Eintrag 62

Bedeutsame Beziehungen (Teil 1)

»Jeder will geliebt werden – niemand will verletzt werden. Aber man kann das eine nicht haben ohne das andere zu riskieren.«

[Zitat der Figur „Cleo“ (dargestellt von Riann Steele) in der britischen Sitcom Lovesick]

Das erste Mal, daß ich die Wendung „bedeutsame Beziehungen“ im Zusammenhang ethischer Nicht-Monogamie zur Kenntnis nahm, war in dem mittlerweile weit verbreiteten, englischsprachigen Polyamorie-Ratgeber „More Than Two¹ von Franklin Veaux und Eve Rickert. In ihrem umfangreichen Werk fordern die beiden Autoren dazu auf, daran zu arbeiten möglichst „bedeutsame Beziehungen“ zu führen – im Englischen „meaningful relationships“. Die deutsche Übersetzung „bedeutsam“ für „meaningful“ gibt – Wort für Wort übertragen – genau genommen nicht den gesamten Gehalt des englischen Begriffs wieder, welcher nämlich auch „sinnstiftend“, „wichtig“ oder sogar „belangvoll“ meinen kann.
Was F. Veaux und E. Rickert aus ihrer Sicht – quasi als Konzentrat – unter „meaningful/bedeutsam“ verstehen, erklären sie etwa in der Mitte ihres Buches, wo sie zusätzlich den Begriff „empowered relationships“ ergänzen – übersetzt also etwa: „ermächtigte/befähigte Beziehungen“, vielleicht auch „gestärkte Beziehungen“. Dazu schreiben beide:

»Menschen, die in ihren romantischen Beziehungen ermächtigt sind, können Bedürfnisse äußern und darum bitten, dass sie erfüllt werden. Sie können über Probleme sprechen. Sie können sagen, was für sie in Ordnung ist, und hoffen darauf, dass ihre Partner*innen versuchen werden, ihren Bedürfnissen so weit wie möglich entgegenzukommen. Es ist nicht möglich, eine Person dazu zu bringen, sich ermächtigt zu fühlen, genauso wenig wie es möglich ist, eine Person dazu zu bringen, sich sicher zu fühlen. Das Beste, was wir aber tun können, ist, ein Umfeld zu schaffen, welches Partizipation begrüßt und zur Ermächtigung auffordert.[…]
Nicht-monogame Beziehungen machen darum oftmals die Kluft zwischen der Wahrnehmung unserer Wirkmächtigkeit und der Realität unserer Wirkmächtigkeit deutlich:
Denn es ist oft einfacher, die Wirkmächtigkeit einer anderen Person zu sehen als unsere eigene.
Wenn unser*e Partner*in eine neue Beziehung beginnt, sehen wir vielleicht, wie er/sie/es in die neue Beziehung investiert, und wir fühlen uns machtlos – ohne zu erkennen, wie die etablierten Strukturen, die Geschichte, die (Selbst)Verpflichtungen und die gemeinsame Lebenserfahrung in unserer bereits bestehenden Beziehung uns ein enormes Maß an Wirkmächtigkeit geben.
Ohne dieses starke innere Gefühl von Vertrauen, Sicherheit und Wertigkeit wird es uns fast unmöglich sein, uns unseres Einflusses in unseren Beziehungen bewusst zu werden. Wenn wir uns wertlos fühlen, fühlen wir uns abgehängt.[…]
Ermächtigte Beziehungen basieren daher auf Vertrauen: Vertraut darauf, dass eure Partner*innen euch wertschätzen und unterstützen wollen. Vertraut darauf, dass eure Partner*innen auf eure Bedürfnisse eingehen werden, wenn Ihr sie kundtut. Dies erfordert Mut.
Beziehungen auf einem gemeinsamen Verständnis von Bedürfnissen aufzubauen bedeutet, den Mut zu haben, sich einem negativen Gefühl zu stellen und zu fragen: „Was sagt mir dieses Gefühl? Gibt es ein Bedürfnis, das nicht erfüllt wird? Gibt es etwas, das ich tun kann, um meine Liebsten als Verbündete im Umgang mit diesem Gefühl zu gewinnen?“
Wenn du die Person bist, deren Partner*in eine emotionale Notlage erlebt, kann es verlockend sein, dieses Kapitel in der Art zu lesen, dass du sagst: „DU hast die Verantwortung, mit deinen eigenen Emotionen umzugehen – also möchte ich nicht, dass du mir Einschränkungen auferlegst!“ Das ist teilweise richtig, in dem Sinne, dass du die Probleme eines*r anderen nicht für ihn*sie lösen kannst; und wenn dein*e Partner*in dir Einschränkungen in deinem Verhalten auferlegt, lösen diese Einschränkungen selten das eigentliche Problem. Aber es ist ein Fehler, das, was Douglas Adams ein „Nicht-mein-Problem-Feld²“ nennt, in dieser Weise um die Notlage eines Lieblingsmenschens herum zu erzeugen. Wenn Du jemandem zugetan bist, willst du helfen. Sich mitfühlend zu verhalten bedeutet, gemeinsam an der Überwindung von Beziehungsproblemen zu arbeiten. Nur so werden Beziehungen stark und gesund. […] Resilienz im Angesicht von Widrigkeiten ist ein mächtiges Werkzeug, um glückliche Beziehungen aufzubauen.«


Ganz genau genommen beschreiben Veaux und Rickert mit dem vorhergehenden Text das, was auch die Wissenschaftler S. Cohen, L. Underwood und B. Gottlieb in ihrem „Leitfaden zur Förderung sozialer Unterstützungsfaktoren“ (erstmals zitiert von mir in Eintrag 14) betonten:
»Intimität/Vertrautheit bzw. Nähe ist ein grundlegender Prozess, der so definiert wird, dass man sich darin von den Partnern verstanden, bestätigt und berücksichtigt fühlt, die sich ihrerseits der Tatsachen und Gefühle bewusst sind, die für das eigene Selbstverständnis von zentraler Bedeutung sind.
Zu dieser Empfindung tragen Vertrauen (die Erwartung, dass die Partner wichtige Bedürfnisse respektieren und erfüllen) und Akzeptanz (die Überzeugung, dass die Partner einen als die Person die man ist annehmen) bei.
Empathie ist dazu ebenfalls wichtig, weil sie Bewusstheit und Wertschätzung für das Kernselbst eines Partners signalisiert.
Gleichermaßen trägt Zuneigung zur wahrgenommenen Zugewandtheit der Partner bei – sogar unabhängig von Aufeinanderbezogenheit oder Einmütigkeit – nämlich genau wegen der wesentlichen Rolle des Wahrnehmens, dass man es aus deren Sicht wert ist und daher sehr sicher sein kann Liebe und Zuwendung von den Liebsten zu erleben.
«

Hinsichtlich aller obigen Aussagen „schwingt die Tür“, wie das schöne Sprichwort sagt, „in zwei Richtungen“ – und beiden „Richtungen“ habe ich bereits einen eigenen bLog-Eintrag gewidmet:
In Eintrag 46 machte ich zunächst deutlich, daß – wie auch Veaux und Rickert schildern – wir zunächst selber eingeladen sind, unser „Kernselbst“ dahingehend erforschen und kennenlernen zu wollen, so daß wir überhaupt erst einmal ein gutes Verständnis für unseren eigenen Selbstwert entwickeln können.
Und in Eintrag 53 beschreibe ich, wie bedeutsam es für uns Menschen ist – insbesondere als Beteiligte an einer (Liebes)Beziehung, von den anderen Beteiligten „mit-hineingedacht“ zu werden. Alle oben zitierten Beziehungsexpert*innen sind sich darin einig, daß dafür ein vertrauensvolles Miteinander grundlegend ist, welches sowohl ein positives Klima für das Ausleben von Selbstwirksamkeit als auch das Erleben von „in-dieser-Selbstwirsamkeit-wahrgenommen-und-respektiert-Werden“ ermöglicht. Gekrönt wird diese Form wahrgenommener Selbstwirksamkeit schließlich mit dem allseitigen Beitragen zu dem damit ausgedrückten Streben nach Identität, Lebensgestaltung und Sinn jedes beteiligten Individuums.
Nur auf diese Weise entsteht für eine Beziehung gleichzeitig aber auch die so wichtige überpersönliche, gemeinsame Identität, ein Zusammen-Leben und ein Gemeinschafts-Sinn – und zwar in einer Version, in der sich alle Beteiligten selbst wiederfinden und in der sie darum sich und die anderen wohlwollend annehmen können.

Von hier aus ist es dann kaum noch ein kleiner Schritt, um zu erkennen, daß diese „Bündel-Lösung“ nur als unauflösliches Gesamtpaket zu haben ist, wodurch sie darum auch nur ganzheitlich funktioniert. Denn, um mich selbst aus meinem Ganzheits-Eintrag 57 zu zitieren »’Ganzheitlich‘ ist jeder Wunsch, jeder Gedanke, jede Handlung, wenn der daraus resultierende Vorgang möglichst vielen (oder noch besser: allen!) Beteiligten, die mit dem Vorgang zu tun haben, nutzt.«

Um dazu allerdings wirklich in der Lage zu sein, müssen wir – neben Selbst-Anerkennung und Fremd-Mitheineindenken – eine weitere unglaublich wichtige Eigenschaften trainieren, die auf meinem bLog immer schon einmal im Hintergrund hervorschimmerte (z.B. in Eintrag 33), nämlich die Ambiguitätstoleranz. Dieses eckige Wort wird angesichts weltweiter Krisen und zunehmender klaffender gesellschaftlicher Scheren derzeit wieder häufiger im Munde geführt – und „Ambiguitätstoleranz“ bedeutet schlicht „die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen. Ambiguitätstolerante Personen sind in der Lage, Ambiguitäten, also Widersprüchlichkeiten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder diese einseitig negativ oder – häufig bei kulturell bedingten Unterschieden – vorbehaltlos zu bewerten.“ (Wikipedia)
„Ambiguitätstoleranz“ ist also aktuell wieder ein rares, jedoch höchst nachgesuchtes Gut. Und das ist kein Wunder, da wir als „Kinder der Trennungsrealität“ (siehe Eintrag 26) aus angelernten Automatismen heraus reflexartig eher zum Fremdverurteilen und zum „uns-als-getrennt-von-etwas-Erklären“ hin tendieren. Und zwar leider sowohl was „die Anderen“ betrifft, als auch was eventuell widersprüchliche oder ungefügte Anteile unseres Kernselbst angeht³. Womit wir uns gewöhnlich genau den Weg zu nachhaltiger Beziehungsführung verbauen, die, wie der Psychologe und Gemeinschaftsforscher Scott Peck aufzeigte, auf Toleranz und Integration beruhen möchte:
»Gemeinschaft und Liebesbeziehungen verlangen von uns, dass wir es ein bisschen aushalten, wenn es ungemütlich wird. Beides verlangt ein gewisses Maß an Verbindlichkeit. Unser Individualismus muss durch Verbindlichkeit ausgeglichen werden. […] Vielleicht ist der wichtigste Schlüssel zum Erreichen dieses Ziels das Anerkennen von Unterschieden.«
Diese Textstelle habe ich bereits in Eintrag 33 angeführt, der Eintrag, in dem ich auch einen Song der Sängerin ‚Alice im Griff‘ zitiere. Ihr Lied zeigt für mich sehr schön, wo auf persönlicher Ebene Selbstverleugnung (einen AfD-Wähler daten) an Ambiguitätstoleranz grenzen kann (einem Omnivoren sein Fleischgericht lassen). Die Ambiguitätstoleranz mit Scott Pecks berühmter integrativer Frageformulierung „Warum denn nicht?“ muß in ethischen Mehrfachbeziehungen – insbesondere nach oligoamorem Modell – gewissermaßen unser alltägliches „Brot und Butter“ sein. Gerade weil wir dort sehr schnell selbst auf der „anderen Seite“ dieser Frage stehen können, wenn es um das „uns-Zumuten“ und für die anderen um das „uns-Aushalten“ geht. Diesen Zusammenhang beschreibe ich ausführlich in Eintrag 43, an dessen Ende ich zusammenfasse »Ohne die „Zumutung“ die wir für unsere vertraute Gruppe auf diese Weise vermutlich gelegentlich sind, könnten wir jedoch beim nächsten oder übernächsten Mal auch nicht ihr Held oder ihre Quelle allseitigen Wohlergehens werden. Mensch zu sein, miteinander zu sein, bedeutet, beides regelmäßig zu akzeptieren – an uns, wie auch an den Anderen.«

Das Zumuten oder Aushalten fällt uns aber emotional trotzdem immer noch häufig genug so schwer, daß wir uns regelmäßig wieder in die (künstliche) Trennung³ flüchten, damit „das alles da“ hoffentlich möglichst wenig mit uns zu tun hat. Womit wir uns aber sofort auch unserer Fähigkeiten zu Empathie und einfühlsamen Perspektivwechsel berauben. Wie lautete da gleich das Gandhi-Wort aus Eintrag 54: »Du und ich – wir sind eins: Ich kann Dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen.«…
Unsere wiederkehrende Flucht in die Trennung ist also auf das ganzheitliche „Wir“ bezogen in etwa so, als ob wir selbst uns einen Arm oder ein Bein abtrennen würden: Stets schmerzhaft und dramatisch behindernd!

Wir sollten uns das nicht länger antun. Und das „uns“ meine ich an dieser Stelle sehr global, geradezu transpersonal. Denn Trennung ist künstlich, sie muß es ja sein, da sie doch immer nur eine recht dürftige Zuflucht ist, wenn wir in unserer Angst oder ähnlicher Bedrängnis nicht mehr wissen, wohin mit uns selbst.
Verbundenheit ist unser eigentlicher und natürlicher Zustand (siehe dazu auch Jean Liedloff in Eintrag 26), unser echter, ganzer und heiler Zustand.
In seinem genialen Werk Der Wolkenatlas läßt der Autor David Mitchell eine seiner Hauptfiguren erkennen:
»Alle Grenzen sind Konventionen, die darauf warten, überwunden zu werden. Man kann jede Konvention überwinden, wenn man sich dies zunächst wenigstens erst einmal vorstellen kann. In solchen Momenten spüre ich deinen Herzschlag so deutlich wie meinen eigenen, und ich weiß, dass Trennung eine Illusion ist. Mein Leben reicht weit über die Begrenzungen meiner selbst hinaus.«

Mit unserem Schritt in die Welt ethischer Nicht-Monogamie, wenn sie wirklichen diesen Namen verdient hat, haben wir bereits viele Konventionen überwunden.
Und indem wir beginnen, unsere menschlichen Verbindungen ganzheitlich zu denken, können wir in Beziehungsdingen trennende Kategorien wie „Freunde“, „Bekannte“, „Familie“, „Liebste“ zum Zwecke der Begrenzung von Gefühlsausdruck oder Erlebensmöglichkeit unterlassen.
Oligoamor wird es, wenn wir darin bei unserem Qualitätsmanagement danach streben, einer alle Zeiten und viele Kulturen umfassenden Ethik zu folgen, die Immanuel Kant 1785 in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten einmal folgendermaßen beschrieb (und die aber in vielen anderen Formen weltweit existiert):
»Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck (=Ziel), niemals bloß als Mittel (=Werkzeug/Methode) brauchst.«
Die jahrhundertealten buddhistischen und hinduistischen Dharmalehren besagen es noch kompakter:
»Füge nichts und niemandem Schaden zu – auch nicht Dir selbst.«
Und F .Veaux und E. Rickert konkretisieren:
»Schätze deine Partner*innen. Schätze dich selbst. Vertraue deinen Partner*innen. Sei selbst vertrauenswürdig. Respektiere die Gefühle der anderen und deine eigenen. Suche nach Freude für alle Beteiligten.
Steh zu deinem Sch#§$. Gib zu, wenn du Mist gebaut hast. Vergib, wenn andere Mist gebaut haben. Versuche nicht, Menschen zu finden, die du in die leeren Räume in deinem Leben stopfen kannst; stattdessen schaffe Platz für die Menschen in deinem Leben. Wenn du eine Beziehung brauchst, nur um dich vollständig zu fühlen, besorg‘ dir einen Hund.«


Besser könnte ich es nun auch nicht mehr sagen.

¹ Das „Standardwerk“ zur ethischen Non-Monogamie ist für mich nach wie vor das leider bislang nicht auf Deutsch vorliegende Buch von Franklin Veaux und Eve Rickert „More Than Two – A practical guide to ethical polyamory“, Thorntree-Press 2014.

² aus: Douglas Adams „Das Leben, das Universum und der ganze Rest“; Band 3 seiner fünfbändigen »Intergalaktischen Trilogie«

³ „Ach komm, Oligotropos. So ein bisschen Trennung oder Abgrenzung ist doch normal-menschlich und gesund, damit sich nicht alles in so einem großen Gleichgültigkeitsbrei auflöst…“
Ist das so? Die von mir in Eintrag 39 erstmals zitierte Philosophin Hannah Arendt setzte sich ihr Leben lang mit der wissenschaftlichen Aufbereitung des Phänomens auseinander, wie grausig massenmordende Nazi- und KZ-Kommandeure abends gleichzeitig als liebende Väter und Ehemänner in ihren Familien interagieren konnten oder auch feinsinnige Rührung während der Klänge klassischer Violinkonzerte empfanden.
Die moderne Forschung hat offengelegt, daß ihnen dies nur durch eine kategorische und nahezu dissoziative „Verortungstrennung“ im Kopf gelang, die in den völkischen Strukturen des dritten Reichs einen traurigen Höhepunkt erlebte. Daß dafür ein über sehr lange Zeit gewachsenes, gesellschaftliches Klima von Isolationismus und Spaltung notwendig war, welches ein trauriges Beiprodukt abendländisch-dualistischer Geisteshaltung ist, zeigen jedoch z.B. Filme wie Das weiße Band. Diese Geisteshaltung ist bis in unsere heutige Gegenwart Teil dessen, was in Eintrag 26 als Trennungsrealität bezeichnet wird.

Danke an Tyler Nix auf Unsplash für das Foto!