkeit für unsere Liebsten von größter Bedeutung sind, selbst wenn es für uns selbst nicht immer angenehm ist.
Der November-Eintrag behandelte noch einmal das Thema „Coming-Out“ in Mehrfachbeziehungen – und wie die Entscheidung dafür auch unser Selbstbild beeinflussen würde.
2023 endete schließlich mit dem Dezember-Artikel, der – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – zu Herzensgüte, Empathie und Großmut gegenüber unseren Liebsten einlud.

Herzensgüte, Empathie und Großmut wünsche ich mir auch für 2024, wenn es möglich wäre ganz besonders als Heilmittel für die zahlreichen Konflikte, die unsere Welt derzeit offensichtlich auszustehen hat.
Als bLogger Oligotropos werde ich mich daher weiter dafür einsetzen, daß Menschen in kleinen, von Liebe getragenen Gemeinschaften zueinander finden und damit eine Vision von einem harmonischeren und einverständlicheren Zusammenleben erschaffen.

Um dies zu bewerkstelligen, benötigen Mehrfachbeziehungen (die ja Thema dieses bLogs sind) nichtsdestoweniger ein hohes Maß an Verbundenheit.
Verbundenheit ist sicherlich ein Wert, der ab einem bestimmten Punkt in einer Beziehung eine gewisse „Eigendynamik“ entfaltet – speziell wenn die Beteiligten sich tief als einander zugehörig empfinden. Aber „selbsterhaltend“ oder gar „von selbst entstehend“ wird dieser niemals sein.
Denn dazu brauchen Beziehungen ebenso die tiefe Investition und Gewidmetheit ihrer Mitwirkenden.

In diesem Aspekt haben Mehrfachbeziehungen immer mit einem Schatten zu tun, im Hinblick darauf, wie sehr wir es denn wagen, uns selbst wirklich ganz darin einzubringen.
Das „mehrfach“ in „Mehrfach-Beziehung kann nämlich dazu führen, daß wir auf diese Weise glauben, ein „mehr“ an Liebe, an Verbindung, Geborgenheit, Nähe, Respekt, Wertschätzung, Intimität, Sexualität, Freundschaft, Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz oder Freude für uns herbeiführen zu können.
Folglich beginnen wir eventuell – wenn wir das Potential dafür in uns finden – gezielt mehrere Beziehungen anzustreben.
Manchmal ist dies aber der Anfang davon, daß wir vor allem beginnen – um ein Bild zu benutzen – „unsere Butter immer dünner zu verstreichen“.
Dabei denke ich dann z.B. an das StückViel Lärm um nichts von William Shakespeare, in dem es im 2. Aufzug in der 1.Szene heißt:

Don Pedro: „Seht Ihr wohl, Fräulein, Ihr habt Signor Benedikts Herz verloren…!“

Worauf die sehr emanzipierte Beatrice antwortet:
„Es ist wahr, gnädiger Herr, er hat es mir eine Zeitlang versetzt, und ich gab ihm seinen Zins dafür, ein doppeltes Herz für sein einfaches.“

Wobei „doppelt“ hier ja in feiner Ironie nun gerade erst recht nicht für „mehrfach“ steht, sondern eigentlich für „unecht / vorgetäuscht“… (und somit noch weniger ist als „einfach“).
Ich glaube allerdings nicht, daß es für uns Betroffene hier dabei – im Gegensatz zum Shakespeare-Stück – um eine bewußte (Vor)Täuschung geht.
Gleichzeitig fürchte ich regelmäßig bei dieser Auslegung der „Viel-Liebe“ (was ja auch eine der direkten Übersetzungen von „Poly“-„Amory“ ist), daß das beste, was diese Beziehungsphilosophie eigentlich zu bieten hätte, mit solcherlei Vorgehen auf der Strecke zu bleiben droht.

Oben habe ich die Begriffe „Investition“ und „Gewidmetheit“ benutzt. Beide sind sich von der Bedeutung her sehr ähnlich, obwohl das eine von den Römern, das andere von den Germanen in unsere heutige Sprache eingewandert ist. „Investition“ stammt aus dem Lateinischen „investitio“ = Einkleidung (so wie das Wort „vest“ im Englischen übrigens heute noch ein Trägerhemd und im Amerikanischen eine Weste bezeichnet). Das Wort „Widmung“ wiederum bedeutete einst „mit einer Schenkung ausgestattet“ („Widimo“).
Wenn wir uns daher „investieren“ oder „widmen“, legen wir uns also in gewisser Weise ein neues Kleid an und verschenken uns.
Was für ein schönes Bild!
Dieses Bild beinhaltet aber vor allem, daß ich mich a) selbst bereit mache und b) die Kontrolle loslasse. Und damit sind es zwei Vorgänge, die zuvorderst erst einmal bloß ganz mit mir selber zu tun haben.
Bei meinem Wunsch nach Beziehung – und auch später IN einer Beziehung – schaue ich folglich nicht so sehr darauf, was die anderen zu meiner Vervollständigung und der Erhöhung meines Zustands beitragen könnten, sondern ich bringe mich ein – und gebe mich hin.

Gewissermaßen ist das ein ziemlicher Brocken, hübsch leicht hingeschrieben – aber wahrlich herausfordernd, es umzusetzen. Denn unsere Welt beruht weitgehend auf Kontrolle – bei gleichzeitiger Hervorhebung größtmöglicher individueller Autonomie zur Aufrechterhaltung derselben.
Zugleich führt dies aber eher parallel dazu, daß wir uns im Angesicht mancher Ereignisse meist noch machtloser und unsicherer erleben – eben weil wir immer wieder feststellen müssen, wie wenig wir eigentlich letzten Endes beeinflussen können.
U.a. der Buddhismus – aber auch ähnlich gelagerte sonstige philosophische Strömungen – haben daher „Kontrolle“ längst als Illusion entlarvt.
So schreiben z.B. die Beziehungstherapeuten Christine und Hendrik Weiß im Vorwort der deutschen Übersetzung des Buchs „Wir beide“ ¹ von Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald, daß sichere Bindungen genau dann entstehen würden, wenn es den Beteiligten gelänge, sich einander zuzuwenden, sie die eigenen Verletzlichkeiten zeigen könnten und sie emotional für einander da sein möchten. Nur so würden Beziehungsbeteiligte sich sicher genug fühlen, Gefühle, Hoffnungen und Enttäuschungen miteinander zu teilen, um damit neue emotionale Erfahrungen zu machen, in denen sie sich nicht mehr als allein, isoliert oder „nicht richtig“ erleben würden – sondern als gesehen und wertgeschätzt.

Der Hauptcharakter in der Dramedy-Serie Undone, Alma Winograd-Diaz [dargestellt durch die Schauspielerin Rosa Salazar] (Staffel 2, Folge 8 „Wir haben uns alle lieb“) macht es für mich noch eindrücklicher klar:

»Vielleicht es das im Grunde die Herausforderung des Lebens: Uns uns selbst zu stellen, um unserer Beziehungen willen. Für die Menschen, die wir lieben. Vielleicht kommt es nur darauf an: Auf diese unsichtbaren Fäden, die zwischen uns und durch uns hindurch verlaufen – über all die Zeiten hinweg. Diese unsichtbaren Bänder die uns verbinden und zugleich frei sein lassen.«
Und um die Beschaffenheit und Intensität dieser Verbundenheit zu betonen, ergänzt sie bezüglich ihres verstorbenen Vaters sogar: »Ich kann kaum glauben, daß er tot ist, denn ich kann den Zug dieser Verbindung immer noch fühlen. Aber jemand sehr Cooles hat mir erklärt, dass ein Teil des Lebens darin besteht, zu akzeptieren, dass nun mal auch unerfreuliche Dinge passieren. Und dass wir Wege finden werden, sie gemeinsam zu überwinden.«

Um solcherlei Verbundenheit auskosten zu können, müssen wir uns in unseren Beziehungen also buchstäblich „selbst (wieder)finden“. Und zunehmend hat auch die Wissenschaft immer stärker herausgearbeitet, wie maßgeblich unsere (bisherigen) Bindungserfahrungen dabei eine gewichtige Rolle spielen². Noch einmal das Therapeutenpaar Weiß:
„Höchstens die Hälfte der Menschen ist ‚von Haus aus‘ sicher gebunden groß geworden. […] Diese Erfahrungen nehmen wir Menschen in unsere Bindungsbeziehungen im Erwachsenenleben mit – bis wir sie uns bewusst machen und verändern.“

Schon in meinem Eintrag 7 auf diesem bLog lege ich dar, daß Verbundenheit und Freiheit in der Welt der Mehrfachbeziehungen kein Gegensatzpaar sind.
Wir müssten darum den „Verlust unserer persönlichen Freiheit“ in dieser übrigen Welt, die dagegen so laut das Hohelied der Autonomie hervorhebt, darin durchaus nicht fürchten.
Aber es ist wichtig, um uns auch selbst darin wirklich als „verbunden und zugleich frei“ empfinden zu können, erst einmal wieder in ein eigenes Grundvertrauen zurückzufinden.

Vor einem Jahr schrieb ich, mit den persönlichen Bedürfnissen sei es oftmals wie bei einem Blick in die Speisekammer, wenn man in sich so ein ungeklärtes inneres Bestreben oder Sehnen verspüren würde – meist mit der Erkenntnis beim Blick über die Regale: „Das, was ich eigentlich brauche, ist hier gar nicht drin.“ Statt also als Lösung nun die Einkaufstour zu wählen „…dann wird bestimmt, das, was ich brauche, irgendwo da draußen sein…“, wünsche ich uns, daß wir innehalte und zu allererst bei uns selbst Einkehr halten, damit wir uns danach neu kleiden und verschenken können – dann im Vertrauen darauf, daß uns Gutes geschehen wird.



¹ Veronica Kallos-Lilly und Jennifer Fitzgerald: „Wir beide: Das Arbeitsbuch zur Emotionsfokussierten Paartherapie“, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage Oktober 2023, Junfermann Verlag

² Über den Einfluß von biographisch erlerntem Bindungsverhalten in polyamoren Beziehungen schrieb z.B. aktuell die Autorin Jessica Fern in ihrem jetzt auf Deutsch vorliegendem Buch „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“, divana Verlag 2023

Danke an Anne Nygård auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 96

Gut behütet

#katzemithut, 🌐 Standort: Stackeln an der Kruke – Backpflaumenallee 17

Das Führen ethischer Mehrfachbeziehungen mit wenigen Beteiligten, wie ich sie mit der Oligoamory beschreibe, hat – ich weise in vielen meiner Einträge darauf hin – eine Menge mit Gemeinschaftsbildungsprozessen zu tun.

Und in meinem heutigen Beispiel ist es eine wahrlich erstaunliche Gemeinschaft, die sich zusammengefunden hat.
Ich möchte sie Euch kurz vorstellen – zuerst die Erwachsenen:
Da ist natürlich die allzeit umtriebige Katze, die stets vor Ideen sprüht und sich mit all ihren Kräften für das Miteinander einsetzt. Ein fleißig hauswirtschaftendes Huhn namens Marianne, welches gerne für einen kleinen Schwatz zu haben ist, steht ihr mit Rat und Tat zur Seite. Ebenso unterstützt sie ein etwas betagterer Hund, Kapitän Knaak, der einst zur See gefahren ist und dort allerhand praktische Fertigkeiten erlernt hat. Zu der Gruppe gehören außerdem ein lichtscheuer Gliederfüßer, welcher als „der Hundertfuß“ bekannt ist (ein eifriger Sammler ausgebrannter Glühbirnen), sowie die Zwillingsbrüder Erbsenstein, zwei Bastler und Erfinder, die sich so ähnlich sind, daß nicht einmal ihre Vornamen eine Rolle spielen. Der Senior im Haus ist ein storchenähnliches Tier, welches liebevoll als „Stolpervogel“ bezeichnet wird, da seine langen Beine mittlerweile in die Jahre gekommen sind und manchmal den Dienst versagen.
Zu der Gemeinschaft zählen aber auch Jugendliche: So gibt es eine verträumte Lama-Teenagerin, die viel Zeit am Tag mit schlafen verbringt und ein talentiertes Wildschwein-Kid, „Baby Hübner“, welches furios seinen Wunsch nach einer Musiker-Karriere an der Oper vorantreibt.
Selbstverständlich gibt es auch kleinere Kinder: Ein echsenartiges Geschöpf, welches „Zappergeck“ genannt wird und das mit seiner Impulsivität und seinem Vorwitz möglicherweise eine Hyperaktivitätsstörung ausdrückt. Und – nicht zuletzt – ein sanftes Hummel(klein)kind, die „Puddingbrummsel“, die sich ihrerseits mit der Welt der Sprache noch ein wenig schwer tut, sich aber trotzdem zu äußern vermag.

Zusammengestellt haben diese Gemeinschaft übrigens die beiden Schriftsteller*innen Desi und Simon Ruge in ihrem Buch Katze mit Hut (zuerst: Beltz & Gelberg 1980¹) sowie dem Nachfolgeband „Neues von der Katze mit Hut“ (Beltz & Gelberg 1984).
Die beiden Bücher bieten einen wunderbaren, kindgerechten Rundblick durch einen Gemeinschaftsbildungsprozeß, so wie dieser sieben Jahre später vom „Vater des Community-Buildings“, Scott Peck, für ein erwachsenes Publikum mit seinem Buch „The Different Drum – Community Making and Peace“ (Simon & Schuster, New York 1987²) niedergelegt wurde.

Auch in der „Katze mit Hut“ müssen die Gemeinschaftsmitglieder regelmäßig alle Phasen des Zusammenlebens durchlaufen, die Scott Peck in seinen Ausführungen als „Pseudogemeinschaft“ (ein erstes, eher noch oberflächliches Beisammensein), „Chaos“ (Streit, gegenseitige Belehrungen und Rechthabenwollen), „Leere“ (eine Phase der Einkehr, Neuordnung und Entspannung) und „echte Gemeinschaft“ (wahres Zusammenkommen und füreinander Einstehen) benannte.
Bei so unterschiedlichen Charakteren sollte das schließlich niemanden wundern!

Über Scott Pecks Gemeinschaftsbildungsprozeß habe ich bereits in Eintrag 8 ein wenig geschrieben, darum möchte ich hier gar nicht mehr so tief darauf eingehen.
Heute möchte ich etwas über einen Aspekt des Zusammenlebens berichten, der in der „Katze mit Hut“ in einer kleineren Randszene vorkommt, der mir aber von großer Bedeutung zu sein scheint (und ich halte es für keinen Zufall, daß Desi und Simon Ruge die Begebenheit in ihr Werk eingefügt haben):

An dem Tag, an dem die Katze den neuen Mitbewohner „Hundertfuß“ entdeckt, hören zunächst sie selbst, der Hund Kapitän Knaak und Marianne das Huhn seltsame nächtliche Geräusche über der obersten Etage. Die Katze steigt mit dem Hund zusammen bis ins Dachgeschoss (Marianne bleibt über die Küche wachend zurück), dort werden sie von einem versteckten Lebewesen angesprochen, sobald sie das Licht einschalten. Die Katze läßt den Hund das Licht wieder ausschalten, woraufhin beide den Gliederfüßer „Hundertfuß“ kennenlernen, welcher gerade dabei ist, seine Sammlung ausgebrannter Glühbirnen einzusortieren – und der sie dringlichst bittet, doch möglichst niemals das Licht einzuschalten, weil es seinen empfindlichen Augen Schmerzen bereiten würde (weshalb er überdies die Nacht für seine Aktivitäten bevorzuge). Es entsteht ein freundschaftlicher Dialog, an dessen Ende die Katze den Hundertfuß in der häuslichen Gemeinschaft willkommen heißt und ihm seinen Platz auf dem Dachboden bestätigt – und zusichert, daß er tagsüber von der übrigen Gruppe nicht gestört werden solle.
Katze und Hund begeben sich wieder zurück nach unten, weil aber Kapitän Knaak zugleich so etwas wie den Hausmeisterposten in der Gemeinschaft innehat, bittet die Katze ihn noch auf der Treppe: „Und achten sie darauf, daß ab jetzt die Fensterläden im obersten Geschoß auch tagsüber geschlossen bleiben.“ Woraufhin Kapitän Knaak so ernsthaft wie verbindlich antwortet: „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“ [Danach kehren die beiden zu Marianne zurück und alle begeben sich zu Bett]

Erst einige Jahrzehnte, nachdem mir die „Katze mit Hut“ in meinem eigenen Leben als literarische Gestalt und auf der Puppenbühne begegnet war, spürte ich nach und nach, daß die schlichten Worte »Ich verstehe nicht – aber ich achte.« für mich einen der innigsten Ausdrücke für wahrhaftige Verbundenheit und Loyalität darstellte, der mir je begegnet war.

Für Kapitän Knaak ging das Kennenlernen des Hundertfußes nämlich fast zu schnell, auch sein Intellekt arbeitet nicht so rasch wie die flinke Auffassungsgabe der blitzgescheiten Katze: Ein neuer, etwas eigentümlicher Mitbewohner, der dunkle Dachboden, die seltsame Glühbirnensammlung…, sehr viel Information auf einmal.
Abgesehen von einem einigermaßen stabilen Vertrauen – sowohl in die Situation als auch hinsichtlich der Urteilsfähigkeit seiner Mitbewohnerin Katze – wendet Kapitän Knaak noch eine weitere wichtige Ressource auf, die über reines Verständnis hinausgeht. „Verständnis“ enthält ja bereits gewissermaßen das Wort „Verstand“ – und bedeutet damit normalerweise, daß wir eine Situation mit unserem Denken, unserer Ratio und mit Intelligenz eingeschätzt haben.
Wenn wir dies tun, schalten wir aber zugleich unsere Urteilsfähigkeit und auch stets einen gewissen Grad an Bewertung mit dazu, was – je nach unseren Vorerfahrungen oder unserer persönlichen Tagesform – nicht immer günstig ist.

Indem Kapitän Knaak zugibt „Ich verstehe nicht – aber ich achte.“, drückt er auf einer viel instinktiveren Ebene eine Anerkennung der Situation, vorbehaltlose Rücksicht, Respekt – und vor allem Einfühlung und Empathie aus (→ da ist ein Lebewesen mit einem Bedarf, den ich selbst vielleicht noch nicht ganz verstehe – aber weil ich selbst Bedürfnisse habe, bei denen ich mich freue, wenn sie geachtet werden, kann ich auch ohne exaktes intellektuelles Durchdringen der Lage fürsorgen).
Ohne groß nachzudenken und zusätzliches Kontextwissen gelingt Kapitän Knaak also in dieser kurzen Szene sogar der berühmte Perspektivwechsel, bei dem man sich gemäß Indianersprichwort „in die Mokassin der anderen stellt“.

Für einen Dezembereintrag kurz vor dem christlichen Weihnachtsfest ist das eine anrührende Botschaft – übrigens ganz ohne spirituelles Monopol – denn auch die allermeisten anderen Religionen und Glaubensrichtungen sowie zahlreiche philosophischen Strömungen der Welt möchten die Menschen überall genau zu dieser Form von Herzensgüte, Toleranz und Großmut – jenseits von bewertendem Verstand und kritischem Urteil – einladen.

Auch der Diplom-Psychologe und Paartherapeut Ulrich Wilken³, der unter anderem die BeziehungsberatungsApp „myndpaar“ entwickelt hat, nennt als die wichtigsten fünf Säulen jeder stabilen und starken Beziehung: 1. Vertrauen in die Beziehung (womit er vor allem das Grundvertrauen in die Beständigkeit der darin fließenden Liebe meint), 2. alte Muster aufspüren und überwinden (insbesondere die Selbstsabotage durch verinnerlichte Glaubenssätze wie z.B. „Ich bin nicht genug“ o. „Ich bin nicht liebenswert“), 3. das Anderssein der Partner*innen akzeptieren (vor allem Respekt und Neugierde erhalten für die Herangehensweisen und den Blick auf die Welt der Partner*innen), 4. achtsam kommunizieren (Goldene Regel: bei sich bleiben, in Ich-Form sprechen, keine „Diagnosen“ austeilen) und 5. wertschätzen, was ist (immer wieder bewußt und ohne Perfektionsanspruch die vielen kleinen Schatzmomente einer Beziehung erkennen und würdigen). [Quelle: 7mind-Magazin]

Enge menschliche Gemeinschaften, egal ob bei uns zuhause oder in der WG-artigen Tier-Kommune der Katze aus der Backpflaumenallee, sind in diesem besten Sinne stets Liebesbeziehungen.
Und diese Liebensbeziehungen sind als solche dann wahrhaftig, wenn sich dort die beiden ersten Punkte des Herrn Wilken quasi gegenseitig bedingen: „Vertrauen in die Beständigkeit der Liebe innerhalb einer Beziehung“ habe ich dann, wenn ich mich selbst dort sicher und angenommen fühle; wenn ich mich – sogar im besten Fall unbewußt – als gesehen empfinde, weil ich in vielen kleinen Dingen erlebe, daß ich berücksichtigt und respektiert werde.
Wenn wiederum dieses Erleben gegeben ist, ist mein Liebesort auch ein Vertrauensort – ein Ort, an dem ich selbst aus diesem Vertrauen schöpfen kann, ohne täglich intellektuell überprüfen zu müssen, ob ich (noch) einen Platz darin habe.
Für Mehrfachbeziehungen – wie im Fall der „Beziehungserweiterung“ durch den Hundertfuß im obigen Beispiel – bedeutet dies, daß ich dann auch gelassener in der Lage bin, mich auf die Dynamik mehrere Partner*innen (auch hinzukommender) einzulassen, weil ich ein belastbares Zutrauen in mich selbst, meine Position und zu meinen übrigen Partner*innen habe.

Ach ja – Kapitän Knaak führt uns auch die Punkte 3 und 4 liebevoll vor Augen:
Obwohl das alles für ihn doch sehr schnell ging, ist er wohl ebenfalls – wie ja auch die Katze – neugierig auf den neuen Mitbewohner. Als Hund kann er die Leidenschaft des Hundertfußes für Dunkelheit und ausgebrannte Glühbirnen nicht so recht nachvollziehen – aber da er eh schon mit einer Katze und einem Huhn in einem Haushalt zusammenlebt, hat er längst damit begonnen zu akzeptieren, daß es so viele verschiedene Sichtweisen auf die Welt gibt, wie es Menschen – Verzeihung – Mitbewohner*innen gibt. Was für ihn daher bedeutet, daß also auch der Hundertfuß mit seinen individuellen Merkmalen sicherlich zu einer Bereicherung beitragen wird.
Kapitän Knaak gelingt es in diesem Moment, kommunikativ eine Restunsicherheit mitzuteilen und dabei bei sich zu bleiben: „Ich verstehe nicht.“ Er verschiebt in dieser Weise die Verantwortung jedoch nicht auf den Hundertfuß („Der ist ja gruselig…“) oder auf die Katze („Du mit deinen vorschnellen Einladungen…!“) – sondern aufgrund seines Vertrauens in die bereits bestehende Gesamtbeziehung gelingt es ihm, optimistisch zu bleiben, wodurch er selbst seinen großen Trumpf Verbindlichkeit und Verlässlichkeit einbringen kann („Ich achte.“).

Punkt 5 (wertschätzen, was ist) ist in allen Beziehungen, die bereits eine bestimmte Lebensdauer aufweisen, sehr oft ein etwas heikler Teil (…daß es bei der „Katze mit Hut“ wohl gutgeht, können wir daran erkennen, daß es sogar zwei ganze Bücher über ihre WG gibt…):
Die „kleinen Beziehungsschätze“ aufzufinden ist nämlich ein wenig so, als ob wir Weihnachten und Ostern miteinander vermischen würden (oder den Inhalt eines Adventskalenders überall in der Wohnung versteckten). „Wertschätzung“ kann uns nämlich in vielerlei Gestalt, in Form von Worten oder Taten, sogar Gegenständen oder Dienstleistungen begegnen.
Und egal, ob es sich dabei um unsere Lieblingsschokolade oder den Extraumweg im strömenden Regen handelt: Es ist vor allem wichtig, daß wir selbst unseren Blick dafür geschärft erhalten, diese kleinen „Schätze“ als das, was sie sind, zu begrüßen – und sie nicht einer grauen Registratur aus Selbstverständlichkeit und Routine anheim fallen zu lassen.
Um Letzteres zu verhindern ist auch das Innehalten wichtig, sich (und die anderen) aktiv zu fragen, wie sie die Beziehung in letzter Zeit erlebt haben (selbst so ein Gespräch kann schon wiederum in sich ein Zeichen der Wertschätzung sein!) – und z.B. auch gemeinsam zu überlegen, wie die Beziehung für zukünftige Herausforderungen noch gestärkt werden könnte.

Wer in dieser Weise immer mal wieder in seinem Alltag – manchmal an ganz unwahrscheinlichem Ort oder in unvorhergesehener Situation – irgendwo solch einen dieser kleinen „Wertschätze“ findet bzw. erfährt, wird sich sofort in Punkt 1 (Vertrauen in das Fließen der Liebe) bestätigt fühlen.
Was zu jeder Jahreszeit die beste Autoimmunkur für unsere Beziehungen ist…

Mein Jahresendwunsch ist daher heute ein ganz einfacher. Wenn wir uns mit uns selbst und mit unseren Liebsten auf einen solchen Weg begeben, hoffe ich, daß wir alle genauso wie die Katze – und was auch immer das nächste Jahr bringen wird – aus tiefstem Herzen zusammen rufen werden:

„Aber mir gefällt es hier. Oh, es gefällt mir sehr!“




¹ Aktuell: Simon und Desi Ruge – „Katze mit Hut“, Atrium Verlag 2019 und „Neues von der Katze mit Hut“, Beltz & Gelberg 1996 (noch keine Neuauflage verfügbar)
▪ Beachtet auch die sehr anrührende Verfilmung durch die Augsburger Puppenkiste von 1982 (Regie: Sepp Strubel) auf DVD oder bei YouTube.

² Aktuelle Version: Scott Peck „Gemeinschaftsbildung (Original: „ The Different Drum“, 1984), 5. Auflage 2017, Eurotopia Verlag

³ Dipl.-Psych. Ulrich Wilken ist psychologischer Psychotherapeut und hat vor über 30 Jahren das Institut für Systemische Studien in Hamburg gegründet. Er arbeitet seitdem als Dozent, Einzel- und Paartherapeut. 2021 hat er mit seiner Tochter Leonie myndpaar – eine KI-basierte Psychotherapie-App – gegründet.
[Die App kann im „Einzelpersonenmodus“ von jedem gut genutzt werden, im „Beziehungsmodus“ gibt es leider nur eine Variante für maximal zwei Teilnehmende.]

Danke an Moi Lolita auf Pixabay für sein AI-generiertes Bild, bei dem keine echte Katze einen Hut tragen musste!

Eintrag 95

Wo die Dinge enden

Mitunter kann es hart sein, sich für eine Lebensweise ethischer Mehrfachbeziehungen zu entscheiden. Insbesondere, wenn wir diese Lebensweise irgendwann für uns weitgehend verinnerlicht haben – und dann beginnen, unser übriges Leben dahingehend konsequent durchzuräumen:
Kein falsches Verstecken von Liebsten mehr vor der Familie an Tantchens Kaffeetafel, kein Schweigen mehr bei flauen Witzchen im Freundeskreis auf Kosten nicht-normativer Lebensweisen, keine Kompromisse bei Datingangeboten, die im zweiten Satz den Himmel auf Erden verheißen, falls…, ja, falls man sich doch schlicht auf bloß eine*n Lebenspartner*in festlegen würde.

Nein.
Irgendwann haben wir das alles hinter uns. Haben uns vor uns selbst lange genug für unsere Doppelmoral geschämt und für unsre lauwarmen Kompromisse „um des lieben Friedens willen“. Wir haben unsere Lebensphilosophie immer wieder in Kopf und Herz gewälzt und uns schließlich freigemacht, spätestens, als wir begriffen haben, wie sehr unsere Art und Weise intime Nahbeziehungen aufzufassen, mit unserem innersten Selbst zu tun hat.

Irgendwann beginnen wir zu akzeptieren, daß wir demzufolge (bislang) wohl zu einer Minderheit gehören und fangen an, uns damit zu arrangieren. Wir lassen uns dafür aber nicht mehr zurück in den Besenschrank treiben und tragen unser Haupt trotzdem erhoben.
Dafür schneiden wir nun manchen Arbeitskolleg*innen schon mal das Wort ab, wenn sie wieder darüber lästern, wer heutzutage alles mit wem zusammenleben darf und man dazu noch sein Geschlecht je nach Laune wählen dürfte – und so gelten wir nun manchmal als „seltsam“, „schwierig“ oder gar „unangenehm“.
Zu manchen Teilen unserer Geburtsfamilie fahren wir nicht mehr, weil wir uns nicht mehr ihrem wiederkehrenden Diktat unterwerfen, wie unsere Abweichung von einer „gescheiten bürgerlichen Beziehung“ doch sicher unserem Ansehen und einer künftigen Karriere schaden würden.
Und unser Freundeskreis wird kleiner, weil wir für einige dort mit unserem Bekenntnis zu Mehrfachbeziehungen nun nachgerade unanständig wirken – oder wenigstens wie eine tickende Hormonbombe, die aus bisher freundschaftlichen Banden vermutlich alsbald konkretes sexuelles Begehren hervorbrechen lassen könnte…

So setzt manchmal ein nachgerade eigentümlicher Effekt ein. Unser Coming-out hinaus in eine Welt ethischer Mehrfachbeziehungen wie Oligo- oder Polyamory führt dazu, daß wir statt – wie eventuell anzunehmen – mehr Beziehungen in unserem Leben haben, es durch diesen Schritt weniger werden: Das Telefon schweigt zunehmend, der Email-Eingang wird übersichtlicher, zunehmend seltener zirpt der Messaging-Dienst oder die Dating-App auf dem Mobilteil – und einige Einladungen zu den sonst so üblichen sozialen Stell-dich-eins lassen auffallend nach.
Ein etwas merkwürdiges Gefühl von Leere statt von Erfüllung und endlich-Angekommensein breitet sich aus…
„Sie haben sich erfolgreich abgemeldet.“ heißt es – und Du denkst: „Offensichtlich vollständiger, als ich geahnt hatte…“

Dies ist mein Novembereintrag, in diesem Monat, dem mit endzeitlichen Halloweengestalten, Allerheiligenkerzen auf Gräbern, Nebel und kahl werdenden Bäumen auf diese Weise oft ein deutlicher Hauch von Abschiednehmen umweht.
Darum möchte ich diesen Eintrag auch dem Abschiednehmen (und ein wenig der dazugehörigen Trauer) widmen, speziell dem Abschiednehmen von Beziehungen – was genau genommen ein Abschiednehmen von vertrauten Vorstellungen und liebgewonnenen Projektionen ist, wie ich gleich zu zeigen versuche.

Zu Beginn dieses Eintrags schrieb ich, daß eine Entscheidung für eine Lebensweise und Philosophie ethischer Mehrfachbeziehungen hart sein kann. Denn wenn wir nicht mit deren Werten von klein auf aufgewachsen und sozialisiert sind, begeben wir uns in der Tat dadurch zunächst einmal auf einen Weg vieler kleiner Abschiede. Und dabei ist es für unser innerliches Empfinden gleichgültig, ob wir uns von konkreten Personen trennen – oder von sonstigem gewohnten Terrain.
Denn ein Unterschied darin ist für unseren Geist gewissermaßen gar nicht vorhanden, ist dieser doch jedes Mal zunächst mit einem Frustrationserleben konfrontiert.
Bereits in meinem „Wüstenzeit“-Eintrag 22 steht ja, daß Frustration das „Erlebnis der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Benachteiligung oder Versagung [ist], das sich als gefühlsmäßige Reaktion auf eine unerfüllte oder unerfüllbare Erwartung (Enttäuschung), z.B. infolge des Scheiterns eines persönlichen Plans oder der teilweise oder gänzlich ausbleibenden Befriedigung primärer und sekundärer Bedürfnisse einstellt. Frustration kann einerseits zu konstruktiver Verhaltensänderung führen, löst aber häufig regressive, aggressive oder depressive Verhaltensmuster aus.“

Intensiv mit Abschied und Verlust hat sich die amerikanische Psychologin Pauline Boss auseinandergesetzt. In der Fachpublikation „Family Relations“ ¹ schreibt sie, daß uns Menschen Abschiede und Trennungen, sei es in freundschaftlichen oder romantischen Beziehungen, oft wie ein „uneindeutiger Verlust“ erscheinen. Manchmal ist uns in unserer Frustration und unserem Schmerz also gar nicht klar, was genau wir eigentlich verloren haben.
Die Psychologin Eva Siem, welche die deutsche Meditations-App „7Mind“² mitgestaltet, schreibt auf der dazugehörigen Webseite:

»Häufig ist es nicht nur der Verlust einer Person, sondern auch der Verlust von Träumen, emotionaler Unterstützung und einer Identität, die eng mit dieser Person verbunden ist.
Zwischenmenschliche Beziehungen können nämlich eng mit unserem eigenen Selbstbild verknüpft sein. Zum Beispiel kann jemand in einer Freund:innenschaft die Rolle des oder der einfühlsamen Ratgebenden einnehmen. Wenn die Freund:innenschaft endet, kann der Verlust dieser Rolle zu einem Identitätskonflikt führen und die Frage aufwerfen: “Wer bin ich ohne diese Rolle?” Gemeinsame Träume und Pläne, wie eine Reise oder das Gründen einer Familie, können ebenfalls zerbrechen. Egal, ob wir verlassen oder verlassen werden – bei einer Trennung kann es sich anfühlen, als würde ein Teil von uns selbst verloren gehen.«


Wie sehr wir solche Verluste empfinden oder verarbeiten können, hängt mit einem Thema zusammen, welches ich in Eintrag 14 schon einmal ausgeführt habe – und welches in der gerade aktuellsten Buch-Publikation zum Thema Polyamory, nämlich dem Titel „Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie“ von Jessica Fern (divana-Verlag 2023) noch einmal besonders betont wird: Unsere während unseres Aufwachsens erlernten Bindungsstile³.
Ich zitiere noch einmal aus dem 7Mind-Artikel wegen der kompakten Erklärung zu den verbreitetsten Formen „ängstlichem“ und „vermeidendem (abweisendem)“ Stil:
»Zum Beispiel sind Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstil oft stark auf die Bestätigung und Nähe ihrer Partner:innen [oder ihrer übrigen Umgebung!] angewiesen und haben Angst vor dem Verlust der Beziehung(en), was das Loslassen erschwert. Womöglich bleiben sie lieber in einer unglücklichen Beziehung aus Angst davor, allein zu sein.
Ähnlich tun sich
vermeidende Menschen häufig schwer damit, loszulassen, da sie gelernt haben, emotionale Distanz zu wahren und Intimität zu vermeiden. Für sie mag eine unerfüllte Beziehung besser erscheinen als die Verwundbarkeit und Angst vor Nähe in einer möglicherweise tieferen Verbindung.«

Wenn wir dann also irgendwann tatsächlich aus bestimmten Umständen oder Beziehungen heraustreten, ist es gar nicht so sehr unwahrscheinlich, daß wir zunächst einmal vielleicht ein schlechtes Gewissen, Reue oder sogar Einsamkeit und Angst empfinden.

Auch die 7Mind-App empfiehlt daher, sich die Zeit zu nehmen, sich noch einmal gut darüber klar zu werden, was tatsächlich verloren – aber auch gewonnen wurde:
Loslassen bedeute in vielen Fällen eben nicht nur einen Abschied von einem Abschnitt unserer Vergangenheit, sondern auch von einer vorgestellten Zukunft (die sich zumindest vielleicht hätte erfüllen können, wenn wir alles so belassen hätten, wie es war).

In ihrem Thesenpapier „Who am ‚I‘ without ‚you‘? – The Influence of Romantic Breakup on the Self-Concept (deutsch: Wer bin ‚ich‘ ohne ‚dich‘? – Der Einfluss der Auflösung einer romantischen Beziehung auf das Selbstkonzept)“ erklären die Forschenden Slotter, E. B., Gardner, W. L., u. Finkel, E. J. (2010), daß eine solche Veränderung gewissermaßen drei Phasen durchläuft, nämlich den Abschied von einem bisherigen Selbstkonzept („So glaube ich, daß ich bin“) – eine Trauerphase, die mit einer Entflechtung dieses Selbstbildes und daher auflösender Klarheit einhergeht, was zu emotionaler Belastung führt („Wer bin ich denn jetzt überhaupt noch?“) – und schließlich einer Anpassung mit Integration eines neuen Selbstkonzepts („Das bin ich jetzt“).

Für uns, die wir dementsprechend auf dem Weg in ethische Mehrfachbeziehungen also auch liebgewonnene/gewohnte Verbindungen oder auch bestimmte Menschen unserer Vergangenheit loslassen müssen, ist es daher wichtig, bewußt einen Teil von uns bisherigen Identität freizugeben, den wir aufrichtigerweise doch auch gar nicht mehr verwirklichen wollen.

Dazu kommt: Ein Verlust von Beziehung bedeutet ja vordergründig immer erst einmal ein stückweit Verlust von emotionaler oder vielleicht auch materieller Unterstützung.
Indem wir uns z.B. mit unserem Beziehungsleben zu einer Minderheit bekennen, bricht diese „Unterstützung“ vermutlich weg – weil wir uns nicht mehr einmütig zur kollegialen Lästerrunde einfinden, wir am Kaffeetisch nicht mehr nur mit einem ausgewählten Lieblingsmenschen erscheinen und „heile Familie“ spielen – oder weil wir für uns das Konzept „Freundschaft“ (und was darf dazugehören?) neu bewerten.

Die 7Mind-App nannte die daraus resultierende Frage oben „Wer bin ich ohne diese Rolle?“ – und das scheint mir die richtige Richtung zu weisen:
Denn wenn wir unser (Liebes)Leben in unserem Fühlen und Handeln zu einer Herangehensweise ethischer Mehrfachbeziehungen umgestalten, dann verlassen wir hoffentlich eine auch lediglich „angenommene Rolle“, bei der wir allerdings wahrscheinlich sehr lange unhinterfragt überzeugt waren, daß diese die einzig realisierbare wäre.
In unserer deutschen Sprache hängt das Wort „Rolle“ wunderbar mit dem Wort „entwickeln“ zusammen. Wir mögen uns also in einer angestammten „Rolle“ befinden – aber wir können und dürfen uns aus ihr ent-wickeln.
Auf vielen Seiten meines bLogs hier habe ich versucht darzulegen, daß es für mich eine bewußte und mutige Entscheidung ist, sich zu seinem eigenen, wahren Kern-Selbst hin zu entwickeln, wenn wir feststellen, daß wir in unserem Liebesempfinden die Kapazität für „mehr als zwei“ (oder genau genommen „mehr als eine*n“) entdecken.
Die Wissenschaftler*innen der in diesem Eintrag zitierten Beiträge unterstreichen, daß unsere zwischenmenschliche Beziehungen eng mit unserem eigenen Selbstbild verknüpft sind. Nähern wir uns mit unserem Selbstbild also immer mehr unserem Wesenskern, wird dies also auch stets konstruktiv die Art und Weise beeinflussen, welche Beziehungen wir eingehen – und wie wir diese führen möchten.

Sich für ethische Mehrfachbeziehungen zu entscheiden, wird darum höchstwahrscheinlich zudem erst einmal bedeuten, eine persönliche „Konsolidierungsphase“ zu durchlaufen. Konsolidierung heißt aber auch etwas zu festigen, zu stärken oder zu stabilisieren, um daraus etwas Geeigneteres, Verbindlicheres und Nachhaltigeres zu schaffen.
Für die Oligoamory habe ich immer betont, daß dabei aus meiner Sicht stets Qualität vor Quantität den Vorrang haben sollte. Nicht die Menge unserer potentiellen (Liebes)Verbindungen zählt, sondern deren Güte – mögen es auch wenige sein.
Verbindlich-nachhaltige (Mehrfach)Beziehungen zu führen kann so tatsächlich bedeuten, sich von dem ein oder anderen bisherigen Lebensumstand erfolgreich abzumelden, um dadurch mehr zu sich selbst zu gelangen.

Oder wie es die Psychologin Eva Siem vom 7Mind-Team schreibt – und um es nicht gar zu novemberlich werden zu lassen, wenn sich scheinbar bis zum wolkenverhangenen Horizont gerade keine weitere aufregende Beziehungsgelegenheit abzeichnet:
»Du bist nicht alleine mit der Herausforderung des Loslassens. Trauer und Veränderung sind ein wesentlicher Teil des Lebens, dem sich alle Menschen früher oder später stellen müssen.
Wie auch immer der Prozess für dich persönlich aussieht, betrachte ihn mit Wohlwollen und erinnere dich daran, dass das Loslassen auch eine Gelegenheit sein kann, dich selbst und deine Bedürfnisse besser kennenzulernen.«



¹ Boss, P. (2007). Ambiguous Loss Theory: Challenges for Scholars and Practitioners. Family Relations, 56(2), 105–110.

² Zur Hauptseite von 7Mind geht es HIER
Den Artikel von Eva Siem findet ihr HIER

³ Vor allem durch den britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby und die Bindungstheorie; z.B.
Ainsworth, M. D. S., & Bowlby, J. (1991), An ethological approach to personality development. American Psychologist, 46, 331-341.

Eintrag 94

„Das war doch gar nichts…“

Meine Lieblingsmenschen und ich teilen zahlreiche Beziehungswerte, die aus der Polyamory hervorgegangen sind – und die selbstverständlich auch für die Oligoamory gelten.
Ich habe sogar einen eigenen Eintrag zu Beginn dieses bLogs dazu verfaßt: So haben wir u.a. Verantwortlichkeit für unser Handeln, Verantwortung für unsere Gesamtbeziehung, Verbindlichkeit hinsichtlich der Anerkennung unserer Werte, Integrität, Verläßlichkeit, Konsens, Gleichberechtigung, Transparenz, Aufrichtigkeit, Loyalität in – und Identifikation mit unserem Beziehungsmodell verabredet.
Insbesondere für meine Nesting¹-Partnerschaft sind diese Kernbereiche wichtig, alle unsere Absprachen – aber vor allem unsere gemeinsame Sicht, wie wir uns ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen, beruhen darauf.

Die oben aufgezählten Werte, die auch in meinem Eintrag „Der Stein der Oligoamoren“ scheinbar recht gewichtig daherkommen, spielen hingegen in unserem Alltag keine ständig im Vordergrund befindliche Rolle. Sie bilden vielmehr das unsichtbare Gerüst unseres gemeinsamen Emotional-Vertrags – also unsere „Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“
Und auch dieser „Vertrag“ ist nichts, was bei uns in irgendeinem Aktenordner in mehrfacher Ausführung unterschrieben abgeheftet ist – es ist vielmehr das aus vielen abgleichenden Gesprächen und Erlebnissen gewonnenes Bekenntnis für unser Zusammenleben – und auch ein bißchen unsere Blaupause und Vision für unser Herangehen an und Agieren in Mehrfachbeziehungen.

Eine Verständigung auf bestimmte Werte und ebenfalls ein sich daraus ergebender „Emotionalvertrag“ sind so etwas wie ein Geländer, welches hoffentlich haltgebend ist, wenn Mensch sich daran entlangtastet – was ja speziell in Situationen wichtig ist, die nicht alltäglich, gewohnt oder vertraut sind.
Und zu diesen Situationen zählen in Mehrfachbeziehung z.B. die, in denen ein neuer Mensch dazukommt.
Die Beziehungsanteilshaber*innen, die sich gerade neu verlieben, haben zu Beginn oft den Kopf in den Wolken – die „Bestandspartner*innen“, die dieses Geschehen aus der 2. Reihe miterleben, möchten wiederum aus recht nachvollziehbaren Gründen wissen, welchen Status dieses erste „Anbandeln“ denn nun gerade hat: Ist das lediglich ein Flirt – oder der Auftakt dazu, daß demnächst ein ganzer neuer Lieblingsmensch zum Beziehungsnetzwerk hinzukommen wird? Und sind da bloß erst Sternchen in den Augen – oder wird schon ein Einzug an Tisch und Bett diskutiert?

Auf manche Leser*innen mag die formulierte Bandbreite vielleicht übertrieben klingen – gleichzeitig bildet sie recht zutreffend das mögliche Spektrum an Entwicklungen ab, wenn Liebesbeziehungen für mehr als nur eine Partnerschaft offen sind.
Wodurch den oben erwähnten gemeinschaftlichen Absprachen und Werten also doch ein gewisses Gewicht zukommt.

Schluß mit der Theorie – und her mit einem sehr persönlichen Beispiel:

Ich lernte Annika kennen, die ein ziemlicher Wirbelwind war, vielleicht in punkto Bedürftigkeit ein wenig ein kleinerer Zyklon.
Was Sexualität angeht mag ich es nämlich z.B. lieber langsam. Alle meinen erfolgreichen, langjährigen Beziehungen hatten mit einer eher allmählichen Einlassung auf dieses Thema begonnen, von einem ausgedehnten persönlichen Kennenlernen über vorsichtiges Herantasten an das Zulassen ausgetauschter Zärtlichkeit bis hin zu irgendwann geteilter, wirklicher Sexualität nach Wochen.

Äh, Moment.
„Wirkliche Sexualität“…, was ist denn „wirkliche Sexualität“?
Ist das wichtig?
Doch, ich denke schon, das das wichtig ist – gerade in Hinsicht auf unsere übrigen Lieblingsmenschen. Denn geteilte Sexualität ist sicherlich in mehrfacher Hinsicht ein einigermaßen relevanter Vertrautheits-Marker, dessen Bedeutung in Mehrfachbeziehungen in zwei Richtungen weist:
Zum einen natürlich für die beiden Personen, die Sexualität – in welcher Form auch immer – konkret miteinander teilen. Offensichtlich haben ja die beiden Personen entschieden, daß sie diesen Bereich intimen zwischenmenschlichen Austauschs nun in ihrer Beziehung haben – und (er)leben! – wollen.
Zum anderen für alle anderen Lieblingsmenschen und Partner*innen im Polykül; nämlich mit dem Signal, daß neben der notwendigen Vertrautheit hier nun eine konkrete, physisch intime Verbindung erwachsen ist, die neben einer eindeutigen Vertiefung der Ebene, was die Art der liebenden Verbindung angeht, auch im Zweifel gesundheitliche und sogar rechtliche Auswirkungen auf alle anhängig Beteiligten haben kann.
[Ok, ich weiß, es gibt Menschen, die geteilter Sexualität keine so große Bedeutung beimessen – aber Mensch mag es drehen und wenden – im Hinblick auf erweiterte Sexualität in einer Beziehung, die aus mehr als nur zwei Personen besteht, ist eine Ausdehnung des sexuellen Betätigungsfeldes doch in jedem Fall in ihren Konsequenzen verhältnismäßig konkret.]

Also gut, was ist denn nun „wirkliche Sexualität“?
In ihrem Polyamory-Ratgeber „More Than Two“ ² legen die Autoren Eve Rickert und Franklin Veaux nahe, in Mehrfachbeziehungskontexten eher mit einer sehr weiten Begriffsbestimmung zu arbeiten, da ein enormes Potenzial für Unfrieden oder Verletzungen bestünden, wenn zwischen Menschen die Definitionen von „Sex“ nicht übereinstimmten. Im Zweifel sei „Sex“ also eigentlich alles, was in das Feld Küssen, Knutschen, Streicheln mit oder ohne Kleidung, Rummachen, Austausch sexueller Fantasien, Text- oder Cybersex, Telefonsex, erotische Massage, Masturbation im selben Raum, gegenseitige Masturbation, Oralsex, Analsex, bis hin zum konkreten Kontakt von Geschlechtsorganen fällt.

„Oligotropos, das ist ja eine ziemlich rigide Herangehensweise – und was hat das jetzt mit Annika und deinem persönlichen Beispiel zu tun?“

Ok – Annika also…, …hatte, als sie mich kennenlernte, ihrerseits schon einen längeren Zeitraum keinen Sex mehr gehabt (das fand ich aber erst später heraus).
Nach dem ersten Treffen küssten wir uns, merkten, daß da Potential für mehr war; ich freute mich auf diese Reise (von der ich annahm, sie würde meinem üblichen Script folgen…) und berichtete nach dem Treffen transparent meiner Nestingpartnerin von meinen Fortschritten.
Meine Nestingpartnerin kannte mich gut und sagte dazu ok, nur wolle sie gerne über weitere Schritte auf dieser „sexuellen Reise“ informiert werden, damit sie wüßte, wie weit unsere neue Beziehung gediehen wäre.

So weit so gut…
Schon beim zweiten Treffen gruben sich Annikas Hände aber bereits tief in meine Hose, was mich ziemlich überrumpelte (und gar nicht scriptgemäß war…) und ich befand mich schon bald mehr in der Waagerechten unter ihren Schenkeln auf dem Sofa, neben dem ich eben noch den Tee kredenzt hatte, –wohingegen Annika emsig ihre Erkundungen fortsetzte und auch mit Körperkontakt nicht sparte.
Ich fand das alles etwas abrupt, etwas zu schnell – aber ein Teil von mir genoss es nichtsdestoweniger – aber nach dem Treffen war mir das alles etwas peinlich, nicht zuletzt vor mir selbst.
Mein Kopf fand das alles „nicht richtig“ – schaffte es aber auch nicht so recht, den Mund dazu einzuschalten – und überhaupt war ja „gar nicht wirklich etwas passiert“, speziell, weil ich es nicht so richtig schön und entspannt gefunden hatte, wie ich es mir von einem gemütlichen Kennenlernen gewünscht hätte.

Beim nächsten Treffen mit Annika war diese aus ihrer Sicht gut vorbereitet, denn sie trug lediglich noch ein einteiliges Kleid und Schuhe. Nach gar nicht so langer Zeit war davon beim dritten Treffen das meiste ausreichend wegarrangiert und Annika mit ihren Auswickelkünsten auch bei mir tüchtig fortgeschritten, währen sie schon an der Sofakante erwartungsfroh zwischen meinen Beinen hockte…
Ich blende hier mal aus, um die Jugendfreiheit dieses bLogs noch einigermaßen zu gewährleisten. Und gebe zu, daß ich einen Teil freiwillig-unfreiwilliger Mittäterschaft in mir trug, der zu dem begierig-lustvollen Streben der Annika schlicht deswegen beitrug, weil es mir so eine Freude machte, sie bei ihrem Freudengewinn mitzuerleben.
Aber mein Geist stand mit hochgeschlagenem Kragen währenddessen irgendwo auf einer windigen Brücke im Nieselregen und dachte nur: „…so wollte ich das aber nicht – das ist gar nicht richtig, so ist das hopplahopp und belanglos…“

Und weil es für mich wiedereinmal irgendwie peinlich war – allein weil ich zum zweiten Mal gewissermaßen überfahren wurde und ich über meine eigene persönliche (Wohlfühl-)Grenze hinausging – und für mich Sexualität in diesem Sofakanten-Format unbequem, unzulänglich und gewissermaßen – konkret wie übertragen – unwirksam war, erging es mir danach wie einem gewissen US-amerikanischen Präsidenten 1998, als er vor der Weltöffentlichkeit sagte: „Ich hatte keine sexuelle Beziehung zu dieser Frau.“ (Original: “I did not have sexual relations with that woman“). Und so hielt ich es dann auch vor mir – und leider auch mit dieser Selbsteinschätzung in meiner Kommunikation.

Als mein Lieblings- und Nestingmensch nicht so viel später dann natürlich doch herausfand, was da in der guten Stube wirklich alles abgelaufen war, war sie selbstverständlich – und zu Recht – extrem vor den Kopf geschlagen, von mir enttäuscht und verletzt.
Und es kam zu einem Streit, bei dem ich selbst aber nach sehr kurzer Zeit feststellen mußte, daß ich zu meiner Rechtfertigung quasi nichts auf der Hand hatte.
Im Gegenteil. Ich erkannte bestürzt, daß ich unsere eingangs erwähnten Beziehungswerte und Übereinkommen – zum einen aufgrund einer leicht durchschaubaren kognitiven Verzerrung und zum anderen wegen der als allgemeingültigen Maßstab vorgezogenen Art meiner eigenen Auffassung der Lage – so ziemlich komplett ignoriert hatte.

Die kognitive Verzerrung ist schnell erklärt: Es handelt sich um ein Phänomen, welches im englischsprachigen Raum als „Shifting Baselines“ (etwa: „Verschiebung der Ausgangsposition“) bekannt ist. Am besten ist es mit dem Beispiel eines Kindes mit dem Bonbon-Glas illustriert: Ein Kind liebt Süßigkeiten – und in der Küche im Schrank befindet sich ein am Montag gefülltes Glas mit Bonbons. Das Kind nimmt sich jeden Tag ein paar Bonbons heraus – und zwar, wie es selbst meint, sehr geschickt und immer nur wenige, so daß der Füllstand im Bonbon-Glas sich nahezu nicht verändert. Dies tut das Kind jeden Tag – der Füllstand im Glas ist ja nach 24h für das bloße Auge kaum verändert. Am Samstag wird das Kind von der überraschten Mutter zu Rede gestellt, warum es denn heimlich das halbe Glas mit Bonbons geleert hätte…! Die Mutter hat natürlich die tatsächliche gesamte Füllstandsabnahme von Montag auf Samstag registriert – das Glas ist, kein Zweifel möglich, sichtlich nur noch zur Hälfte gefüllt.
„Shifting Baselines“ sind leider ein sehr gegenwärtiges und menschliches Phänomen unseres Alltags-Selbstbetruges (und spielt derzeit z.B. im Feld des Klimawandels eine bedeutende Rolle): Nur weil eine Position sich nur graduell verändert (geringfügiger alljährlicher Walfang in Japan und Island z.B.) und es lange Zeit so wirkt, als ob nahezu nichts passiert, ändert sie sich messbar ja dennoch – und die Auswirkungen sind nach einer gewissen Zeit erheblich und unleugbar (keine Wale mehr, da diese z.B. keine Paarungspartner mehr in den Meeren finden durch zu groß gewordene räumliche Distanzen).
In Beziehungen sind „Shifting Baselines“ daher das sprichwörtlich „schleichende Gift“. In meinem Fall mit Annika gab ich immer mehr nach und wich dadurch immer stärker von meinen eigenen Wünschen, Werten und Vereinbarungen ab. Aus Küssen wurde Gefumnmel, aus Gefummel wurde Genitalkontakt – und „Sex“ war genau genommen alles davon. Denn genauso hätte ich es selbst auch bewertet, wenn ich die sprichwörtliche Mutter angesichts des halbleeren Bonbon-Glases gewesen wäre. Hätte man mir ein Video mit einem Mann meiner Tätigkeiten auf dem Sofa vorgespielt, hätte ich von außen objektiv ohne zu zögern gesagt: „Ja, was da passiert, ist Sex.“ Aber stattdessen betuppte ich mich selbst, weil ich mich mit in ein Geschehen verwickeln ließ, in welchem ich meine eigenen Grenzen nach und nach ausverkaufte.

Die „Shifting Baselines“ sind das, womit vor allem ich und mein angeschlagener Selbstwert zurechtkommen muß – für meine Nesting-Partnerin wog das US-präsidiale Vorziehen meines eigenen Auffassungs-Maßstabs definitiv schwerer.
Denn noch einmal zurück zur Kameraaufnahme und der klaren Feststellung: Was da passiert, ist geteilte Sexualität.
Dies hätte bei den Geschehnissen der alleinige – und damit auch mein alleiniger – Maßstab sein dürfen. Denn dies war der einzige Informationsgehalt, um den mein Lieblingsmensch mich gebeten hatte: Transparent und aufrichtig mitzuteilen, inwieweit bei der Vertiefung meiner Beziehung mit Annika Sexualität bereits anteilig Einzug halten würde.
Dies war die Information, die für meinen Lieblingsmenschen wichtig war, damit diese sich ihrerseits darauf hätte einstellen können, ihrerseits informierte Wahlen hätte treffen können, Befindlichkeit, Besorgnis, Mitfreude hätte äußern können, ein Gespräch suchen – was auch immer.
Ich aber setzte meine eigene gefühlte Auffassung „Das war nicht so, wie es hätte sein sollen / Das war irgendwie nichts Richtiges…“ an die oberste Stelle – und habe sie damit um sämtliche dieser Optionen gebracht. Womit ich zugleich die Beziehungswerte „Gleichberechtigung“ und „Teilhabe“ über Bord gehen ließ. Exakt Werte, die auch mir sonst so wichtig sind.

In meinem Fall war es in der Tat Sexualität – aber es hätten auch (Mehrfach)Beziehungsthemen wie „einander persönliche Dinge erzählen“, „miteinander Zeit verbringen“, „zu Besuch sein (ja, auch Übernachten oder Urlaub machen)“, „Zeit mit den Kindern verbringen“, „sich Freunden oder Familien vorstellen (lassen)“ etc. sein können.
Bei all diesen Dingen haben wir vermutlich alle persönliche Vorstellungen, bei denen wir uns wünschten, wie und wann diese ablaufen sollten. Und vermutlich haben wir alle „Shifting Baselines“, wenn wir z.B. jemanden einmal vom Parkplatz abholen, nächstes Mal an der Haustür klingeln und beim dritten Mal auf einen Kaffee hereingebeten werden…
Aber es gibt jedes Mal dennoch nur ein konkretes, tatsächlich stattgefundenes Geschehen, so wie ein*e Beobachter*in, die nichts mit der Sache zu tun hat, es unausgeschmückt hätte wahrnehmen und beschreiben können.
Diese Version ist die Wirklichkeit – und gegenüber Zweiten oder Dritten – und speziell für den Erhalt derer gesamten Handlungsfähigkeit – ist sie das einzig Belangvolle, was zählt – und daher erzählt werden sollte.

Unser Chaos im Kopf mag uns in so manchen Situationen in Turbulenzen stürzen und auf zahlreiche Abwege locken. Auf manchen dieser Abwege kommen wir vielleicht günstiger mit dem Geschehenen klar und wir können mit unserer Rolle darin vor uns selbst besser leben.
Unsere Lieblingsmenschen aber brauchen für ihr Wohl unsere ungeteilte Integrität – und damit unseren Mut, uns der Wirklichkeit – auch wenn diese für uns unangenehm ist – zu stellen.
Oder, um es etwas leichtherziger mit dem US-amerikanischen Autor Ernest Cline und seinem Bestseller Ready Player One zu sagen:
»Manchmal mag ich die Wirklichkeit nicht – aber es ist der einzige Ort, wo es etwas Geeignetes zu essen gibt.«




¹ „NestingPartner*in“: In Mehrfachbeziehungen eine Bezeichnung für die Menschen, mit denen man „ein Nest“ teilt – also eng zusammenlebt und auch viel Alltags-Zeit verbringt, z.B. in einer gemeinsamen Wohnstatt.

² Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014

Danke an 愚木混株 cdd20 auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 93

Sex und Wäsche

Cardrona Bra Fence, Cardrona, New Zealand

Bereits in Eintrag 9 auf diesem bLog, in dem es um den „geheimnisvollen Emotionalvertrag“ geht, der hinter den allermeisten zwischenmenschlichen Beziehungen verborgen ist, zitiere ich aus dem Polyamory-Ratgeber „More Than Two¹ von Franklin Veaux und Eve Rickert. Darin scherzen die beiden, daß die meistgestellten Fragen hinsichtlich Polyamory „Wer macht die Wäsche?“ gefolgt von „Wer schläft mit wem?“ sind. In ihrem Buch widmen sie dann auch ein ganzes Kapitel (das 19.) dem Thema mit genau jener Überschrift, die ich auch für meinen heutigen Eintrag verwende – und geben gleich in den ersten Zeilen zu, daß Menschen in polyamoren Beziehungen wahrscheinlich gar nicht so viel Sex haben, wie man denkt.
Wäsche hingegen dürfte in poly- und oligoamoren Arrangements durchaus mehr anfallen, geht es hier doch um Personenverbindungen, die ganz buchstäblich aus „mehr als zwei“ bestehen.
Womit die hartnäckigere Frage dementsprechend lautet: Wer macht denn nun eigentlich die Wäsche?
Und warum ist diese Frage und ihre Antwort von Bedeutung für (Mehrfach)-Partnerschaften?

Sowohl auf meiner Startseite als auch in einigen für meine Oligoamory maßgeblichen Einträgen (z.B. Nr. 5 und Nr. 8) beschreibe ich, daß aus meiner Sicht die Führung von Mehrfachbeziehungen ganz wesentliche Elemente der „Gemeinschaftsbildung“ enthält, wie sie z.B. von dem US-amerikanischen Psychater Scott Peck formuliert wurde². Eben jenem Prozess also, der auch der Entstehung von WGs, Kommunen, Ökodörfern und anderen Gemeinschafts(wohn)formen zugrunde liegt. All diese Mehrpersonen-Beziehungen sehen sich nämlich sämtlich ähnlichen Herausforderungen gegenüber – unter anderem dem angesprochenen „Wäsche-Problem“.
Und wer bereits einmal z.B. in einer WG gelebt hat, weiß: Oft übernehmen solche „Aufräumungsarbeiten“ die Personen, die – wie ich es immer so gerne sage – das niedrigste „Filth-Level“ [= „Verschmutzungs-Schwelle“] haben (also die spezifische Empfindlichkeit ab einem bestimmten Verunreinigungsgrad der Umgebung zur Tat zu schreiten…).

Schon in WGs ist dies ungünstig und führt bekanntermaßen oft genug zu Streit um Aufgabenverteilung und geleisteter Menge an Beitrag – in Liebesbeziehungen mit mehreren Personen ist ein solches Setting noch aus ganz anderen, sehr persönlichen, Gründen problematisch.
Denn das von mir sogenannte „Filth-Level“ betrifft ja eben gar nicht nur den anwachsenden Wäscheberg. Der Wäscheberg ist in intimen, menschlichen Nahbeziehungen bloß ein Stellvertreter für verschiedene Probleme, bei denen irgendwann bei einer der beteiligten Personen das „Filth-Level“ überschritten wird und diese sich maßgeblich unwohl fühlen. Aber genau wie beim Wäscheberg oder den Krümeln auf dem Küchenfußboden sind es bei diesen Themen eben meist stets die gleichen Personen, die als erstes unter den sich nach und nach ansammelnden Umständen zu leiden beginnen.
Und ja, ok: Schmutzwäsche; Krümel, Staubmäuse – dies sind ja eventuell konkret sichtbare Phänomene, neben denen es aber wahrscheinlich noch eine weitere Anzahl verborgener „Ablagerungen“ im Getriebe jeder Beziehung geben kann, eben auch Stress, Anspannung, Unzufriedenheit, Frust, unterdrückte Konflikte etc., bei denen es aber als Resultat dann immer wieder die selbe Person ist, die sich dementsprechend von dem aufgestauten Druck am meisten beeinträchtigt erlebt und infolgedessen entweder – je nach Konstitution und Resilienz – explodiert oder zusammenbricht, in Aktionismus oder Resignation verfällt und/oder schlußendlich alleine versucht, die Sache irgendwie zu richten.

Da ich in Eintrag 9 den Gehalt des „geheimnisvollen Emotionalvertrag“ hinter jeder Beziehung quasi als Konzentrat folgendermaßen in Worte gefaßt habe: „Konkludente Anerkennung und Übereinkunft infolge einer gemeinsam begründeten emotionalen Nahbeziehung hinsichtlich der Gesamtheit der darin allseitig beigetragenen und potentiell zu genießenden freiwillig erbrachten Leistungen, Selbstverpflichtungen und Fürsorge.“ – sind mir zum Thema „Wer macht die Wäsche?“ noch einmal zwei wesentliche Dinge bei meinen eigenen Recherchen im weltweiten Netz aufgefallen.

►Zum einen natürlich auf der Beziehungsebene, der ja gerade in Mehrfachpartnerschaften noch einmal mehr Bedeutung zukommt – speziell je nachdem, wie viele Personen daran beteiligt sind.

Die in Kanada aufgewachsene, existenzielle Psychotherapeutin, Beraterin, Autorin und Kolumnistin für USA Today, Sara Kuburic, schrieb dazu vor kurzer Zeit:
»Beziehungen sind nicht passiv. Beziehungen ‚passieren‘ uns nicht. Beziehungen sind Co-Kreationen, die Absicht, Geduld, Lernen,Verlernen, Wiederlernen, Abgleichen, Entschuldigen, Vergeben, Kommunikation und Orientierung benötigen.«
Eine ausgezeichnete Präzisierung all der Dinge, die ich auch hier auf meinem bLog immer wieder behandle. Insbesondere was die von mir so oft betonte Bewußtheit hinsichtlich unserer Entscheidungen angeht. Aber in dieser Kurzform vielleicht nicht für jede*n nachvollziehbar genug.

Das dachte sich wahrscheinlich auch der Achtsamkeitscoach und Autor Jan Lenarz, der auf dem Auftritt seiner Webseite EinGuterPlan.de in den sozialen Netzwerken diese Worte aufgriff und folgendermaßen verdeutlichte:
»Klar, die Basis für eine erfüllte Beziehung ist in erster Linie erst mal eine Menge Glück. Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein und ein Match gefunden zu haben – für eine Freund*innenschaft, für eine romantische Beziehung. Und die Familie, in die wir geboren wurden, ist ja auch nur Zufall und entsprechend Glückssache.
Treffen wir nun aber durch einen glücklichen Zufall einen Menschen, bei dem es irgendwie klicken könnte, dann das ja erst einmal nur eine Begegnung, eine Momentaufnahme. Quasi der Schlüssel zu einem Tor, das die Möglichkeit einer Beziehung eröffnet.
Beziehungen hingegen sind dynamisch und müssen aktiv gestaltet und gepflegt werden, um zu bleiben: indem man hinhört und nachfragt, Kompromisse eingeht, reflektiert, anpasst und kommuniziert. Diese Beziehungsarbeit sollte im besten Falle kein Knochenjob sein, bei dem sich eine Seite abrackert, sondern Teamwork. Denn nur so kann man gemeinsam etwas gestalten, in dem sich die Menschen, die Teil davon sind, auch zu Hause fühlen.
Eine zwischenmenschliche Beziehung ist also ein bisschen wie eine Topfpflanze. Keine ist wie die andere und jede hat ganz individuelle Bedürfnisse: Zu viel Wasser kann schädlich sein, zu wenig aber auch. Manchmal läuft jahrelang alles easy und plötzlich: Alarm – Trauermückenbefall! Erkenntnis: Nahezu unsichtbar winzige Schädlinge, die sich in der Erde einnisten, können den größten Schaden an den Wurzeln anrichten. Und dann fallen schon mal scheinbar grundlos und über Nacht sämtliche Blätter ab, wo eben noch alles prächtig erschien. Und die Rahmenbedingungen sind sowieso das A und O. Ganz egal, wie pflegeleicht so eine Pflanze wirken mag – ganz ohne Aufmerksamkeit geht selbst der robusteste Bogenhanf früher oder später ein. Darum ist spätestens, wenn etwas holprig scheint, ein passives Abwarten à la „Das wird sich schon wieder einrenken!“ weder in zwischenmenschlichen Beziehungen noch bei Topfpflanzen eine gute Erhaltungsmaßnahme.«


Sowohl Sara Kuburic als auch Jan Lenarz und seine Mitarbeiter*innen schließen sich also beide dem berühmten Sprichwort „Beziehung ist keine Einbahnstraße“ an, betonen dabei die immer wieder zu durchlaufende Prozeßhaftigkeit – die auch Scott Peck schon 1987 identifizierte – ebenso wie den wichtigen Charakter der „gemeinsamen Mitschöpfung“.
„Gemeinsame Mitschöpfung“ ist hier das Stichwort schlechthin, denn im Gegensatz zum Wäscheberg, bei dem es vielleicht gerade noch gut geht, wenn man dessen Bewältigung bloß einer Person überläßt, muss exakt diese „Mitschöpfung“ in einer ethischen Mehrfachbeziehung Anliegen und Privileg aller Beteiligten sein.
Das „Pflanzenbeispiel“ von Jan Lenarz‘ Seite illustriert es sonst doch nur zu gut: Läßt man die Beziehungsarbeit laufen, wird es eines Tages zum Problem des Schwellenwerts einer der involvierten Personen. Das Chaos, was regelmäßig danach in einer (Mehrfach)Beziehung ausbricht, trifft so ähnlich ein wie bei der oben skizzierten Pflanze: Denn für die übrigen Beteiligten sah bis vor einem Moment alles doch noch ganz wunderbar und harmonisch aus – und mit einem überraschendem Mal entbrennt Unfrieden – scheinbar ausgehend von nur einer Person, die ihrerseits zu ihrem angesammeltem Leid nun auch noch den Unmut der Gruppe als ausgemachter Störenfried ertragen muß.
Oft enthüllt erst der Scherbenhaufen, daß kollektiv das Wunder Mehrfachbeziehung über zu lange Zeit für selbstverständlich gehalten wurde, bzw. daß schon bei Beziehungsbegründung Bedürfnisse, Wünsche oder auch Befürchtungen Einzelner nicht gut genug ausgedrückt, gehört und berücksichtigt wurden.

Gehört?
Ausgedrückt?!
Genau – „ausgedrückt“ – womit ich beim zweiten Punkt wäre.

► Denn zum anderen gibt es auch noch eine individuelle Ebene, die, wenn sie nicht geklärt genug ist, die schönste gemeinschaftliche Mitschöpfung gefährden kann.
Am eindrücklichsten beschreibt aus meiner Sicht die Schriftstellerin Hailey Magee, US-amerikanische Autorin und Coach für die Genesung von Co-Abhängigkeit, dieses Dilemma: Unsere Bedürfnisse, Wünsche oder Befürchtungen hinsichtlich einer sich abzeichnenden (Gesamt)Beziehung müssen wir nämlich wenigstens ausdrücken können, damit die anderen Beteiligten uns dahingehend auch hören und beherzigen.
Leider ist unser Selbstausdruck aber gelegentlich defizitär. Oder zumindest biographisch beschädigt, je nachdem z.B. wie unser Aufwachsen war, wir elterliche Bindungsstile erlebt haben – oder welche Erfahrungen wir aus Vorbeziehungen mitbringen.
In einem Vorab-Auszug aus ihrem 2024 erscheinendem Buch³ versucht Hailey Magee daher Licht auf unsere Motivationen zu werfen, wie und warum wir uns in Beziehungen einbringen ( – und mit unserem Startbeispiel des Wäscheberges im Kopf funktioniert das Hineindenken in ihr Modell ausgezeichnet…).
Wenn wir ungünstigen Denkmustern unterliegen, die wir vielleicht in unserer biographischen Vergangenheit erlernt haben, dann, so benennt es Mrs. Magee, unterliegen wir vielleicht einer Motivation, die sie „Anpassung“ bzw. „Gefallenwollen“ (wortwörtlich People-Pleasing, also in etwa „Leute-Zufriedenstellen“), nennt.
Anpassung und Gefallenwollen wurzeln allerdings in Motivationen, die für gelingende, gleichberechtigte Beziehungen auf Augenhöhe, in denen wir uns akzeptiert und geborgen fühlen können, eher kritisch sind. Diese sind vor allem:

Pflichterfüllung: „Ich muss das tun, sonst fühle ich mich schuldig.
Geschäftsdenken: „Ich gebe dir X, damit du mir Y gibst.“ – oder
Verlustangst: „Ich tue das, weil ich Angst habe, dich zu verlieren.“

Ich gebe zu, daß es wahrscheinlich schwer ist, erst einmal vor sich selbst zuzugeben, daß solche Gedankengebäude in einem selbst hinsichtlich Beziehungsführung existieren. Vermutlich ist es noch einmal schwieriger, dies seinen Lieblingsmenschen gegenüber zu tun. Für ein zu errichtendes „Gemeinsames Ganzes“, was eine (Mehrfach)Beziehung aber werden soll, ist so eine Bewußtmachung von enormer Wichtigkeit. Und wenn uns dies erst einmal in uns selbst gelingt, dann gibt es auch eine viel bessere Chance, solche Muster, so sie erneut versuchen sich in unsere Beziehungen zu drängen, zu identifizieren – und schließlich auch immer geübter aus ihnen auszusteigen. Und da Gefallenwollen und Anpassung eine Menge mit unserem Selbstwert zu tun hat, ist Stärkung und Heilung an dieser Stelle ebenfalls ein bedeutender Teil unserer Eigenfürsorge, die in dieser Hinsicht vor allem uns zu gute kommt und der wir uns wert sein sollten.

Wenn wir nämlich nicht mehr aus Anpassung und Gefallenwollen heraus agieren, dann wird es immer öfter allerbeste und unverfälschte Zugewandtheit sowie Freundlichkeit gegenüber unseren Lieblingsmenschen sein, die sich laut Mrs. Magee mit folgenden Motivationen zeigen:

Herzenswunsch: Ich will das unbedingt (von mir aus) tun.“
Wahlfreiheit: „Ich könnte dazu ja oder nein sagen, und ich entscheide mich dafür, ja zu sagen“.
Wohlwollen: „Ich tue dies, weil ich deine Lebensqualität verbessern möchte.“

Gelingende Mehrfachbeziehungen bleiben also weiter interpersonelle Treibhäuser und Werkstätten, in denen sowohl das „gemeinsame Wir“ als auch die individuelle Aufgestelltheit der Mitwirkenden immer wieder inspiziert, gepflegt und gefördert werden (sollten😉).
Schließlich sind es dadurch auch immer wieder alle Beteiligte, die am Ergebnis Anteil haben und davon profitieren – egal ob es sich dabei um die Wäsche oder intensive Gefühle handelt.
Wichtig scheint mir, dabei nicht zu streng mit uns selbst und den anderen umzugehen, denn nahezu niemand von uns geht gemäß Mrs. Magee als bereits voll entwickeltes, selbstloses und unbeschriebenes Blatt ins Rennen.
Und manchmal hilft uns die Liebe selbst, mit ihrer Beständigkeit und Geduld. Denn wie heißt es in der US-amerikanischen Krimiserie Der Finder in Staffel 1 Folge 5 [„Der Feuertrick“]
»Es gibt Dinge, die kann man nicht lernen. Manche Dinge kommen nur durch Zeit und Erfahrung.«



¹ Das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

² Scott Peck, Gemeinschaftsbildung – Der Weg zu authentischer Gemeinschaft. (Original: „A Different Drum“) Eurotopia 2007, 3. Auflage. 2014

³ Hailey Magee, „Stop People-Pleasing and Find Your Power“ (Simon & Schuster)

Danke an Pablo Heimplatz auf Unsplash für das Foto und an meinen diesmaligen Muserich Wolfram, dessen informativer News-Feed mich mit vielen Impulsen für diesen Eintrag in Verbindung brachte.

Eintrag 92

Es lebe die Vielfalt!

In der US-amerikanischen Kult-Science-Fiction-Serie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert¹ erfindet in Staffel 6 Folge 9 („Datas Hypothese“) ein Wissenschaftler für heikle Tätigkeiten in herausfordernder Umgebung eine Gruppe Arbeitsroboter, die über die Fähigkeit verfügen – je nach analysierter Problemstellung – das für das weitere Vorgehen jeweils bestmöglich passende Werkzeug aus sich selbst hervorzubringen (für die Nerds unter uns: zu replizieren). Die Zuschauer können während der Folge jedoch darüber hinaus auch noch erleben, wie sich die Roboter zur allseitigen Optimierung über bestimmte Herangehensweise austauschen (was als Zeichen für Vernetzungsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikation und Intelligenz angesehen wird), sich weigern, einander unnötiger Gefahr auszusetzen (was für gesunde Selbsteinschätzung und -erhaltung spricht) – und als es zum Äußersten in einer extrem risikoreichen Situation kommt, opfert sich eines der Maschinchen gewissermaßen für den Rest der Gruppe, die auf diese Weise der Vernichtungsgefahr in brisanter Lage dann auch entgeht.

Ein bekanntes Sprichwort, welches auf einen meiner hier vielzitierten Lieblingspsychologen – nämlich Abraham Maslow – zurückgeht, besagt, daß „wer über mehr Werkzeug als einen Hammer verfügt, nicht alles andere als einen Nagel ansehen würde.“

Mr. Maslow ist für mich im Universum der Mehrfachbeziehungen ein enorm wichtiger Impulsgeber, da er als Vertreter der sg. „Humanistischen Psychologie“ sowohl maßgebliche Beiträge zur Erforschung und Kenntnisnahme menschlicher Bedürfnisse (erstmals hier Eintrag 11) leistete, als auch direkt über seine Idee der ethisch-hinterfragenden „Selbst-VerwirklichungMorning Glory Zell-Ravenheart beeinflusste, jene Frau, die die Idee der Polyamory 1990 erstmals in druckreifem Format formulierte (siehe vor allem Eintrag 49).

Für Mehrfachbeziehungen enthält Maslows „Hammermetapher“ ja dann auch mehrere grundlegende Botschaften:
Zum einen – und am auffälligsten – daß ein Hammer, wiewohl praktisch, doch eher ein grobes Instrument ist, welches jedoch sicherlich kaum für „Feinarbeiten“ geeignet ist. Was zugleich Sinnbild dafür ist, daß es nicht immer klug ist, jede Unternehmung, die einem begegnet, mit eher stumpfer Kraft anzugehen und dabei möglichst im Grund zu versenken (was – wenn man’s auf zwischenmenschliche Zusammenhänge bezieht, allein schon bedenklich klingt…).
Zum anderen, daß das Potential einer Reichhaltigkeit von Optionen (also Werkzeugen) uns Flexibilität im Umgang mit Problemstellungen verleiht – selbst sogar, wenn diese unvorhergesehen daherkommen.
Und noch etwas verrät uns Maslows Bild: Nämlich, daß allein das Wissen um unsere (potentielle) Flexibilität unsere Perspektive – unsere Grundeinstellung – verändert, sowohl was das Zutrauen in unsere Fähigkeit, Lösungen zu entwickeln betrifft, als auch dahingehend, daß wir eventuell an uns herangetragene Schwierigkeiten graduell als gar nicht mehr so gravierend ansehen, daß wir ihnen mit „Generalmobilmachung“ all unserer Ressourcen begegnen müssten.

In Mehrfachbeziehungen, die sich, wie eben Oligo- oder Polyamory, mit dem charakterisierenden Zusatz „ethisch“ hervorheben, ist insbesondere letztere erwähnte Haltung und Einstellung von großer Wichtigkeit.
Denn sie enthält den Auftrag an uns alle, die sich in Mehrfachbeziehungswelten bewegen wollen, uns ausdauernd mit der Pflege und Erweiterung unseres höchsteigenen „Werkzeugsortiments“ zu beschäftigen.
Was ja nicht einfach ist, da wir, wenn wir gewohnt sind bislang überwiegend in monogamen Bahnen zu denken, es uns eher geläufig ist, überwiegend von der „Hammer-Seite“ aus zu agieren: Eifersucht? Bäng! – es darf schlicht keine weiteren Liebsten außer dem Kernpaar geben! Verlustängste? Bäng! – soll die*der andere mal sofort ihr*sein bei uns angstverursachendes Verhalten abstellen! Kommunikationsprobleme oder Reibungsverluste durch Mißverständnisse? Bäng! – am besten Einbahnstraßenkommunikation (auch bekannt als „klare Ansage“…) von unten nach oben oder von oben nach unten mit festgelegter Binnenhierarchie – dann kommt so etwas nicht vor!
Womit ich nicht sagen will, daß dies in einem monogamen Modell eine gute Vorgehensweise ist – aber die Vergangenheit unserer Eltern und Großeltern hat doch tragisch oft bewiesen, wie weit Mensch mit lediglich einem Hammer im Zweifel kommen kann…

Abraham Maslow gab dementsprechend der von Morning Glory Zell-Ravenheart so bewunderten „Selbst-Verwirklichung“ genau darum so einen wesentlichen Stellenwert, weil wir mit unserer „Werkzeugpflege und -erweiterung“ darin direkt in der grundsätzlichen und elementarsten Beziehung von allen gleich damit loslegen können: der zu uns selbst.
Abraham Maslow, wäre nicht DER Abraham Maslow der mittlerweile vielbeschworenen „Maslowschen Bedürfnispyramide“ (die inzwischen wissenschaftlich nicht mehr als gar so fix angesehen wird wie in ihren Anfangstagen) gewesen, wenn ihm nicht schon aus seinem Wissen um die menschlichen Psychologie bereits klar gewesen wäre, daß unsere (Problem)Reaktionsfähigkeit (also die Vielfältigkeit unserer Werkzeuge) stark mit der Kenntnis der Zusammensetzung unserer Bedürfnislage in Verbindung steht.
In den letzten fünf bLogeinträgen dieses Jahres habe ich mich – auch selbstkritisch – immer wieder genau mit dieser Kenntnis bzw. Unkenntnis um die eigene Bedürfnislage auseinandergesetzt. Und der daraus resultierenden Bedürftigkeit… Vor allem, weil bedürftig zu sein bedeutet, beim Blick in den Werkzeugkasten stets immer wieder nur als erstes bloß den Hammer zu finden: Problem? Beseitige es! – BÄNG!
Denn das ledigliche, überwiegend unbewußte, Wissen, daß der Hammer Probleme lösen kann, macht ihn schon aus schierer Gewohnheit leider verführerisch. Und auch das ist für zwischenmenschliche Zusammenhänge bedenklich…

Womit Selbst-Verwirklichung eben einen so großen Teil Bewußtwerdung benötigt, gemäß den Zielen der humanistischen Psychologie, wie ich sie in Eintrag 51 darlege – und hier noch einmal ganz kurz skizziere:

  1. Menschen sind mehr als die Summe ihrer Teile. Sie können nicht auf einzelne Merkmale reduziert werden.
  2. Menschen existieren sowohl in einzigartigen menschlichen Kontexten als auch in einer weltumspannenden Ökologie.
  3. Menschen sind bewusste Wesen und sie sind sich bewusst, bewusst zu sein. Zum menschlichen Bewusstsein gehört immer ein Bewusstsein von sich selbst im Kontext anderer Menschen.
  4. Menschen haben die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, und tragen daher Verantwortung.
  5. Menschen sind absichtlich, streben Ziele an, sind sich bewusst, dass sie zukünftige Ereignisse verursachen, und suchen nach Sinn, Wert und Kreativität.

Psychologisches Blabla, zu kompliziert?
Die Fallstricke werden meist dann sichtbar, wenn wir Bewußtwerdung und Kenntnisnahme (was ja auch ein Stück Selbstanerkennung ist) weglassen.
Die Natur hat es nämlich leider etwas unglücklich eingerichtet, daß wir uns schneller in andere verlieben können, als daß wir anderen vertrauen.
In Eintrag 15 weise ich zwar auf die menschliche Fähigkeit zu raschem (Vor-)Vertrauen („Swift Trust Theory) hin, erkläre aber zugleich, daß dieses nicht durchtragen kann, speziell in genau den Fällen, in denen unsere eigenes defizitäre Bedürfnisfundament unter vermeintlichen Beschuß gerät. Scheinbar bedrohliches oder gar angstverursachendes Gebahren im Außen wird also einen ohnehin knapp bemessenen Inhalt unseres Werkzeugkastens sofort zurück auf Hammerformat schrumpfen lassen – und damit, wie oben erwähnt, auch die Perspektive unserer Bewältigungsstrategien: „Oh nein, ein NAGEL!!!“

Die eingangs erwähnte Star Trek-Folge nutzt die Parabel rund um die putzigen Arbeitsroboter, um die Zuschauer mit der Frage zu konfrontieren, was Leben ist.
Star Trek ist anerkannterweise Science Fiction – und damit sind uns die Maschinchen also fast ein wenig voraus. Denn sie führen uns vor, warum sie höchst lebendig sind – und humanistische Psychologie ist ein wichtiger Teil der Antwort:

  1. Indem sie gewissermaßen über einen „unendlich vielfältigen inneren Werkzeugkasten“ verfügen, sind sie ganz eindeutig „mehr als die Summe ihrer Teile“. Sie sind gestaltgewordene Pluralität, lassen sich nicht auf ein Merkmal reduzieren – und das ist, auf unser jetziges Zeitalter übertragen, in dem wir z.B. über Fluidität von Geschlecht, Gender und Beziehungsformen reden, geradezu so divers wie non-normativ.
  2. Indem die Geräte sich austauschen, stellen sie ein Netzwerk an Erfahrung her, welches eine neue, einzigartige Kombination darstellt. Gleichzeitig kann dieses Netzwerk nur durch alle Beitragenden genau diese Güte erhalten, wodurch ein sowohl individueller als auch insgesamter Zusammenhang entsteht. Dies ist für mich eine essentielle Kompetenz von verbindlich-nachhaltigen „Mehrfach“-Beziehung.
  3. Die Roboter zeigen Bewußtsein speziell in dem Moment, als sie in einer Gefahrenzone arbeiten sollen, in der sie vernichtet werden könnten. Sie beweisen darin gesunde Selbstfürsorge, die natürlich in erster Linie jedem Individuum zu Gute kommt (weil es überlebt) – aber berücksichtigen und schützen mit ihrer Handlung zugleich das „größere Ganze“ (das „gemeinsame Wir“ der Oligoamory, könnte man sagen) zu dem sie alle beitragen.
  4. Indem die Roboter Entscheidungen treffen, beweisen sie auch über die rein praktische Ebene hinaus, daß sie „über mehr als nur einen Hammer verfügen“. Sie übernehmen auf diese Weise Eigenverantwortung um individuell Probleme zu lösen, übernehmen Gesamtverantwortung, um ihre Gruppe zu schützen – und im Zweifel schließen sie sich zusammen, um von Erfahrungen anderer zu profitieren.
  5. Die Szene, in der sich schließlich doch ein Roboter in einer zunächst ausweglosen Situation für die anderen opfert, berührt für mich das, was ich in Eintrag 34 als Kerngehalt von Romantik bezeichne: Das uneingeforderte Selbstopfer. Denn ganz offensichtlich haben die Roboter eine Anerkenntnis ihres Eigen-Sinns und ihres Eigen-Werts entwickelt. Womit ihre Absichten und Ziele eben ganz und gar nicht mehr roboterhaft sind, denn über Pluralität, Bewußtheit und Verantwortlichkeit ist ihnen etwas zutiefst Menschliches klar geworden: Ihre Begrenztheit – und damit ihre Kostbarkeit.
    Das „Selbstopfer“ (auch ohne dabei das Leben zu lassen) ist für mich daher ein Beweis für „Liebe pur“ (und nur wirkliche Lebewesen sind dazu fähig): Unser Beitrag, unser Geschenk für unsere Gruppe, unser Beziehungsnetzwerk (und so gar nicht selbst-los, wenn es dann von anderer Seite zu uns zurückkommt).

Für mich ist es in der Star Trek-Serie natürlich eine hübsche Vorgabe, daß die Roboter schon von Beginn an „zu mehreren“ sind. Ein einzelnes Exemplar alleine hätte trotz seiner fortschrittlichen Werkzeugfähigkeit sonst nie sein volles innewohnende Potential erkannt (und dann vermutlich weder Bewußsein noch Leben entwickelt).
Denn Mehrfachbeziehungen berühren folglich wohl stets den Grad unserer Selbst-Verwirklichung. Sie „zupfen“ gewissermaßen an unserer Bewußtwerdung und konfrontieren uns mit unserem Maß an vorhandener innerer Lebendigkeit.
Gelingende Mehrfachbeziehungen benötigen dadurch exakt die zunehmende Befähigung zum Perspektivwechsel, die wir zwar auch im Zusammenspiel mit anderen steigern können, für die wir die Grundlagen aber in uns selbst suchen – und auffinden – müssen.
Das Gleiche gilt damit für den in uns wohnenden, unveräußerlichen individuellen Wert und unsere lebenslange Sinnsuche, die uns (hoffentlich) immer mehr und mehr vervollständigt und zu dem Menschen macht, der wir sind: Kontakte zu den verschiedensten Menschen und Umgebungen wird uns Kenntnis darüber verschaffen, welche schier unglaubliche Menge es an Werkzeugen für die unterschiedlichsten Herausforderungen gibt.
Jedoch nur unsere Übung damit in wirklichen Nah-Beziehungen, die unsere berechenbare Gruppe sind, genau weil wir darin um unsere wechselseitige Begrenztheit und Kostbarkeit wissen, wird uns zu Meister*innen darin machen, unsere Werkzeugkoffer nach und nach in wahre Schatzkisten zu verwandeln.



¹ auch bekannt als Star Trek: The Next Generation

Danke an Adam Sherez auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 91

Stühlerücken

In Eintrag 88 habe ich neulich der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß Oligoamory möglichst etwas sein sollte, was wir tun – und nicht etwas, was uns passiert.
Gleichzeitig habe ich eingeschränkt, daß in der Praxis romantische Verbindungen zwischen mehr als zwei Personen sehr viel öfter eher unvorhergesehene Lebensereignisse sind, die – wie John Lennon es einstmals so ähnlich sagte – geschehen, während wir eigentlich gerade emsig andere Pläne verfolgen.
Und das ist ok – und stellt sich auch im historischen Kontext der Oligoamory so dar, wenn wir auf die Geschichte ihrer „großen Schwester“, der Polyamory, schauen – so wie ich sie z.B. in Eintrag 49 beschrieben habe.
In diesem Eintrag zitiere ich die neopagane Priesterin und Autorin Morning Glory Zell-Ravenheart, die, aus persönlicher Erfahrung in ihrem Leben und weil es sie selbst betraf, die Initiative ergriff, ein Liebes- und Lebensmodell für ethische Mehrfachpartnerschaften zu entwerfen.
Auch für sie bestand der Ausgangspunkt ihrer Vision aus bereits eingetretenen Tatsachen: Mehrere Menschen, die nicht notwendigerweise nach bestehendem (Ehe)Recht gesetzeskonform gemeinsam liiert waren, empfanden Gefühle füreinander, wollten sich – sowohl öffentlich als auch voreinander – verlässlich zu ihrem Zusammensein bekennen.
Vor dem Hintergrund ihrer neopaganen Werte – wie z.B. Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, einem hohen Maß an Aufrichtigkeit sowie der Gleichwürdigkeit aller Geschöpfe – konzipierte sie eine fundierte Berechtigung, um auch mit mehr als zwei Personen eine verbindliche Liebesbeziehung auf Augenhöhe zu führen, in der alle Beteiligte innerhalb eines sicheren und berechenbaren Rahmens interagieren konnten.

Warum schreibe ich das?
Weil also auch historisch die Liebe, das Gefühl des Miteinanders, die Verbundenheit und das sich „einander als zugehörig Empfinden“ zuerst da waren – und daraus dann der Wunsch nach einem lebbaren, realisierbaren Rahmen entsprang.
Morning Glory Raven-Zell war eine Praktikerin, keine Sozialwissenschaftlerin, die sich eines Tages vor ein Reißbrett setzte, weil sie der Welt die philosophische Blaupause für eine weitere Beziehungsform schenken wollte.
Und als Praktikerin ließ sich sich darüber hinaus vom tatsächlichen Leben führen – und nicht so sehr von ihren Bedürfnissen, wenn diese noch keine Gestalt angenommen hatten.

Dies betone ich, weil es in der weiten Welt der Mehrfachbeziehungen nichtsdestoweniger viele Menschen gibt, die sich eine solche Beziehungsform für sich wünschen – genau genommen weitere Partner*innen für eine solche Beziehungsform wünschen – aber noch/derzeit keine haben.
Ich möchte hier ungern problematisieren, ob diese Menschen – in Ermangelung einer konkreten Beziehung – polyamor sind oder nicht. Ich halte das für absurd, da wir dann auch eine alleinstehende monoamore Person fragen müssten, ob sie sich rechtmäßig als „Single“ bezeichnen dürfte, weil dies ja vor allem „temporäre Alleinstellung“ in einer auf Verpartnerung angelegten Welt signalisieren würde.
Also sage ich: Na sicher gibt es „Poly-Singles“, schlicht Menschen eben, die sich ein Leben in Mehrfachbeziehung vorstellen können, bei denen diese Beziehungsform aber gerade im Alltag nicht manifest ist. Ob man darüber hinaus auch noch in einer Zweierbeziehung „Polysingle“ sein kann, darüber mag man streiten. Wenn der andere Beziehungsteil monogam veranlagt ist, dann würde ich eventuell hier ebenfalls zustimmen. Wenn allerdings beide aktuellen „Beziehungsinsassen“ sich als polyamor sehen, jedoch derzeit weitere Partner*innen fehlen um „mehr als zwei“ zu werden… Da wird die Diskussion schnell haarspalterisch – aber dafür nähert sie sich sicherlich meinem heutigen Thema.

Denn was brauchen wir, um uns „vollständig“ zu fühlen?
Der schweizerische Lyriker Hans Manz schrieb 1994 einmal folgenden Text, den er unter dem Titel „Der Stuhl“ veröffentlichte:

Ein Stuhl,
allein.
Was braucht er?
Einen Tisch!

Auf dem Tisch liegen Brot, Käse Birnen,
steht ein gefülltes Glas.

Tisch und Stuhl,
was brauchen sie?
Ein Zimmer,
in der Ecke ein Bett,
an der Wand einen Schrank,
dem Schrank gegenüber ein Fenster,
im Fenster einen Baum.

Tisch, Stuhl, Zimmer…
Was brauchen sie?
Einen Menschen.

Der Mensch sitzt auf dem Stuhl am Tisch,
schaut aus dem Fenster
und ist traurig.
Was braucht er?

Es ist interessant, welche Perspektiven dieses scheinbar karge Gedicht eröffnet. Als ich es zum ersten Mal las, waren meine damalige Partnerin und ich gerade Hundebesitzer*innen geworden. Unsere spontane Antwort lautete also: Einen Hund! Und wir alberten, daß der Hund vielleicht den Stuhl umwerfen würde, dann unter dem Tisch sitzen könnte, um Brot, Käse und Birnen betteln würde (dabei das Glas umwedeln),durch das Zimmer liefe, nachts mit im Bett schliefe, er würde sich am Schrank kratzen, mit den Vorderpfoten aufs Fensterbrett hopsen um hinauszuschauen, am Baum sein Bein heben – und der Mensch, der Mensch in dem Gedicht hätte, sobald man lediglich diesen Hund noch dem Bild hinzugefügt hätte, im wahrsten Sinne des Wortes „Leben in der Bude“ und plötzlich eine Menge an Dingen, um die er sich kümmern könnte. Und somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Als „Polysingle“ sind wir es manchmal, die traurig auf dem Stuhl sitzen. Und wir würden unserem Bild dann gerne einen weiteren Menschen hinzufügen. Und falls wir dann immer noch traurig sind…, hm, vielleicht noch einen weiteren… Denn dann hätten wir „Leben in der Bude“, plötzlich würden Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum vielmehr Sinn ergeben, wir könnten dies alles teilen und hätten somit kaum noch Zeit für Traurigkeit.

Ein Hund, pardon, ein Leben mit mehreren Partner*innen soll uns offenbar manchmal vor uns selbst retten. Und wenn wir sehr sehr ehrlich mit uns selbst sind, wissen wir tief in uns drin, daß sie uns ja eigentlich nicht wirklich retten können – …nun gut, dann sollen sie uns wenigstens ablenken.
Davon ablenken vor allem, daß wir unsere eigenen Gefühle ganz fühlen müssen. Traurigkeit wie in dem Gedicht zum Beispiel. Tief eingegrabene, negative Grundgefühle wie Traurigkeit, Wut, Angst oder Ekel, für die wir entsprechend eine ganze Welt eintauschen würden, um sie nicht fühlen zu müssen.
In Eintrag 6 zitiere ich erstmals die US-amerikanische Schriftstellerin Anaïs Nin, die schrieb, „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.“¹
Ja, das könnte auch eine Chance sein. Aber viel eher umarmen wir stattdessen hingerissen – oder mehr noch nahezu berauscht – diese neue(n) Welt(en), weil sie uns so viele neue Kümmernisse bescheren, daß wir uns fortan vollständig nur diesen widmen wollen und können. Und Mehrfachbeziehungen lassen darüber hinaus auch noch den Zusammenstoß mehrerer Welten zu, so daß uns vielleicht obendrein eine Rolle als Vermittler*in, Drahtseilakrobat*in oder gar Manager*in erwächst. Da bleibt gar keine Zeit mehr, die eigenen Gefühle ganz zu fühlen, fühlen zu müssen…

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, daß diese Ablenkung, die für lange Zeit sogar die Illusion einer „Rettung“ (vor eigenem Leid) aufrecht erhalten kann, durchaus eine Weile funktioniert. Wobei das Wort „funktionieren“, welches seit dem 20. Jahrhundert überwiegend für Gegenstände und Geräte benutzt wird, geradezu sinnbildlich ist.
Denn gute – und mit „gut“ meine ich stets gelingende – Oligo- oder Polyamory wird es auf diese Weise nie.

Der schweizerische Psychater C. G. Jung, der sich intensiv mit unserer inneren Welt von Symbolen und Archetypen beschäftigte, schrieb bereits 1934²:
»Jemand anderen zu lieben ist leicht, aber das zu lieben, was man ist – dieses Ding, das du selbst bist–, das ist so, als würde man ein sengendes, rotglühendes Eisen umarmen; es brennt sich in dich hinein und das ist sehr schmerzhaft.
Deshalb ist jemand anderen zu lieben in erster Linie stets ein Ausweg, auf den wir alle hoffen, und wir alle kosten ihn aus, wenn wir dazu fähig sind.
Aber auf lange Sicht fällt es auf uns zurück. Man kann sich nicht für immer von sich selbst fernhalten. Man muss zurückkehren; man muss sich diesem Experiment stellen, um zu wissen, ob man wirklich lieben kann. Das ist die Frage – ob man sich selbst lieben kann. Und das wird der Test sein.«


Womit C. G. Jung zum Ausdruck bringt, daß wir also dem Bild von Stuhl, Tisch, Brot, Käse, Birnen, Glas, Zimmer, Bett, Schrank, Fenster und Baum so rein gar nichts „hinzufügen“ können, damit der Mensch daneben nicht mehr traurig ist. Selbst wenn er*sie*es den Raum mit weiteren Menschen füllen würde, keine*r davon könnte sicherstellen, daß sich gleichzeitig und wie durch Zauberhand auch „Liebe“ mit in diesem Raum einfinden würde.
Der Mensch in dem Bild müsste vielmehr etwas „hineinfügen“ oder noch besser wiederfinden – und zwar in sich selbst.

Und was das ist, das ist ganz analog zu der Wurzel gelingender Polyamory: Dort ist es Liebe, bei uns selbst ist es entsprechend Selbstliebe. Dort ist es das Gefühl des Miteinanders, bei uns ist es das Gefühl des bei-sich-Seins, des sich selbst Innehabens. Dort ist es Verbundenheit, bei uns ist es die Sicherheit, daß wir aufgrund unseres unveräußerlichen Selbstwertes aus uns selbst heraus existieren können. Dort ist es das „einander als zugehörig Empfinden“ – bei uns ist es ein Empfinden von Identität und Sinn.

Gehen wir an die Poly- oder Oligoamory heran wie der traurige Mensch in dem Zimmer, besteht indessen eine große Gefahr, daß wir unsere Wünsche, die aus unerfüllten Bedürfnissen entspringen, den Plan am Reißbrett für unsere Version einer Mehrfachbeziehung entwerfen lassen. Und unerfüllte Bedürfnisse äußern sich leider schnell in Form von Bedürftigkeit, die derart an den Tag tritt, daß sie potentielle Partnermenschen kurzerhand in (all) jene Bedürfnislücken stopfen, durch die unsere ungefühlten Grundgefühle fortwährend hervortreten wollen – und mit dieser unangenehmen Empfindung von diffusem Energieverlust unsere Lebenszufriedenheit stetig mindern (siehe auch mein Bild vom „Bedürfnisfass“ aus Eintrag 58).
Kein „Flicken“ solcher Art ist folglich jemals in der Lage, die eigentliche Lücke dahinter angemessen zu beheben.

Heute wünsche ich uns daher, daß wir erneut den Weg des größtmöglichen Mutes beschreiten, um diesmal den allerersten grundlegenden Schritt für ein Leben in (Mehrfach)Beziehung zu tun:
Dieses Ding, das wir selbst sind, anzunehmen und zu lieben.
Uns erlauben, unsere Gefühle ganz zu fühlen.
Uns selbst die Hand zu halten, und weder Poly- noch Oligoamory als Ausweg zu wählen, wenn es brennt.



¹ Zitat aus: Anaïs Nin, Tagebücher 1929–1931 „Kann ich zwei Männer lieben?

² Zarathustra Seminar Seite 1473 – C.G. Jung zu Nietzsches Zarathustra (1934)

Der englische Text zu Morning Glory Raven-Zells Artikel mit dem ersten Entwurf zur Polyamory (so wie damals 1990 in der Zeitschrift Green Egg erschienen) HIER

Danke an Renè Müller auf Unsplash für das Foto!

Eintrag 90

Beziehungs-Anatomie

Die US-amerikanische KrankenhausserieGrey’s Anatomy verdient mit ihren demnächst 20 Staffeln ganz sicher das Prädikat „episch“. Mit kleinen Unterbrechungen wird dort seit 2005 (gut: im deutschsprachigen Raum seit 2006…) geheilt, gehofft, gebangt, geliebt, gestorben, gewonnen und getrennt was das Zeug hält.
Wie bei den meisten Krankenhausserien setzt das rein Medizinische auch bei diesem Format eigentlich vor allem bloß den Rahmen der Handlung. Im Detail – und ganz vorwiegend – geht es um die zwischenmenschlichen Beziehungen des Krankenhauspersonals, ihrem Wohl und Wehe auf der Suche nach…
Ja, was eigentlich?
Auf den einschlägigen Streamingdiensten wird die Langzeit-Ausstrahlung sogar als „LGBTQ-Serie“ verschlagwortet (und empfohlen) – Grund genug also, um allein darum hier auf meinem bLog zu erscheinen?
Nun ja… In der Serie dürfen lesbische und schwule Menschen mitspielen, und das Thema der geschlechtlichen Identität – und auch der Wechsel dieser – wird in mehreren Folgen behandelt.
Allerdings könnte man die Serie aus polyamorer Sicht wiederum durchaus eher als schaurig-fröhlichen Verkehrsunfall einer überraschend traditionell-konservativen Gesellschaftsmoral betrachten.
Denn einerseits: Zwischen Assistenz- und Oberärzten wird heftig geflirtet und gepimpert, was das Zeug hält. Da gibt es reihenweise mal Verliebtheits-, mal Trost- und selbst Vergeltungssex…
Aber andererseits: Genau genommen ist diese bunte Reihe, in der mit schöner Regelmäßigkeit Mißverständnisse im Raum stehen gelassen werden, man sein Gegenüber möglichst unvorteilhaft falsch auffasst und vom Anderen im Zweifel die negativsten Beweggründe annimmt, bloß eine einzige lange Jagd nach der oder dem letztendlich „Einen“.
Und so ist das Etikett „LGBTQ“ auch leider nur auf ein zartes Rütteln an der Heteronormativität¹ begrenzt. Ob lesbisch oder schwul: Auch diese Mitwirkenden des Regenbogens suchen wie selbstverständlich nur ihr eines seelenverwandtes Gegenüber, um mit diesem für den Rest des Lebens fortan glücklich zu sein. Gleichfalls die Transperson, die erwartungsgemäß ebenso auf ein Dasein an der Seite einer anderen Person hofft, die sie so akzeptiert, wie sie ist… – …aber die Betonung bleibt eben auf „einer“.
Weil also die Serie in dieser Eigenschaft so hinreißend mononormativ² daherkommt, scheint sie schon dadurch auf den ersten Blick jenes oben erwähnte (Schlacht)Fest an allüberall aufflammendem Beziehungs-Chaos zu versprechen.

Zum einen ist das rege Bäumchen-wechsel-dich-Spiel mit variierenden Genital-Kontakten ja gewissermaßen ein stillschweigend legitimierter Frei- und Erkundungsraum der monoamoren Gesellschaft für sich ausprobierende Single-Menschen. Dafür werden selbst Kollateralschäden in Kauf genommen – denn schließlich geschieht dies alles in dem allgemein anerkannten Bestreben, das beste/passendste Pendant für sich zu finden.
So werden mit schöner Regelmäßigkeit Herzen gebrochen, heiße Bindungsschwüre geschworen, Beziehungskisten gezimmert, zusammen Wohnraum bezogen und sogar hastig geheiratet, nur um auf dem umkämpften Terrain die beste Partie zu sichern.
Und so kommt es, wie es kommen muß: In gleichermaßen schöner Regelmäßigkeit trennen sich die auf diese Weise konfigurierten Partnerschaften dann doch schließlich wieder; oftmals, weil plötzlich doch Seiten am Partnermenschen auftauchen, die man im Eifer des Gefechts völlig übersehen hatte – oder weil der eigene Glaube, da draußen könne eventuell doch noch ein genauer passendes Exemplar Partnermensch existieren, schließlich – von genug Zweifeln am „Bestand“ genährt – die Oberhand gewinnt…

Zum anderen wird die soeben beschriebene Dynamik obendrein durch den etwas kauzigen Anspruchs des mononormativen Ideals verstärkt, daß dieses „Spiel“ selbstverständlich zu dem Zeitpunkt aufzuhören hat, wenn der*die*das „Eine“ gefunden/errungen worden ist.
Wurde gerade noch mit der Hoffnung auf Erfahrungsgewinn und dem Sortieren von Kompatibilität durch diverse Betten getobt, so soll diese hormonelle Wallfahrt exakt in dem Moment enden, in dem an ihrem Ende der „heilige Gral“ der größtmöglichen Passgenauigkeit in Form des künftigen Lebenspartners gefunden wurde. Auch diese reichlich utopische, und menschlichen – sowie vor allem ganz individuellen – Wesenszügen so gar nicht angepaßte, Maxime leistet in der Serie (wie ja auch in der Realität) dem Zuspitzen der Dramatik, allerhand Leid und schließlich etlicher sich als alternativlos aufdrängenden Trennungen zusätzlich Vorschuß.

All die Zuschauer*innen der Serie, die bereits zuvor ohnehin gewisse Zweifel am „ewig zweisamen Bund fürs Leben“ hegten, reiben sich spätestens da stets aufs Neue die Hände: Grey’s Anatomy bestätigt wieder und wieder im Spiegel einer Fernsehserie die offensichtlichen Gründe für nach wie vor hohe Scheidungsraten³ – und damit genau genommen auch die strukturelle Dysfunktionalität dessen, was von ihren Kritiker*innen (speziell in der Beziehungsanarchie) als bigotte Mogelpackung „RZB“, der „Romantischen Zweierbeziehung“, tituliert wird.

Wir Leser*innen dieses bLogs – und auch ich als Schreibender – können diese Betrachtungsweise wahrscheinlich nachvollziehen. Denn ein Leben in Mehrfachbeziehungen konfrontiert uns ja exakt mit diesen Erscheinungen, bei denen man den Charakteren der Serie am liebsten gelegentlich zurufen möchte: „Hey, habt ihr euch schon einmal überlegt, was wäre, wenn ihr euch jetzt nicht zwischen zwei Leuten entscheiden müsstet!?“
Die Dynamik von Grey’s Anatomy, die davon lebt, daß es immer wieder darum geht, sich, selbst unter größten Schmerzen für alle Beteiligte, zu entscheiden, wäre selbstverständlich sogleich verpufft. Egal, ob bei der vorehelichen „Jagd“ stets immer nur ein Ziel in serieller Manier verfolgt und umworben werden darf – oder ob nach dem „Zieleinlauf“ ab sofort unantastbare Zweisamkeit zu herrschen hat, bzw. anderweitig sofortige Beziehungsauflösung die Folge sein muß.

Wir (ich schreibe das jetzt mal so kollektiv), das „Mehrfachbeziehungsvolk“, wissen indessen, daß wir durchaus in mehreren romantisch-intimen Liebesbeziehungen mit verschiedenen Menschen zugleich sein können. Und wir wissen, daß unsere Gefühle für zusätzliche weitere Personen auch dann aufkommen können, wenn wir uns bereits in „festen“ Partnerschaften befinden – und diese Verbindungen dürfen parallel existieren und müssen einander nicht unvermeidlich ablösen.
Ein Denken in Mehrfachbeziehungen begrüßt letztendlich das „und“ – und empfindet ein „oder“ als vorab reduzierende Konvention.

Warum schlagen wir uns aber in Mehrfachbeziehungen dann nicht so viel besser?
Wenn Grey’s Anatomy ihr „LGBTQ-Prädikat“ ernster nähme, wenn die Serie nicht nur Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung, sondern auch Beziehungsformen und Liebesweisen inkludieren würde – wäre sie dann automatisch weniger hochdramatisch?
Ich glaube leider nicht, denn auf den zweiten Blick sind die Schlußfolgerungen, welche die Fernsehserie bezüglich unseres allgemeinen zwischenmenschlichen Beziehungs- und vor allem Beziehungsanbahnungsverhaltens nahelegt, dennoch ebenfalls für Mehrfachbeziehungen überwiegend anwendbar.

In den vergangenen Wochen habe ich mich nach einiger Zeit wieder verstärkt durch verschiedene Foren rund um unser Thema gelesen – und müsste nun zugeben, daß es häufig nicht gar so sehr anders in Mehrfachbeziehungswelten zugeht als in vorabendlicher Serienlandschaft.
Vor allem zwei Brennpunkte, welche die Macher*innen der Serie Grey’s Anatomy für stete Spannungsbögen regelmäßig bedienen – und die ich oben bereits kurz habe anklingen lassen – verwandeln auch für Beziehungen mit mehr als nur zwei Beteiligten das Leben rasch zum Melodram auf ganzer Linie.

Zu viel – zu schnell
Im Krankenhaus erfolgt das Kennenlernen bei der Arbeit, es folgt ein rasanter Flirt, bei dem sich Freunde und Bekannte noch mit Tipps und Spekulationen beteiligen dürfen – und nicht lange und die Kernbeteiligten finden sich zu einem körperlichen Stelldichein (meist) im Bereitschaftsraum der Klinik wieder. Das alsbaldige Herbeiführen einer sexuellen Begegnung scheint unumstößlich zum Kennenlern-Kanon zu gehören – und danach ist es entweder sofort „große Liebe“ oder wenigstens ein Fegefeuer entfachter Leidenschaften, weil irgendwelche Details nicht geklärt sind – was aber in jedem Fall auf Wiederholung und Fortsetzung drängt. Und weil das Nahumfeld ja den schwindelerregenden Prozess entsprechend mitbekommen hat und nun mit der flott initiierten Sexualität gewissermaßen „Tatsachen“ im Sinne gesellschaftlich akzeptierter Paarbindung geschaffen wurden, muß schnell der Rest einer vollumfänglichen Beziehung hinterheretabliert werden. Zumindest für den Augenschein – und wenigstens so weit, daß man sich selbst (und das potentielle Partnerwesen) davon mitüberzeugt (siehe dazu auch vorherigen Eintrag 89).
Zu Anfang dieses heutigen Eintrags habe ich die zugrundeliegende Moral von Grey’s Anatomy als „überraschend traditionell-konsevativ“ beschrieben.
Vielleicht ist die Serie aber durchaus tiefgründiger, weil sie das gezeigte hektische Verhalten der Beteiligten – mit dem sie manchmal den Untergang einer Beziehung zusätzlich noch schneller betreiben, als ihnen bewußt ist – gegen eine innere Sehnsucht ausspielt: Nämlich dem Wunsch nach Kennenlernen und gesehen-Werden, um sich über die Perspektive für echte Vertrautheit klar zu werden.
Monogamie mag uns als eine Art etwas seltsame (und im Kern vermutlich unnötige) Selbstbeschränkung vorkommen. Was in der Monogamie jedoch eben vielleicht für „nur einen“ Partnermenschen gilt, das gilt für uns in der Poly- oder Oligoamory doch auch. Die oben beschriebene, für Serien so sehr geeignete „Jagd“ ist lediglich das übriggebliebene Zerrbild einer Hoffnung, die in uns allen wohnt: Menschen um uns zu haben, die uns so annehmen, wie wir sind. Und im Gegenzug dafür Menschen um uns zu sammeln, denen wir trotz all ihrer Eigenheiten vertrauen.
Auch in der Poly- und Oligamory lassen wir uns aber oft zu schnell davon hinreißen, diesen Prozeß abzukürzen – oder möglichst schon das Ergebnis der Entwicklung vorzuziehen. So schaffen auch wir überstürzt „Tatsachen“ bei denen sich eventuell nach kurzer Zeit gleich mehrere Personen damit auseinandersetzen müssen, daß bestimmte Grundlagen, die genau für gemeinschaftliches Vertrauen, angemessene Wert-Schätzung und Gewißheit, die auf gesammelten Erfahrungen beruht, schlicht fehlen. Wodurch Selbst- und Fremdverunsicherung beginnen um sich zu greifen, profane Eigenschaften zu schwer erträglichen Eigentümlichkeiten werden und genau der Beziehungsfrieden, nach dem alle Beteiligten eigentlich für sich auf der Suche sind, sich genau nicht mehr einfinden wird.
Was direkt zum nächsten Punkt führt.

Stets das Schlimmste annehmen
Bei Grey’s Anatomy ist es gewissermaßen schon Manier: Die Charaktere, selbst wenn sie befreundet sind, schaffen es immer wieder, sich in drastischster Form mißzuverstehen. Dabei hilft enorm, niemals nachzufragen, sich hingegen sicher zu sein, was das Gegenüber will, braucht oder beabsichtigt – und natürlich: die Handlungen der anderen Personen so auszulegen, als ob diese bei ihrem Vorgehen den Vorsatz zu größtmöglicher Schadensverursachung hatten.
Wenn es keine Fernsehserie wäre, könnte man sich als Betrachter wundern, wie dies allein unter Menschen möglich ist, die einerseits einem engen Freundeskreis angehören und dort z.T. die biographischen Hintergründe von einander kennen – und die anderseits täglich buchstäblich Hand in Hand aufeinander abgestimmt arbeiten müssen, um Leben zu retten…
Aber nicht jede*r von uns muß täglich Leben retten – ok, abgesehen vom eigenen – oder?
Unsere menschlich-evolutionär verankerte Negativerwartung (siehe dazu auch Eintrag 43) trübt uns jedoch schon bei normal-etablierten Alltagsbedingungen gelegentlich die Sicht. Oft kommt dazu noch eine weitere ebenfalls typisch menschliche Eigenschaft, nämlich die Tendenz, Maßgaben des eigenen Handelns auch für alle Anderen als Allgemeingültig anzusehen (übrigens auch eine kognitive Verzerrung aus Eintrag 89: die Verzerrungsblindheit) – und dadurch Abweichungen davon als unklug oder geradewegs als absichtlich niederträchtig zu gewichten.
Wenn dazu nun noch ein weiterer Keim der Unsicherheit unsere so bestenfalls dösenden („schlafend“ wäre ja eine Beschönigung…) Hunde weckt, dann nehmen die meisten Angelegenheiten – speziell in Beziehungsdingen – einen wahrhaft unschönen Verlauf.
Insbesondere im Verbund mit dem oberen Abschnitt „Zu viel – zu schnell“ stellen sämtliche Beteiligte in sich eventuell fest, daß – um eine Tennis-Metapher zu benutzen – zu hastig zum Netz geeilt wurde – und noch überhaupt nicht genügend zu einer Verbindlichkeitsgrundlage beigetragen worden ist, die das Verhalten der übrigen beteiligten Personen als berechenbar oder (ausreichend) verlässlich erscheinen läßt. Dies gilt in so einem Moment selbstverständlich in besonderem Maße für potentiell neu hinzukommende Menschen, die gerade noch in der Kennenlernphase stecken. Dies kann aber auch urplötzlich für Bestandspartner*innen gelten, mit denen wir uns schon lange in gefestigten Beziehungsmustern wähnten.

Polyamory – und Oligoamory – sind Lebens- und Liebesweisen, die von ihrer Konzeption her diesen menschlichen Ausprägung mit gemeinsamen Werten entgegenkommen wollen.
Weil eben Fiktionen wie Grey’s Anatomy aber auch z.B. der Harry-Potter-Zyklus“ in ihrer Dramaturgie davon profitieren, daß selbst nahestehende Personen, die auf der gleichen Seite stehen, schlicht nicht miteinander sprechen, wollen die obengenannten Formen von Mehrfachbeziehung betonen, daß Gleichberechtigung und Teilhabe in einem Beziehungsnetzwerk elementar sind; daß dort jede Stimme, jede Idee, auch jedes Bedenken, gleichwürdig und auf Augenhöhe sowohl ausgedrückt als auch wahrgenommen werden sollte.
Dies bildet die Grundlage dafür, daß alle Beteiligten sich trauen, wirklich aufrichtig und transparent (= offen, zugänglich und unmittelbar) zu sein, wodurch es überhaupt erst eine Basis für gemeinsame Vertrauensarbeit und wahres Kennen-Lernen, was seinen Namen verdient, gibt. Wenn alle nach und nach auf diese Weise gewahr werden, daß auch die anderen Personen ihren Beitrag zum „Ganzen“ anerkennen, beginnt sich Verläßlichkeit auszubilden – und aus der kann irgendwann dann tatsächliches Vertrauen wachsen.

An einem etwas unwahrscheinlichen Ort habe ich dazu ein erstaunlich passendes Zitat gefunden. Robert Pölzer, Chefredakteur der Zeitschrift „Bunte“, schrieb zur Krönung des britischen Monarchen König Charles III. (Ausgabe 20/2023):
»Werte machen wehrhaft. Werte sind das Fundament der Liebe. Denn Liebe ist ohne aufrichtige Werte keine Liebe, sondern nur ein Spiel. Nur wer mit dem Herzen gibt, kann wahre Liebe erfahren.«

Wenn Herr Pölzer „wehrhaft“ sagt, dann meint er „widerstandsfähig“. Und Widerstandsfähigkeit benötigen wir – in all unseren menschlichen Nahbeziehungen – weil unsere Bedürftigkeiten eben eher dazu angelegt sind, uns hinzureißen, insbesondere in den Momenten, in denen wir unbewußt oder selbstvergessen, wie der sprichwörtliche Esel der Karotte, nur unserer nächstliegendsten Neigung folgen.
Über Widerstandsfähigkeit – gelegentlich auch Resilienz genannt – verfügen wir alle in unterschiedlichem Maß bereits seit unserem Aufwachsen. Aber nach heutigem Stand der Wissenschaft ist sie auch etwas, das wir in unserem weiteren Leben ausbauen dürfen.
Ich glaube daher fest, daß wir dahingehend wie gute Ärzte für uns handeln können:
Ein solides Fundament pflegen, unseren (Mehrfachbeziehungs-)Werten treu sein, im Zweifel das Tempo drosseln und lieber sorgsam statt überstürzt handeln – und zuversichtlich niemals gleich vom Schlimmstmöglichen ausgehen.
Denn so bedenklich, daß es einer OP bedarf, ist es im Liebesleben in fast allen Fällen, die ich je erlebt habe, normalerweise nicht.
Heute ist ein guter Tag, um Leben zu retten.



¹ Heteronormativität bezeichnet eine Weltanschauung, welche die Heterosexualität als soziale Norm postuliert. Zugrunde liegt eine binäre Geschlechterordnung, in welcher das anatomische/biologische Geschlecht mit Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle und sexueller Orientierung gleichgesetzt wird. Das heteronormative Geschlechtermodell geht von einer dualen Einteilung in Mann und Frau aus, wobei es als selbstverständlich angesehen wird, dass eine heterosexuelle Entwicklung vorgesehen ist und damit der „normalen“ Verhaltensweise entspricht – andere Aspekte der menschlichen Sexualität werden oftmals pathologisiert. Damit können Homophobie und andere Formen der sozialen Menschenfeindlichkeit einhergehen. Der Begriff der Heteronormativität ist zentral in der Queer-Theorie, welche die Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt.

² Mononormativität bezeichnet die Annahme, dass romantische und sexuelle Beziehungen nur zwischen zwei monogamen Partnern bestehen können oder normal sind, sich also auf Praktiken und Institutionen beziehen, die monosexuelle und monogame Beziehungen als grundlegend und „natürlich“ in der Gesellschaft bevorzugen oder bewerten (Quelle: Englischsprachige Wiktionary)

³ …aber steigen tun sie – entgegen medialer Gerüchte – nicht mehr; siehe HIER (Quelle: Statista)

Der letzte Satz des heutigen Eintrags stammt natürlich von der beliebten Serienfigur Dr. Derek Shepherd (Patrick Dempsey).
Und ja: In Staffel 15 Folge 13 „Gratwanderung“ wird kurz über die Möglichkeit von Senioren-Polyamory spekuliert. Aber auch in dieser Folge bleibt es genau lediglich bei Spekulation.

Danke an das National Cancer Institute auf Unsplash für das Foto!