Eintrag 63

Bedeutsame Beziehungen (Teil 2)

…und HAPPY 2nd BIRTHDAY – OLIGOAMORY!

»In der Gesellschaft greift eine Epidemie um sich…
…die mehr als 40 % der Bevölkerung bedroht. Ihre Auswirkungen auf unsere Gesundheit sind so schlimm wie das Rauchen. Sie ist schlimmer als Fettleibigkeit. Sie setzt uns einem größeren Risiko für Herzkrankheiten, Demenz, Depressionen und Angstzustände aus. Sie hemmt unsere Leistungsfähigkeit, Kreativität, das logische Denken, die Entscheidungsfindung und die Bereitschaft, verletzlich und vertrauensvoll zu sein. Unbehandelt ist sie zermürbend. Unterm Strich verkürzt sie unsere Lebensspanne, indem sie zu einem vorzeitigen Tod, wenn nicht sogar zu Selbstmord führt. Diese Epidemie lähmt unsere Fähigkeit, eindrucksvoll zu leben und zu arbeiten.
Die Epidemie ist Einsamkeit.
Unsere Gesellschaft ist krank. Überall kämpfen die Menschen mit Einsamkeit und Depression und fühlen sich zunehmend isoliert und allein. Sieh dich um, weniger Menschen heiraten, Scheidungen nehmen zu, Süchte nehmen zu. Obligatorische Vereinzelung, Arbeit von zu Hause und virtuelle Verbindungen sind die neue Norm. Schon vor ein paar Jahren, als die Menschen gefragt wurden, wie viele tiefe, bedeutsame Beziehungen sie haben, antwortete die Mehrheit: Null! Die Menschen sind einsam.
Unser Sinn für Gemeinschaft erodiert und wir müssen das in Ordnung bringen. Einsamkeit ist das Gegenteil von dem, wie wir veranlagt sind. Wir sind für Verbindung und Zugehörigkeit geschaffen. Das kannst du nicht alleine erzeugen.
Wenn du wissen willst, wie man Einsamkeit bewältigt, lass dich nicht von trügerischen Behauptungen täuschen, die dir sagen, dass es sicherer ist, alleine zu leben. Lass dich nicht von Verschwörungstheorien leiten, die behaupten, dass niemand hinter dir steht und die meisten Menschen egoistisch und nur auf sich bezogen sind. Und lass dich nicht von dem unsinnigen Glauben leiten, dass das Bitten um Unterstützung egoistisch, schwach, verletzlich oder abhängig ist.«

Das habe nicht ich geschrieben.
Das obige Zitat stammt von der Webseite¹ der Dres. Jackie und Kevin Freiberg, die derzeit in den USA höchst namhafte und angesagte Autoren, Berater und Redner sind.
Manchmal ist es als bLogger gut, einen Blick in das zu tun, was im „World Wide Web“ als „die Blogosphäre“ bezeichnet wird: das durch Interaktion zusammenhängende Netzwerk von Weblogs weltweit.
Unter dem Stichwort „bedeutsame Beziehungen“ erhielt ich dort nämlich eine recht achtbare Anzahl von Treffern, die von ihren Inhalten her eine überraschend einmütige Stoßrichtung aufwiesen – obwohl die Autor*innen naturgemäß jeweils aus den unterschiedlichsten Motivationen und Quellen schöpften.
Die Freibergs z.B., die aktuell gewissermaßen so etwas wie „Promi-Coaches“ sind. Da sie es durch ihre Auftritte auf Großveranstaltungen und gegenüber JetSet- oder „IT!“-Publikum gewohnt sind, rhetorisch buchstäblich „den Stier bei den Hörnern zu packen“, haben sie in den wenigen obigen Zeilen unversehens einen Großteil der Konzepte markiert, die mir in der Oligoamory seit der ersten Stunde so wichtig sind: Vereinzelung vs. Gemeinschaftsbildung, die Wahl echter „Zugehöriger“, das irrige „Lob der Alleinheit“ (inklusive dessen negativer psychischer und physiologischer Folgen) – und all das unter dem Stichwort „Bedeutsame Beziehungen“ [zu dem sie nach dieser Einleitung eine 6-Punkte-Strategie folgen lassen: 1) Wage es, dich zu öffnen / 2) Pflege deine Selbstwahrnehmung / 3) Sei mutig / 4) Sei neugierig / 5) Sei echt / 6) Sei bescheiden/genügsam]. Allein, wenn ich die Überschriften ihrer 6 Punkte lese, könnte ich nicht heftiger mit dem Kopf nicken: Richtig, das genau ist es, was wir als „Rüstzeug“ brauchen, um zu bedeutsamen Beziehungen fähig zu sein.

Der bLogger Matt Valentine kommt auf seinem bLog „Buddhaimonia²“ zu einer ganz ähnlichen Einschätzung. Er resümiert:
»Es ist eines der fantastischsten Dinge auf der Welt, Menschen zu sehen, die einander helfen, sich gegenseitig zu ermutigen – um nicht zu sagen, auch eines der eindrucksvollsten.
Wir alle suchen nach bedeutsamen Beziehungen, aber die meisten von uns gehen das vollkommen falsch an. Das ist nicht unsere Schuld; die Konditionierung, die wir durch Jahrzehnte des Lebens erhalten haben, hat uns dazu gebracht, bedürftig nach Liebe, Vertrauen, Sicherheit und Ungezwungenheit in unterschiedlichem Ausmaß zu sein, und das wirkt sich oft auf die Weise aus, wie wir unsere Beziehungen in einer Art auswählen, die uns am Ende schadet.«


Mr. Valentine stellt in seinem Artikel zu „Bedeutsamen Beziehungen“ seinerseits 4 Grundvoraussetzungen in den Mittelpunkt, die er 1) Vertrauen [oder das Potential dafür]; 2) Akzeptanz der gegenseitigen Unvollkommenheit; 3) Die Bereitschaft [und Fähigkeit], du selbst zu sein; sowie 4) Beständigen Rückhalt – nennt.
Die Überschneidungen zu den Freibergs oben sind offensichtlich – allerdings betont Matt Valentine etwas stärker die „zwischenmenschliche Ebene“, der ich in der Oligoamory ebenfalls viel Raum gebe. Genau genommen weist er ebenso wie ich insbesondere darauf hin (siehe Teil 1), daß wir in „bedeutsamen Beziehungen“ erleben müssen, daß wir in unserem „So-Sein“ vollständig, ohne wenn und aber, angenommen sind PLUS dem Faktor Ermutigung, zur besten Version unserer selbst werden zu dürfen.
In seinem obigen Zitat macht Mr. Valentine (ähnlich wie ich in meinem Fassdauben-Beispiel zur Lebenszufriedenheit in Eintrag 58) ebenfalls darauf aufmerksam, daß dies gegenwärtig leider nicht unserer überwiegenden Lebenserfahrung entspricht, indem wir vorwiegend unsere aktuellen Beziehungen oft rein nach situativ verspürter „Bedürftigkeit“ auswählen (bzw. um diese Bedürftigkeit zeitweilig auszuschalten). Als Buddhist sieht auch er dies gewissermaßen als Ergebnis unserer gegenwärtigen „Trennungsrealität“ an (siehe Eintrag 26), in der wir normalerweise gewohnt sind, solche Strategien zu wählen, die unsere „Bedürfnisbefriedigung“ absichern sollen.
Auf diese Weise werden wir jedoch keine bedeutsamen Beziehungen aufbauen oder gar erleben können, ganz ähnlich dem Benjamin Franklin-Zitat: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“
Noch mehr: In bedeutsamen menschlichen Beziehungen bilden „Freiheit“ und „Sicherheit“ ein Gegensatzpaar, in dem das eine nicht um des anderen Willen zu haben ist. Die wichtigen Beziehungsbausteine „Vertrauen“, „Loyalität“ und „Unverbrüchlichkeit“ (herrlich altmodisches Wort: vereint „Verbindlichkeit“, „Aufrichtigkeit“ und „Beharrlichkeit“!) erwachsen nämlich nur aus Freiheit. „Sicherheit“ ist hingegen etwas, was eher einem Kreditinstitut als einem Lieblingsmenschen gut zu Gesicht steht, denn bei hellem Licht betrachtet bedeutet „Sicherheit“ doch letztendlich, daß es hinsichtlich des Vertrauens offenbar einen „Restvorbehalt“ gibt, ein nicht-ganz-vollständiges Zutrauen, Bedenken oder Angst bezüglich der Qualität unseres Gegenübers.
Und wenn das so ist – wie könnten wir unsere Liebsten dann jemals unsererseits wirklich rückhaltlos unterstützen – oder von ihnen Unterstützung offenen Herzens annehmen?

Den besten und geistesverwandtesten Eintrag, den ich zu „Bedeutsamen Beziehungen“ im WWW gefunden habe, stammt von der bLoggerin Elle auf ihrer Seite „ofironandvelvet.com³“.
Sie schreibt zu der obigen Fragestellung:
»Das Wichtigste, was ich in den letzten zwei Jahren bei dem Versuch, bedeutsamere Beziehungen aufzubauen, gelernt habe, ist, dass du das nicht erfolgreich tun kannst, wenn du nicht bereit bist, loszulassen.
Tiefe und geborgene Beziehungen sind nicht auf Angst aufgebaut. Du kannst nicht an jemandem festhalten, nur weil du befürchtest, das du niemanden anderen finden wirst oder du dir Sorgen machst, dass er oder sie nie wieder zurückkommen könnte.
Es ist unerlässlich zu verstehen (und sich so zu verhalten), dass die wichtigste Beziehung, die du jemals haben wirst, die zu dir selbst ist. Das Gleiche gilt für die andere Person; sie muss frei sein, das zu tun, was für sie am besten ist, und du musst bereit sein, das zu akzeptieren, auch wenn es anfangs weh tut. Und wenn du nicht bereit bist, das zu akzeptieren, dann lass sie gehen.
Lass den Versuch los, die Handlungen anderer Menschen zu kontrollieren; lass diese Art von Angst und Anhänglichkeit los. Indem du das tust, wirst du vielleicht einige Menschen entlang des Weges verlieren, aber es werden höchstwahrscheinlich die wackeligsten Kandidaten sein – du weißt schon: diejenigen, die dir von vornherein das Gefühl gegeben haben, dass du mit ihnen keine wirkliche, keine bedeutsame Beziehung geführt hattest.«


Die bLoggerin Elle faßt die Gestaltung „bedeutsamer Beziehungen“ für das eigene Leben ähnlich umfassend auf, wie auch ich es mit der Oligoamory tue; in ihrer Einleitung schreibt sie u.a.:
»Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich immer nach tieferen, bedeutsameren Beziehungen in meinem Leben gesehnt. Sei es mit meinen Eltern (die nett, aber irgendwie distanziert waren), meinen Geschwistern (örtlich weit weg) oder mit meinen Freunden. […] Ich hatte zwar Freunde und Verwandte, aber das war immer mehr oder weniger oberflächlich.«

In ihrem anschließenden Text ist es daher kaum staunenswert, daß Ratschlag 1 „Lerne dich selbst kennen“ lautet, was mich natürlich an das Kernthema der Oligoamory schlechthin erinnert und welches ich in Eintrag 46 erstmals ausführlicher beschrieben habe.
Zusätzlich enthält der bLog-Eintrag von Elle auf „ofironandvelvet“ aber noch zwei zusätzliche Gesichtspunkte, die für mich ebenfalls zentrale Anliegen der Oligoamory sind.

Zum einen ist das die schon oft betonte „Wechselseitigkeit“: Neben der schon beschriebenen „Gegenseitigkeit“ und „Aufeinanderbezogenheit“ (die ja auch in Teil 1 bereits anklang), macht Elle nämlich darauf aufmerksam, daß diese „Wechselseitigkeit“ noch darüber hinaus zwei weitere wichtige Konsequenzen enthält:
Sie betont – erstens –, daß Wechselseitigkeit nur bei auch tatsächlicher Reziprozität (Wechselbezüglichkeit) wirklich harmoniert. Sie führt dazu aus, daß dadurch alle Beteiligten an einer Beziehung in annähernd gleichem Maß bereit sein müss(t)en, aus eigenem Antrieb in die Beziehung zu investieren und die nötigen Schritte dazu zu realisieren.
Daraus folgert sie – zweitens – daß wir uns zuvor beim „uns-selbst-Kennenlernen“ in die Lage versetzt haben, auch eigene Grenzen zu setzen UND uns selbst gegebenenfalls an diese zu halten. Womit sie also zu einem soliden persönlichen „Qualitätsmanagement“ aufruft, Zitat: »Entscheide, was du bereit bist, von jemandem anderen zu akzeptieren oder nicht – und bleib dabei. Es geht nicht darum jede mögliche Entwicklung vorwegzunehmen, aber es ist wichtig, deine Grenzen zu kennen. Leider ist es oft so, dass wir diese Lektion erst beherzigen, wenn wir uns bereits einmal verbrannt haben…« [Als hochsensible Person kann ich da nur aus tiefstem Herzen zustimmen.]

Zum anderen setzt sich Elle schon mit der Anmoderation ihres Artikel für eine „Kategorienlosigkeit“ innerhalb „bedeutsamer Beziehungen“ ein, die auch für mich von Anfang an zur „DNS“ der Oligoamory zählt. Im Unterschied zur Beziehungsanarchie, welche in der Hauptsache auf eine Kategorienlosigkeit hinsichtlich der „Natur“ oder der „Art“ der Beziehung abstellt, ist es für mich in der Oligoamory eher eine Frage des „Personenkreises“ (siehe auch Zugehörige oder Dunbar-Zirkel), auf den ich mich mit der „Kategorienlosigkeit“ beziehe.
Was meine ich also damit?
Die von mir oft beklagte „Trennungsrealität“ der Gegenwart hat auch unser Denken von „Nahbeziehungen“ (und damit unsere Herangehensweise an diese) sehr stark beeinflußt und nach Maß durchgeordnet bzw. kategorisiert.
Die allermeisten Menschen die ich kenne, reglementieren dadurch in ihren Beziehungen demgemäß entsprechend strikt sowohl die erlaubte Bandbreite ihres Fühlens als auch die Spanne ihres (selbst)gestatten Ausdrucks- und Erlebenshorizonts.
Und was meine ich damit???
Z.B., daß ich ausschließlich mit (m)einer (Ehe)Frau das Bett teilen darf, mit meinem besten Freund im Höchstfall ein tiefes Gespräch führen kann, mit den übrigen Freunden Arm in Arm maximal auf einer Party oder in der Handballarena zu sehen bin, und ich beim Familienkaffeetrinken nicht zu mehr aufgefordert bin, als die gestickte Blümchentischdecke zu bewundern und Ratschlägen zu lauschen.
Dürfte ich mit meiner Schwiegermutter wahrhaft befreundet sein? Schließlich ist sie doch „Familie“…
Würde ich meine Handballkumpel mit einem echten emotionalen Geständnis überfordern? Sie sind doch „bloß Freunde“…
Und mein „bester Freund“ – wie würde der reagieren, wen ich zugäbe, daß er mich durchaus mal länger in den Arm nehmen dürfte und er irgendwie gut riecht? Das geht doch nicht…
Und meine Frau ist eben meine Frau, mit der kann ich nicht so reden wie mit meinen Freunden, aber wir haben Sex und Familie ist sie irgendwie durch die Hochzeit auch…
Verwirrend.
Warum denken wir so? Warum erlegen wir unseren Beziehungen Grenzen in der Art auf, die im Vorhinein festlegen, was dort möglich ist – und was nicht. Vielmehr: Warum übernehmen wir unhinterfragt soziale Kategorien, die offensichtlich festlegen sollen, was uns in einer bestimmten Art von Beziehung möglich sein kann?
Alle „klassischen“ Eigenschaften der „Trennungsrealität“ sind hier für mich zu erkennen: Angst, Kontrolle und (Auf)Spaltung (Kompartmentalisierung).

Wenn wir uns hingegen bedeutsame (Nah)Beziehungen als vollumfängliche, den ganzen Menschen meinende Beziehungen wünschen (und mit Nahbeziehung verweise ich mit Robin Dunbar auf die knappe Handvoll Menschen, mit denen wir uns, unser Leben, gänzlich teilen wollen), dann geht für mich aus Teil 1 und dem heute Zusammengetragenen hervor, daß ich im Lichte der zuvor erwähnten Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit diese „sozial tradierten Kategorien“ für mich nicht mehr unhinterfragt übernehmen möchte.

Die Frau, die derzeit mit mir zusammenlebt, ist für mich z.B. intime Liebste, vertrauter Lieblingsmensch, beste Freundin und Familie zugleich. Aber im Gegensatz zu den oft üblichen sozial normierten Kategorien ist keine dieser Positionen bei mir dadurch „vollständig eingenommen“ im Sinne von „schon besetzt“. Denn in meinem Herzen möchte ich lieber „zugängliche Räume“ haben anstatt „einmalig zu vergebende Posten“.
Dadurch hoffe ich im Kleinen – also in mir – das abzubilden, was ich mir von meinem Beziehungsnetzwerk im Außen ebenfalls erwünsche: ein organisches, integratives Wesen zu sein.
Falls ich das nicht täte, würde das bedeuten, daß ich doch immer irgendeinen Teil von mir aus Angst oder Vorsicht zurückhalten würde. Und das hieße, auch mit mir selbst nicht ins Reine kommen zu können, lieber im Halbdunkeln zu bleiben – gesichert im Schatten künstlicher, lebenskalter Kategorien.

Wenn ich heute aus der Einsichtnahme in die verschiedenen bLogs etwas verstanden habe, dann ist es die Erkenntnis, daß dieser Schatten für mich das gesellschaftliche Dilemma unserer allenthalben gegenwärtigen sozialen Einsamkeit bildet, inklusive des Erlebens von Isolation innerhalb vermeintlicher „Geselligkeit“. Wenn wir nicht doch noch eines Tages dieser Epidemie zum Opfer fallen wollen, liegt es an uns, heute damit anzufangen, wirklich bedeutsame Beziehungen in unseren Leben anzustreben.
Für mich jedenfalls gibt es keine heilsamere Medizin.



¹ Die Webseite der Freibergs (nur englisch): epicworkepiclife.com; die Textpassage HIER

² Die Seite von Matt Valentine (nur englisch): buddhaimonia.com; der Artikel HIER

³ Der bLog von Elle (nur englisch): ofironandvelvet.com; der Artikel HIER

Danke an Anna Shvets auf Pexels für das Geburtstagsfoto!