Eintrag 54

Alle zusammen jetzt*

Aus meinem letzten Eintrag 53 ist für mich noch ein weiterer Gedankengang hervorgegangen, der seinen Ansatzpunkt regelmäßig in fast allen Polyamory-Diskussionsgruppen immer mal wieder findet.
Da heißt es dann z.B. „Also, mein Liebster, der Konrad, der ist soooo ein toller Polypartner, nur leiderleider wäre seine Frau ja strikt monogam und deswegen würde der arme Konrad ihr ja nichts von seinen anderweitigen Polyavancen erzählen, denn das könne diese ja doch niemals nachvollziehen – der gute Konrad aber, naja, der liebt eben auch seine Frau und möchte die Verbindung zu der natürlich auch erhalten – kurz und gut: Jedenfalls darum erzählt er zuhause nix von seinem Polytum und seinen anderen Beziehungen…“
Oder es heißt „Naja, meine Freundin, die hat da in unserem Netzwerk/Polykül¹ einen Metamour², der sei in ihre Richtung total polyamor, würde das aber für sich trennen, denn auf der anderen Seite würde er für sich noch so mehrere sexuelle Affären on/off mit zwei-drei Frauen haben, das wäre aber so gar nichts Polyamores und deswegen wüßten die von seinen Partner*innen in dem Polykül nix – und von einander, also den anderen Affären, natürlich auch nicht…“.

Kurz und schlecht: Wie wollen wir es halten, wenn jemand in unserem Zugehörigen-Netzwerk aus Liebsten – in der ersten, zweiten oder dritten Reihe der Bekanntschaftsverkettung – „nicht-ethische Non-Monogamie“ ausübt – zu Deutsch: unaufrichtig in eine oder mehrere Richtungen ist bzw. betrügt?

„Ach komm, Oligotropos…“, so höre ich es jetzt quasi schon rufen, „Du bist kompromißlos, streng und kontrollierend…!“

Bin ich das?
Schon in meinem 2. Eintrag kritisiere ich Tendenzen in der polyamoren Szene, die vor allem im Namen der „freien“ oder auch „universellen“ Liebe postuliert werden, nämlich, daß unsere Liebe – wenn sie „entwickelt“ sein möchte – vor allem bedingungs- und bedürfnislos zu sein hätte. Menschen, die dieser Denkweise nahe stehen, wünschen sich, daß „liebeerfüllte“ und „reife“ Wesen »einander sein lassen« sollten, wie sie sind.
„Ok“, erwidere ich darauf, „selbstverständlich kann ich alle Menschenkinder da draußen so »sein lassen« wie sie sind, Komma – aber.“
Und „Komma – aber“ bezieht sich für mich genau auf Eintrag 53 und auch auf den darin zitierten Eintrag 33.
In diesem Eintrag 33 beschreibe ich den Stoßseufzer der Sängerin Alice, die es nicht schafft, die AfD-Mitgliedschaft ihres potentiell auserwählten Liebsten mit ihrer eigenen Ethik, ihrem eigenen Weltbild zu vereinen. Ist Alice deswegen also „unterentwickelt“ und „lieblos“?
Ich glaube nicht – allerdings setzt sie in diesem Fall ihre eigene Ethik und ihr eigenes Wohlbefinden darin an die erste Stelle. Natürlich könnte sie ihrem potentiellen Partner zuliebe auch eine sozial akzeptable Ausflucht wählen und ihm sagen „Ach, was jeder von uns so politisch denkt, das kann in unserer Liebesbeziehung ja außen vor bleiben…“.
Alice weiß jedoch offensichtlich, daß es Grenzbereiche in menschlichen Leben und in menschlichen Beziehungen gibt, die sich eben niemals ganz „aus der Gleichung herausrechnen bzw. herausdenken lassen“. Deswegen wälzt sie sich im Musikclip wohl auch schlaflos auf dem Kissen, während sie realisiert, daß der gleiche Mensch, mit dem sie gerade Vertrautheit und Nähe teilt, morgen vielleicht Synagogen mit antisemitischen Sprüchen besprühen oder sogar syrische Migranten mit Fußtritten traktieren wird.
Wenn ich also einen Menschen in meiner Beziehung in so einem Fall »sein lasse«, dann wäre das bereits meine Suche nach einer Ausrede für mich selbst, warum ich bestimmte Eigenschaften von ihm lieber nicht mit in unsere Liebe „mithineindenken“ möchte…
Oder in Konsequenz – also gewissermaßen „kompromißlos“ – formuliert: Ja, selbstverständlich kann ich alle Menschenkinder da draußen so »sein lassen« wie sie sind – ABER ich könnte mich eben nicht mit allen von ihnen in einer vertrauten, engen und intimen Liebesbeziehung befinden, weil manche ihrer Eigenheiten meiner persönlichen Integrität und Verantwortlichkeit widersprechen würden.

„Gut, Oligotropos. Du hast uns jetzt also in zwei Einträgen gezeigt, warum – trotz offener Haltung und Integrativität – nicht jeder Mensch als Liebespartner für uns in Frage kommen würde.
Schießt Du mit Deinen Ansprüchen an die Metamours (also Partnerpartner*innen und deren weitere fakultative Partner*innen) dann aber nicht weit übers Ziel hinaus, weil Du versuchst, in Hemisphären jenseits Deines Verfügungshorizonts herumzukontrollieren?“

Mahatma Gandhi sagte einmal „Die kleine Schwester der Gewalt ist die Gleichgültigkeit“.
Wenn er diesen Eintrag lesen könnte, würde er vermutlich nun an meinem Ärmel zupfen und sprechen: „Erinnere Dich an die Knüpfteppiche…!“
„Knüpfteppiche???“
„Ja, was die oligoamoren Eingeborenen über die Knüpfteppiche sagten, in Eintrag 7! Erinnerst Du Dich an ihr Beispiel mit dem unredlichen und dem redlichen Teppichhändler?
Lass mich ihr Beispiel noch um eine Dimension erweitern:
Nimm an, Du hättest einen vorzüglichen Händler gefunden, der Dich aufrichtig und auf das Beste bedient. Könntest Du in dem Fall damit in Frieden leben, wenn Du herausfinden würdest, daß er nur Dich so behandelt und alle anderen weiterhin mit minderer Qualität und kleinen Unehrlichkeiten abfertigt? Wenn Du z.B. gerade Deinen guten Handel mit ihm abgeschlossen hättest und Du im von dannen Ziehen bemerkst, wie er den nächsten Kunden beschwindelt – wie würdest Du Dich fühlen? Wärest Du erleichtert, daß Du nicht so behandelt wirst? Wärest Du vielleicht sogar schadenfroh, daß es eben den Nächsten erwischt hat – und nicht Dich? Könntest Du das alles so »sein lassen«, weil es Dich ja gar nicht persönlich beträfe und in Gemütsruhe Deiner Wege ziehen?“ „Bester Oligotropos“, würde der berühmte Inder dann vielleicht fortfahren, „diese ‚Gemütsruhe‘ oder ‚Gleichgültigkeit‘ besitzen wir Menschen meist genau so lange, bis wir selbst einmal die Betrogenen sind. Und – wie kannst Du sicher sein, daß Du immer von Deinem Zulieferer korrekt behandelt wirst, wenn Dir doch längst bewußt ist, daß sich Dein vertrauter Geschäftspartner bei seinen anderen Kunden wie ein moralisches Chamäleon verhält?“

Verflixt – die Oligoamoren und der Gandhi, die hätten ja Recht. Denn all das andere, was sie mir in Eintrag 7 ebenfalls zugesprochen haben, würde ja genau zu dieser „Beispielerweiterung“ passen:
Meine „vollkommene Freiheit“, mein »alle so sein lassen, wie sie sind«, wird, wenn ich vertrauensvolle und berechenbare Beziehungen eingehen möchte, durch verantwortungsvolle Integrität und konsequente Verbindlichkeit in ein für alle Seiten förderliches Gleichgewicht gebracht. Was also heißt, daß alle Beteiligten „Integrität“ und „Verbindlichkeit“ ähnlich auffassen sollten.
Und nur dann wäre eine Beziehung im oligoamoren Sinne ja auch erst nachhaltig ( = beständig/dienlich/zufriedenstellend – siehe letzter Absatz Eintrag 3) – denn in allen anderen Fällen würde, was meine (Geschäfts)Partner*innen angeht, immer irgendetwas Irritierendes in meinem Hinterkopf und in meinem Herzen kratzen: „Heute haben sie sich so verhalten – hoffentlich tun sie’s morgen auch noch… Mich behandeln sie so – aber X behandeln sie so; ich möchte nicht wie X behandelt werden…“
Ein solches „Kratzen“ wird bereits nach kurzer Frist zu einer permanenten, unterschwelligen Beunruhigung führen, da wir uns niemals wirklich konstant sicher sein können. Und permanente Beunruhigung führt dazu, daß unser berühmter innerer „Alarmschalter“ halbaktiviert stecken bleibt – was wissenschaftlich „Stress“ gennant wird – und genau das Gegenteil von Zu-Friedenheit, von „In-Frieden-sein“ ist.
Mit Gleichgültigkeit oder aktivem Wegsehen sanktioniere ich also fortgesetzt Un-Frieden in meinem Beziehungsnetzwerk, der letztendlich auch immer wieder auf die ein oder andere Art zu mir zurückkehren wird. Denn gerade für Liebesbeziehungen – und seien diese auch über Eck oder über Bande geknüpft – gilt ein weiteres Gandhi-Wort: „Du und ich wir sind eins: Ich kann Dir nicht wehtun, ohne mich zu verletzen“.

Um ein vollumfängliches Wohlwollen und einen netzwerkumspannenden Respekt voreinander kommen wir in der Oligoamory also nicht herum. Denn es wäre doch ein bißchen wie in dem Witz von dem Kaffekränzchen, bei dem die Frau um Mitternacht heimkommt und sie von ihrem Mann zur Rede gestellt wird: „Hilde, warum kommst Du erst jetzt zurück?“ „Ach Herbert, jedes Mal wenn eine von uns Freundinnen gegangen ist, dann haben die anderen anschließend so schlecht über sie geredet, da habe ich mich einfach nicht getraut zu gehen…!“
Gleichgültigkeit kann in so einem Fall also auch schon die kleine Schwester der Respektlosigkeit sein, wenn jemand im Polykül sagt: „Na – und war Olaf am Wochenende wieder bei der Veganerzicke die er als Freundin hat…?“ oder „Ja, die Katrin trifft sich da mit Mona, die ist sowas von linksversifft, ich weiß nicht was die an der findet, aber mit der Beziehung habe ich gottseidank auch nichts zu tun…“.

Schlußendlich geht es, wenn wir alle anderen Beteiligten in unserem Lieblingsmenschen-Netzwerken mit in unsere Beziehungsgleichung mit-hineindenken auch um energetische Hygiene. Bzw., wie Psychologen und Psychotherapeuten es nennen würden, um das „Emotionalfeld“. Oder nennt es meinethalben prosaischer „um die Stimmung“.
In der „Geschichte von Anday und Tavitih“ in Eintrag 6 zitiere ich Anaïs Nin, die erkannte, „daß jeder neue Mensch für eine neue Welt in uns steht, die möglicherweise nicht geboren wurde, bis dieser neue Mensch in unser Leben kommt – und daß nur durch dieses Zusammentreffen erst diese Welt hervortreten kann.“
In diesem Sinne sind Beziehungsnetzwerke bunte Sonnensysteme, in die gelegentlich buchstäblich neue Planeten oder Sonnen „hineingeboren“ werden – und selbstverständlich spielt es für die Dynamik von Abstand und Nähe, von allseitiger Anziehung und vom Gleichgewicht her eine gewaltige Rolle, welche Energien so eine neue Welt in das sich entfaltende „Sonnensystem“ mit hineinbringt. Denn energetisch, vom Emotionalfeld oder von der Stimmung her ist in einem solchen (Gesamt)System sehr schnell nicht mehr exakt zuordnebar, wo „mein“ oder „dein“ beginnt – weil ja auch beabsichtigt ein gemeinschaftliches „unser“ angestrebt wird. Und damit erhält die „Moral“ der „Geschichte von Anday und Tavith“ nochmals besonderes Gewicht:
»Nämlich, was für eine starke Kraft die Anderen dadurch in uns sind. Und wie bedeutend es für eine oligoamore Beziehung ist, die unabweisbare Präsenz der Beteiligten in den jeweils anderen Menschen anzuerkennen.
Daß es wichtig ist zu verstehen, daß man selber die anderen Beteiligten auch immer in sich selber trägt, sobald sich irgendeine liebende Beziehung zu entwickeln beginnt.
Und daß es es ein wunderbares Ziel wäre, die Anderen in den Anderen zu respektieren und dort mitzulieben.
Aber daß es zum gemeinsamen Gelingen zumindest wichtig ist, die anderen Lieben in den Anderen zu akzeptieren, um sie weiter als ganze Menschen wahrzunehmen und als solche wertzuschätzen.«

Unaufrichtigkeit , selbst wenn sie als sozial akzeptierte Beschönigung oder als in Kauf genommener „blinder Fleck“ daherkommt, kann demgemäß in oligoamoren Beziehungen keinen Platz behalten. Denn im Ergebnis würden wir damit nicht nur einer „Trennungsrealität“ (siehe Eintrag 26) Vorschuß leisten, in der wir unsere Verantwortung dafür abgäben, daß alle Menschen gleichwürdig sind. Wir würden zusätzlich uns und unsere Liebsten der Möglichkeit zu informierter Wahl berauben – und damit unserer aller Freiheit.



* dt. Übersetzung der Schlüsselzeile des Songs „All together now“ von der Gruppe The Farm, (Version 1990)

¹ „Polykül“ ist ein humorvolles Kofferwort aus Polyamorie und Molekül und bezeichnet eine Gruppe oder eine Reihe von Menschen, die sich miteinander in ethisch non-monogamen Liebes-Bezieungen befinden. Da diese „Gebilde“ bzw. Gruppen, wenn man sie zu graphischen Verdeutlichung aufzeichnet, gerne einmal wie Kohlenwasserstoffringe, komplexe Moleküle oder andere mittelkettige Verbindungen aussehen können, ist dafür der augenzwinkernde Ausdruck „Polykül“ entstanden.

² Metamour – Zusammengesetztes Wort aus „meta“ = mit; über + „amor“ = Liebe. Bedeutung: Die Partner der Partner, mit denen man aber selbst nicht unbedingt direkt eine sexuelle/intime/innige Beziehung hat.

Danke an Steven Lelham auf Unsplash für das Foto!